Tränen im Regen von Asmodina ================================================================================ Kapitel 1: Im Regen ------------------- Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss und ließ nur ein qualvolles Schweigen zurück. Jenes wurde ab und zu von einem mühsam unterdrückten Schluchzen unterbrochen, welches seine Verzweiflung kaum verbergen konnte. Ein junger Mann, dessen wahres Alter kaum zu definieren, stapfte missmutig den Flur entlang. Die zahlreichen Tränen hatten das knallig - grelle Make-up längst verwischt und es grenzte an ein Wunder, dass die farbigen Kontaktlinsen nicht auch noch verloren gegangen waren. Am liebsten hätte Sisen sich die ungefähr vier Kilo schwere regenbogenartige Perücke ebenfalls vom Kopf gerissen. Aber seine Arme und Hände waren schwer wie Blei und ließen es nicht zu. Auch seine flippige Kleidung zeugte von den Geschehnissen der vergangenen Nacht; knallgelbes, bauchfreies Top mit Sicherheitsnadeln und eine leuchtend grüne Hose und Bondageriemen. Sisen trat vor die Tür und fluchte: „Mist…es regnet!“ Verloren blickte er zum wolkenverhangenen Himmel und setzte dennoch seinen Weg fort, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Aber er konnte nicht in die Wohnung zurück, nicht jetzt. Seine Wut auf Jesus war noch zu frisch, gerade, weil der Streit, in Sisens Augen, unnötig und überflüssig gewesen war. Der DJ war in den frühen Morgenstunden von einer Party heimgekommen, bei der er aufgelegt hatte und hatte seinen Freund völlig erschöpft vorgefunden. Offensichtlich hatte dieser die halbe Nacht auf ihn gewartet. Leider war die euphorische Freude durch Frust und schlecht verborgenden Zorn ersetzt worden. Deswegen hatte Jesus ihn auch sofort mit Vorwürfen bombardiert, welche sich alle um einen uralten Knackpunkt drehten; Er kam manchmal nicht damit klar, dass sein Geliebter auf diesen Partys verkehrte, wo Alkohol nicht wenig floss und die Erotik zuweilen im Vordergrund stand. Aber für ihn, Sisen selbst, war diese Tätigkeit sehr viel mehr als ein Job. Der Fakt, dass dieser ihnen Geld für ein sorgloses Leben zwischen Berlin und Tokyo ermöglichte, rückte weit in den Hintergrund. Nein, diese Arbeit war sein Leben. Der DJ liebte die Musik, das Tanzen, die bunten Lichter. Und er verehrte seine Fans, auch wenn diese zumeist weiblich waren. Sisen freute sich jedes Mal, wenn er ihnen eine Freude machen konnte. Zweifelsohne liebte der DJ Jesus über alles, wollte ihn heiraten und für immer an seiner Seite wissen. Aber konnte er deswegen alles aufgeben, vor allem seine Fans? Schließlich waren sie es gewesen, welche ihm in der Vergangenheit dabei unterstützt hatten, seine Homosexualität zu akzeptieren. Dies war beileibe nicht immer einfach gewesen. Allmählich durchtränkte der Regen den dünnen Stoff seiner Kleidung. Sisen fröstelte, doch sein Herz verweigerte ihm die Erlaubnis zur Rückkehr. Inzwischen hatte er einen Park erreicht, wobei es nicht Absicht gewesen war, dorthin zu gehen. Aber vielleicht ließ sich hier etwas Schutz vor dem Regen finden. Plötzlich blieb der DJ wie angewurzelt stehen; irgendetwas hatte seine Gedanken gestört. Ein Geräusch, welches nicht zur Normalität des Regens gehörte, kaum hörbar und doch existent. Es klang wie ein leises Weinen. Ohne nachzudenken folgte Sisen ihm und fand den Ursprung hinter einem alten Baum. Doch was er da sah, ließ das Blut in seinen Andern gefrieren. Vor ihm saß ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Ihr langes, flammendrotes Haar war von der Nässe ganz zerzaust. Der schwarz- weiße Baumwollstoff ihres Gothic- Lolita Kleides klebte an ihr wie eine zweite Haut und die braunen Augen starrten leblos geradeaus. Wenn ihr Brustkorb sich nicht langsam gesenkt hätte, so würde man an eine Leiche denken. Aber das Schockierendste waren die Blessuren im Gesicht; über die schmale, bleiche Wange lief ein dünner Rinnsaal Blut, welcher auf groteske Weise an eine Träne erinnerte. Die sinnlichen Lippen waren aufgeplatzt und ihren Mundwinkel zierte ein blauer Fleck. Sisen zweifelte nicht daran, das diese sich über ihren Körper fortsetzten. Zögernd kniete er neben dem Mädchen, wusste nicht recht, was er sagen sollte. „Hey…was ist passiert?“, seine Stimme klang verunsichert. In diesem Moment löste das junge Mädchen sich an ihrer Starre, drehte den Kopf und blickte ihn an. Dabei weiteten sich ihre Augen vor Schock und es lag bestimmt nicht an Sisens schrillem Aussehen. Es schien eher, als wäre der DJ der erste Mensch seit langem für sie. Ihr Mund zitterte, dennoch waren die Worte deutlich zu verstehen: „Vater…schlagen!“ Letzteres hatte Ähnlichkeit mit einem erstickten Schrei. Ehe Sisen sich versah, klammerte sie sich an ihn wie eine Ertrinkende an ein Stück Holz. Normalerweise mochte er solche Überfälle nicht, doch in diesem Fall war es anders. Zumal ihre Tränen deutlich spürbar seinen Oberkörper benetzten. Erst nach einigen Minuten lösten sie sich wieder voneinander und Sisen fasste einen Entschluss: Der DJ nahm das Mädchen auf den Rücken und ging mit ihr los. Sein Ziel war seine Wohnung, denn es war unmöglich, sie jetzt alleine zu lassen. Hoffentlich nahm Jesus sich zusammen; seine Eifersucht konnte manchmal eine echte Plage sein. Außerdem war sie in diesem Fall fehl am Platze. Und Sisen sollte recht behalten; kaum hatte er die Wohnung erreicht und regelrecht Sturm geklingelt, begrüßte ihn ein verschlafender Jesus mit zerwuschelten, dunklen Haaren und vorwurfsvollem Blick. Als er das Anhängsel seines Geliebten erblickte, wollte er zunächst eine sarkastische Bemerkung über die Veränderung der sexuellen Orientierung machen. Doch ein Blick in Sisens Augen ließ Jesus verstummen. „Was, um Himmels Willen, ist passiert?“, verlangte er stattdessen zu wissen. „Ich habe sie im Park gefunden“, erklärte der DJ kurz angebunden und trug das Mädchen in die Wohnung, was diese widerstandslos geschehen ließ, „offensichtlich wurde sie im Elternhaus misshandelt und ist weggelaufen. Sie braucht medizinische Versorgung, und zwar schnell!“ Das stimmte; noch immer wirkte das Mädchen eher wie eine Puppe als wie ein Mensch, auch wenn sie scheinbar alles wahrnahm, was um sie herum passierte. Behutsam setzte Sisen sie auf das Sofa, während Jesus sich um Desinfektionsmittel, Pflaster und ähnliches kümmerte. Noch zitterte das Mädchen wie Espenlaub, griff jedoch vertrauensvoll nach seiner Hand. Sisen lächelte sanft; er hoffte, bald mehr über dieses Geschöpf zu erfahren. Als Jesus zurückkehrte, wurde es unangenehm. Denn obwohl der DJ mehr als achtsam vorging, brannte dieses Mittel wie Feuer. Mehr als einmal wimmerte das junge Mädchen oder drohte wegzuziehen. „Woher kommt das Blut in ihrem Auge?“, erkundigte Jesus sich und zuckte zusammen, als das Mädchen einen leisen Schrei ausstieß. „Kontaktlinsen, vermute ich“ erwiderte Sisen, ohne seinen Freund anzuschauen, „ich hoffe, dass der Hieb nicht größeren Schaden angerichtet hat, denn sonst ist ihr Augenlicht in Gefahr. Wir müssen sie rausholen. Halt du sie fest!“ Die Fremde sträubte sich, als Jesus ihre Arme packte. „Ich werde jetzt die Kontaktlinsen herausziehen“, sprach der DJ so ruhig wie nur möglich auf sie ein und streichelte dabei die tränenfeuchte Wange, „ich werde versuchen, dir so wenig wie möglich weh zu tun. Vertrau mir…O.K.?“ Das Mädchen nickte leicht panisch, hielt aber still. Bei der ersten verlief alles reibungslos, aber bei der zweiten gab es Schwierigkeiten, weil diese sich im Auge gebogen hatte. Die Schreie der Fremden schmerzten in den Ohren, doch es war unverzichtbar. Als die Prozedur überstanden war, nahm Sisen das zitternde Bündel ganz fest in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind. Währenddessen ging Jesus in die Küche, um Frühstück zu machen. Ein Kaffee und etwas Essbares würden ihnen sicherlich gut tun. Nach einer halben Stunde kehrte er mit zwei vollen Tabletts zurück. Der DJ schnupperte genüsslich und auch der Gesichtsausdruck des Mädchens hellte wieder etwas auf. Selbstständig griff sie nach den Brötchen und einer Tasse, ließ sich beim Essen allerdings etwas Zeit. Sisen und Jesus wechselten einen erleichterten Blick; sie hatten schon befürchtet, ihren Gast zwingen zu müssen. Nachdem die Mahlzeit beendet war, räusperte Jesus sich und ergriff das Wort: „Wie heißt du?“, „Dora“, lautete die einsilbige, fast gequälte Antwort. Sisen befürchtete schon, dass sie wieder in ihre Lethargie zurückfallen würde, was aber zum Glück ausblieb. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand und drückte diese sanft, ehe die nächste Frage gestellt wurde: „Magst du uns erzählen, was passiert ist?“ Es war deutlich spürbar, wie die positive Stimmung zwischen ihnen brach und eine unsichtbare Glaswand sich ihnen in den Weg stellte. Minutenlang herrschte beklemmende Stille, bis Dora den Kopf hob und die beiden musterte. Ihre Lippen bebten und in den braunen Augen glänzten die Tränen. „Mein Vater hat mich geschlagen“, berichtete sie stockend und sichtlich um Fassung ringend, „weil er weder meine Kleidung noch meinen unkonventionellen Lebensstil akzeptieren kann. Am meisten hasst er wohl meine Andersartigkeit.“ „Moment mal“, unterbrach Jesus die Erzählung, „willst du damit sagen, dass dein Vater dich so zugerichtet hat, weil du den Lolita-Stil magst?“ Ein stummes Nicken und Jesus schüttelte den Kopf, er wusste nicht mehr zu sagen. Sisen nahm das zitternde Mädchen in die Arme; seine starre Haltung verriet den unterdrückten Zorn. „Ich schlage vor“, sagte Jesus zu Dora, „dass du dich erstmal ein wenig hinlegst. Es war ein anstrengendes Erlebnis und gerade deine Psyche hat viel zu verarbeiten!“ Nach kurzem Zögern willigte das junge Mädchen ein und die beiden verschwanden, um das Gästezimmer auf Vordermann zu bringen. Dies nahm etwa eine Viertelstunde in Anspruch. Als Schlafanzug diente ein längeres Shirt des DJs. „Schlaf gut“, sagte Sisen, „und denk immer daran; du bist nicht allein!“ Danach gingen er und Jesus wieder ihrem gewohnten Tagesablauf nach. Über den Streit verlor niemand ein Wort. Ihre Gedanken waren bei dem wehrlosen Mädchen. „Ich lasse sie definitiv nicht ohne Schutz nach Hause“, meinte Sisen. „Ich überlege, ob wir die Polizei einschalten sollten“, überlegte Jesus. Mitten in der Nacht schreckte der DJ plötzlich auf; wieder hörte er dieses leise Weinen, welches sich mit erstickten Schreien vermischte. Er ahnte, was die Ursache war und verließ lautlos das Bett, um ins Gästezimmer hinüber zu gehen. Schon als Sisen die Tür öffnete, erkannte er, das seine Vermutung richtig gewesen war: Doras Haare, welche das Laken wie ein brennender Fächer bedeckten, waren strähnig von ihren Tränen. Außerdem stöhnte das junge Mädchen gequält und strampelte wild. Der DJ seufzte und hob die Decke vom Boden auf, um sie wieder um den zitternden Körper zu legen. Danach strich er vorsichtig über ihre feuchte Wange, in der Hoffnung, sie nicht unsanft zu wecken. Tatsächlich schlug Dora sofort die Augen auf und betrachtete ihr Gegenüber minutenlang wie einen Geist. Sie zitterte noch immer und in ihren Augen lag die blanke Furcht. Sisen zögerte nicht, setzte sich auf die Bettkante und schloss das junge Mädchen tröstend in die Arme. Zu seiner Erleichterung wehrte Dora sich nicht. Im Gegenteil, der DJ spürte, wie ihre Arme sich um seinen Nacken legten und Tränen die Schulter benetzten. „Weine nicht“, sagte er im Flüsterton und trotzdem klang sein Tonfall zärtlich – beruhigend, „bitte weine nicht!“ Seine Hände vergruben sich in Doras Haaren und streichelten diese. Nach einer schier endlosen Weile löste das junge Mädchen sich und schaute ihn flehend an. „Kannst du bitte hier schlafen“, fragte sie und senkte den Blick, „ich will nicht alleine sein!“ Der DJ willigte ein; in diesem Augenblick war es ihm sogar gleichgültig, was sein Verlobter darüber denken würde. Er wollte diesem Mädchen einfach nur helfen. Sisen legte sich in das Bett und machte ein wenig Platz. Etwas schüchtern kuschelte Dora sich an seine nackte Brust. Sein regelmäßiger Herzschlag erklang dicht an ihrem Ohr. Als der DJ auch noch den Arm um sie legte, fühlte das junge Mädchen sich so beschützt wie schon lange nicht mehr. Ein kleines Lächeln glitt über ihr Gesicht; es musste Schicksal gewesen sein, das sie ausgerechnet in dieser Situation jenem Menschen begegnet war, welcher ihr Herz und bis zum gewissen Grade auch ihre Psyche beschützt hatte. Vielleicht würde sie es Sisen sagen, das sie ihn sehr wohl kannte, doch nicht jetzt…nicht in dieser Nacht. „Ich danke dir“, hauchte Dora noch, ehe ihr Geist endgültig im Reich der Träume verschwand. Am nächsten Morgen war Jesus mehr als überrascht, dass das Bett neben ihm leer war. Wo war Sisen? Die absurdesten Bilder rasten durch seinen Kopf, aber er zwang sich zur Ruhe. Seine Suche führte ihn ins Gästezimmer, wo Jesus seinen Verlobten friedlich schlafend mit Dora im Arm vorfand. Im ersten Moment kochte die Eifersucht in ihm wie ein Höllenfeuer empor und drohte, sein Herz und den Verstand zu verschlingen. Gewaltsam zwang Jesus sich zur Ruhe und betrachtete die Zwei genauer: Trotz ihres langsamen, monotonen Atems fielen ihm sofort Doras tränenfeuchte Wangen auf und ihre Hände schienen sich regelrecht an seinen Liebsten zu klammern. Auch Sisens Haltung wirkte, trotz der scheinbaren Ruhe, angespannt. Viel zu eng hatte er seinen Arm um das junge Mädchen geschlungen. Jesus überlegte und zwang sich, dabei möglichst rational zu denken. Langsam dämmerte es ihm und schließlich fiel es wie Schuppen von seinen Augen: Dora musste einen Alptraum gehabt haben und Sisen hatte sich zu ihr gelegt, um sie zu beruhigen. Der junge Mann schämte sich; dass er seinen Verlobten liebte und um keinen Preis verlieren wollte, war nachvollziehbar. Aber dass seine Eifersucht inzwischen derart bedrohliche Züge angenommen hatte, wurde ihm erst in diesem Augenblick bewusst. Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel. Jesus war so tief in seine Grübeleien verstrickt, das er gar nicht merkte, wie Sisen die Küche betrat. Der DJ wirkte etwas verschlafen, aber trotzdem ausgeruht. „Guten Morgen“, grüßte er. Jesus erwiderte: „Guten Morgen“ und lächelte. Eine Geste, welche Sisen überrascht die Augenbrauen heben ließ; sein Geliebter lächelte sonst nie nach einem Streit. Sein Gegenüber erriet seine Gedanken und erklärte: „Ich habe nachgedacht, Sisen. Und mir ist klar geworden, dass ich einiges falsch gemacht habe. Meine Eifersucht hatte nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun; sie wurde zu einer regelrechten Bedrohung. Die Begegnung mit Dora hat mir die Augen geöffnet; du brauchst deine Fans und das Rampenlicht wie die Luft zum Atmen, auch wenn dein Herz immer bei mir ist. Nähme ich dir das, würde ich dir Unrecht tun und dein Leben zerstören“, der junge Mann schwieg, „ich war so dumm; bitte verzeih mir!“ Sisen lächelte und schloss seinen Verlobten in die Arme, „Natürlich“, sagte er, ehe ihre Lippen sich zu einem sanften Kuss trafen. Minutenlang hielten die beiden sich eng umschlungen, bis Jesus fragte: „Und was wird mit ihr?“ Der DJ ballte die Faust; Doras Schicksal ließ eine unbändige Wut in ihm aufsteigen: „Ich werde sie nicht alleine lassen und nach Kräften unterstützen. Diese Tür wird Dora immer offen stehen. Und sollte es zum Schlimmsten kommen, bringen wir ihren Vater gemeinsam ins Gefängnis!“ Jesus nahm seine Hand: „Ich bin dabei.“ Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)