Innocence von Lady_Emily ================================================================================ Kapitel 1: Innocence -------------------- Dienstag, 26. Juni 2012 21:59 „Bist du müde, mein Schatz?“ „Hm“, machte die kleine Ayame. Hilary lächelte und drückte ihrer Tochter einen Kuss auf das braune Haar. „Wir sind ja gleich da.“ Sie schaute aus dem Fenster und konnte ihr eigenes Spiegelbild betrachten, dass sich durch die Dunkelheit draußen im Glasfenster der Straßenbahn wiederspiegelte. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte. Müde und abgekämpft. Es war ein ausgesprochen anstrengender Monat gewesende, in der ihr Chef miesepetrig war und ihr Ex-Mann ihre alle verfügbaren Nerven geraubt hatte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie wäre schon zu Hause. 22:01 „Guck mal Mami, da ist Mr. Sushimis Hund!“ Ayame zeigte aus dem Fenester zu einem beleuchteten Imbissstande, an dem tatsächlich ihr Nachbar Mr. Sushimi und sein kleiner, runder Dackel waren, von dem die Vierjährige so unglaublich begeisterte war. „Bitte, bitte Mami, lass uns einen Hund kaufen!“, pflegte sie stehts zu betteln, sobald sie irgendwo einen Vierbeiner entdecken konnte. 22:03 Endlich ihre Haltestelle! Hilary griff nach Ayames Hand und schulterte gleichzeitig ihre Tasche. Dann nahm sie noch schnell Ayames Rucksack in ihre andere freie Hand und machte sich auf den Weg zur Tür. Mit zwei kleinen Hopsern sprang die kleine Braunhaarige die, doch etwas steilen, Stufen hinunter und landete mit einem Grinsen auf der Straße. Stolz reckte sie ihrer Mutter den Daumen entgegen, um zu zeigen, dass sie schon ganz alleine aus der Straßenbahn austeigen konnte. Hilary quittierte das mit einem Lächeln. Aus dem Augenwinkeln sah sie, wie ein Taxi darauf wartete, dass die Passagiere der Bahn ausgestiegen und von der rechten Fahrbahn wieder verschwunden waren. 22:04 „Ayame, wo bleibst du denn?“ Da ihre Tochter schon groß genug war, die Stufen allein zu bewältigen, wollte sie auch groß genug sein, um die Straße zum Bürgersteig zu überqueren. Hilary, die bereits auf eben diesem Bürgersteig stand, drehte sich um und sah wie das brünette Mädchen, sich nach etwas bückte. „Ich hab meine Haarspange verloren!“, rief sie herüber und zeigte ihrer Mutter dann, wie sie diese vom Boden aufhob. Hilary musste wieder lächeln. 22:05 Ayame lachte und macht einen Schritt. Dann erfasste sie ein Auto. Stille. Hilary starrte auf die Stelle, an der ihre Tochter Sekunden vorher noch gestanden hatte. Dann drehte sie beinahe mechanisch ihren Kopf nach rechts. „Oh mein Gott“, stieß eine ältere Frau neben ihr aus und eilte zu dem Ort. Dem Ort, an dem der BMW stand. Zehn Meter weiter. Das Auto stand in einem merkwürdigen Winkel zur Straße. Nur zwei Meter davon entfernt lag ein Bündel aus Stoff und braunem Haar. Hilary stieß einen gequälten, erstickten Laut aus, als sie erkannte, dass das Bündel ihre Tochter war. Neben der rosafarbenen Jacke kniete nun ein Mann. Wie in Trance und immer wieder wimmernd ging die Brünette auf den Mann zu. „Oh mein...ist sie...gott...“ Als sie an dem Ort angekommen war, gaben ihre Knie nach. „NEIN!“, rief sie und ihr stockte der Atem, als der Mann Ayame auf den Rücken drehte und sie das blutüberströmte Gesicht sehen konnte. „Jemand muss einen Krankenwagen rufen!“, rief der Mann zu den drei umstehenden Passanten. „Oh...Ayame! Ayame!!!“, stieß Hilary nur aus und ergriff die kleine, blasse Hand ihrer Tochter. „Sie atmet noch“, sagte der Mann beruhigend zu der Brünetten, doch die hörte kaum zu, sondern konnte sich nur auf Ayames kleines Gesicht konzentrieren, ihre kleinen Nase und den kleinen Mund und die geschlossenen Lidern. „Vergesst nicht, die Polizei zu rufen“, sagte die ältere Frau. Da sah Hilary zum ersten Mal auf und erblickte den Fahrer des BMW, der erstarrt in der Autotür stand und auf das Geschehen blickte. 22:12 „Madam, beruhigen Sie sich!“ „Ich soll mich beruhigen?! Meine Tochter verblutet dort auf dem Boden und der scheiß Krankenwagen ist immer noch nicht und sie sagen mir, ich solle mich beruhigen?!“ Hilary starrte den Polizisten mit irren Blick an und packte ihm am Hemdkragen. „Ich glaube, sie atmet nicht mehr“, sagte da plötzlich der Mann, der die ganze Zeit bei ihrer Tochter geblieben war. „Oh Gott“, stieß die Japanerin aus und stürzte wieder auf den Boden. Der Polizist, der sich mit dem BMW Fahrer befasste, kam herbeigeeilt. „Ich kann Herz-Druck-Massage!“, rief er und hatte keine zwei Sekunden später, seine Hände auf dem winzigen Brustkorp. In Regelmäßigen Abständen pumpte er das Blut durch Ayames Körper und beatmete sie. Die Anstrengung war ihm anzusehen. „Ich kann Sie ablösen“, sagte der Mann neben ihm plötzlich und bevor es Hilary realisierte versuchte der Nächste das Leben ihrer Tochter zu retten. Und dann sah sie es. Das eigenständige Heben und Senken von Ayames Brust. Ein Schluchzen entrang ihrer Kehle und sie schlug ihre Hand vor den Mund und weinte und weinte und weinte, bei dem Gedanken, dass ihre Tochter gerade aufgehört hatte zu atmen, aufgehört hatte zu leben. Und dann kam der Krankenwagen. 22:48 „Wir operieren sofort.“ „Ok.“ „Sie müssen hier diese Einverständniserklärung unterzeichnen.“ „Ok.“ „Miss, geht es Ihnen gut?“ „Nein.“ Fahrig kritzelte Hilary ihren Namen auf das Papier. Alles, sie würde alles unterschreiben, was ihrer kleinen Ayame helfen würde. „Es kann eine Weile dauern. Bitte setzen Sie sich doch.“ Die Hand auf ihrer Schulter drückte sie auf einen Stuhl. Es wurde still um sie herum. Sie steckte den Kopf zwischen die Knie und Tränen flossen ihr übers Gesicht und auf den Boden. Sie konnte ihnen beim fallen zu sehen. „Hilary!“ Langsam hob sie den Kopf beim Klang ihres Names. Als sie Tyson erblickte, erhob sie sich schwerfällig vom Stuhl. Bevor sie sonst noch irgendetwas tun konnte, wurde sie in seine Arme gezogen. „Gott, Hilary! Wie schrecklich! Wie geht es ihr?“ „Sie....sie wird...gera...gerade operiert“, schniefte sie. „Aber sie wird wieder gesund, oder?“ „Das weiß ich nicht“, stieß Hilary das aus, weiß sie die ganze Zeit geahnt hatte. Würde ihre Tochter überhaupt wieder gesund werden? Als sie den Boden näher kommen sah, spürte sie, wie Tysons Arme zu auffingen. Mittwoch, 27. Juni 2012 06:17 „An was können Sie sich erinnern?“ „Ich...also, ich bin Mit Ayame aus der Bahn gestiegen und dann war ich schon auf dem Bürgersteig und hab mich umgedreht und gesehen, dass Ayame ihre Haarspange vom Boden aufgehoben hat und dann...dann kam das Auto.“ „Wissen Sie ob die Ampel, die vor der Haltestelle befestigt ist, grün angezeigt hat?“ „Die wird doch um 22 Uhr abgestellt.“ Nachdenklich sah der Polizist sie an. „Das war dann ein wirklich tragischer Zufall.“ „Tragischer Zufall?“ Der Polizist sah zu dem schwarzhaarigen Chinesen, der seit dem Morgengrauem mit Argusaugen über die brünette Frau wachte. „Tragischer Zufall, dass genau dann ein 23-Jähriger BMW Fahrer über die Fahrbahn brettert, während eine Vierjährige aus der Straßenbahn steigt?“ „Nein, ein tragischer Zufall, dass vier Minuten, nachdem die Ampel abgestellt wird, die verhindert, dass ein 23-Jähriger BMW Fahrer über die Fahrbahn brettert, eine Vierjährige aus der Straßenbahn steigt.“ „Ach, jetzt ist es schon Ayames eigene Schuld oder was?“ Hilary stieß ein gequältest Schluchzen aus und Ray legte ihr Rasch eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. „Ich mache die Zeiten für die Ampeln in dieser Stadt nicht. Glauben Sie mir, ich will den Raser genauso hinter Gittern sehen, wie sie.“ „Und warum ist er es noch nicht?“ „Er macht Gebrauch von seinem Recht, nicht aussagen zu müssen. Sein Anwalt wird sich heute mit uns in Verbindung setzen. Ich bin froh, dass Ayame außer Lebensgefahr ist.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Polizist und ließ Hilary und Ray alleine im Raum zurück. 12:32 „Warum erzählt mir hier keiner was?“ Ein völlig verärgerter Kai stand im feinsten Anzug und mit Aktentasche vor Ray und Tyson in der Krankenhaus Cafeteria und funkelte die beiden bitterböse an. „Setz dich“, erwiderte Ray schlicht. „Wir wussten, dass du in einem wichtigen Meeting bist und wollten dich nicht stören. Gleich danach hätten wir dich angerufen.“ „Ich will nie wieder von Max hören, dass er gerade am Flughafen steht, um rüber zu kommen, weil Ayame einen Autounfall hatte.“ „Max kommt?“, fragte Tyson erstaunt. „Ja und das beunruhigt mich vor allem deshalb weil es bedeutet, dass es Ayame wirklich schlecht geht. Also: was ist passiert und wo ist Hilary?“ „Sie ist in der Intensiv bei Ayame. Dort dürfen nur Angehörigen hin.“ „Hat sich ihr inkompetenter Ex-Mann blicken lassen?“ „Er hat eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen.“ „Arschloch.“ Samstag, 30. Juni 2012 10:03 „Ich versteh nicht, warum wir sie immer noch nicht sehen dürfen.“ Wie ein Kleinkind quengelnd saß Max auf einer Parkbank vor dem Krankenhaus und zog nervös an seiner Zigarette. „Weil nur Angehörige Zutritt zu der Intensivstation haben“, erwiderte Kai gelassen und blätterte in seiner Zeitung. „Wir sind ihre Patenonkel!“, fing nun auch Tyson an und starrte grimmig auf den linken Flügel des Krankenhauskomplexes, in dem sich die Intensiv befand. „Reicht nicht“, erwiderte Ray verstimmt. „Haben sie den Typen inzwischen wenigstens verknackt?“ „Der schweigt wie ein Grab.“ „Großartig“, stieß Max aus und drückte seine Zigarette auf dem Boden aus. Ray bemerkte als Erster das Hilary auf die Gruppe zu kam. Sie sah fix und fertig aus und jede ihrer Bewegung hatte etwas fahriges an sich. In den letzten Tagen war sie das reinste Nervenbündel. „Alles gut?“, fragte Kai prüfend, als sie näher kam. Sie antwortete nicht. Tyson sprang sofort von der Bank auf und schob die Brünette auf seinen alten Platz. Sie sah aus, als würden sie jeden Moment wie ein Faltblatt zusammen klappen. „Sie... Ayame hatte grade...oh gott, ihr Herz ist schon wieder stehen geblieben.“ Hilary schluchzte tief. „Oh Gott!“ „Nein!“ Die Bladebreakers versammelten sich um sie und umschlossen sie mit einem Krei aus Wärme und Geborgenheit. Sonntag, 1. Juli 2012 08:08 „Ayame hat die zweite Operation gut überstanden.“ „Wird sie wieder gesund?“ „Das wissen wir nicht.“ Hilary sah den Chefarzt der Kinderintensiv durchdringend an. „Schwebt sie immer noch in Lebensgefahr?“ „Ja.“ Dienstag, 3. Juli 2012 15:16 „Hilary muss mal aus diesem Zimmer raus.“ „Da bekommst du sie nie raus. Sie weicht Ayame keinen Zentimeter von der Seite.“ „Kannst du es ihr verübeln?“ „Als ich vorhin oben war, hat sie nur ihre Hand gehalten und starr auf Ayames Gesicht geschaut.“ „Habt ihr auch den Bericht von der Dekra gelesen? Dass sich der Fahrer an dem wartenden Taxi vorbei gedrängelt hat? Und die Bremsspuren waren angeblich sieben Meter lang. Ayame muss ganz schön...“, Tyson verschluckte sich an seinen Worten. „Der BMW Fahrer hat sie ganz schön erwischt.“ „Genau. Das wollte ich sagen. Der BMW Fahrer hat sie ganz schön erwischt.“ Donnerstag, 5. Juli 2012 18:22 „Entschuldigen Sie.“ „Ja bitte, wie kann ich helfen?“ Die Krankenschwester am Empfang sah freundlich zu dem Mann vor ihr. „Vor etwas mehr als einer Woche wurde hier ein Mädchen eingeliefert, dass von einem Auto erfasst wurde. Ungefähr vier Jahre alt, braunes Haar.“ „Oh, ich weiß wen sie meinen.“ „Ich war am Unfallort dabei und wollte mich eigentlich nur erkunden wie es ihr geht.“ „Tut mir leid, sie ist leider vor zwei Stunden gestorben.“ ~*~In Gedenken an das kleine vierjährige Mädchen aus meinem Viertel, dass vor kurzem an der Haltestelle verünglückt ist, die ich selbst zehn Jahre täglich benutzt habe. Die ganze Stadt hat gehofft und gebangt, dass sie es schaffen würde. Die Ampel ist nun 24/7 an. Der Gedanke wird der Familie wahrscheinlich keinen Trost mehr spenden. Die Geschichte des Mädchens hat mich bewegt - sie hätte genauso aufwachsen können wie ich.~*~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)