Fremde Welten: Das Schloss am Meer (#2) von Purple_Moon (Crimsons eigene Serie, yay!) ================================================================================ Kapitel 36: Todesangst ---------------------- Crimson sah in seinem Büro auf der Pinnwand nach und stellte fest, dass für den nächsten Tag bereits alle Aufträge durchgeplant waren, und für heute stand später noch ein Gang in den Garten an. Sah alles nicht besonders kompliziert aus. Allerdings erwartete er Ray jeden Moment zurück... und das seit einer halben Stunde. Allmählich lief ihm die Zeit davon. Als Cathy einen Ankömmling meldete, hoffte er, dass es der Prinz war, und war fast enttäuscht, als es sich nur um Dark handelte, der vom Kristallschloss zurückkehrte. Er überbrachte einen Brief von Shiro, denn Crimson hatte ihn gebeten, nachzufragen, wie es mit Olvins Sohn stand. „Aha... okay, Vater schreibt, dass Olvins Sohn, Ujat, sich nicht mit mir treffen will, bevor er sich mit seinem Vater ausgesprochen hat, weil er sonst für meine Sicherheit nicht garantieren kann.“ Stirnrunzelnd blickte er zu Dark auf. „Was bedeutet das?“ Dark zuckte mit den Schultern. „Shiro meinte, der Mann sei verbittert, weil er zehn Jahre lang nichts mit Olvin zu tun haben wollte, und nun muss er erfahren, dass du daran schuld bist.“ „Moment mal, ich bin nicht schuld daran, dass er Gerüchte über seinen Vater geglaubt hat! Gut, ich hab sie in die Welt gesetzt, aber er hätte etwas mehr Vertrauen haben sollen.“ „Jedenfalls ist es wohl besser, dass er dich nicht zu fassen kriegt, bevor dein Projekt fertig ist. Hier sind noch einige Briefe, die Shiro mit ihm ausgetauscht hat und die vielleicht für Olvin interessant sein könnten, damit du Ergebnisse in der Hand hast. Auch ein Brief von deinem Vater an Olvin ist dabei, in dem er bestätigt, dass er in deinem Auftrag mit Ujat in Kontakt steht. Es wird auf jeden Fall ein Treffen mit dem Sohn geben, also ist es doch in Ordnung, oder?“ „Ja, denke schon. Danke.“ Crimson nahm die mit einem stabilen Band verschnürten Briefe entgegen. Er beschloss, sie in Ruhe zu lesen, bevor er Olvin davon erzählte. „Wenn du mich dann nicht mehr brauchst, würde ich Blacky und den anderen entgegen fliegen,“ schlug Dark vor. „Es wäre mir eigentlich lieber, wenn du herausfinden könntest, wo Ray bleibt.“ Crimson konsultierte seine Pinnwand. „Er war unterwegs zu den Magiern des Grauen Gipfels. Der Weg ist nicht übermäßig weit, aber die Luft dort oben ist etwas dünn. Vielleicht ist etwas passiert.“ Er hatte diesen Verdacht kaum geäußert, als Cathy einen weiteren Ankömmling meldete. Aber es war wieder nicht Ray, sondern ein Unbekannter auf einem grauen Drachen, dessen Haut wie Stein aussah. Crimson und Dark eilten zum Haupttor, um den Besucher zu empfangen. Kurz darauf stieß auch Sorc zu ihnen. Der Drache landete vor dem Schloss und der Reiter sprang elegant zu Boden. Als er die Kapuze der grauen Kutte nach hinten streifte, stellte sich heraus, dass es sich um eine junge Frau handelte. Sie hatte rotbraunes, krauses Haar, das einen Kranz um ihren Kopf bildete. Ihre Augen zeigten ein auffällig klares Blau in einem feinen Gesicht mit heller Haut. „Ich bin die Abgesandte des Grauen Gipfels!“ verkündete sie. „Wer von euch ist der Schlossherr des Lotusschlosses?“ Crimson trat einen Schritt vor. „Das bin ich.“ Anscheinend legte sie auf Namen keinen Wert. „Unser Ältestenrat sendet dir dies.“ Sie überreichte ihm einen kleinen Lederbeutel. Das Leder war dünn und ließ erahnen, dass sich darin kleine Steine befanden. Crimson warf einen Blick hinein und nahm einige der Steine heraus. Es handelte sich um gelbe, undurchsichtige Kristalle. Schnell tat er sie zurück und reichte Sorc den Beutel. „Geh in den Turm und kümmere dich um den nächsten Arbeitsschritt. Mach schnell.“ Der Chaoshexer widersprach nicht, sondern wandte sich sogleich zum Gehen. Jedoch suchte er zuvor noch kurz Blickkontakt, und Crimson war klar, dass er sich um Ray sorgte. Crimson hätte sich lieber selbst mit seinem Elixier befasst, doch die Botin war speziell zu ihm gekommen, also konnte er nicht einfach gehen. Sorc würde ohnehin mitbekommen, was nun folgte. Jedoch schätzte Crimson ihn so ein, dass er dennoch seine Aufgabe bewältigen konnte. „Richtet dem Ältestenrat meinen Dank aus,“ sagte Crimson und neigte höflich den Kopf. „Aber bitte verratet mir, was ist aus dem Boten geworden, den ich zu Euch geschickt habe? Ist ihm etwas zugestoßen?“ „Seine Hinrichtung ist für heute Nacht angesetzt,“ antwortete sie schlicht. Crimson entglitten alle Gesichtszüge. „Hinrichtung? Aber... weshalb denn?“ Er spürte ein Beben in der Luft, eine Schwingung in der Magiestruktur des Schlosses. Dark veränderte seine Haltung und sah sich um, aber die Abgesandte und ihr Drache gaben keine Anzeichen zu erkennen, dass sie etwas bemerkt hatten. „Der Magier Namens Ray hat unser Heiligtum bestohlen. Als wir ihm nicht gaben, was er begehrte, wollte er es sich heimlich aneignen,“ gab die junge Frau Auskunft. „Darauf steht der Tod. Wir gewähren seinen letzten Wunsch, dass du bekommst, was er dir bringen sollte, Herr des Lotusschlosses. Jedoch nur, weil er uns versicherte, dass die Kristalle hier gebraucht werden, um ein Leben zu retten.“ „Das... muss alles ein Missverständnis sein,“ presste Crimson hervor. „Bringt mich vor Euren Ältestenrat. Gewiss gibt es eine Möglichkeit, Ray vor diesem Schicksal zu bewahren! Er ist schließlich nur der Bote!“ Die Abgesandte nickte sofort. „Natürlich könnt Ihr als sein Auftraggeber an seiner Stelle sterben.“ So sachlich und völlig selbstverständlich vorgetragen traf die Antwort wie ein Schwerthieb. [„Nein, Crimson!“] Sorc konnte oder wollte sich nicht länger zurückhalten. [„Ray würde nicht wollen, dass du dich opferst! Ich werde es tun.“] [„Und ich will nicht, dass du dich opferst,“] entgegnete Crimson. Er starrte vor seine Füße auf den Boden und ließ die Information sacken. [„Das ist... vielleicht auch nur ein Test! Es muss einfach ein Test sein.“] [„Das kannst du nicht wissen! Lass mich an deiner Stelle...“] [„Nein. Du kannst nicht einmal dorthin reisen, Sorc. Und du hast mir selber gesagt, dass du auf diesem Gelände sterben musst, damit dein Bewusstsein danach nicht ziellos umherirrt.“] Über die Gedankenverbindung kam ein leidender Laut. [„Bitte darum, dass es... gleich hier getan wird,“] versuchte Sorc es ein letztes Mal. [„Ich kann keinen von euch sterben lassen. Eure Mutter würde sonst den Grauen Gipfel dem Erdboden gleichmachen, und dafür will ich nicht verantwortlich sein,“] erwiderte Crimson. [„Du musst etwas anderes für mich tun, Sorc. Wenn ich sterbe, musst du das Elixier vollenden. Verstehst du mich?“] [„Ja, ich... habe verstanden. Ich weiß, was zu tun ist.“] Crimson nahm einen tiefen Atemzug und richtete sich gerade auf, wobei er die Schultern zurück nahm und das Kinn anhob, wie Sorc es ihm gezeigt hatte. Die ganze gedankliche Unterhaltung hatte nur wenige Sekunden in Anspruch genommen, so dass seine Antwort noch schnell genug kam: „Ich bin einverstanden. Tötet mich und lasst Ray frei.“ Die Worte fühlten sich in seinem Mund rau an, er kam sich heiser vor. Neben ihm sog nun auch Dark scharf die Luft ein, doch er griff nicht ein. Wahrscheinlich dachte er schon über einen Plan nach, genau wie Sorc. „Ich werde es den Ältesten ausrichten und Euch erwarten. Kommt nicht zu spät. Der Zeitpunkt ist auf keine genaue Stunde festgelegt, nur auf die Nacht. Das Feuer ist dann besser sichtbar.“ Sie stieg ohne weitere Umschweife und ohne irgendeine sichtbare Gefühlsregung auf ihren Drachen, und dieser stieß sich mit einem kräftigen Flügelschlag vom Boden ab. Staub und trockenes Laub flogen den Magiern um die Ohren. Als das Geschöpf am Horizont kleiner wurde, fand Crimson seine Sprache wieder. „F-Feuer? Oh bitte... bitte nicht so...“ Wenn es nun doch kein Test war? „Crimson...“ Dark schloss ihn in die Arme. „Mach keinen Unsinn, okay? Wir finden einen Weg. Wir werden Ray befreien.“ Sein Cousin hörte ihm kaum zu. „Vielleicht meinte sie mit Feuer nur... irgendwelche Lagerfeuer... Ich... ich sollte wohl einen Brief an Vater schreiben, bevor ich losfliege, und ich brauche einen schnellen Drachen...“ Dark packte seine Schultern und rüttelte ihn energisch. „Crimson! Hör mir zu! Du wirst dich nicht opfern, verstanden? Du wirst natürlich so tun, aber wir holen dich da schon raus!“ „Ich will nicht als Lügner dastehen,“ murmelte Crimson. „Vielleicht... kann ich mit denen reden oder so... ihnen was anbieten... aber ich will nicht den Ruf haben, dass ich mein Wort nicht halte oder mich vor Strafe drücke.“ „Es geht hier um dein Leben, da musst du mal Prioritäten setzen! Was nützt dir deine Ehre, wenn du tot bist?“ „Ich... ich weiß nicht... lass uns erstmal hinfliegen und jemanden finden, der mit sich reden lässt...“ Crimson fühlte sich überfordert und außerstande, klar zu denken. „Das wird schon alles gut,“ versicherte Dark, aber seine Stimme klang nicht überzeugt. „Ich komme mit dir mit. Wie es auch ausgeht, ich bin an deiner Seite.“ Crimson nickte dankbar. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken durcheinander. Er überlegte, was er noch erledigen musste oder konnte, wem er Briefe hinterlassen sollte, wen er vielleicht zu seinem Nachfolger machen konnte. Doch zuletzt kam er immer wieder zu einer Frage zurück: Konnte er es schaffen, zum Grauen Gipfel zu fliegen und würdevoll in den Tod zu gehen? Dark nahm telepathischen Kontakt zu Yugi und Blacky auf und sagte ihnen, dass sie mit den Kindern noch eine Weile wegbleiben sollten. Crimson wagte es nicht, sich von ihnen allen zu verabschieden, das traute er sich nicht zu. „Sie haben gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber sie denken wahrscheinlich, dass es hier eine Überschwemmung gibt oder so.“ „Gut... Ich werde mal zu Sorc hoch gehen und ihm letzte Anweisungen geben...“ Dark hielt ihn nicht davon ab und blieb im Büro zurück. Crimson fand den Weg in seinen Alchemieturm schwieriger als sonst. Er sah sich immer wieder um, denn es war das letzte Mal. Ihm blieb keine Zeit, um sich lange um viele Dinge zu kümmern. Er verzichtete sogar darauf, seinem Vater zu schreiben. Statt dessen gab er Cathy eine Botschaft für ihn. Das Schlossherz hielt sich mit Kommentaren zurück, aber Crimson wusste, dass es für ihn schlimm wäre, seinen Herrn so zu verlieren. Und dann war da Sorc. Wie sollte er mit ihm umgehen? Er versetzte sich in seine Lage. Wie musste sich jemand fühlen, der hilflos zulassen sollte, dass ein Freund sich für seinen Bruder opferte? Vor allem jemand wie Sorc, für den nichts unmöglich war? Crimson zögerte kurz vor der Tür zu seinem Turmlabor, trat dann aber doch ein. Er wusste nicht recht, was er erwartet hatte, aber sein Chaosmagier zeigte sich erstaunlich gefasst. Vermutlich tat er das ihm zuliebe... er machte ihm keine Vorwürfe, versuchte nicht mehr, es ihm auszureden. Gut möglich, dass er einen Plan verfolgte, den er nicht verriet. Crimson hoffte es einerseits, fürchtete sich aber auch davor. Niemand sollte unnötig in Gefahr geraten. „Ich habe das Elixier im Griff,“ sagte Sorc ihm. „Wie es dein Wunsch ist, werde ich dafür sorgen, dass es so eingesetzt wird, wie du es wolltest, nur eben mit mir als Ersatz.“ „Das... beruhigt mich.“ Crimson musste die Worte an dem Kloß in seinem Hals vorbei pressen. Nicht dass es nach seinem Tod noch darauf ankam, ob er sein Wort hielt, aber sein Ehrgefühl verlangte, dass er auch eine Hinrichtung nicht als Ausrede gelten ließ. „Ich habe einen Drachen,“ fuhr Sorc mit sichtlichem Zögern fort, so als gefiele es ihm nicht, den anderen auch noch seinem Schicksal entgegen zu treiben. „Er kann dich und Dark zusammen tragen, sonst wird Dark es schwer haben, ihm nachzukommen. Ich habe ihn schon gerufen, er wird bald hier sein.“ Crimson schluckte. Ihm blieb keine Ausrede, was auch gut war, denn er wollte Ray ja schließlich retten. „Und... wenn du glaubst, dass es zu schlimm wird, benutz das hier.“ Sorc nahm Crimsons rechte Hand, drückte etwas hinein und schloss die Finger darum, seine eigenen darüber. „Es ist... eine Droge, die deine Wahrnehmung verzerrt. Alles wird etwas blumiger, du gehst wie auf Wolken. Dein Körper wird unempfindlicher gegen Schmerzen. Aber du kannst noch aufrecht und würdevoll auftreten, wenn du dich ein bisschen konzentrierst. Es wird nur alles etwas unwirklich, wie in einem Traum.“ „Warum hast du sowas?“ fragte Crimson überrascht. „Ich bin gerne vorbereitet,“ sagte Sorc. „Ich schleppe das seit fast einem Jahr mit mir herum.“ Crimson legte seine freie Hand auf Sorcs. „Danke.“ Er wollte sich ohnehin ein Gift mitnehmen, aber Gifte töteten selten ohne unangenehme Nebeneffekte, da machte er sich nichts vor. Darauf konnte er nun zum Glück verzichten. „Behalt die Gedankenverbindung, dann helfe ich dir, es wie ein Prinz hinter dich zu bringen. Aber versprich mir, dass du zuerst alles versuchst, um diese Leute umzustimmen, ja?“ Mehr als ein Nicken brachte Crimson nicht mehr zustande. „Ich wünschte, ich hätte mit dem Ritual noch einen Tag gewartet,“ murmelte Sorc. „Dann müsstest du das nicht tun, sondern ich könnte gehen.“ „Es sollte wohl so sein,“ brachte der Schlossherr doch noch hervor, wenn auch nur flüsternd. Er musste nicht länger mit Sorc darüber diskutieren, wer von ihnen sein Leben opferte. Aber es war gut möglich, dass die Graugipfelmagier sowieso nur ihn akzeptierten, den Auftraggeber. An einem der Fenster huschte ein großer, schwarzer Schatten vorbei, ein tiefes Brüllen war zu hören. Cathy hatte nichts vermeldet, daher musste es sich wohl um Sorcs Drachen handeln. Der Hexer machte eine Kopfbewegung in die Richtung. „Er heißt Gandora. Ein lieber Kerl. Er landet vor dem Haupttor.“ „Dann geh ich mal... der Flug dauert ne Weile...“ Crimson entzog Sorc seine Hand und steckte die pillenförmige Droge in eine Tasche seiner Robe. Er warf einen letzten Blick auf den Raum, den Kessel mit dem Elixier und schließlich auf den Mann, der ihm in letzter Zeit nicht nur ein Freund und Vertrauter geworden, sondern richtig ans Herz gewachsen war, auch wenn sie ihre Beziehung eher förmlich als kumpelhaft hielten. Sorc gehörte definitiv zu den Menschen, die er liebte, für die er durchs Feuer gehen und sterben würde. Und wie es aussah, war er auf dem besten Wege, das zu beweisen. Er wollte es ihm sagen, aber er fand nicht die richtigen Worte. Sorc sollte ihn nicht falsch verstehen. Aber während er da stand und mit sich rang, trat ein verdächtiges Glitzern in Sorcs Augen, und er erkannte, dass er nichts sagen musste. Um den Älteren nicht zum Schluss noch in eine unangenehme Situation zu bringen, gab er sich einen Ruck und drehte sich um, stürmte regelrecht aus dem Raum und die Treppe hinunter. Der Drache Gandora beeindruckte Crimson. Sein schwarzer Körper war bedeckt von Objekten, die wie glatt geschliffene, rote Edelsteine aussahen. Er war riesig, finster, gefährlich und handzahm. Als Crimson sich ihm näherte, senkte der Drache den Kopf und atmete seinen Geruch ein. Ohne recht zu wissen wieso, streckte Crimson eine Hand aus und streichelte den Unterkiefer. Gandora kniff die Augen zusammen, zuckte mit den Flügeln und lehnte sich gegen die Hand. Ein Gurrgeräusch drang tief aus seiner Kehle. „Wow...“ Dark trat neben ihn. „Er ist größer als Schattensturm!“ „Wir sollten keine Zeit verlieren. Ray ist vor drei Tagen aufgebrochen, so dass er die Reise hin und zurück gemütlich schaffen konnte. Aber wir müssen jetzt in wenigen Stunden ans Ziel kommen!“ Crimson kletterte auf den Drachenrücken. Dark nahm hinter ihm Platz. „Crimson, hör zu. Wir können Ray gewaltsam befreien, wenn es anders nicht geht.“ Crimson schüttelte den Kopf. „Wir haben nicht genug Leute und keine Zeit. Außerdem haben sie uns gegeben, was wir wollten, obwohl Ray dort ein Gesetz übertreten hat. Es überrascht mich, dass gerade du eine gewaltsame Lösung vorschlägst, wo du doch immer der Moralapostel von uns bist!“ „Ich sagte ja auch nur, wenn es nicht anders geht! Also wenn die Diplomatie versagt! Warum hast du ihn überhaupt dorthin geschickt, wenn die Leute da so engstirnig sind? Gibt es keinen anderen Ort, wo man diese Mineralien herkriegt?“ „Nicht in dieser Qualität. Die Information fand ich in Cathys Erinnerungsspeicher. Einer seiner Herren war einmal dort.“ „Möglicherweise ist die Information schon veraltet und es ist dort heute nicht mehr so wie damals.“ „Vermutlich.“ Gandora flog los. Die Magier mussten sich gut festhalten, als er schnell in die Höhe stieg und eine Geschwindigkeit annahm, die viele Drachen nicht länger als ein paar Minuten halten konnten, wenn überhaupt. Sorc gab sich in Crimsons Gedanken zu erkennen und hakte sich fester bei ihm ein, weil die Entfernung größer wurde. [„Gandora kennt das Ziel. Halt dich einfach fest.“] Crimson empfing einen Gedanken wie ein Flüstern, so als sollte er den nicht hören. Er verstand die Worte nicht, begriff aber den ungefähren Sinn: Wenn es keinen anderen Weg gab, konnte Gandora für ihn kämpfen. [„Sorc, ich will Opfer vermeiden,“] sandte er. [„Und ich will vor allem dein Opfer vermeiden,“] kam sogleich die Antwort. [„Hast du dir jemals Gedanken darüber gemacht, ob die moralisch beste Lösung immer auch die sinnvollste ist?“] Nun, dafür hatte er ja jetzt Zeit. Die Magier des Grauen Gipfels hatten Ray zum Tode verurteilt, weil er etwas aus dem Heiligtum gestohlen hatte. Die Abgesandte hatte berichtet, dass er zuerst gefragt hatte, und sie hatten seine Bitte abgelehnt. Crimson fühlte sich umso mehr verantwortlich – Ray hatte das für ihn getan, weil die Zeit nicht ausreichte. Er hätte gleich jemanden zu einer alternativen Beschaffungsquelle schicken sollen, falls es auf dem Gipfel schiefging. Andererseits hatte er keinen Grund dafür gesehen. Cathys Speicher enthielt keine Informationen über ein Risiko, auch nicht über ein Heiligtum; deshalb hatte er gedacht, es sei sicher, eine reine Verhandlungssache. Ob Ray sich den Magiern als Prinz der Eisigen Inseln vorgestellt hatte? Ob das wohl einen Unterschied für sie machte? Seine Tat blieb immer noch ein Verbrechen, das in dieser Gesellschaft mit dem Tode bestraft wurde. Politische Argumente zählten da häufig nicht. Crimson rechnete es den Magiern des Gipfels hoch an, dass sie trotz allem die Steine geliefert hatten. Aber etwas wirkte da seltsam, als er sich die Szene noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen ließ. Wenn die Steine aus dem Heiligtum stammten, wieso gaben sie sie dann so einfach her, bloß weil es Rays letzter Wunsch war? Weil er sie eh schon aus dem Heiligtum entfernt und damit entweiht hatte? Oder aus Respekt vor dem letzten Wunsch eines zum Tode Verurteilten? Vielleicht fehlten ihm auch einfach nur einige Informationen, um das alles zu verstehen, denn die Abgesandte hatte ja nicht viel dazu gesagt. Andererseits... sollte er sich an solche Hoffnungen klammern? Der Ritt gehörte zur brutalen Sorte, unbequem und kalt in den Luftschichten so weit oben und mit dieser Geschwindigkeit, aber weder Dark noch Crimson ließ Gandora langsamer werden. Die Tageszeit schritt voran, und sie konnten nur hoffen, dass die Gipfelmagier ihre Hinrichtungen erst später in der Nacht durchführten. Mit zunehmender Entfernung konnte er die Verbindung zu Sorc nicht mehr aktiv aufrechterhalten, aber sie war noch da. Nur schien Sorc auf etwas anderes konzentriert zu sein, aber Crimson vertraute darauf, dass er zurück sein würde, wenn er ihn brauchte. Hinter sich spürte er Darks Körper, der gegen ihn gepresst war, weil der andere sich an ihm festhielt. Er musste die nächsten Stunden – seine letzten Stunden – nicht allein durchstehen. Crimson versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er noch hätte erledigen sollen, was er im Leben noch alles hätte erreichen können... Seine Überlegungen drifteten immer wieder von selbst in diese Richtungen ab. Allerdings fand er das besser, als sich über das Sterben Gedanken zu machen. Am meisten fürchtete er sich davor, dass er sich kurz vor dem Ende noch total blamierte, etwa indem er mit weichen Knien zusammenbrach. Als der Graue Gipfel in Sicht kam, bot sich ihm der beeindruckende Anblick eines Berges, dessen Spitze von Wolken umgeben war, hinter denen einige Feuer schimmerten. Der Berg konnte in den höheren Regionen kaum Flora vorweisen, daher wohl die Bezeichnung Grauer Gipfel. Gandora stieß schon aus der Ferne einen langgezogenen Schrei aus, was im Schattenreich üblich war, wenn man die Bewohner des Zielortes nicht verschrecken wollte. Der Gipfel an sich sah aus wie ein Vulkankrater... von einem Ring aus hohen Felsen umgeben, befand sich eine Siedlung in einer Vertiefung von mehreren Hundert Metern Durchmesser. Der Drache kreiste darum herum und suchte nach einem Landeplatz. Crimson indessen suchte bereits die Gegend ab und erkannte im Halbdunkel zu seinem Entsetzen, dass sich außer einigen kleinen Lagerfeuern auch ein großer, ordentlich gestapelter Holzhaufen in der Mitte des Platzes befand, der aber noch nicht brannte. Der Haufen war oben abgeflacht und links und rechts von einer hölzernen Säule flankiert, die jeweils mit bunten Bändern und Blumen geschmückt waren. Sah so aus, als machten die Magier aus ihren Hinrichtungen ein Fest. Ray war nirgends zu entdecken, doch zahlreiche Magier versammelten sich, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Hoffentlich freundlich. Gandora landete vorsichtig auf einer ausreichend großen, freien Fläche, was nicht so leicht war. Aber der Drache schaffte es mit geübter Geschicklichkeit, als müsste er das öfters tun. Dark sprang herunter, dann auch Crimson, und gleich darauf nahm Gandora eine handliche, adlergroße Gestalt an und verschwand in den Felsen. Personen in grauen Kutten versammelten sich um die beiden Ankömmlinge. Crimson verneigte sich zum Gruß in Richtung eines besonders wichtig aussehenden Exemplars, das einen Schritt weiter vorne stand als die anderen. „Ich bin hier, wie vereinbart. Ich bin bereit, für meinen Boten zu sterben.“ Seine Hand kontrollierte, ob die Pillchen von Sorc noch da waren. Verhüllte Gesichter wandten sich einander zu, Gemurmel wurde laut. „Wir würden aber gern zunächst mit dem Ältestenrat darüber reden, ob dieser Schritt wirklich nötig ist,“ fügte Dark hinzu. Der Magier, den sie für den Anführer hielten, streifte die Kapuze nach hinten. Er war ein verhältnismäßig junger Mann und sah der Abgesandten auffällig ähnlich, mit den gleichen blauen Augen und rotbraunen Haaren. „Ich bin Janis, Leiter der Zeremonie. Ihr müsst wohl Crimson, der Schlossherr von Schloss Lotusblüte sein,“ stellte er fest. „Es ehrt Euch, dass Ihr für Euren Boten sterben wollt, aber ganz so schlecht geht es ihm nicht. Hier entlang...“ Der Mann gab ihnen Zeichen, ihm zu folgen, als Crimson nicht gleich in Gang kam. Dark legte einen Arm um ihn und schob ihn vorwärts. Was ging hier vor? Janis führte sie zwischen den Felsen entlang und durch einen versteckten Pfad ein Stück den Berg hinab, bis sie an mehreren Höhleneingängen vorbeikamen und in einen davon eintraten. Darin schwebten Lichtorbs und sorgten für Helligkeit und Wärme. Eine ältere Frau erhob sich von einem Hocker, der neben einem niedrigen, schlichten Bett stand. Wortlos verneigte sie sich kurz und räumte das Feld für die Besucher. Crimson beschleunigte seine Schritte und fiel neben dem Bett auf die Knie. „Ray! Ein Glück, wir sind noch rechtzeitig gekommen!“ Der Prinz öffnete die Augen einen Spalt und lächelte ansatzweise. Sein Gesicht war schweißnass und sein Haar klebte in Strähnen am Kopf. „Keine Angst, Euer Freund hat das Schlimmste schon hinter sich,“ sagte Janis. „Was hat meine Tochter Euch da nur erzählt, dass Ihr denkt, er wäre todkrank? Oder vielleicht Shazera, hat sie vielleicht ihre Streiche mit Euch getrieben? Jedenfalls gab es wohl ein Missverständnis, das tut mir Leid.“ „Er, äh... soll nicht hingerichtet werden?“ hakte Dark nach. „Oh, wieso denn?“ Der Magier bekam ganz große Augen. „Dieser Mann hat eine Nahrungsvergiftung. Er muss unterwegs giftige Beeren gegessen haben. Als er eintraf, zeigte er bereits erste Symptome, und unser Heiler hinderte ihn daran, den Rückweg anzutreten – was gut war, wie Ihr seht. In einem klaren Moment drängte er uns, Euch eine Handvoll Sonnenquarz zu liefern.“ „Dann... hat er nicht Euer Heiligtum bestohlen, um an die Steine zu kommen?“ fragte Crimson hoffnungsvoll. „Ihr... wollt ihn nicht töten?“ „Selbstverständlich nicht! Und wir haben zwar ein Heiligtum, aber da gibt es nichts zu holen.“ „Aber... der Scheiterhaufen...“ stammelte Crimson. Die Mine des Magiers betrübte sich, er schloss einen Moment die Augen und legte seine Hand auf seine Brust. „Der alte Merigor ist vor zwei Tagen von uns gegangen. Sein Körper soll heute Nacht verbrannt werden.“ Crimson spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich, als ob ein Gewicht, das zu tragen ihn sehr angestrengt hatte, plötzlich von ihm genommen wurde, so dass er erschöpft zusammenbrach. Zum Glück kniete er bereits, so ließ er sich einfach noch etwas tiefer sinken. „Oh... ich dachte schon...“ „Ich... habe das allerdings auch so verstanden, dass Ray zum Tode verurteilt wurde,“ wandte Dark ein. „Eure Tochter... Shazera, sie sagte...“ „Nein, nein,“ unterbrach Janis. „Shazera ist meine Schwester. Meine Tochter heißt Jazella.“ Crimson blickte von der Matratze auf. „Ja, aber... nur eine Frau war bei uns, eine junge Frau, die Euch sehr ähnelt. Sie stellte sich uns nur als Abgesandte des Grauen Gipfels vor...“ Janis verdrehte die Augen. „Das sieht ihr ähnlich. Merkwürdig, dass ihre Tante nicht bei ihr war. Sie ist Jazellas Mentorin und lässt sie eigentlich nicht aus den Augen.“ Dark blickte zwischen den beiden anderen hin und her. „Was hat das zu bedeuten?“ „Ich weiß es nicht,“ sagte Janis. „Möglicherweise ist Shazera etwas zugestoßen, so dass sie Jazella allein geschickt hat, oder sie hat eine Übungslektion daraus gemacht...“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber mir scheint, das Mädel hat sich einen üblen Streich erlaubt.“ „Nur ein... Streich...“ murmelte Crimson uns ließ seinen Kopf wieder auf das Bett sinken. Ray murmelte undeutlich vor sich hin, doch es klang wie „Gefahr“. Crimson runzelte die Stirn. Er spürte, wie der Körper des Prinzen sich anspannte. Was meinte er? Legte Janis ihn herein? Doch der Mann hatte gar keinen Grund, einen Groll gegen ihn zu hegen. Ray drehte den Kopf und sah ihn aus fiebrigen Augen an. „Soach...“ „Oh ja,“ fiel es Crimson ein. „Ich muss deinem Bruder sagen, dass du außer Gefahr bist. Der ärmste sorgt sich bestimmt schon.“ Er bemühte sich, Sorc zu erreichen, fand es jedoch schwierig. Nie zuvor hatte er versucht, jemanden auf so lange Distanz telepathisch zu kontaktieren. Generell fehlte ihm in diesem Bereich völlig die Übung. Allerdings ging es hier um Sorc. Die Verbindung bestand bereits. Es sollte eigentlich einfacher gehen. Auch sein Schlossherz antwortete ihm nicht. Dann, nach einigen Minuten, erhielt er endlich eine Antwort. [„Crimson!“] rief Sorc in seinem Kopf. [„Vergib mir... ich war etwas abgelenkt.“] Crimson blickte Ray an und sandte Sorc, was er sah. [„Es ist alles in Ordnung... Ray ist krank, aber er wird nicht hingerichtet, und damit ich auch nicht.“] Über die Gedankenverbindung schwappte Erleichterung wie eine Flutwelle. Dies bedurfte keiner Worte. Doch das Gefühl dauerte nur kurz an, denn er sah durch Sorcs Augen einen Blick von einem der Türme. Draußen, an der Grenze des Einflussbereiches von Catherine, konnte er in der nächtlichen Dunkelheit das Schimmern eines Schutzfeldes erkennen, auf dem Sorcs geheimnisvolle Schriftzeichen aufglommen, wenn etwas darauf traf. Außerhalb des Schildes stand eine Armee aus Kriegern, Ungeheuern und schattenhaften Kreaturen. Weiter hinten brannten einige Feuer in einem kleinen Lager. [„Ich habe hier ein geringfügiges Problem, aber es ist eine gute Gelegenheit, den verbesserten Verteidigungsmodus zu testen...“] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)