C'est la vie von Black_Melody (Manchmal geht das Leben seltsame Wege) ================================================================================ Kapitel 3: School days ---------------------- Man kann die Menschen entbehren, aber es bedarf eines Freundes. – Chinesisches Sprichwort Die nächsten Tage waren nicht erwähnenswert gewesen. Das Wetter hatte sich dramatisch verschlechtert, weswegen Sightseeing nicht möglich gewesen war. Das einzige, das mir an diesen Tagen nicht gepasst hatte, war die Tatsache, dass meine Mutter mich gezwungen hatte, zum Essen nach unten zu kommen und mit diesem… Mann an einem Tisch zu essen. Allerdings konnte ich das ganz gut ignorieren, indem ich auf meinen Teller sah oder teilweise einfach nur herauszufinden versuchte, was sie mir jetzt wieder aufgetischt hatten. Vertrauenserweckend sah das meiste nicht aus, und ich hielt es für klüger, nicht nachzufragen. Es war aber wirklich bewundernswert, wie oft ich ‚keinen Hunger‘ hatte und mir dann, sobald alle im Bett waren, Äpfel holte. Mittlerweile hatte ich einige sogar schon oben liegen, damit ich nicht jede Nacht erst mein Nachtmahl holen musste. Auf jeden Fall lebte ich noch. Und das eigentlich sehr zu meinem Leidwesen, denn ich hatte tatsächlich beschlossen, am Montag, meinem ersten Schultag, tatsächlich aufzustehen und mich in dieser grauenhaften Schuluniform zur Schule zu schleppen. Ein böser Fehler, denn ich hatte am gestrigen Abend noch mit Kimi telefoniert und war dementsprechend müde. Denn eigentlich war es zwei Uhr morgens gewesen, als ich in mein Bett gekrochen war. Diese verdammte Zeitverschiebung, konnte die sich nicht mal verpissen?! Nach nur vier Stunden Schlaf ging es mir nicht besonders gut, was man mir wohl schon am Frühstückstisch nur zu genau anmerkte. Ich sollte heute acht verdammte Stunden in der Schule hocken, und das nicht nur heute, nein, eigentlich jeden Tag. Okay, es waren acht Schulstunden. Die in Zweierblöcke geteilt waren, demnach vier Blöcke. Und ein Block ging über 80 Minuten. Gut, ich hatte weniger Unterricht als in Deutschland, und wenn ich den Lehrer oder die Lehrerin ignorieren wollte, war das für mich das kleinere Übel, ich brachte immerhin elf Jahre Erfahrung mit. Wie alle anderen Schüler auch, eigentlich konnten einem die armen Lehrer mehr leidtun als die Schüler. Aber ich hatte ungern Mitleid mit dem Feind. Es war noch eine Stunde vor Unterrichtsbeginn, als mein Bruder und ich uns auf den Weg machten. Während wir in der Bahn saßen, zupfte ich an meinem Rock herum und versuchte, aus dem formlosen Ding doch noch etwas zu machen. Wieso durfte mein Bruder überhaupt eine Hose tragen? Warum mussten Mädchen Röcke anhaben? Bitte, hatte die Schulleitung noch nie etwas von Emanzipation gehört? Hosen waren einfach viel praktischer. Aber besser sah die meines Bruders auch nicht aus. Dunkelblau und grau waren einfach nicht meine Farben, sie waren so trist und schrecklich langweilig. Ich wollte mich nicht in so etwas stecken lassen, aber ich hatte keine andere Wahl. Und bevor ich den Rock mit meiner Schere hätte kürzen können, notdürftig zumindest, erreichten wir unsere Station und stiegen aus. Am liebsten hätte ich einfach die Flucht ergriffen, aber wenn man in einer Schuluniform während der Schulzeit in der Stadt herumlief, würde man wahrscheinlich dank Polizei schneller in der Schule sitzen, als man reagieren konnte. Vor Unterrichtsbeginn hatten Joshua und ich uns vor dem Schulbüro einzufinden. Wir bekamen unsere Stundenpläne, Gebäudepläne und noch eine Menge anderen Kram, um den ich mich herzlich wenig kümmerte, in die Hand gedrückt und wurden vor das Lehrerzimmer gescheucht, von wo aus unsere nächsten Lehrer uns mitnehmen sollten. Das Erschreckende war, dass Joshua und ich uns anschwiegen. Wir hatten ja schon, seit wir hier gelandet waren, nicht so viel miteinander gesprochen. Aber normalerweise hätten wir irgendwelche blöden Scherze gemacht, weil uns eh niemand verstand. Ich hatte das Gefühl, mein Bruder ließ mich immer mehr im Stich. Nicht, dass ich nicht von Anfang an völlig allein gewesen wäre, mit meiner Gegenwehr, aber jetzt gab er mir nicht einmal mehr ein wenig Rückhalt. Wo war unser gutes Verhältnis? Ich verstand es einfach nicht, es wollte nicht in meinen Kopf. Aber ich glaubte einfach einmal daran, dass sich das alles wieder legen würde. Mein Bruder hatte sich mit der Situation so weit abgefunden, ganz im Gegensatz zu mir. Er war öfter draußen unterwegs, wenn unsere Mutter einkaufen ging, und er hing ständig vor irgendeiner Konsole, die an den Fernseher unten angeschlossen war. Er schien sogar schon Bekanntschaften in der Nachbarschaft geschlossen zu haben, aber mich interessierte es nur bedingt. Menschen waren nicht wichtig, erst recht nicht hier. Ich brauchte keine neuen Kontakte, ich hatte meine alten Freunde, die ich für kein Geld der Welt hergeben würde. Sie waren alles, das mir noch geblieben war, und die einzigen, die ich haben würde, wenn ich vor meiner Familie floh. Bevor ich es überhaupt mitbekam, musste ich einer Frau folgen, die kleiner war als ich selbst und auch noch gar nicht so alt zu sein schien. Sie hatte sich mir als Frau Kim vorgestellt. Das war alles schön und gut, den Namen konnte ich dank Kimi ja sogar im Kopf behalten, aber sie würde mich nur als seltenen Gast sehen. Wenn ich mich einmal aus Langeweile in die Schule bequemte. Aber selbst wenn mir langweilig war, hatte ich in der Regel mehr zu tun als nur rumzusitzen. Mehr als körperliche Anwesenheit zu erwarten, war eine Wunschvorstellung, das würden meine ersten Lehrer gleich heute von mir zu spüren bekommen. Und ab morgen konnte ich mit Abwesenheit glänzen. Innerlich betend, dass man mich nicht zu sehr anstarrte, betrat ich nach der Lehrerin das Klassenzimmer. Natürlich spürte ich die Blicke auf mir, teils neugierig, teils einfach nur desinteressiert, wie ich bemerkte, aber es war vorhersehbar gewesen. Ich war schon dankbar, als sie mich vorstellte und mich nicht dazu zwang, das selbst zu tun. Auch zeigte sie auf einen Platz, wohin ich mich setzen konnte, in der immerhin vorletzten Reihe. Das war bei vier Reihen schon gar nicht so schlecht. Wenn ich weiter hinten im Raum schlief war es unauffälliger. Mein Sitznachbar schien allerdings weniger angenehm zu sein. Nicht, weil er unsympathisch oder gewalttätig war, nein, er passte einfach nicht zu meiner schlechten Laune. Er lächelte die ganze Zeit, und schon das schien der Sonne Konkurrenz machen zu wollen. Ich wollte keine wandelnde Energiesparlampe neben mir sitzen haben, ich wollte jemanden, der genauso mies gelaunt war wie ich. Der war leichter zu ignorieren. Aber ich hatte keine große Wahl und akzeptierte das einfach, vielleicht ließ er mich ja in Ruhe schlafen, wenn ich ihm die kalte Schulter zeigte. Wenn ich Glück hatte. Aber mein Glück hatte sich ja schon vor einiger Zeit verabschiedet. Und das bekam ich auch gleich wieder zu spüren, allerdings nicht von dem Strahlemann. Nein. „Sungjae wird dich sicher herumführen“, meinte Frau Kim und zeigte auf meinen Sitznachbarn, der das nur mit einem „Gern“, kommentierte. Hatten sich eigentlich alle gegen mich verschworen? Aber warum kam mir der Sonnenmensch nur so bekannt vor? Er war größer als ich, aber das war auch nicht weiter schwierig, ich war einfach zu klein. Das half mir nicht im Geringsten weiter, und Namen waren eh unwichtig. Wie wahrscheinlich war es, dass ich mir seinen gemerkt hätte, wenn ich ihm nur einmal irgendwo über den Weg gelaufen war? War ja auch egal. Auf jeden Fall hatten wir jetzt Unterricht und ich versuchte, zumindest motiviert nach vorn zu sehen, was mir aber komplett misslang. Sollte die Lehrerin halt wissen, dass ich nur hier war, weil man mich dazu zwang, war schon okay so. Und auch der Sonnenstrahl schien zu ahnen, dass er mich lieber in Ruhe lassen sollte und ich nicht einmal aus Langeweile mit ihm reden wollte. Es war zwar nichts gegen ihn persönlich, aber das würde er eh nie verstehen. Also war es besser, einfach nie erklären zu müssen, worum es mir ging. Der Unterricht an sich unterschied sich gar nicht so sehr von dem Zuhause. Er war völlig unnötig und langweilig, und, soweit ich zuhörte, lernten wir nur Dinge, die wir nie wieder in unserem Leben brauchen würden. Der Sinn dahinter war mir schon immer ein Rätsel gewesen, aber ich hatte auch noch nie versucht, dieses Rätsel zu lösen. Vielleicht würde ich irgendwann einmal darüber eine Arbeit schreiben, die am besten so hochwissenschaftlich klang, das kein Mensch außer mir Begriff, worum es ging. Man musste ja nur lange, verworrene Sätze bauen, Fachwörter reinstopfen und ein bisschen hochgestochen dahinschreiben. Und durch die langen Sätze verwirrte man den Leser, das war auch immer die Taktik der Schulbuchautoren. Ein flüchtiger Blick auf meine Uhr ließ mich inne halten. Ich hatte erst die erste Stunde überstanden? Das konnte doch nicht wahr sein… Wenn jetzt nur Kimberly hier gewesen wäre, oder irgendjemand, mit dem ich mich unterhalten konnte. Über Lehrer lästern, mein Leid kundtun, nach Hausaufgaben fragen. Warum hatte man mich nicht neben jemanden setzen können, der mich zumindest bei Laune hielt? Das war ja die reinste Folter, so etwas sollte verboten werden. „Schläfst du innerlich noch oder hat deine miese Laune einen anderen Grund?“, wurde ich auf einmal ruhig angesprochen und sah meinen Sitznachbarn an. Er hatte mich angesprochen. Wollte ich dem zukünftig vorbeugen, hätte ich ihn jetzt anschnauzen müssen, aber immerhin konnte er sich mit mir unterhalten. So kam ich nicht auf blöde Ideen wie Musik hören im Unterricht oder den Tisch vollkritzeln. Und wenn ich eh nur ab und zu anwesend war, konnte er mich auch nur dann volllabern. „Ich hab eine viel zu kurze, beschissene Nacht hinter mir und habe schlechte Laune“, gab ich zurück und sah gelangweilt wieder zur Tafel. Es war wahrscheinlich unauffälliger, nach vorn zu sehen, wenn ich mich schon mit anderen Dingen als dem Unterricht beschäftigte. „Frag aber nicht, wieso ich schlechte Laune hab“, hängte ich sicherheitshalber an, um Neugier direkt im Keim zu ersticken. Ich wollte sicherlich nicht mit ihm darüber reden. „Ach so. Und ich dachte schon, die Schule hat Schuld“, erwiderte er, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er lächelte. Ich wusste nicht, warum, aber ich kämpfte hartnäckig gegen den Drang, nachzusehen. „Ja, das könnte ein Faktor sein, der meine Laune nicht hebt.“ Das war es sicherlich. Meine Laune stieg nicht an, weil ich Zeit vergeudete, indem ich mich langweilte. Lieber hätte ich die Zeit vor meinem Laptop verschwendet. Dabei hatte ich wenigstens Spaß. „Gibst du mir mal deinen Stundenplan?“, kam es von nebenan, woraufhin ich ihm einfach den Zettel rüberschob. Sollte er mit dem Ding glücklich werden, so oft würde ich den nicht brauchen. Aber er würde mir den wahrscheinlich eh gleich zurückgeben und wollte nur irgendwas gucken. „Wir haben alle Kurse zusammen. Das ist ungewöhnlich, finde ich aber gut. Ich kann dich dann immer mitnehmen zu den Räumen.“ Oh, na ganz toll. Eine nervige Quasselstrippe, die ich in jedem Kurs dabei… Moment. Kurse. Wir hatten Kursunterricht? In verschiedenen Räumen? Und als Klasse zusammen wahrscheinlich nur Hauptfächer? Das bedeutete, ich musste dreimal an einem Tag den Raum wechseln? Und dazwischen hatten wir Pausen? Oh, ich hätte mir den Plan und den Gebäudeplan auf jeden Fall einmal ansehen sollen. Jetzt musste ich aber erst zusehen, wie ich Sungjae – so hieß er doch, oder irrte ich mich da jetzt schon? – in der Pause loswurde. Ich wollte keinen verdammten Babysitter, und in Anbetracht der Tatsache, dass hier auf Englisch unterrichtet wurde, würden mich wohl alle verstehen. Es konnte doch nicht so schwer sein, den Weg zu einem verdammten Raum zu finden. Aber wie schwer konnte es sein, einen Menschen bei über 1000 Schülern zu finden? Ich wollte unbedingt wissen, wie Joshua in seiner Klasse zurechtkam. Er war verdammt noch mal mein kleiner Bruder, und wehe demjenigen, der es wagte, ihn zu mobben. Das würde dann eine sehr schöne Begegnung geben. Aber mein Problem war immer noch nicht gelöst, also probierte ich es einfach mit der Wahrheit. Oder mit einem Teil. „Ich hatte eigentlich vor, meinen Bruder zu suchen und mich zu erkundigen, wie seine ersten Stunden verlaufen sind. Und, weißt du, du kannst auch gern mit deinen Freunden abhängen, ich komm schon klar.“ Bitte, wer wollte schon eine Schülerin herumführen anstatt Spaß zu haben? Aber ich war mir nicht einmal ganz sicher, ob er viele Freunde hatte, immerhin war der Platz an seiner anderen Seite nicht besetzt. Natürlich war es nicht unmöglich, dass jemand auch einfach krank war, aber so oft kam das hier ja sicherlich nicht vor, immerhin wollten die anderen wohl zu einem großen Teil einen guten Schulabschluss machen. „Kein Problem, ich treffe mich mit meinen Freunden an einer Bank unter einem Baum. Ich denke einfach, dass sie deinen Bruder dorthin bringen, immerhin geht ein neuer Schüler in die Klasse meiner Freunde. Sie sind nett, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Na wunderbar. Hatte mein Bruder also auch einige von der Sorte an sich kleben, das war ja wirklich… erfreulich. Das heißt, mit viel Glück, hatte ich die Nervensägen bald auch noch zuhause zu ertragen. Moment. Das war nicht mein Zuhause, aber übergangsmäßig schon. Arg. Verdammter Zwiespalt. Auf jeden Fall wollte ich die nicht auch noch in meiner kostbaren Freizeit um mich herum haben. Aber abwenden konnte ich das böse Schicksal auch nicht. Wie konnte ich Sungjae denn loswerden? Das war immer noch mein Problem. Ich hätte ihn einfach mit meinem Todesblick anstarren können, aber das hätte er wahrscheinlich einfach vor sich hin strahlend ignoriert. Ich hätte ihm natürlich auch sagen können, dass ich eigentlich überhaupt keinen Bock auf nichts hatte, und erst recht nicht darauf, meine Zeit mit ihm zu verbringen, aber irgendwie kam mir das ziemlich unhöflich vor, also schied das prinzipiell schon aus. Aber, und Gott, war ich gerade froh, ein Mädchen zu sein, er würde mich nicht auf die Mädchentoilette begleiten, damit hatte ich eine Möglichkeit, zumindest ein paar Minuten Ruhe zu ergattern. Ich konnte ein erleichtertes Seufzen gerade noch unterdrücken, als es endlich zur Pause klingelte und ich somit zumindest ein wenig Freizeit hatte. Ohne Schulhofführer. Natürlich nachdem ich mich in die Toilettenräume verzogen hatte, die er mir zeigte. Auf dem Weg vom Klassenraum laberte er mich die ganze Zeit zu, wo ich denn was finden würde und dass das eigentlich gar nicht so schwer war. Er beschrieb mir noch kurz den Weg zu dem gemeinsamen Pausenplatz, wie er sagte, und ging dann schon vor. War mir nur Recht. Schwer seufzend setzte ich mich im Vorderteil, wo die Waschbecken waren, auf den Fußboden und kramte mein Handy heraus. Oh, hoffentlich hatte ich hier Internet, ich würde sonst noch sterben, bevor der nächste Block überhaupt begangen hatte. Und einmal in meinem Leben hatte ich tatsächlich Glück und konnte nicht wiederstehen, meine Freunde über einen kleinen Status wissen zu lassen, wie schlecht es mir gerade ging. Also, nein, noch wussten sie es nicht, aber sobald sie wach waren würden sie das schon sehen. Ich musste mir meine tägliche Dosis ihres Mitleids sichern. Obwohl ich das eh schon hatte, und richtiges Mitleid war es auch nicht. Aber sie würden mich durch diese Zeit bringen, und wenn sie mir nur ein paar aufmunternde Worte schickten. Nach einigen Minuten stand ich auf und sah kurz in den Spiegel, zupfte ein bisschen an meinem Zopf herum und machte mich dann auf den Weg nach draußen. Es wäre wohl auffällig, würde ich 20 Minuten auf der Toilette verbringen, und der erste, der wüsste, was mein Problem war, wäre mein Bruder. Er kannte mich einfach in und auswendig und er würde schon wissen, dass ich mit Sungjaes positiver Art gerade ein ganz großes Problem hatte. War es nicht eigentlich so, dass Positives und Negatives sich anzogen? Nun ja, jetzt gerade war es anders herum, ich kam mit dieser guten Laune überhaupt nicht klar. Und Joshua würde das relativ schnell erkennen. Genervt verdrehte ich die Augen, als ich sah, dass meine klasseneigene Nervensäge sogar recht behalten hatte. Da saßen zwei Jungs, die ich nicht kannte, mit meinem Bruder und Sungjae auf einer Bank und unterhielten sich. Ich wollte da nicht hin, ich sah innerlich meinen seelischen Tod schon kommen, aber ich hatte eigentlich gar keine andere Wahl, als zu ihnen zu gehen, immerhin übersah man mich für gewöhnlich nicht. Allein schon wegen meiner Haarfarbe. Und ich war auch schon entdeckt worden, Joshua winkte mir zu, so dass ich gar keine andere Option mehr hatte. So schlimm würde es schon nicht werden, versuchte ich mir auf jeden Fall einzureden. Es waren vielleicht noch zehn Minuten, danach hatte ich nur noch Sungjae am Hals, und der sollte sich mal schön auf den Unterricht konzentrieren, während ich mich mal ein bisschen zum Schlafen hinlegte. „Guck nicht so finster, Jia“, meinte Josh lächelnd und streckte sich, während er auf der Bank zwischen den anderen saß. Natürlich war kein Platz mehr für mich, und irgendwie war ich nicht sonderlich scharf drauf, bei irgendjemandem auf dem Schoß zu sitzen, weshalb ich mich ins Gras sinken ließ. „Halt die Klappe und erlöse mich von dem Strahlemann“, gab ich nur trocken zurück. Ja, das wäre mal eine dauerhaftere Lösung, und an dem amüsierten Blick meines Bruders sah ich, dass er schon verstanden hatte, worum es ging. „Sei nicht so mies drauf, wenn jemand nett zu dir sein will. Er kann immerhin auch nichts für deine schlechte Laune.“ Tja, manchmal sagte mein Bruder sehr zu meinem Leidwesen die Wahrheit, und er wusste das meistens auch. Und sein wissendes Lächeln ließ mich nur zu genau spüren, dass er auch jetzt wusste, dass er recht hatte. Oh, dieses… „Nein, aber besser wird meine Laune auch nicht. Eher im Gegenteil, und wenn ich ihm nachher eine reinhaue, sollte er sich lieber nicht wundern, das weißt du. Außerdem bin ich aus einem ganz anderen Grund mies drauf. Ist nicht schön, wenn der eigene Bruder einen im Stich lässt.“ Wenn das nicht ein Konter vom Feinsten gewesen war, wusste ich auch nicht mehr weiter, der fassungslose Blick meines Bruders bestätigte mich immerhin. Das hatte gesessen, und er schien tatsächlich nach einer passenden Antwort zu suchen. Ich hatte ihn wirklich einmal sprachlos gemacht. War das ein gutes Gefühl? Ich war mir nicht ganz sicher. Es war ein vorübergehender Triumph, den ich mir unfair erarbeitet hatte. Aber im Krieg war alles erlaubt. „Du weißt, dass ich dich nie im Stich lassen würde“, gab er leise zurück und sah mich immer noch geschockt an. „Du weißt, dass ich mich gerade nur der Situation anpasse. Im Gegensatz zu dir komme ich hier nicht so schnell wieder weg, und jammern bringt mich nicht weiter. Ich sitze noch ein paar Jahre hier fest.“ Mir entkam ein gereiztes Schnauben. So leicht kam er mir nicht davon, auch wenn er damit recht hatte, dass er länger hier bleiben musste als ich. „Du hättest noch in Deutschland etwas machen sollen. Du hättest mit mir kämpfen können, verdammt! Aber nein, der Kleine zieht den Schwanz ein, und ich muss allein versuchen, irgendetwas zu bewegen. Ich verstehe dich nicht, Josh. Das Leben ist kein Ponyhof, und wenn du etwas nicht willst, musst du für deine Interessen einstehen, aber du kannst das einfach nicht. So wirst du im Leben nicht weit kommen, wenn du dich immer nur der Situation anpasst.“ „Und du wirst mit purer Rebellion nicht immer weiterkommen. Das musst du doch auch einsehen. Du kannst dich gegen unsere Mutter wehren, aber willst du wirklich immer gegen sämtliche Vorschriften kämpfen? Das kannst nicht einmal du aushalten.“ Ohne etwas zu sagen schloss ich die Augen und zwang mich, einmal durchzuatmen. Er hatte recht, ich konnte nicht immer kämpfen. Nicht permanent. Das würde selbst ich nicht durchstehen, ich war immerhin auch nur ein Mensch. Ich brauchte ein wenig Halt, und den hatte ich bisher immer bei meinen Freunden gefunden. Und in der Musik, aber wenn ich gegen jede Vorschrift vorging, würde das auf Dauer nicht mehr ausreichen. „Ich bin zäh“, antwortete ich ihm trotzdem, als es gerade zum nächsten Unterrichtsblock klingelte. Und ausnahmsweise war ich einmal dankbar dafür, in den Unterricht zu müssen. Immerhin konnte ich mich dann für weitere Attacken wappnen, und die würden mich spätestens auf der Heimfahrt erwarten. So schnell würde mein Bruder mir die Aktion nicht verzeihen, und ich konnte es ihm eigentlich nicht einmal übel nehmen. Jetzt hatte ich auf jeden Fall wieder zwei Stunden totzuschlagen, und es kam natürlich, wie es kommen musste. Ich saß wieder neben Sungjae. Damit waren meine Nerven dann völlig am Ende. „Worum ging es bei der Diskussion mit deinem Bruder?“, fragte er mich mit ernstem Blick, kurz nachdem der Lehrer den Raum betreten hatte. Warum war dieser Junge so verdammt neugierig? Aber er schien das tatsächlich ernst zu meinen, und er schien auch darüber nachzudenken. Also konnte ich es einfach probieren. Was hatte ich schon zu verlieren? „Es ging darum, dass er mich allein gelassen hat, als es darum ging, sich gegen den Umzug zu wehren“, erklärte ich also trocken und strich mir durch die Haare. Viel mehr brauchte er eigentlich gar nicht zu wissen. Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass er wusste, welchen Umzug ich meinte. „Und deswegen bist du sauer auf ihn. Aber das sagt nicht, warum du gegen jeden bist.“ Seufzend verdrehte ich die Augen. Sollte ich ihm das wirklich erklären? Na gut, es nahm nicht viel Zeit weg, also konnte ich mir die Zeit auch nehmen. Aber das war doch eigentlich mehr als offensichtlich, wieso kam er nicht darauf? Er schien doch nicht ganz auf den Kopf gefallen zu sein. „Also erstens, Menschen sind manchmal schrecklich anstrengend und kompliziert. Ich persönlich bevorzuge Hunde und Katzen, die kann man wenigstens so erziehen, dass sie einem keine Szene machen. Zweitens bin ich gegen meinen Willen hier, wie du vielleicht schon mitbekommen hast. Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist, aber ich will die Zeit hier überleben und dann zurück nach Deutschland. Ich bin gegen alles, um meiner liebsten Mutter das auch zu genau zu zeigen. Ich habe tagelang nicht ein Wort mit ihr gewechselt, davor und danach haben wir uns angeschrien. Aber es bringt nichts. Ich bin trotzdem hier gelandet und ich komm hier so schnell nicht weg. Und ich habe meine Freunde in Deutschland, ich brauche keine neuen.“ Nachdenklich nickte mein Sitznachbar und verhielt sich ein Weilchen ruhig. Und ich genoss es, ihn endlich einmal zum Schweigen gebracht zu haben. Er schien ernsthaft über das, was ich ihm gerade erzählt hatte, nachzudenken. So schwer war das doch gar nicht zu verstehen, oder? „Weißt du“, begann er nach einiger Zeit leise und sah mich immer noch ernst an, „vielleicht brauchst du auch nur wenige Personen hier. Die dich davon ablenken, dass du hier nicht in deiner Heimat bist. Vielleicht brauchst du das Gefühl, wieder selber die Kontrolle über dein Leben zu haben, indem du dir Menschen suchst, mit denen du auskommst. Du brauchst nicht viele, aber es ist immer gut, jemanden zum Reden zu haben.“ Er hatte ernsthaft über meine Situation nachgegrübelt und versucht, eine Lösung zu finden? Das war ja irgendwie ziemlich süß von ihm. Auch wenn ich so eigentlich gar nicht denken wollte. Sungjae war vielleicht jung und ein sehr positiver Mensch, aber er schien auch eine ruhige Seite zu haben, die sich mit Problemen auseinandersetzte. Und das nicht nur mit seinen eigenen. Ich mochte diese Seite irgendwie lieber. Und wenn ich ihm eine neutrale, ehrliche Chance geben würde, wäre Sungjae wahrscheinlich gar nicht so übel. Zumindest die Tage, die ich in der Schule verbringen musste, konnte ich dann immerhin mit ihm totschlagen. „Es ist nicht, dass ich mit niemandem reden kann. Die Menschen, denen ich vertraue und die mich wirklich seit Jahren kennen, sind viel zu weit weg. Und bis man jemandem vollständig vertraut, kann es lange dauern. Länger als ich hier bin.“ Selbst wenn ich mich auf die Suche nach jemandem machen würde, der mich ergänzte, bis das Vertrauen groß genug war, um über wichtige Dinge zu sprechen, würde einige Zeit vergehen. Und immerhin hatte ich nicht vor, ewig in Korea zu bleiben. „Niemand hat gesagt, dass jemand dein ganzes Leben kennen muss. Es ist oft leichter, eine Situation neutral zu beurteilen, wenn die Person deine Vergangenheit nicht kennt und davon nicht beeinflusst wird. Und ich denke, du brauchst wirklich jemanden, der dich beschäftigt und dir das Gefühl gibt, selber die Kontrolle zu haben. Vielleicht musst du dann nicht mehr so viel rebellieren, um zu spüren, dass du noch selber Entscheidungen treffen kannst.“ War das wirklich der Sinn hinter meiner Rebellion? Dass ich selber etwas entscheiden konnte, und ich den Beweis dafür darin suchte, dass ich die Entscheidungen immer gegen andere traf? Einerseits klang das verdammt seltsam, aber andererseits auch schon wieder logisch, und das verwirrte mich gerade sehr. Warum war mir das nicht aufgefallen? Aber es änderte nicht allzu viel daran, dass ich meine Mutter immer noch hasste. Weil sie mich einmal um die halbe Welt geschleppt hatte. Und ich hatte Kontrolle über mein Leben, auch wenn Sungjae das wohl kaum glauben würde. Ich hatte mein Leben besser im Griff als die meisten anderen. Ich wollte aber gerade einfach rebellieren. Ich wollte, dass meine Mutter spürte, wie es mir ging. Und dafür brauchte ich keine Freunde. Ich brauchte keine Menschen. Ich brauchte mein Durchhaltevermögen und Musik. Und meine Freunde in meiner Heimat. Ich wusste nicht, wie, aber der Rest des Schultages verging relativ schnell. Sungjae ließ mich in Ruhe meinen Gedanken nachhängen, und das war auch wesentlich besser so. Ich brauchte Zeit, um mir zu überlegen, was ich tun sollte. Sollte ich wirklich versuchen, mich locker mit Sungjae anzufreunden? So locker, dass ich ihm nach meiner Abreise zu nichts mehr verpflichtet war? Was sprach denn dagegen? Ein Kontakt wäre immerhin schon besser als nichts, und vielleicht würde die Zeit, in der ich hier festsaß, schneller vergehen. Außerdem hatte jeder eine Chance verdient, auch Sungjae. Er konnte die Zeit eh nicht schlimmer machen. „Ich kann morgen leider nicht hier sein“, sprach er mich dann doch noch einmal in der letzten Stunde des Tages an und lächelte schief. „Aber morgen ist dann einer meiner besten Freunde hier, er ist in Ordnung. Und er hat kein Problem damit, mit dir ein wenig Zeit zu verbringen.“ Ich nickte knapp. „Ist gut, ich kann ja mal gucken, ob ich mit ihm auskomme.“ Ich musste Sungjae ja nicht gleich auf die Nase binden, dass ich morgen nicht zur Schule kommen würde. Das würde er wahrscheinlich dann von seinem Kumpel hören, aber auch damit konnte ich leben. Solange er mich nicht löcherte. „Kannst du mir die Daten der Prüfungstage geben?“, fragte ich noch nebenbei, denn irgendwie hielt ich es doch für gut, zumindest kurz vor den Prüfungen und natürlich während der betroffenen Tage in die Schule zu gehen. Sonst war es mir wirklich relativ egal. Das würde man zwar auch an den Noten sehen, aber es waren meine Noten, wenn jemand damit ein Problem haben sollte, dann ja wohl ich. Ich zwang mich zu einem kleinen, dankbaren Lächeln als Sungjae die Daten auch noch in meinen Kalender eintrug, und irgendwie fiel mir dieses Lächeln gar nicht so schwer. War positives Denken etwa ansteckend? Hatte er mich damit infiziert? Na ja, solange es außer ihm niemand bemerkte, war das schon okay. Das würde sich auch wieder geben. Wenn ich nicht allzu oft mit ihm zusammen hing. Und außerhalb der Schule würden wir uns eh nicht oft sehen. Hoffnung auf Heilung bestand also. Nach dem Unterricht machte ich mich auch direkt auf den Weg zu der Haltestelle, an der mein Bruder und ich einsteigen mussten. Ich wollte nicht unbedingt mit ihm zusammen gehen. Dabei würde nur wieder Streit herauskommen, und ich hatte heute genug gegen ihn gekämpft. Aber ich konnte ihm auch nicht dauerhaft aus dem Weg gehen, spätestens am Gleis in der Station würden wir uns sehen. Sollte ich mich vielleicht bei ihm entschuldigen? Ich hatte übertrieben reagiert, wenn ich ehrlich war. Aber andererseits hatte ich mich nur gewehrt, gegen einen gut verborgenen Angriff. Und außer meinem Bruder hatte ich hier niemanden, dem ich vertraute. Meine Mutter und ich kämpften immerhin noch immer gegeneinander. Und Sungjae kannte mich erst einen Tag lang. Sicherlich nicht. „Josh?“, sprach ich meinen Bruder also leise an der Haltestelle an und wartete, bis er mich ansah. Sein Blick war nicht sonderlich freundlich, aber auch nicht komplett ablehnend, das war doch schon mal gut. „Es tut mir leid. Das von vorhin. Du weißt schon.“ Gott, ja, ich war schlecht darin, mich bei jemandem zu entschuldigen. Weil ich es nicht oft tat. Und deswegen sah mein Bruder mich auch ein wenig überrascht an. Er wusste genau, dass ich es hasste, mich zu entschuldigen. Hoffentlich wusste er das dann jetzt auch zu schätzen. „Ist schon okay. Du hast es nicht so gemeint. Denke ich. Aber glaubst du wirklich, dass ich dich im Stich gelassen habe?“ Ein leises Seufzen entkam mir. Was sollte ich darauf antworten? Mein Bruder wollte die Wahrheit von mir, dann sollte er sie auch bekommen. „Manchmal fühlt es sich so an. Du tust nichts, um dich zu wehren, du akzeptierst einfach alles. Du suchst dir neue Kontakte hier, anstatt alles daran zu setzen, Carola zu einem Rückzug zu bewegen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich ganz allein in dem Kampf und du wärst nur der Zuschauer. Das ist wie ein kleiner Verrat.“ Was gab ich hier eigentlich gerade von mir? Das klang schnulzig wie sonst nichts, ging ja mal gar nicht. Aber es war verdammt noch mal mein kleiner Bruder, der diese Seite doch zu einem kleinen Teil schon kannte. Das war wohl in Ordnung, oder? „Du weißt, dass wir Carola nicht dazu bringen können, zurück zu gehen. Und selbst wenn wir jetzt wieder nach Deutschland gehen, wir stehen vor dem Nichts. Hier komme ich die nächsten zwei Jahre nicht mehr weg, also muss ich mich mit der Situation anfreunden. Ich versuche, das Beste daraus zu machen. Weil ich keine andere Wahl habe. Und eigentlich sind die Jungs gar nicht so übel, auch Sungjae nicht. Ich mag ihn irgendwie.“ Ich nickte leicht, bevor wir in die Bahn stiegen und uns einen Platz suchten, wo wir gemütlich sitzen und uns unterhalten konnten. Joshua hatte recht, wenn er sagte, dass wir unsere Mutter nicht umstimmen konnten. Auch wenn es mir gar nicht gefiel, sie liebte Daniel, und der würde nicht mit uns nach Deutschland kommen. Wahrscheinlich zumindest. Wir würden sie nicht dazu bekommen, mit uns zurückzugehen. „Sungjae ist schon in Ordnung, auch wenn mir seine stille Seite lieber ist“, ergänzte ich die Aussage schließlich und strich mir durch die Haare. „Lief bei dir denn eigentlich alles gut heute?“, erkundigte ich mich, um doch von dem Thema wegzukommen. Ich wollte nicht über Sungjae nachdenken, nicht jetzt, wo ich gerade meine verdiente Ruhe zurückerobert hatte. Den Rest der Heimfahrt über plauderten wir über dies und das, und ich stellte fest, dass mein Bruder zum Teil die gleichen Lehrer hatte wie ich. Im Gegensatz zu mir hatte er sogar schon einige Wörter koreanisch heute gelernt, was wohl auch daran lag, dass er den Lehrern im Gegensatz zu mir zuhörte und den Kontakt zu seinen Mitschülern suchte. Mein Bruder war so unheimlich anpassungsfähig. Gut, ich konnte mich auch schnell einer Situation anpassen, wenn ich denn wollte. Aber ich wollte nicht. Ich war heilfroh, als wir wieder zuhause angekommen waren. Auch wenn ein leichtes Mittagessen bereit stand, verzog ich mich erst einmal nach oben in mein Zimmer, hängte meine Schuluniform weg und schlüpfte in Jeans und T-Shirt. So fühlte ich mich immerhin schon wesentlich wohler, sodass ich dann auch zum Essen ging. Richtiges Abendessen gab es nur abends mit der Familie, auch wenn ich damit nicht wirklich glücklich war. Es ließ sich damit leben. Genauso wie es sich ohne Menschen ganz gut leben ließ, aber drei oder vier doch ganz gut waren, um einem Gesellschaft zu leisten. _________________________________________________________ Endlich wurde jetzt das Geheimnis gelüftet, um welche Band es sich handelt. *0* Solltet ihr Sungjae nicht zuordnen können - er ist der Maknae von BTOB. Und ich liebe diese Band seit Monaten so abgöttisch. Q__Q Wenn ihr sie nicht kennt - anhören bitte! Sie sind~~ so unbeschreiblich. Wer mit mir Fachdiskutieren will, kann das gern tun. Auf FB oder hier, je nachdem. :'D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)