Un Monstre á Paris von SainzDeRouse (Eine Liebe in Trümmern, eine Andere wächst) ================================================================================ Kapitel 3: Die, in der die Stimme zurückkehrt und der Fuchs sein Leid klagt --------------------------------------------------------------------------- Kapitel 3: Die, in der die Stimme zurückkehrt und der Fuchs sein Leid klagt April 1911: Die letzten Wochen waren für Lucille sehr hart gewesen, so sehr, das die Show schon darunter leiden musste. Es war nicht möglich gewesen mit Lucille neue Lieder einzustudieren, vor allem da sie stimmlich anspruchsvoller waren und sie in diesem Zustand keinen dieser wohlklingenden Töne heraus. Zunächst war es so schlimm das Francoeur beschloss sie abzulenken und eine Pause einzulegen. Weder das Cabaret noch Lucille selbst hätten etwas von ihrem Krächzen. So hatten noch mehr Künstler die Chance ihr Können im Cabaret L'Oiseau Rare unter Beweis zu stellen. Auch offiziell war Lucille Frémir und ihr Partner Monsieur Francoeur auf eine Londonreise um sich zu erholen und um sich musikalisch inspirieren zu lassen. Nachdem Lucille einen Monat lang sich in ihrer Wohnung verkrochen hatte, sie hätte auf der Straße ja auf Raoul stoßen können, war Francoeur so besorgt um sie, da er seine starke Freundin noch nie so gesehen hatte. Innerhalb von Tagen war die Reise geplant und er entführte sie förmlich vom Festland auf die große Insel. Tag um Tag hatte es besser um Lucille gestanden. Sie genoß die große, fremde Stadt mit ihren herrlichen Palästen und den Königen. Auch die alten Bautwerke faszinierten Lucille. Ein jedes wurde besucht und ausgiebig erkundet und betrachtet. Der Tower von London, das Kerngebäude der Festung, ein errichteter Komplex aus dem Mittelalter. Die Tower Bridge, das Wahrzeichen von London und über die Themse verläuft. Das Palace of Westminster, Big Ben, alles musste mehrmals bestaunt werden. Auch das Buckingham Palace durfte nicht fehlen. Jeden Tag waren sie woanders hingegangen und konnten sogar für einen kurzen Moment einen Blick auf den Prinzen Albert Frederick Arthur George erhaschen. Er war gerade sechzehn Jahre alt geworden und würde einmal König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien werden. Die letzten zwei Wochen war Lucille so ausgelassen das Francoeur schon glaubte das sie sich nicht einmal mehr an den Namen Raoul erinnern würde. Auch war sie wieder bereit zu singen und nun standen sie seit zwei Stunden in seinem Zimmer und übten Lied, welches er extra für sie komponiert hatte, ein. Ihre Stimme die er schon seit Wochen nicht gehört hatte, war herrlich rein und sie hatte keine Schwierigkeiten die Töne zu treffen. Es war als sprach das Lied ihr aus der Seele, so wie er es sich erhofft hatte. Ah! Unverkennbar! Nirgends duftet der Frühling so herrlich wie hier in Frankreich. Wie habe ich es vermisst. Goodbye, England, bonjour, ma douce France. Ich bin wieder da und ergreif meine Chance. Die Wochen meiner Wanderschaft verliehn mir neue Kraft. Lang war ich versöhnungsbereit. Das ist vorbei! Das ist vorbei! Wie der Phönix ersteh ich neu und steige hoch empor. Die alten Wege geh ich neu, stärker als zuvor. Und ich spreize mein Gefieder und ich blicke stolz umher. Und ich duck mich nie mehr wieder, nein, nie mehr, nie mehr, nie mehr, nie mehr, nie mehr! Ich bin zurück! Ich bin zurück! Ich war verletzt und auch gekränkt, bedrängt aus meinem Vaterland. Nun hab ich das Versteckspiel satt, mich setzt man nicht schachmatt! Gelitten hab ich lang genug, die Dame ist am Zug! Wie der Phönix ersteh ich neu und steige hoch empor. Die alten Wege geh ich neu, stolzer als zuvor. In der Luft ein Duft von Flieder, legt sich um mich süß und schwer. Noch mal stößt mich keiner nieder, nein, nie mehr, nie mehr, nie mehr, nie mehr, nie mehr! Ich bin zurück! Ich bin zurück! Ich bin zurück! Lucille ließ es sacht ausklingen und genoss für einen Moment noch das berauschende Gefühl, welches das Lied in sie hervorbrachte. Francoeur saß am Klavier und lächelte sie an. Es war schön sie so zu sehen. „Das Lied ist fantastisch Francoeur, und so passend“, lächelte sie und umarmte sie von hinten. „Das habe ich mir gedacht, brrr.“ „Oh Francoeur ich bin so froh darüber das wir in London waren, schon lange wollte ich einmal reisen und nun war es auch noch so weit weg und in diese wunderschöne Stadt. Eigentlich sollte ich von der Reise noch sehr erschöpft sein, aber ich könnte Bäume ausreißen, mir geht es richtig gut. Und das obwohl wir erst gestern zurück gekommen sind. Ich glaube ich kündige uns für morgen Abend bei Tante an. Oder was meinst du?“ „Ich würde mich freuen wieder einmal mit dir aufzutreten. Vor allem nachdem deine Stimme einem Singvogel gleicht“, lächelte er. Lächelnd sah sie ihn an und strich über seinen Kopf mit dem glänzenden, feinem Fell. Sie streichelte ihm gerne über den Kopf, das hatte sie sich in London angewöhnt, es hatte etwas beruhigendes und das Fell fühlte sich so herrlich weich an. „Komm, wir ziehen uns an und besuchen Tante, sie hat uns schon lange nicht mehr gesehen.“ ******** Kaum hatte Francoeur Lucille die große Tür ins Cabaret L'Oiseau Rare geöffnet, war auch schon ein schrille schreckliche Stimme zu hören. Auf der Bühne stand ein junge Frau mit blonden Haaren und versuchte sich an einem hohen C. Vor Schreck hielt sich Francoeur seine behandschuhten Hände an die Ohren. Es war zu viel des Guten für sein empfindliches Gehör. Lucille trat näher und gesellte sich zu ihrer Tante, die am vordersten Tisch saß und die Künstler nach und nach vortreten ließ. Als dieser blonde Engel mit der Stimme einer kaputten Autohupe geendet hatte, wandte sich Madame Carlotta versöhnlich an sie. „Das war... nett, meine Liebe. Doch fürchte ich das … dein Stil, nicht wirklich zum L'Oiseau Rare passt. Deine Stimme ist so originell. Vielleicht, solltest du es wo anders versuchen. Irgendwo, wo man gebührende Verwendung findet, für deine Stimme“, sagte Carlotta und wirkte nur wenig überzeugend. „Ich gebe Ihnen so recht“, schnatterte der hochnäsige Engel,“hier habe ich nichts verloren, ich sollte in die Oper.“ Hoch erhobenen Hauptes stampfte sie davon und kuschelte sich in ihrem falschen Pelzmantel. „Bonjour Tante“, sagte Lucille. „Aaaah, Lucille, wie schön dich zu sehen. Hast du dich von deiner Reise gut erholt, du musst mir unbedingt ALLES von London erzählen, Liebes.“ „Das werde ich, aber sag mir wie es dir geh und wie es im L'Oiseau Rare läuft.“ „Schrecklich Liebes. Es gibt schon ein paar Talentierte junge Menschen. Die einen erzählen lustige Geschichten, die anderen verruchte Witze, aber niemand kann euch musikalisch ersetzen. Und das ist das, was das Publikum will. Jeden Abend schrien sie nach euch, es war traurig. Ein älterer Herr war so verrückt das er Geld dafür bieten wollte, damit du auftrittst Liebes, er wollte nicht verstehen das du wirklich nur eine Pause machst. Ich habe ihm gesagt, es tut mir leid Monsieur, aber meine Lucille wird dann auftreten wenn sie dazu wieder in der Lage ist, egal wie lange es dauert.“ „Wir wollen morgen Abend wieder auftreten“, sagte Lucille gerade heraus. „GOTT SEIS GEDANKT!“, rief Carlotta fröhlich aus und drückte Lucille in ihre Arme. „Ich dachte schon es ginge bergab und das L'Oiseau Rare würde an Ansehen verlieren. Aber bist du dir sicher Kleines?“, fragte Carlotta vorsichtig nach. Sie wollte es nicht riskieren sich zu früh gefreut zu haben. „Ja Tante, Francoeur und ich haben bereits ein paar Lieder einstudiert, sie werden dir gefallen. Oh sie sind so herrlich, sie sind wie für mich gemacht.“ „JEAN, HÄNG DAS PLAKAT MIT LUCILLE UND FRANCOEUR AN DIE TÜR UND AN DEN LATERNEN DER GEGEND. Das ist schön Liebes. Und geht es dir auch wirklich besser?“, fragte Carlotta nachdem sie ihren neuen Kellner, der nach Albert letztes Jahr ins L'Oiseau Rare gefunden hatte, seine Aufgabe zugerufen hatte. In Gegensatz zu Albert war Jean sehr fleißig und gewissenhaft und nörgelte nicht ständig bei jeder ihm zugetragene Aufgabe herum 'warum ich?'. „Ja natürlich“, erwiderte Lucille ehrlich. „Ich meine nach der Sache mit Raoul und ihr wart doch verlobt....“ „Es geht mir gut, Tante.“ „Schließlich war er auch deine große Liebe, er war so ein netter Junge...“ „Hach, Tante, mir geht es wirklich....“ „Er war hier!“, platzte es aus Madame Carlotta heraus. „WAS?“, fragte Lucille erstaunt. Für einen Moment blieb die Zeit stehen und auch ihr Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Herz schlug wild in der Brust, das Blut rauschte in ihren Ohren und sie hatte das Gefühl nicht mehr richtig atmen zu können. Es kam ihr so vor, als spüre sie Raouls Blick auf sich und sah sich erschrocken um. Das Erschreckende war nicht das es sie überrumpelte und vor lauter Aufregung auf eine Versöhnung hoffte. Sondern das sie nicht wirklich den Wunsch in sich trug ihn zu begegnen. Es war keinesfalls so das sie ihren Kummer vollends überwunden hatte, doch war alles in letzter Zeit so gut verlaufen und ihr war es so gut ergangen, das der Gedanke, dass er wieder in ihrem Leben treten würde, nicht so recht hinein passen wollte. Auch Francoeur war die Sache sehr unbehaglich und beobachtete den Gefühlskampf seiner Freundin in ihren Augen. Er hoffte das Lucille nicht wieder nachgeben würde, auch wenn er ihr nur das Beste wünschte. War Raoul denn das Beste für sie? Nur für wenige Monate hatte dieser Lucille glücklich gemacht, ehe die ständigen Streitereien folgten. „Wann war er hier?“, fragte Lucille starr vor sich hinblickend, tief in Gedanken versunken. „Oh, erst vor einigen Tagen. Er kam jede Woche, ich konnte ihm ja nicht wirklich sagen wann du denn nun zurückkehrst, Liebes.“ Francoeur konnte sehen wie es in Lucille arbeitete. Dieser Moment war der längste seines Lebens, so glaubte er. War die gemeinsame Zeit nun schon vorbei? „Wenn er morgen Abend kommt, und das wird er ganz sicher. Dann schick ihn bitte zu mir in die Garderobe, nach der Show.“ Schmerz! Es traf Francoeur tief in die Brust, er fasste sich an diese und glaubte durch den heftigen Schwindel in seinem Kopf nicht loswerden zu können, nachdem sein Herz einen Schlag ausgesetzt hatte. Ehe einer was bemerkte, fasste er sich wieder. Er hatte gewusst das die schöne Zeit nicht ewig anhalten würde. ******** Der Abend war schnell gekommen und nun trat Lucille in ihrem strahlend weißen Kleid, mit den Engelsflügeln auf der Bühne und wurde gefeiert, ohne auch nur einen Ton von sich gegeben zu haben. Das L'Oiseau Rare war voll, schnell hatte sich die Nachricht verbreitet, wie ein Lauffeuer. Viele Gäste waren gekommen, ausnahmsweise hatte zur Feier des Tages Madame Carlotta so viele hineingelassen wie rein wollten, auch wenn die Tische längst nicht ausreichten und Einige an den Rändern stehen mussten. Nach einigen Minuten des Beifalls verstummte das Publikum und Francoeur, der im Orchester saß begann zu spielen. Heute würde es zwei neue Lieder zu hören geben, nicht nur das welches Lucille so berauschende Gefühle hervorlockte und sie fühlen ließ wie einen Phönix, sondern auch eine andere neue Komposition Francoeur's. Nachdem sie das eine gesungen und die Gäste fömrlich ausgeflippt sind, ertönte die Melodie zum Nächsten. Zaghaft begann Lucille zu singen. Stille herrschte im Saal und gebannt lauschte ihr das Publikum. Ich will nicht gehorsam, gezähmt und gezogen sein. Ich will nicht bescheiden, geliebt und betrogen sein. Ich bin nicht das Eigentum von dir, denn ich gehör nur mir. Ich möchte vom Drahtseil herabsehen auf diese Welt, ich möchte aufs Eis geh'n und selbst sehen wie lang's mich hält. Was geht es dich an was ich riskier? Ich gehör nur mir Nun sang Lucille energischer und bestimmter. Währenddessen sah im Saal um. Auf der Suche nach ihm. Schließlich war es nur für ihn bestimmt. Willst du mich belehren, dann zwingst du mich bloß zu fliehen von der lästigen Pflicht. Willst du mich bekehren, dann reiß ich mich los und flieg wie ein Vogel ins Licht! Und will ich die Sterne, dann finde ich selbst dorthin. Ich wachse und lerne, und bleibe doch wie ich bin. Nun stieg ihre Stimme an und zeigte einen kleinen Teil von dem was sie nun konnte. Ich wehr mich bevor ich mich verlier, denn ich gehör nur mir. Francoeur begann nun seinen Solo zu spielen, doch dieses Mal nicht auf der Gitarre, sondern auf der Geige, die er vor Kurzem für sich in London entdeckt hatte. Ich will nicht mit Fragen und Wünschen belastet sein, vom Saum bis zum Kragen von blicken betastet sein. Ich flieh wenn ich fremde Augen spür, denn ich gehör nur mir. Dort stand er. Raoul. Wie viele andere stand er in einer Ecke und konnte nicht die Augen von ihr lassen. Die Augen strahlten vor Freude und auch vor Sorge und Angst. Eine weitere Nuance stieg Lucille Stimme an. Selbstbewusst stand sie da, wie eine Königin vor ihrem Volk und sang. Sang nur für ihn. Sah ihm selbstsicher in die Augen. Und willst du mich finden, dann halt mich nicht fest. Ich geb meine Freiheit nicht her. Und willst du mich binden verlass ich dein Nest und tauch wie ein Vogel ins Meer. Die Musiker spielten grandios, das ganze Orchester, das nun sechs Mann umfasste gaben alles und auch Lucille ließ ihre volle Stimme erklingen. Immer nur Raoul sehend. Ich warte auf Freunde und suche Geborgenheit ich teile die Freude ich teile die Traurigkeit Doch verlang nicht mein Leben, dass kann ich dir nicht geben. Denn ich gehör nur mir! Noch einmal holte Lucille tief Luft, ging noch einmal in sich und ließ ihre Glockenhelle Stimme erklingen, so wie sie es mit Francoeur geprobt hatte. Es war weiß gott kein hohes C, wie die Operndiva es präsentierten, aber es hatte auch nichts mehr gemein mit der Lucille vor einem Jahr. Nur mir! Das Publikum stand auf, klatschte und jubelte. Unschickliches Pfeifen war zu hören und auch Zugabe-Rufe. Ohne einen Wink ihrerseits begann Francoeur bereits wieder zu spielen und zu singen und Lucille erkannte das Lied auf der Stelle. Sie hatten es zum Besten gegeben als er nach dem Kampf mit Maynott dank des Professors wieder vergrößert wurde. Lucille klatschte zum Takt in die Hände und stieg sofort mit ein. Nie mehr fühl' ich mich ungeliebt Selbst wenn ich mich änd're, bleib' ich letztlich doch dieselbe Woher kommt nur immer diese Scham? Komm, ich zeig' dir wie du diese Ketten sprengen kannst Oh, oh oh oh, Nur ein kleiner Kuss von dir Oh oh oh oh Nur ein kleiner Kuss von dir Weißt du nicht dass dran zu glauben genügt Dass jeder seinen Platz hat auf der Bühne hier Es ist ganz leicht und du kannst es schon Es ist nicht komplizierter als ein einfaches Hallo So, mein Schatz, und nun los Finde die Kraft in dir Du wirst schon seh'n, es wird geh'n. Ein Tag, dann zwei, dann drei, dann mehr und mehr Nun sprang Francoeur von der Orchester-Loge hinunter, die sich direkt neben der kleinen Bühne befand und begann mit Lucille zu tanzen, während sie immer und immer wieder den Refrain wiederholten und auch die Pärchen unter den Gästen begannen zu tanzen. Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Im Tanz wirbelte Lucille herum und als Francoeur sich zu ihr hinunter gebeugt hatte, küsste sie ihn, was zu der Show gehörte. Doch nicht wie sonst auf die Wange, sondern auf seinen Mund. Lange hatten sie es schon nicht mehr in der Show gebracht und auch das Tanzen war mehr nach Gefühl als Choreographie. Sie hatte seine Wange einfach verfehlt. Oder? Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Ihr Herz klopfte Laut und sie hatte schon Angst das es die Musik übertönte. In ihrem Kopf hämmerte es Laut, sie wusste nicht einmal mehr ob sie noch sang oder nur noch von Francoeur's starken Armen herumgewirbelt wurde. Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir Nur ein kleiner Kuss von dir In ihrer Brust gab es keine Ruhe, was war nur mit ihr los? Nur ein kleiner Kuss, ah Nur ein kleiner Kuss, ah Nur ein kleiner Kuss von dir Die letzten Töne von Francoeur's Gitarre verklangen und das Publikum verfiel in einem Sturm aus Beifällen und Jubelrufe. Lucille wurden Rosen und auch ein kleiner Strauß auf die Bühne geworfen, den sie vom Boden aufsammelte und ihren Fans noch einmal zuwinkte. Mit einem schnellen Blick sah sie das Raoul verschwunden war. Er würde bereits dort auf sie warten. Sie schritt zurück und die roten schweren Vorhänge fielen vor ihrem Gesicht zu. Sogleich spürte sie Francoeur hinter sich und drehte sich zu ihm. „Gehst du mit?“, war die einfache Frage. Sie wollte nicht allein dorthin gehen. Nicht allein mit Raoul sein. Francoeur schüttelte den Kopf. Er hätte es nicht gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Er wollte die beiden so nicht sehen. Lieber wollte er warten. Seufzend lief Lucille hinter die Bühne, den Gang entlang und schon entdeckte sie Raoul, der mit einem großen Blumenstrauß vor ihrer Garderobe stand. Das Bedürfnis umzudrehen und wegzulaufen unterdrückte sie erfolgreich und ging weiter auf ihn zu. „Bonjour“, sagte er und hielt ihr den Strauß hin als sie vor ihm stand. „Bonjour“, erwiderte sie, nahm den Strauß entgegen und ehe sie es sich versah hatte er ihr die Tür zur Garderobe geöffnet. Sie trat hinein und als die Tür geschlossen wurde, fühlte sie sich wie eine Gefangene. In der Garderobe die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte, waren alle Sträuße von damals verschwunden. Ihre Tante hatte damals unmengen an verwelkten Blumen vortschmeißen müssen. „Du siehst sehr gut aus“, sagte Raoul und kam einen Schritt auf sie zu, welchen sie sich wiederum von ihm entfernte. Sie wollte ihm nicht zu nahe kommen, es fühlte sich nicht richtig an. Ja bedrängt fühlte sie sich und hielt den Strauß wie einen Schutzwall vor sich. Vorzugeben eine Vase zu suchen lief sie durchs Zimmer, lief vor ihm weg. „Lucille, ich habe viel nachgedacht während du in London warst. Ehrlich gesagt war ich sehr erstaunt als ich in der Wohnung auf niemanden traf und Carlotta mir erzählte du würdest eine Pause einlegen. Du hattest Recht, ich hätte dir mehr helfen sollen und auch endlich richtig arbeiten gehen sollen, es war egoistisch von mir euch die Arbeit zu überlassen. Nur hatte ich zuvor ja keine Wohnung und Hausarbeit war nicht wirklich so nötig und mit meinen Erfindungen hatte ich mich wohl übernommen. Es.... tut mir leid. HATSCHI. Tut mir leid, die Federn“, sagte er peinlich berührt, strich sich nervös durch die Haare und deutete auf die Federn auf Lucilles Rücken. Diese vermaledeite Federallergie hatte er schon seit er denken konnte. Monate hatte Lucille davon geträumt diese Worte aus seinem Mund zu hören. Dieses Versprechen endlich erfüllt vor sich zu sehen. Doch so sehr sie sich auch freute diese Entschuldigung endlich zu hören, so sehr trafen sie nicht auf Verständnis. „Was hast du nun für eine Arbeit?“, fragte Lucille um ihn zu testen. Ganz konnte sie dem Frieden doch nicht glauben. „Ich habe meinen Lieferservice wieder angefangen und meine alten Kunden größtenteils.“ „Und wo wohnst du?“ „Äh...ja, bei Catherine. Also in Catherine, auf meinem früheren Platz hinter....“ „Also hast du nichts gelernt“, sagte Lucille traurig. Doch wirklich enttäuscht war sie nicht. Sie hatte nichts anderes erwartet. „Was? Hast du denn nicht zugehört?“ „Ich habe sehr wohl zugehört. Du machst wieder deinen Lieferservice, genau wie vorher. Wohnst in deinem Lieferwagen, statt in einer Wohnung, warum bemühst du dich denn nicht mehr? Muss es denn nur dieser kleine Lieferservice sein? Könntest du nicht auch andere Dinge tun mit Catherine? Schließlich hast du eine selbst herunterfahrende Tür bei ihr eingebaut, mit der man schwere Last hinauf und runter fahren kann ohne sich den Rücken dabei kaputt zu machen. Du könntest auch Umzugskisten und Möbel damit holen und liefern. Eine Art Umzugsfirma. Lieferungen für alles erdenkliche. Vielleicht könntest du dann in der feineren Gesellschaft arbeiten und mehr Geld verdienen. Warum ist bei mir immer alles gerade gut genug?“ „Das meinst du doch nicht ernst. Wer kann von sich behaupten so ein tolles Auto zu haben wie Catherine, sie fährt mit Sonnenblumenöl und kann wie du sagst automatisch die Türen öffnen. Abgesehen von anderen Lieferanten bin ich selbstständig“, rief Raoul wütend aus. „Eben. Du hast keinen strengen Chef von dem du abhängig bist, weil du deine Familie ernähren musst und dich nicht einfach rausschmeißen lassen darfst. Du hast keine teuren Spritkosten, du hast im Moment noch nicht einmal eine Wohnung oder Wasser und Strom zu zahlen, du kannst dir selbst aussuchen für wen du arbeitest, ja verstehst du denn nicht? Du könntest mehr aus dir machen.“ „Ach, DARUM geht es einmal wieder. Ich soll zu den oberen Zehntausend aufsteigen, nur damit sich Prinzessin nicht schämen muss.“ „Du weißt genau....“ „DAS ist es also was dir vorstrebt. Du willst dich nicht länger für mich schämen und willst das ich für die eingebildeten Blaublütigen arbeite, zu denen sich das Prinzesschien womöglich noch selbst zählt. „Du verstehst es einfach nicht“, seufzte Lucille. „Oh ich glaube ich verstehe sehr gut.“ „Nein. …. Hach... wir passen nicht zusammen. Dein Traum ist mir zu klein.“ Stille. Raoul sah sie an und erst jetzt schien er wirklich zu verstehen. Sie sah wie die Augen feucht wurden und auch die Wut in ihm aufstieg. Er hatte Mühe sich zusammenzureißen und trat einen Schritt zurück. „Das kannst du nicht.... Wir lieben uns doch schon seit....“, stammelte er mit belegter Stimme. Liebe. Liebte sie ihn denn noch so? Ja, eigentlich schon. Sie hatte das schönste mit ihm geteilt. Die erste Liebe, den ersten Kuss, der erste Beischlaf. Doch für ein Leben hatte es nicht reichen sollen. Was Francoeur wohl über die Sache dachte... Warum dachte sie nun an ihn? Und warum war ihr so komisch geworden als sie ihn küsste. Auf den Mund. Es war so weich gewesen... so anders.... Lieben tat sie beide. Doch liebte sie Francoeur so wie Raoul? Liebte sie Raoul? Nein. Sie liebte ihn, aber nicht so wie eine Frau einen Mann liebte. Sondern eher, wie einen Bruder. Liebe war so ein großes Wort und hatte tausend Bedeutungen, wer wusste schon was Liebe war. Lucille wusste nur das Raoul es nicht war, es nie sein würde. Niemals ihr zweites Ich. „Manchmal ist Liebe nicht genug. Es tut mir leid Raoul....“ „Nein, nein... du kannst nicht....“ „Vielleicht wäre es besser wenn du für eine Weile nicht mehr hier her kommst“, sagte sie bestimmt und sah ihm dabei fest in die Augen. Von einer Sekunde zur anderen fand Raoul wieder die Herrschaft über seine Sinne und seinen Körper, warf ihr noch einen ungläubigen, verletzten Blick zu, ehe er hinausstürmte und die Hintertür hinter sich zuschlug. Der laute Knall der Tür ließ Lucille zusammenzucken. „Au Revior!“, sagte sie in den Raum hinein, sah noch einmal auf den Strauß in ihrer Hand und warf ihn kurzerhand ins Kaminfeuer. Die Flammen züngeltet auf und in windeseile verbrannten sie den Strauß, dessen Blumen innerhalb von Augenblicken schwarz wurden und in sich zusammenfielen wie Scherben. Die Scherben ihrer ersten großen Liebe. ******** Francoeur saß auf dem Dach des hohen Nachbarhauses des L'Oiseau Rare und betrachtete die Sterne. Das Herz schmerzte ihm und er wollte gar nicht daran denken was in Lucille's Garderobe geschah. Ohne daran denken zu wollen sah er bereits die Küsse von Raoul auf ihrer weißen, weichen Haut. Und dieser Kuss. Das war ihm nicht entgangen. Wie sehr hätte er sich gewünscht das es kein Versehen war, doch er gestand sich noch nicht einmal die Hoffnung zu. Traurig ist mein Gesicht, ich verberge meine Tränen nicht. Sie laufen über mein Gesicht, wie Regen über die Straßen von Paris. Ich mag ein Monster sein, doch mein Herz ist gut und rein. Und ich Stimme mein Lied an, wie nur die Nachtigall es kann. Hoch oben hier, bin ich bei mir und schaue auf Paris. Und ich weiß ganz genau, du verstehst es irgendwann auch. Was es auf sich hat mit der Liebe Und das Ende von diesem Lied, wenn es wirklich eine Moral hat. Das Monster möchte, dass du weißt, dass Liebe aus dem Herzen kommt. Plötzlich wurde er aus den traurigen Gedanken gerissen. Denn die Hintertür des L'Oiseau Rare flog geräuschvoll auf und knallte wieder zu. Es war Raoul. Auf der Stelle sprang Francoeur hinunter auf das Dach vom Cabaret und sah ihm nach. Seinem Gang zu urteilen, schien er nicht sehr glücklich. Lucille hatte ihn also abgewissen. Von der Traurigkeit nichts mehr spürend als wäre sie nie da gewesen hüpfte sein Herz vor Freude. Wenige Minuten später kam auch schon Lucille, umgezogen und in ihrem Mantel gehüllt heraus. Sogleich sprang er an ihrer Seite und hielt ihr den Arm hin um ihr die Stufen hinunter zu helfen. Lucille erschrak sich nicht einmal, denn sie war es gewohnt das er auf sie wartete und manchmal von irgendwoher hinunter gesprungen kam. „War er sehr aufgelöst?“, fragte Lucille während sie aus der Francoeur Passage zur Straße liefen. Sie konnte nicht leugnen das sie ein schlechtes Gewissen hatte, doch hätte sie unmöglich so weiter leben können. „Ja, es sah ganz danach aus.“ Sofort bekam Lucille ein trauriges Gesicht, doch was hätte sie sonst machen sollen. Für einen Moment hatte Francoeur Angst das sie sich um entscheiden würde. Auf jeden Fall hieß ihr Gesichtsausdruck nichts Gutes. „Es tut mir leid“, sagte Lucille und Francoeur glaubte schon das Schlimmste. „Doch er hat es sich selbst zu verschulden. Ich kann und will nicht so weiter leben und ehrlich gesagt, weiß ich nicht ob ich ihn noch so sehr liebe.“ Francoeur fiel ein Stein vom Herzen. Doch er hätte nicht damit gerechnet das Lucille nun zu ihm sagen würde. „Wir beide leben doch viel besser ohne ihn“, lächelte sie ihn an und strich ihm über die Wange. „Komm, schnell nach Hause. Ich will meine Stimme noch etwas trainieren.“ Fortsetzung folgt . . . Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)