DQ8: Il Santuario in Cielo von Phantom (Das Heiligtum im Himmel) ================================================================================ Kapitel 4: Maria ---------------- Neugierig wie auf den Ausgang eines Schleimrennens hockte ein Junge auf dem Holzstuhl, stützte sich auf dessen Lehne und ließ die Beine baumeln. „Toll! Toll! Du machst das echt toll!“ „Jo! Es ziemt sich nicht, einen fremden Mann zu duzen!“ Die Züge des Kindes gingen in Verwunderung auf. „Aber er ist doch gar nich’ fremd!“ Ein weiterer Tadel rutschte auf die Zunge der Ordensschwester, doch sie schluckte ihn hinunter angesichts des auf sie Angewiesenen an ihrer Seite. Sie half ihm auf einen Stuhl. „Setze dich ordentlich, Jo, und frühstücke brav! Und Ihr solltet ebenfalls etwas essen, mein Herr.“ Der Angesprochene musterte den sparsam, aber eindeutig mit Hingabe gedeckten Tisch. Ihm gegenüber rückte der Junge an die Kante seines Stuhles und haschte optimistisch nach dem Brotlaib. „Wir danken Dir, Große Mutter, für unser tägliches Brot und für unser’n Mund, damit wir mit dem Brot auch was anfangen können!“ Er sah der blauen Robe nach. „Ehrwürdige Schwester.“ Unmittelbar wandte sich die Öffnung des schmucklosen Habits, welches von diesem Menschen lediglich das Antlitz zu erspähen gestattete, ihm zu. „Bitte?“ „Hatte ich etwas bei mir?“ Maria schmunzelte. „Wie oft werde ich Euch noch bitten müssen, geduldig zu sein? Ihr seid vor drei Tagen aus dem Koma erwacht und heute das erste Mal aufgestanden. Eine Amnesie ist in einem Fall wie dem Euren etwas mitnichten Ungewöhnliches. Sie wird vorübergehen, doch gebt Euch Zeit.“ „Das Hemd und die Hose gehören nicht mir. Meine Kleidung – was ist damit?“ „Sie war bezeichnend für die schweren Verletzungen darunter und wäre in diesem Zustand Eurem Erinnern nicht förderlich gewesen. Habt Ihr keinen Hunger?“ Er ließ sie in die Kapelle nebenan ziehen. Mit vor dem Schoß gefalteten Händen und einem Konterfei, darin die Sanftmut zuhause war, stellte sie sich an den Altar, obwohl in den drei Tagen, die er bewusst erlebt hatte, kein einziger Pilger vorbeigekommen war, um ihre Dienste zu beanspruchen. Selbst der Inn-Haber, der einer Plakette nach in diesem bescheidenen Haus seinem Geschäft nachgehen sollte, erlaubte seinem Tresen in der Ecke gegenüber zu verstauben. „In den vergangenen Monaten hat die Anzahl der Durchreisenden sehr deutlich abgenommen“, hatte Maria ihm erzählt. „Die Menschen vergessen ihre Gründe, durch das Land zu streifen. Dies bringt der Wandel, dem unsere Welt stetig unterliegt und der sie wie der Wind bald lau, bald kraftvoll erfasst, nun einmal mit sich. Inzwischen lasse ich die Wenigen, die an dieser abgelegenen Kirche noch vorbeikommen, hier speisen und nächtigen, ohne dass ich auf eine Vergütung bestehe.“ „Das ist leichtsinnig. Ihr könntet einen Verbrecher beherbergen und Euch am folgenden Morgen ausgeraubt vorfinden – oder schlimmer.“ „Auf der anderen Seite kann ich ihnen die Raststätte auch nicht verweigern. Wer eine Unterkunft benötigt, wird sie bei mir finden. Es obliegt nicht mir, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“ „Ein naiver Entschluss, den Ihr da für Euer Leben und das dieses Jungen gefasst habt.“ „Ich habe der Großen Hirtin seit jeher vertraut, und immer hat Sie über Ihre Schafe gewacht. Mein Glaube an Sie ist niemals enttäuscht worden. Im Gegenteil“, hatte sie dann argumentiert. „In Ihrer Weisheit und Güte hat Sie Jo und mir einen Boten gesandt; einen sicht- und greifbaren Beweis Ihrer allanwesenden Existenz. Nicht wahr?“ „Hiiihieeer!“ Direkt vor seiner Nase zitterte ein Brot, als könnte es kaum erwarten, ihm endlich ins Gesicht zu schlagen. „Jetz’ nimm schon! Ich kann gleich nicht mehr!“ Er tat es und sah dahinter, wie Jo, der sich mit der anderen Hand auf die Tischplatte gestützt hatte, ächzend zurück auf seinen Platz kletterte. Abseits jeder Motivation schnitt er sich eine Scheibe ab. Jo hatte im selben Moment bereits zweieinhalb Scheiben verputzt. „Puh! Ich glaub’, ich bin satt! Zeit zu überlegen, was ich heut’ mach’…“ Eher auf dem Stuhl liegend denn sitzend, rollte er den Kopf in die Richtung der kleinen Fenster. Draußen musizierte die Natur. Etwas Sonnenlicht gelangte durch das alte Glas und legte sich auf das Gesicht des Jungen wie ein Taschentuch aus purer Wärme. Auf einmal schienen seine Augen immer enger zu werden, von Brauen und Wangen bedrängt, und ein verräterischer Glanz zitterte auf den Pupillen. „Wir können mit deinen Figuren spielen, wenn du magst“, rief Maria da aus dem Nebenraum, und auf Anhieb hellte sich Jos Miene auf. „Lass mich nur rasch seine Verbände wechseln. Suche sie doch schon in der Zwischenzeit!“ „Auuu jaaaaa!“ Gleich einem Pfeil flitzte der Kleine unter seiner Haube heublonden Haares zu einem der Schränkchen neben den Betten und riss die Schubladen auf. Maria kehrte zurück. „Ihr begebt Euch besser auf das Bett, mein Herr. Seid langsam. Eure Fortschritte sind auch so sehr beeindruckend; Ihr braucht hier niemandem etwas zu beweisen. Schafft Ihr es mit Eurem Bein?“ Auf halbem Weg kreuzte Jo sie, der jetzt auf der anderen Seite nach seinen Spielfiguren kramen wollte, und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. „Jo!“ Allein Marias beherzter Griff verhinderte, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Boden machte. „So pass doch bitte ein wenig besser auf!“ „’Tschuldige!“ Endlich auf seinem Lager angekommen, blies er ein Seufzen aus. Es verdross ihn, derart hilflos und abhängig zu sein. „Mein Bein schmerzt.“ „Es tut mir Leid, mein Herr. Der Knochen muss falsch verheilt sein. In Bälde werdet Ihr es wieder länger belasten und auch laufen können, aber bitte mutet ihm nicht zu viel zu.“ „Wird es einen Anlass geben, ihm zu viel zumuten zu müssen?“ „Nicht in der nahen Zukunft zumindest.“ Sie streifte das Hemd von seinen Schultern und begann, die Leinen von seinem Körper zu lösen, indes Jo das Säckchen endlich gefunden hatte. Enthusiastisch schüttete er es aus und verlor sich sogleich in der Positionierung der bunten Figuren. Sie stellten Soldaten dar – das war nicht zu verkennen – doch welchem Königreich die Rotgewandeten und welchem die Grünen angehörten, vermochte er nicht zu erraten. Ihm fiel auf, dass sie für Spielzeug überaus fein verarbeitet waren. Vermeintlich konnte man ihren winzigen Gesichtern gar Gefühlsregungen ansehen, und ein einziger unter ihnen hatte eine auffällig große Nase. „Vielleicht solltet Ihr beten“, legte Maria ihm nahe. „Die Göttin wird sich Eurem ungewissen Schicksal sicherlich annehmen.“ „Das ist nicht nötig. Ich hege kein Interesse daran, einen Namen anzuflehen, hinter dem womöglich nicht mehr als Luft steckt.“ „Aber Ihr seid hier“, erwiderte die Schwester bedeutungsschwer. „Genügt Euch dies nicht als unmissverständliches Zeichen?“ Er vernahm ihre Füße, die sich zum Tisch bewegten, um das frische Tuch mit Desmodium-Essenz zu behandeln. Jo hatte nicht lange still sitzen können und bereits angefangen, mit seinen detaillierten Figuren eine Schlacht zu bestreiten, in der Menschen offensichtlich fliegen und Schwerter die mächtigsten Zauber wirken konnten. Mit den fantastischsten Lauten ließ er seine Recken in kürzester Zeit erstaunliche Distanzen überwinden. „Uuuiiiiuuuuiiii!“ Als er dabei von einem Zipfel des Raumes zum anderen stürmte und soeben aus seinem Sichtfeld geraten wollte, spürte er nahezu, wie Maria zusammenfuhr. „Jo! Geh sofort wieder zurück! Auf der Stelle!“ Das Gesicht, welches beinahe unter dem dichten Schopf verschwand, starrte perplex in jene Richtung, in der sich die junge Göttinnendienerin befand. Selbst er war irritiert ob der Härte, mit der sie den Jungen zurechtgewiesen hatte. Die Situation drohte zu erstarren. Dann atmete Maria lange aus. Er spürte die Wärme ihrer Wangen, da sie ihre Tätigkeit wieder aufnahm und ihm den neuen Verband anlegte. „Es tut mir Leid, Jo. Aber es gehört sich nicht, hinter jemandes Rücken herumzutoben.“ Die Erklärung leuchtete ihm nicht ein, und wenn schon nicht ihm, dann bestimmt auch keinem Kind. Jo rührte sich nicht. „Ich bin gleich soweit“, verkündete Maria unvermittelt. „Du kannst dir schon einmal überlegen, mit welcher Armee du heute gegen mich antreten magst!“ Diese förmliche Herausforderung überzeugte das Kind prompt. Die Tage begannen, vorüberzuziehen, und er sah ihnen zu. Mit jedem neuen erwartete er, dass sich nicht nur der Himmel, sondern auch seine im Nebel versunkenen Erinnerungen lichten würden, doch vergebens. Er wusste nicht, wo er bleiben und was er machen sollte. Maria bot ihm an, in der Kapelle des Herbstes zu verweilen – solange, bis er sich entsinnen würde. „Auf den Trümmern einer zerstörten Stadt werden bald neue Häuser errichtet“, fügte sie hinzu. So ergab es sich, dass er blieb. Kaum sicher auf den Beinen, hielt es ihn allerdings nicht länger zwischen den Wänden der kleinen Kirche. Mit dem ersten Funkeln der Sonne durch die trüben Fenster verließ er sie, und mit dem letzten kehrte er zurück. Das war etwas, auf das Maria ohne Zweifel vertrauen konnte. Allein womit er auf den schier endlosen Feldern der Arcadia-Region die Stunden zubrachte bereitete ihr Kummer. Von Mitleid erfüllt, betrachtete sie das arme Wesen, welches regungslos im spitzen Gras lag, und anschließend seine verschmutzten Fäuste. „Warum seid Ihr mir gefolgt?“ „Die Monster sind uns nicht ferner böse gesinnt. Könnt Ihr Euch nicht vorstellen, jenen über uns hereingebrochenen Frieden anzunehmen?“ „Ich kann gehen, wenn Ihr mit meiner Art der Freizeitbewältigung nicht zurechtkommt.“ „Ihr treibt es stets auf das Äußerste. Ich möchte nicht, dass Ihr geht.“ „Doch Euren sogenannten "Frieden" wegen eines Fremden aufs Spiel setzen?“ „Ihr traut Euch viel zu, wenn Ihr überzeugt seid, meinen Frieden stören zu können. Ich sorge mich um Euren.“ „Ich kämpfe nicht gegen die Monster, um meinen Frieden zu zerstören. Ich kämpfe gegen sie, weil ich keinen habe.“ „Habt Ihr denn einmal ganz still gestanden und nach ihm gelauscht?“ Entgegen ihrer Erwartung nickte er und gestand dann: „Da ist etwas.“ Und die Spannung in seinen Fingern löste sich. „Es lässt mich nicht in Ruhe.“ „Wie äußert es sich?“ „Es drängt mich zu gehen.“ „Und werdet Ihr gehen?“ „Ich muss es tun.“ „Ihr solltet nichts müssen, was Ihr nicht auch wollt.“ „Abhalten könnt Ihr mich nicht.“ „Seid Euch dessen nicht zu gewiss“, entgegnete sie unvermittelt. Mit diesem Satz – als besäße sie die Fähigkeit, allein anhand ihrer Stimme über das Wetter zu walten – änderte sich die Atmosphäre abrupt; das zaghafte, noch suchende Verhältnis wurde auf eine Probe gestellt, und zum ersten Mal, seit sie dort war, sah er sie an. „Da gibt es etwas, über das ich verfüge und das Euch möglicherweise helfen kann, Euch zu erinnern.“ Er glaubte auf Anhieb, dass sie kein bisschen zu viel versprach. „Äußerst gerissen für eine Dienerin der Göttin.“ „So wie es der Umsetzung Ihres Willens frommt, schrecke ich vor keiner Maßnahme zurück.“ Resoluten Schrittes trat er auf die Ordensschwester zu, welche ihren schmalen, aber geerdeten Stand beibehielt gleich einer Sonnenblume, die kein Erdbeben zu erschüttern vermag. „Was wiegt Euch in der Sicherheit, ich würde Euch nicht einfach überwältigen und selbst danach suchen?“ „Diese Sicherheit habe ich nicht, aber wohl jene, dass Ihr das, wovon ich spreche, nicht eher finden werdet, als dass ich Euch offenbare, wo es ist.“ „Was verlangt Ihr von mir für diese Information?“ „Ich habe nicht vor, mit Euch zu handeln. Wie ich Euch nicht bitte zu gehen, so zwinge ich Euch nicht zu bleiben.“ Seine Züge verfinsterten sich. „Ihr wähnt, ich würde inquisitorische Methoden scheuen, weil Ihr eine Frau seid.“ „Und Ihr wähnt, eine Dienerin der Göttin würde die profane Folter fürchten.“ Mit einem Laut unverhohlener Verärgerung wandte er sich ab. „Doch selbst zu foltern ist ihr gestattet?“ Marias Mundwinkel schoben sich nach oben. „Ihr foltert Euch selbst, durch Eure Ungeduld. Es ist verständlich, dass Ihr nun, wo Eure Identität und mit dieser Eure Aufgaben und Ziele dem Vergessen anheimgefallen sind, nicht wisst, auf was Ihr Eure Energie verwenden sollt. Doch lasst mich für Euch eine andere Tätigkeit finden, welche Euch wieder Ausgleich bringen wird und…“ – mit einem Blick auf das leblose Geschöpf zu seinen Füßen – „…den Monstern ein wenig Entspannung.“ „Tut, was Ihr nicht lassen könnt“, lautete seine karge Antwort, denn mit dem Groll über ihr Schweigen würde er noch eine Weile zu ringen haben. Jeder Versuch, den essenziellen Hinweis aus ihr zu bekommen, wäre verschwendete Zeit und Disziplin, das ahnte er, und so ließ er sie ohne weiteres ziehen. Am Abend, da sie ihm etwas zu essen bringen wollte, fand sie ihn am See, in welchem er sich vom Schmutz des Trainings reinigte. Hochkonzentriert suchten Dutzende von Rinnsalen die unkomplizierteste Bahn durch das komplexe Labyrinth dunkelgrauer Linien, und erneut wurde sich Maria der Schwere seines Schicksals bewusst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)