Du hast die Wahl, Alice von Phoenix83 ================================================================================ Kapitel 1: Doch! ---------------- „Hallo, Alice“ „Nightmare“, sagte diese ein wenig desinteressiert. Sie schwiegen eine Weile, in der Alice nur verdrossen auf den farblosen Boden des Traumes sah. Dann erklärte sie endlich, was Nightmare schon längst in ihren Gedanken gelesen hatte: „Wie lange soll ich dieses Spiel noch spielen?“ Sie stand auf und ging einige Schritte auf den Grauhaarigen zu, blieb zehn Schritte von ihm entfernt stehen, er schwebte etwas über dem Erdboden vor ihr. „Was ist das Ziel dieses Spiels? Es kann doch nicht einfach nur daraus bestehen, dass ich Leute kennen lerne, die ich sowieso wieder vergessen werde, irgendwann, nachdem ich aufgewacht bin! Das macht doch gar keinen Sinn!“ Nightmare lächelte einfach nur, in den Augen der Ausdruck, als würde er alles verstehen, jedes Leid jede Freude mitfühlen können und trotzdem lächeln, wie Vater, der über seine Kinder hütet – mit dem Unterschied, dass er sie nicht erzog, sondern ihnen ausschließlich das sagte, was sie seiner Meinung nach hören und verstehen sollten. Genau dieser Blick war es, der Alice wieder wütend machte, weil sie nicht wusste, was los war, was sie tun sollte und er schwieg einfach, während sie sich hilflos über diese Welt beklagte. „Sag endlich was! Sag doch was!“, schrie, kreischte sie ihn schon fast an und wollte ihn wieder am Kragen packen, doch da fiel ihr wieder ein, was beim letzten Mal passiert war und sie zwang sich, zur Ruhe zu kommen. Resigniert setzte sie sich auf den Boden. Etwas beleidigt, dass er ihr nichts verriet, verschränkte sie die Arme auf den Knien, die Knie dabei angewinkelt, ganz so, als würde sie sich klein machen, eine Mauer um sich errichten, obwohl sie wusste, dass er all ihre Gedanken lesen konnte. „Du bist unmöglich, Nightmare, wirklich unmöglich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du solltest zum Arzt gehen.“ „Bloße Worte ohne Taten werden nicht viel bringen, Alice.“ Mürrisch schaute sie zu ihm und wunderte sich erstmals, dass er nun vor ihr stand, fast auf gleicher Augenhöhe, langsam auf sie zu ging, als würde er erwarten, dass sie vor Schreck aufsprang und weglief. „Was willst mir du damit sagen?“ Noch vier Schritte. Wieder dieser Ausdruck, wieder dieses Lächeln. Und wieder verstand sie es nicht. Noch zwei Schritte. „Vergiss, wen du geliebt hast“, flüsterte er plötzlich und kniete vor ihr, sich vorbeugend, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt und sie erschrak, blieb jedoch, wo sie war und sah ihn einen Moment, der ihr ewig lang erschein, an, mit großen, unschuldigen Augen, und verstand auf einmal seine Worte, den Inhalt, was er angesprochen hatte oder viel mehr, wen er angesprochen hatte… Und dann kam auf einmal der Schmerz in ihrer Brust, sie hatte seine Worte begriffen und jetzt taten sie weh, denn sie wusste, von wem Nightmare sprach. Er, der sie nicht geliebt hatte… „Ich liebe ihn nicht mehr“, murmelte sie mehr zu sich selbst und schien ganz woanders zu sein. Nightmare verstand, was er getan hatte und sah nun genauso entsetzt drein, wie Alice, musste sich die Schuld zuschreiben, sah wie qualvoll ihr Gesicht sich nun verzerrte und wie eine Träne aus ihrem Auge lief, ganz schnell über die Wange strich und sich in ihrem Kleid als dunkler Punkt bemerkbar machte. Eine weitere Träne aus dem anderen Auge und Nightmare wartete nicht lange. Er nahm sie in die Arme, ganz vorsichtig, als könne sie zerbrechen. „Nightmare“, hauchte sie halb irritiert, halb berührt und konnte sich nicht mehr bewegen. „Es gibt hier so viele Menschen, die dich lieben, Alice. Warum kannst du dein Herz nicht noch ein einziges Mal öffnen? Jemandem, der es verdient hat, dein Geliebter zu sein.“ Jemandem, wie mich, dachte sich Nightmare, doch er hielt besser den Mund. Alice verstand noch nicht, dass alles hier echt war, alles kein Traum, keine Lüge, selbst diese Momente, diese Erinnerungsbruchteile waren kein „Traum“, sie waren mehr wie Begegnungen mit jemanden, der das Leben der Menschen im Wunderland beeinflussen wollte, es auch konnte, so, wie er genau jetzt Alice Leben beeinflusste. Ja, warum eigentlich nicht?, fragte sich Alice, während sie noch in der warmen Umarmung lag, erst nachdenken musste, nicht wusste, was sie tun sollte. Er hat recht, hier gibt es viele, die mich mögen und die meisten mag ich auch, aber… müssen mich alle lieben, nur weil ich eine Fremde bin? Eine Außenstehende? Ich will noch gar keine neue Beziehung… Was, wenn ich wieder verletzt werde? Wenn mir wieder das Herz gebrochen wird… Der Schmerz flammte erneut auf, doch dieses Mal weitaus weniger schmerzhaft und viel erträglicher. Verwundert wartete sie, dass es heftiger wurde, aber es wurde nicht schlimmer. „Wieso…?“, murmelte sie nicht begreifend und spürte mit einem mal wieder die wohltuende Wärme, bemerkte, wie groß Nightmares Arme waren, wie geborgen sie sich ihnen fühlte... und sie vergaß, dass das Ganze hier nur ein Traum war, vergaß, dass sie gerade eigentlich träumte, sich mit Nightmare, dem Herr des Albtraums, in der Traumwelt befand, und erwiderte die Umarmung vorsichtig, weil sie sich noch unsicher war, weil sie schon lange niemanden mehr umarmt hatte, denn da war niemand, der sie in den Arm genommen hatte, sie getröstet hatte, als sie es am meisten gebraucht hätte… *hust hust* *keuch* *hust* Der kranke Albtraum löste sich von dem Mädchen und hustete weiter in seine Hand, trotzdem sah Alice das Blut, das aus seinem Mund kam, zwischen der Faust seiner Finger hindurch tropfte. „Du musst endlich mal zum Arzt, Nightmare!“, fuhr sie ihn, der wieder leichenblass aussah, an. „Nein“, hauchte er leise, mit einem Ton, als hätte er Gänsehaut bekommen, mit einer fürchterlichen Angst vor dem Arzt. „Doch!“, widersprach Alice bestimmt, stand auf und zeigte mit dem Zeigefinger direkt auf Nightmare und sah aus, wie eine Kommandantin, die einem schwachen, angsterfüllten Soldaten einen entschlossenen und felsenfesten Befehl erteilte: „Du wirst morgen um Punkt 14 Uhr vor dem Uhrturm erscheinen! Und komm mir nicht mit irgendeiner Ausrede, von wegen du kannst nicht ins Herzland! Du bist Nightmare! Natürlich kannst du das!“ „Aber Alice…“, wollte er flehen, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Nichts aber! Und jetzt will ich aufwachen!“ Und sie wachte in diesem Moment tatsächlich – wenn auch nicht von einer Sekunde, auf die andere – auf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)