Fremde Welten: Das Schloss am Meer (#2) von Purple_Moon (Crimsons eigene Serie, yay!) ================================================================================ Kapitel 1: Ein Anschlag auf die Gesundheit ------------------------------------------ Jemand schüttelte ihn gereizt. „Meister! Wach auf! Was ist denn mit dir, bist du unter Narkose oder was?“ „Uh...“ Crimson stöhnte auf und rieb sich die Augen. „Hab nen Schlaftrunk genommen...“ Eria blinzelte ihn überrascht an. „Das sieht dir ja gar nicht ähnlich, hast du das nicht in letzter Zeit immer abgelehnt? Wirst du endlich vernünftig? Ich weiß ja, dass man nicht dauernd auf solche Hilfsmittel zurückgreifen soll, aber wenn man immer schlecht schläft...“ Crimson hatte niemandem von den seltsamen Vorfällen erzählt, die ihn so zermürbten, denn sie betrafen immer nur ihn und konnten stets mit eigener Schusseligkeit erklärt werden, verursacht durch Stress. Das kam nunmal vor, wenn man eine Schule gründete. Er hatte oft keinen oder nur wenig Schlaf bekommen in letzter Zeit, aber diese Nacht hatte er sich ein Mittelchen gegönnt. Schließlich hatte Olvin ihn besucht und ihm seinen Standpunkt dargelegt, also war nicht damit zu rechnen, dass sofort noch etwas passierte. Das hatte er ausgenutzt, zumal er sonst heute völlig übernächtigt gewesen wäre vom vielen Grübeln. „Wie spät ist es... ich muss das Frühstück machen, oder?“ „Darum haben wir anderen uns schon gekümmert,“ verkündete seine Schülerin stolz. „Meinst du, niemand hat bemerkt, wie erschöpft du in letzter Zeit warst? Du solltest dir mehr Ruhe gönnen, Meister. Aber bald fängt der Unterricht an.“ Crimson dachte darüber nach, während er die Beine aus dem Bett schwang, darauf achtend, dass die Decke ihm nicht wegrutschte. Jetzt, wo er wieder wach war, kamen auch die Sorgen zurück. Konnte er sein Schicksal irgendwie abwenden? „Eria... wenn jemand dir etwas Schlimmes angetan hätte, etwas... das dein Leben verändert, und du willst dafür Rache... was müsste geschehen, damit du deine Meinung änderst und... denjenigen verschonst?“ fragte er vorsichtig. Sie sah ihn erstaunt an. „Warum fragst du? Hast du Probleme?“ „Versuch einfach, mir zu antworten.“ „Uhm... erstmal müsste derjenige sich entschuldigen, und zwar richtig, also nicht nur so wischi-waschi. Dann wäre eine Entschädigung fällig, soweit das möglich ist. Und vielleicht noch etwas mehr, denn normalerweise gibt es ja dann immer Schaden, der nicht mehr wiedergutgemacht werden kann, nicht wahr?“ „Hm... ja.“ Ihre Worte waren logisch und bestätigten eigentlich seine eigene Meinung. Nur, war das auch die von Olvin? Der Alte wollte ihm schaden, aber Crimson hatte natürlich kein Interesse daran, sich alles nehmen zu lassen, was er in den letzten Monaten erreicht hatte. Hätte er doch nur eher gewusst, dass es Olvin war... dann hätte er längst etwas unternehmen können. In so einer Situation hatte man grundsätzlich die Wahl, den Feind gewaltsam zu entfernen oder ihm entgegen zu kommen. Crimson fand ersteres zu gefährlich für die Schüler, auch wenn das alte Gemäuer momentan nicht viele beherbergte. Er hatte nie so recht über Olvin nachgedacht, nicht einmal nach den Geschehnissen mit Sorc und Malice. Doch nachdem der Alte ihm letzte Nacht gesagt hatte, was sein Streich damals für Folgen für ihn gehabt hatte, war er sehr nachdenklich geworden. Und jetzt versank er schon wieder dermaßen in Grübeleien, dass Eria sich Sorgen machte. „Meister? geht es dir gut?“ Crimson schreckte hoch. „Ah! Ja, ja... Nein. Eria, ich lasse den Unterricht heute ausfallen, es gibt da etwas... also, ich muss ein paar Dinge überdenken.“ „Klar doch... ich hab ja selber gerade gesagt, dass du dich mehr ausruhen sollst, also nimm dir ruhig mal einen Tag Zeit... Mava und ich schaffen das schon. Und in der zusätzlichen freien Zeit können die Schüler Kuro im Garten helfen und dann---“ „Ja, mach es so,“ unterbrach er sie, da seine Gedanken eh schon wieder woanders waren. Arme Eria. Er vermutete, dass sie in letzter Zeit glaubte, ihm zur Last zu fallen. Deshalb bemühte er sich um ein Lächeln. „Ich werde dir und Paladia bald alles erklären. Ihr beide sollt auf jeden Fall wissen, was los ist, ja?“ Eria nickte mit besorgter Mine. „Ich sag den anderen, dass du... krank bist. Ähm... nein, dass du dich nicht gut fühlst.“ Sie huschte aus dem Zimmer. „Ich bring dir gleich etwas Frühstück,“ rief sie noch über die Schulter. Crimson sah ihr nach und seufzte. Er befand sich zum ersten Mal in einer dermaßen unangenehmen Lage... insofern, als dass er seine eigenen Missetaten eingestehen musste. Als die seltsamen Missgeschicke angefangen hatten, hatte er zunächst an Überarbeitung geglaubt. Doch bald hatte er vermutet, dass ihm jemand übel mitspielte... nur wäre er da nie auf Olvin gekommen. Und selbst wenn, hätte er bis gestern nur bedingt verstanden, was der Alte für ein Problem hatte. Der Weißhaarige zog sich einen Morgenmantel über und trat auf seinen Balkon. Er bewohnte das oberste Turmzimmer im höchsten Turm des Schlosses – desselben Schlosses, in dessen Kerker er einige Tage lang gefangen gewesen war. Nach dem Sieg über Sorc hatte sein erster Weg ihn hierher geführt, um es sich unter den Nagel zu reißen. Schließlich war es durchaus ein hübsches Gebäude in erstklassiger Lage. Direkt unter Crimson schäumte das Meer gegen eine Steilküste. Er wusste inzwischen, dass hier früher ein anderer Magier gelebt hatte, doch Sorc hatte ihm das Schloss abgejagt. Jedoch hatte Sorc offenbar nicht gewusst (oder sich nicht dafür interessiert), dass Schlösser von Magiern, oder magiehaltige Gebäude generell, einen Energiekern hatten, ein eigenständiges Bewusstsein, das den Mauern ein gewisses Leben verlieh, wenn man es denn so nennen wollte. Es wurde oft das Herz des Schlosses, der Burg oder des Turms genannt, je nachdem, und befand sich meistens in Form einer Kugel aus kristallinem Material in den Grundfesten, also noch unter den Kellergewölben oder in ihnen. Es gab sie verschieden mächtig, abhängig davon, welchen Zweck sie erfüllen sollten. Der Sinn der Sache war, dass sich ein Schlossherr mit diesem Herz verband und somit von der Magie des Gebäudes als Herrscher angesehen wurde. Ihm standen dann alle Türen und Möglichkeiten offen, während Eindringlinge aktiv abgewehrt werden konnten. Crimson wusste darüber Bescheid, weil sein Vater Shiro der Herr des Kristallschlosses war und es ihm des Öfteren erklärt hatte. Nur hatte das Kristallschloss aufgrund seiner speziellen Aufgabe, Geheimnisse zu hüten und Bewohnern Schutz zu bieten, ein Zwillingsherz aus zwei Energiekernen, und zwei Schlossherren, denn Shiro war nur mit einem von ihnen verbunden. Wer der zweite war, wusste Crimson nicht mit Sicherheit, doch er nahm an, dass es Kuro war. Da der Halunke sich dauernd in der Weltgeschichte herumtrieb, musste Shiro auch die meiste Zeit daheim bleiben, denn ein Turmherz brauchte die Nähe seines Beherrschers. Wahrscheinlich kam Kuro deswegen mindestens einmal im Jahr zu Besuch, dann aber meistens auch für mehrere Wochen. Nun hatte Crimson immer gerne im Kristallschloss gelebt, doch hatte er auch immer das ganze Gebäude mehr oder weniger für sich gehabt, wobei sein Vater nicht als störend zählte, schließlich gehörte er zu seiner Welt. Sogar Kuro war als Gast stets willkommen, jedoch... Als es dazu kam, dass Dark mit seiner Magiertruppe das Schloss beziehen sollte, schien das eine gute Idee zu sein, zumal das Schloss erstarkte, wenn mehr Magier darin lebten. Aber Crimson wollte nicht gerne teilen. Vielleicht auch nur nicht mit Dark. Auf jeden Fall hatte ihn bei näherer Überlegung der Gedanke gestört, dort dann nicht mehr das Sagen zu haben. Er würde seinen Kräutergarten anderen zur Verfügung stellen müssen, und andere Köche in die Küche lassen. Das Alchemielabor wäre nicht mehr nur für ihn da, und das passte ihm erst recht nicht. Wahrscheinlich würde ständig jemand seine Lagerbestände durcheinander bringen, oder schlimmer noch, sich an seinen geheiligten, mühsam beschafften Sonderzutaten vergreifen. Und er selbst wäre nur noch ein Bewohner von vielen, selbst als Sohn des Schlossherrn. Insofern war es ein wahrer Geistesblitz gewesen, sich Sorcs Schloss anzueignen. Direkt nach der finalen Schlacht war er hierher geflogen, begleitet nur von Eria, und hatte sich Zutritt verschafft. Denn Sorc hatte sein Schlossherz nicht erweckt – man merkte es, wenn man wusste, wie sich so etwas anfühlte, und Crimson hatte genug Zeit im Kerker verbracht, um zu festzustellen, dass es kein aktives Schlossherz gab, eventuell sogar überhaupt keines. Insofern war er auch nicht abgewehrt worden, bestenfalls von ein paar übrig gebliebenen Wächtern von Sorc, die aber kein großes Problem dargestellt hatten. In solchen Fällen musste man schnell handeln, ehe jemand anderes auf die Idee kam. Crimson und Eria hatten das Schlossherz ausfindig gemacht und er hatte sich mit ihm verbunden. Er war ganz zufrieden damit, obwohl es nur eines der Stufe 2 war. Das reichte aber im Grunde völlig aus, wenn man keine Monster unter dem Fundament versiegeln oder ein Hochsicherheitsgefängnis einrichten wollte. Das mächtigste Festungsherz, von dem Crimson gehört hatte, war ein Stufe 6, und das gehörte zur Zuflucht im Himmel und musste sehr viel mehr leisten als seines. Dazu kam noch, dass höhere Stufen schwer einen Meister fanden, weil es einfach zu schwierig war, sich mit ihm zu verbinden. Bei dem Vorgang wurde die Magie des Magiers angezapft und das Schlossherz darauf abgestimmt, dazu musste man das Herz berühren und den Vorgang bewusst zulassen. Es war nicht das, was Crimson täglich machen wollte, um es mal vorsichtig auszudrücken, denn es war für sein Ego unangenehm und für seinen Körper schmerzhaft gewesen. Doch Opfer waren nötig, um Macht zu erhalten, das war fast immer so. Die Vorteile eines Schlossherzes überwogen da eindeutig. „Cathy.“ Es dauerte kaum eine Sekunde, ehe sich die Gestalt eines schönen Jünglings durchscheinend und wenige Zentimeter über dem Boden schwebend neben ihm materialisierte. Er war hochgewachsen und schlank, fast schon so sehr, dass sein Körper in die Länge gezogen aussah. Als Kleidung diente ihm nur eine Rosenranke, die ihn dekorativ umwickelte und dabei den Brustbereich und den Unterkörper insbesondere bedeckte. Die Haut zeigte eine gesunde Bräune, etwas dunkler als Crimsons eigene. Sein rotes Haar war wirbelförmig um seinen Kopf gestylt und sah entfernt aus wie eine Rosenblüte, vermutlich ein Aussehen, das die ursprünglichen Erschaffer so festgelegt hatten, genau wie den Namen. Eigentlich hieß er nämlich Catherine, was ja normalerweise ein Frauenname war. Doch das Geschlecht, in der ein Schlossherz erschien, ließ sich nicht hundertprozentig festlegen, selbst dann nicht, wenn man ihm ein weibliches Design und einen weiblichen Namen verlieh und es nur von Frauen herstellen ließ. „Ihr habt gerufen, Meister,“ sagte Catherine und verneigte sich ansatzweise. Als er aufsah, funkelten seine Augen blattgrün. „Cathy, ich möchte, dass du nach einem Eindringling suchst, einem alten Magier. Er muss seit einer Weile hier ein und aus gehen oder sich im Schloss versteckt halten. Wieso ist dir das nicht aufgefallen, hm?“ „Ihr habt nicht gefragt.“ „Du hättest mich trotzdem darauf hinweisen können!“ „Meister, wenn Ihr es wünscht, werde ich Euch solche Dinge melden, aber dann müsst Ihr mir das vorher auftragen.“ „Sei etwas selbstständiger!“ „Verzeiht, aber mein früherer Meister bestand darauf, alles genauestens festzulegen. Solange ich keine anderen Anweisungen erhalte, bleiben diese Befehle für mich bestehen. Auch darauf hat er stets Wert gelegt.“ „Und ich dachte, mit dir verbunden zu sein, hat dir Einblicke in meinen Charakter verschafft, so dass ich nicht alles extra sagen muss.“ „Nein, Herr. Während des Fusionsvorgangs habt Ihr mir Zugang zu Eurem innersten Geist verweigert. Das ist vollkommen akzeptabel, hat aber den Nachteil, dass Ihr mir stets Anweisungen geben müsst und...“ „Ja, schon gut.“ Crimson dachte darüber nach, diese Sache nachzuholen, aber rückgängig machen ließ es sich dann nicht, ohne Cathy ganz aufzugeben und damit möglicherweise das Schloss zu verlieren. Deshalb hatte er zunächst auch nicht zugestimmt, obwohl es zu jenem Zeitpunkt einfacher gewesen wäre, als sich später erneut einer Verbindungsprozedur zu unterziehen. „Der erwähnte Magier muss sich im Schloss aufhalten. Versuch, ihn zu finden.“ „Gern, Herr. Aber ich kann immer nur einen kleinen Bereich zur gleichen Zeit überprüfen. Soll ich in den Abwehrmodus gehen? Ich weise darauf hin, dass dies in Anbetracht der geringen Bewohnerzahl des Schlosses nicht ratsam ist, es würde Euch zu viel Energie kosten. Erst, wenn mehr Magier anwesend sind, die mit ihrer Kraft meine Reserven aufladen...“ „Schon gut. Sei einfach so wachsam wie möglich. Achte darauf, wer meine Räume oder mein Labor betritt. Und sag mir Bescheid, wenn jemand auftaucht, der hier nicht sein sollte. Oder an einem Ort, wo keiner etwas zu suchen hat.“ „Sehr wohl.“ Cathy verneigte sich erneut. „Noch etwas?“ Der Geist klang leicht genervt. Crimson hatte stets das Gefühl, dass sein Schlossherz ihn noch nicht ganz respektierte. Vielleicht betrachtete es ihn als Eroberer, weil der letzte Meister ja gewaltsam entfernt worden war. Ein Schlossherz verlor seine Verbindung zu seinem Meister, wenn dieser zu lange weg war oder geistig nicht mehr daran festhalten konnte, wie zum Beispiel, wenn es sicherer für den Geist war, in den Ruhezustand zu gehen. „Du kannst gehen,“ gestattete Crimson, und Cathys Gestalt löste sich auf. Er schaute wieder nach unten. Wenn Olvin wollte, konnte er ihn hier hinunter stoßen... aber vermutlich wäre ihm das nicht genug. Crimson hatte heute keine Lust, sein Zimmer zu verlassen. Er zog sich nichtmal richtig an, sondern grübelte einfach nur die ganze Zeit, wobei er meistens auf das Meer starrte. Doch seine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte er denn auch eine Lösung finden, wenn er gar nicht wusste, womit er seinen Gegner besänftigen konnte? Eria brachte ihm Frühstück, das sie auf seinem Schreibtisch abstellte. „Meister, ich mache mir wirklich Sorgen. Es ist so gar nicht deine Art, dich so zu verhalten... Ach ja, die Lieferung von der Feenburg ist angekommen.“ Eine kleine Truhe schwebte hinter dem Mädchen herein. Sie dirigierte das gute Stück an die Seite und ließ es dort landen. Das erweckte Crimsons Interesse. „Die Heilkräuter? Sehr gut...“ Sein eigener Schlossgarten war noch nicht so gut ausgestattet wie der beim Kristallschloss. Hoffentlich kümmerte sich um den jemand... er mochte gar nicht daran denken. „Erst isst du was!“ beharrte Eria und setzte sich auf die Kiste. „Die Brühe wird sonst kalt, und es gibt Nussbrot. Dharc hat es gebacken.“ „Ah ja... er hat mir ja schon zweimal dabei zugesehen, als er Küchendienst hatte...“ lächelte Crimson. Dharc war ein eifriger Junge, es störte nur ein bisschen, dass sein Name so ausgesprochen wurde wie der eines gewissen anderen Magiers. Aber da konnte ja der ärmste nichts dafür. Crimson nahm das halbe Brot unter die Lupe, das zu seinem Frühstück gehörte. Es war ein bisschen unförmig und innen nicht luftig genug, aber... nicht ganz verkehrt. Sicherlich gut gemeint. Der Geschmack war OK, nur hätte es gerne ein bisschen crosser gebacken sein können. Ach, er war schon wieder zu kritisch. Zum Brot gab es Marmelade. Die Brühe war vermutlich zur Besserung seines Befindens gedacht, wie lieb. Nur passte sie nicht so ganz zu dem Süßen. Crimson verzehrte alles systematisch und ohne große Umschweife. „So und jetzt lass mich an die Kiste!“ „Du wirst immer so seltsam, wenn du eine Kräuterlieferung bekommst,“ neckte Eria ihn und machte Platz. „Aber willst du dir nicht erst was Anständiges anziehen? Schließlich musst du das ja im Lager einräumen...“ „Ach, Klamotten werden überbewertet. Ich kann dich schicken oder es bis morgen stehen lassen.“ Eria fasste ihm an die Stirn. „Hast du Fieber? Noch nie hast du jemandem erlaubt, dein Lager einzuordnen, und sonst machst du das auch immer sofort.“ „Nun, du bist meine Schülerin, nicht wahr? Also sollte ich dir das wohl langsam zutrauen.“ Eria lächelte beglückt. „Ja! Ich mache das schon!“ Crimson kniete sich auf den Boden, klappte den Deckel hoch und betrachtete die Lieferung. „Ah, dieser Duft! Bloß schade, dass ich sie nicht ganz frisch kriege. Hoffentlich hat Weaver daran gedacht, mir Samen dafür zu schicken.“ Er packte die Kräuterbündel vorsichtig aus, betrachtete alles und war dabei ganz in seinem Element. Es handelte sich größtenteils um getrocknete Kräuter, aber ein paar waren mit Wurzel und nur etwas verwelkt, wie er mit Begeisterung feststellte. „Sieh nur! Sie brauchen etwas Wasser, aber dann kann Kuro sie im Garten einpflanzen... nein, das mach ich morgen, stell sie erstmal in ein Gefäß, und dann... aaah!“ Er hatte wieder in die Truhe gegriffen, aber nur mit einem Auge hingesehen. „Meister, was...“ Eria ging erschrocken neben ihm in die Hocke. „Etwas... au... hat mich gebissen oder gestochen... schließ den Deckel, damit es nicht... hngh!“ Crimson hielt krampfhaft seine rechte Hand. Eria reagierte: Sie schlug den Deckel der Truhe mit einem Knall zu, dann griff sie an Crimsons Finger und zog den Ring ab, den er immer trug, denn die Hand schwoll an, und sie wusste nicht, ob der Ring dann noch vom Finger ab ging. „Cathy!“ rief sie. „Cathy, schnell, hol Lily! Crimson hat wahrscheinlich eine Vergiftung!“ Das Schlossherz war neben ihr erschienen. „Wie unhöflich, du könntest mich wenigstens angemessen begrüßen!“ Doch er verschwand gleich wieder, um den Auftrag ohne weitere Diskussion auszuführen. Crimson indessen war völlig am Boden, im wahrsten Sinne des Wortes. Seine Hand brannte wie Feuer und auch alle anderen Arten von Schmerz schienen sich darin zu vereinen. Er hörte sich selbst jammern. Was immer in der Kiste gewesen war, hatte jemand anscheinend sorgfältig ausgewählt. Bestimmt stammte es nicht von den Feen, es musste eine Schlange oder so etwas sein. Aber er hatte jetzt keinen Nerv dafür, seine Hand nach Bissspuren zu untersuchen, denn die Schmerzen waren viel zu gruselig. „Trink das!“ Eria reichte ihm eine kleine Phiole, die er ohne nachzufragen annahm und austrank. Dem Geschmack nach zu urteilen war es ein allgemeines Antiserum für Vergiftungen, die man noch nicht näher bestimmen konnte, aber erstmal aufhalten musste. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen, hätte er seine Schülerin für ihre Geistesgegenwart gelobt. Wenige Minuten später tauchte Lily auf. Die Fee flog einfach zum Fenster herein, in der Hand eine Tasche mit Ausrüstung. Wie immer war sie in einen weiß-rosanen Kittel gekleidet. Schnell erfasste sie die Situation und zwang Crimson, seine Hand loszulassen. Sie war erstaunlich kräftig, manchmal... oder er war schwach geworden. Lily betrachtete seine angeschwollene und bläulich verfärbte Hand. Die Symptome wanderten langsam den Arm hoch. „Ah ja... da ist eine kleine Bissstelle zwischen Daumen und Zeigefinger...“ Eria nickte. „Winzig... sieht eigentlich ganz harmlos aus...“ „Hast du ihm schon was gegeben?“ „Ja, einen Gegengift-Trank.“ „Gut... dann verfrachten wir ihn erstmal aufs Bett... Hilf mir!“ Crimson sagte nichts mehr dazu, als die beiden sich über seinen Kopf hinweg über ihn unterhielten, und schon gar nicht wehrte er sich, als sie ihn gemeinschaftlich auf die Füße zogen und zum Bett führten. Irgendwie schwebte er in einer anderen Sphäre. Als er lag, bekam er noch bewusst mit, wie Lily in ihrer Tasche kramte und eine Spritze aufzog. Das hatte er befürchtet! „Warte... der Trank wirkt, die Schmerzen haben ein wenig nachgelassen...“ log er. In Wahrheit tat sein ganzer Arm so weh, dass er ihn kaum noch spürte. Das hatten Schmerzen so an sich, das Gehirn verweigert irgendwann die Aufnahme. Gelegentlich wusste er das zu schätzen. Lily lächelte zuckersüß. „Crimson, ich weiß, dass du meine Behandlungsmethoden ablehnst, aber solange ich für dich arbeite, wirst du dich fügen!“ Sie schnippte gegen die Spritze und drückte ein bisschen von dem Medikament heraus, um Luftblasen zu vermeiden. „Das hier lässt dich schlafen, so dass ich dich in Ruhe behandeln kann. Ich weiß doch, was für ein schlechter Patient du bist. Eria, halt ihn fest.“ „Ist gut!“ Eria lehnte sich mit dem Ellenbogen auf seine Brust und packte sein linkes Handgelenk, so dass der gesunde Arm Lilys Zuwendungen ausgesetzt war. Crimson gab einen wimmernden Laut von sich und wandte das Gesicht ab. Er fand es irgendwie ziemlich warm im Zimmer, direkt unangenehm. Aber in seinem Kopf war alles schön leicht, und dann wurde ihm ganz schummerig und schließlich... „Ah, wachst du endlich auf.“ Crimson konnte sich gerade noch beherrschen, verspürte aber das Bedürfnis, entsetzt aufzuschreien. Er wandte ahnungsvoll den Kopf nach links und blickte in Olvins schadenfroh grinsendes Gesicht. Hinter dem Alten war ein Vorhang zu sehen, und es roch nach Desinfektionsmitteln. Also hatte man ihn in den Krankenflügel gebracht. Es war ruhig und dunkel in der Umgebung, nur eine kleine Lampe diente als Notbeleuchtung, so dass man gerade noch etwas sehen konnte. „Du warst das...“ stellte er mühsam fest. „Du hast... irgendein Tier in die Truhe getan...“ Warum überraschte ihn das nicht? Olvins Anwesenheit beunruhigte ihn nicht einmal besonders. Wahrscheinlich war er noch zu benommen. Crimson sah an sich hinunter. Seine verletzte Hand war anscheinend bis zum Ellenbogen bandagiert. Aber der pochende Schmerz in ihr war es wohl, was ihn geweckt hatte, wenn nicht der ungebetene Besuch. Der schien ja schon etwas länger da zu sein. Olvin kicherte leise. „Armer, armer Junge. Ich sagte doch, ich werde dir alles nehmen, was dir wichtig ist.“ Er hielt ein Klemmbrett vor sich und strich demonstrativ etwas durch. „Ich hatte ja nicht zu hoffen gewagt, dass es die linke Hand erwischt... wo dein Siegel des Schlossherzens ist. Aber die rechte Hand wird dir viel mehr fehlen. Du bist doch Rechtshänder, oder?“ „W-Was? Wieso...?“ Crimson runzelte die Stirn. Eine schreckliche Ahnung beschlich ihn. Olvin grinste freudig und sprach mit leichtem Spott. „Deine kleine Ärztin hat dich wohl erstmal vor dem Schlimmsten bewahrt, aber wenn ihre Mittelchen ihre Wirkung verlieren, kann sich das Gift der gelben Sumpfnatter ungehindert weiter ausbreiten. Diese kleinen Schlangen sind wirklich erstaunlich, aber sehr selten. Also sei so gut und lass sie einfach irgendwo frei, vorzugsweise in einem geeigneten Lebensraum, schließlich kann sie nichts dafür, dass du deine Hand einbüßen wirst.“ „Ich werde... WAS?“ Crimon wollte sich aufsetzen, aber sein Kopf fühlte sich dafür zu schummerig an. Er stand wohl tatsächlich noch ein wenig unter Drogen. Der alte Magier beobachtete ihn ganz genau. „Ich weiß, dass du deine Lieferungen an alchemistischen Zutaten immer persönlich auspackst. Also musste ich nur die Schlange in die Kiste schmuggeln und konnte davon ausgehen, dass sie sich bei den noch feuchten, lebenden Pflanzen verbergen würde. Sie sind scheu, aber wenn sie keinen anderen Ausweg sehen...“ Er simulierte mit den Fingern eine Beißbewegung. „Wenn Lily und Eria die Schlange inzwischen identifiziert haben, werden sie es wohl schon wissen... verabschiede dich schonmal von deiner rechten Hand, Jungchen. Zweifellos werden sie es dir bald schonend beibringen...“ Crimson überlief es heiß und kalt. Sollte das heißen, dass die Hand amputiert werden musste, um sein Leben zu retten? Das konnte nicht wahr sein. Aber die Schmerzen in der Hand fühlten sich ungesund an und strahlten den Ellenbogen hoch. Sein Herz schlug panikartig schneller und er fühlte sich schwindelig. „Das... das kannst du doch nicht ernsthaft...“ Doch der Alte blickte mit glühenden, hasserfüllten Augen auf ihn herab. „Ohne deine Hand wirst du kein Alchemist mehr sein können, höchstens einer, der auf Hilfe angewiesen ist. Da schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe! Deine körperliche Unversehrtheit und deine größte Leidenschaft, die Alchemie, sind für dich Geschichte! Hier, sieh her!“ Olvin hielt ihm seine knochigen Hände vor die Nase. Die Haut war von einem ungesunden Grau und man sah violette Adern darunter. Die Fingernägel waren brüchig und teilweise dunkel verfärbt. Sogar im Halbdunkel war das alles für einen Finsternismagier gut zu erkennen. „Hast du in Necromantie auch nur einmal aufgepasst? Was habe ich euch immer gesagt, über die Folgen dieser Kunst? Und das schon im Grundkurs, so dass selbst du es mitbekommen haben musst?“ Crimson schwieg, während sein Hirn automatisch die Erinnerung aufrief. Dann gab er einen auswendig gelernten Text wieder: „Necromantie muss in Maßen betrieben werden, sonst... zehrt sie am Körper des Necromanten. Intensiver Gebrauch von Magie, die Leichen auferstehen lässt, schädigt lebendes Gewebe, tötet den Anwender jedoch nicht... er wird statt dessen zu einem Leben mit unangenehmen und schmerzvollen Nebenwirkungen verdammt, bis er fast selber eine wandelnde Leiche ist...“ „Volle Punktzahl.“ Olvin war nun beängstigend ruhig. Es war, als fehlte ihm die Kraft, um sich weiter heftig aufzuregen. „Ich war gezwungen, für meine Arbeitgeber ganze Armeen von Leichen auszuheben. Oder was glaubst du, für was jemand einen Necromanten einstellt? Für eine Umschulung war ich schon zu alt. Hätte ich Lehrer bleiben können, wäre mir das Elend der letzten zehn Jahre erspart geblieben. Zehn Jahre! Die stelle ich dir in Rechnung, und zwar mit Zinsen! Meine Familie wollte mich nicht aufnehmen, keine Schule mich einstellen... es ist unglaublich, wie schnell sich Nachrichten verbreiten, erst recht so unsinnige Gerüchte. Nur die dunklen Herrscher nehmen einen dann noch, oder all jene, die sich dafür halten.“ Unter anderen Umständen hätte Crimson sich gefreut, denn er hatte sich gewünscht, noch einmal mit seinem ehemaligen Lehrer reden zu können. Aber momentan konnte er sich auf nichts konzentrieren, zumal ihn der Gedanke, seine Hand zu verlieren, ziemlich ablenkte. Vor allem aber fühlte er sich noch immer fiebrig. Da er schwieg, fuhr sein Besucher fort: „Vielleicht kannst du dich damit arrangieren, denn du warst schon immer zu arrogant, um dich geschlagen zu geben. Dir bleibt noch dein Schloss und diese Schule. Doch das werde ich dir auch beides nehmen! Und was wird deine Frau – kann man das so ausdrücken? – dazu sagen, wenn sie erfährt, was du in Wahrheit für ein Typ bist? Aber halt... das muss sie nicht. Sie muss nur denken, was ich sie denken lassen will. So wie du es mit mir gemacht hast. Wenn erst dein Ruf dahin ist, werden sich deine Freunde ganz allein von dir abwenden. Ob dein Vater wohl dann noch zu dir hält? Gewiss hat auch seine Liebe Grenzen...“ Crimson fühlte, wie sich ein Abgrund unter ihm auftat. Er wollte etwas sagen, sich verteidigen, doch das Fieber griff nach ihm und die Umgebung verschwamm zusehends. Das hatte sein Gutes, denn so konnte er nicht betteln, was auch eine Option war, über die er nachdachte. „Tjaaaa... sieht ganz so aus, als müsste deine Ärztin bald eine Entscheidung treffen,“ bemerkte Olvin. „Was wirst du antworten, solltest du dazu in der Lage sein, hm? Deine Hand oder dein Leben?“ Die Aufregung tat Crimson nicht gut, denn sein Kreislauf transportierte natürlich auch Giftstoffe schneller, wenn sein Puls sich beschleunigte. Ihm wurde schummerig zumute, und schließlich verlor er wieder das Bewusstsein. Notiz: Die Idee mit dem Schlossherz ist ein bisschen von „Overlord“ (glaub ich) abgekupfert. Aber in dem Spiel hatte es keinen Geist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)