Lsker von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4: Entscheidungen ------------------------- Aus der vor-lskanischen Wissensansammlung Wikipedia Vor etwa 4,6 Milliarden Jahren zog sich eine riesige Gas- und Staubwolke unter ihrer eigenen Schwerkraft zusammen. Im Zentrum der Wolke wurde die Materie immer dichter zusammengepresst, wobei Druck und Temperatur immer weiter anstiegen. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits große Energiemengen in Form von Strahlung abgegeben. 23. März des Jahres 1429, Radiosender Osnabrück Radiosprecher Guten Abend meine verehrten Damen und Herren, haben Sie mich bereits vermisst? Hier ist wieder Ihr Elias mit dem Special Talk um acht. Heute haben wir einen besonderen Gast. Sein Name ist... Gast Kolja Heinrich... Radiosprecher Willkommen Kolja! Meine lieben Zuhörer, Sie müssen sich jetzt nicht wundern, wenn Sie Kolja nicht kennen. Vermutlich kennen Sie nicht mal seinen Beruf, denn dieser ist inzwischen fast ausgestorben. Dazu muss man sich erst mal eine Zeit vorstellen, in der es keine digitale Datenerfassung gab. Eine Zeit, in der alles auf Schriftstücken festgehalten wurde. Wer erinnert sich noch an diese Zeit aus dem Geschichtsunterricht? Dass wir alles darüber wissen, ist den Archäologen und Historikern aus dem Jahrhundert vor den Lskern zu verdanken. Unser lieber Kolja hier ist unglaublicher Weise ein Historiker. Er befasst sich hauptsächlich mit dem alten Griechenland, wie er mir vorhin berichtet hat. Kolja, erzählen Sie meinen Zuhörern doch, wie man zu so einen faszinierenden Beruf kommt. Gast Ähm, nun... meine Mutter. Sie war äußert begabt in Sprachen... Über 30 gelernt früher... Unter anderem eben Altgriechisch. Durch sie habe ich mich als Kind zu der Kultur und Geschichte des alten Griechenlands hingezogen gefühlt.... Radiosprecher Und wie alt sind Sie jetzt? Gast 31... Radiosprecher Wow, dann sind sie ja gar nicht viel älter als ich. Wollen wir das mit dem lästigen Sie nicht lassen und uns duzen? Gast Natürlich... Radiosprecher Wunderbar! Erzähl mir doch von dieser Entdeckung. Eine lang verschollene Bibliothek, richtig? Gast Ja, es ist unfassbar! Durch ein Erdbeben ist ein uraltes Steindorf zutage getreten und in diesem eine gut versteckte Privatbibliothek mit nie gekannten Schriftstücken. Radiosprecher Jetzt spann uns doch nicht auf die Folter. Was steht in den Schriftstücken? Gast Vieles... Gedichte, Philosophische Texte... oh, die Visionen der Pythia, die waren großartig, wirklich. Radiosprecher Pythia? Ich fürchte, ich kann dir leider nicht folgen und unsere Zuhörer wahrscheinlich auch nicht. Gast …Entschuldige. Die Pythia... Also damals gab es das Orakel von Delphi, ein Ort, an dem Vorhersagen gemacht wurden. Man nimmt an, dass diese durch giftige Dämpfe aus dem Boden erzeugt wurden und die Pythia war die Seherin, welche durch diese Dämpfe beeinflusst wurde. Grob erzählt... Radiosprecher Interessant. Und was für neue Versionen wurden entdeckt? Nicht zufälligerweise etwas über nachtschwarze Wesen, die sich über die Menschen erheben? Gast Nein! Nein... mein ich, nein... Aber etwas über einen kleinen Mann, der abgehackte Sätze ausstößt. Wir nehmen an, dass es Adolf Hitler sein könnte, sie wissen schon, der Verursacher des 2. Weltkrieges [...] Später. Elias drückte den Ausschaltknopf seines Mikrofons und drehte sich in seinem Stuhl um. Einen winzigen Moment lang war er allein, musste nicht reden und nicht lachen. Kolja war bereits raus gegangen, zwei Minuten vor dem Ende der Sendung, denn für die Schlussworte wurde er nicht gebraucht. Und darüber war er wohl mehr als glücklich. Stattdessen hatte ihn eine der Technikerinnen in die Finger bekommen und versuchte den erschöpft drein blickenden, jungen Mann aufzuheitern. Mit leicht erhobenen Mundwinkeln beobachtete Elias die Szene. Kolja war einer seiner schwierigsten Gäste gewesen. Mangelndes Selbstvertrauen und kaum dazu zu bringen von der Tätigkeit zu reden, die er dermaßen liebte. Aber dafür hatte Elias ein Talent und als er ihn in die richtige Richtung geschubst hatte, wurde Kolja interessant. Mehr sogar, er wurde faszinierend. Doch deshalb hatte Elias nicht so intensiv auf jedes seiner Worte gelauscht. Leichtfüßig sprang er vom Stuhl auf und ging auf die beiden zu. Blass war Kolja immer noch, einer seiner Mundwinkel zuckte nervös. Fast tat es Elias leid, ihn nicht einfach gehen zu lassen. Dennoch konnte er nicht anders. Die Neugier hatte sich mit Widerhaken in seinen Gedärmen festgesetzt. Nun stand er neben ihm, legte ihm eine Hand auf die Schulter und zeigte das vertrauensvolle, spitzbübische Lächeln, welches er normalerweise für die Fotos der Radio Website aufhob. Im Fernsehen würden sie ihn lieben, doch so berühmt wollte Elias nie werden. „Das hast du wirklich gut gemacht. Ich war begeistert und meine Zuhörer werden es ebenfalls sein. Zu Schade, dass die Sendung bereits vorbei ist. Hast du nicht Lust mir noch mehr zu erzählen?“ Auf seine eigene Weise war Elias ein Jäger. Keiner hatte je abgelehnt, wenn er ein Treffen wollte. Nicht dass er in letzter Zeit oft weg gewesen wäre. Er dachte an Naviam. Für ihn verzichtete er gerne einige Zeit lang auf Freunde, natürlich nicht ganz, nur traf er sie jetzt seltener. Naviam war wichtiger. „Gegenüber ist das Trisha, die beste Eisdiele der Stadt. Du magst doch Eis? Jeder mag Eis und ich sag dir, sobald du deren spezielle Mischungen probiert hast, wirst du es lieben.“ Kolja nickte nur noch. Er sah keineswegs glücklich aus. Der Fisch hing an der Angel und zappelte. Wortwörtlich. Elias folgte jeder Bewegung Koljas, der auf dem Stuhl hin und her rutschte und dabei den Aschenbecher von einer Seite des Tisches zur anderen verschob. Ihre beiden Eisbecher waren beinah geschmolzen, da Elias unaufhörlich am Reden war und Kolja zu nervös um den Löffel zu halten. Er hatte stur den Blick gesenkt, trotzdem erkannte Elias das hektische Flattern von Koljas Augenlidern, jedes mal wenn er die Lsker erwähnte. Entweder hatten die jährlichen Opferungen ihn zu sehr mitgenommen oder Elias Verdacht bestätigte sich. Kolja hatte eine Prophezeiung gefunden. Etwas, womit man die Lsker verstehen oder sogar vernichten konnte? Der Gedanke raubte Elias den Atem und wieder dachte er an seinen Liebsten, der sich in diesem Augenblick in einer Jerame befand und mit Leere im Herzen seinem Beruf nachging. Ein Seufzer, ein Blick zur Seite. Sie kamen nicht von der Stelle. Elias trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Oberfläche seines Kaffees kräuselte sich wie bei einem bevorstehenden Erdbeben. Langsam wollte er nur noch nach Hause, aber die Neugier wisperte in seinen Venen und trieb ihn mit fiesen, spitzen Nadeln dazu an, in Koljas Psyche herumzustochern. „Manchmal glaube ich,“ sagte er völlig aus dem Kontext ihres Gespräches herausgerissen, „dass es einfacher wäre, wenn wir sie verstehen würden. Was wollen sie? Nur Nahrung oder das Gefühl von Macht? Was treibt sie an? Wer sind sie? Wäre es nicht wunderbar, wenn man... etwas finden würde, das uns Auskunft über die Lsker geben könnte? Am meisten Angst haben wir alle doch vorm Unbekannten.“ Erstaunlicherweise hatte er sich damit Koljas Aufmerksamkeit und den Hauch eines Blickkontaktes zu ihm gesichert. „Nein... nein, ich hatte nie Angst vor dem Unbekannten. Ich wollte es immer entdecken, verstehen und analysieren. Der bekannte Schrecken ist viel schlimmer. Obwohl man ihn seit seiner Kindheit kennt, kann man nichts dagegen unternehmen, sobald man erwachsen ist. Nein, die Lsker zu verstehen, würde es schlimmer machen... aber natürlich können wir das gar nicht, ich weiß nicht, wie du darauf kommst. Es-gibt-KEINE-Schriftstücke-über-die-Lsker!“ Die letzten Worte sprudelten atemlos hervor und gleichzeitig stand Kolja auf. Er hatte versucht leise zu sprechen, dennoch gab es ein paar Leute, die ihn von den näher gelegenen Tischen her verwirrt ansahen. Auch Elias wirkte perplex. Einen Gefühlsausbruch hätte er dem scheuen Archäologen nicht zugetraut. Hastig griff er in seine Hosentasche und holte eine Visitenkarte hervor, auf der er zudem seine Handynummer vermerkt war. „Hey, ist doch alles super. Aber vielleicht sollten wir beide langsam mal nach Hause. Das ganze war wirklich interessant. Vielleicht könntest du mich mal anrufen, zum Reden und für weitere Geschichten aus dem alten Griechenland, ja?“ Unverbindlich lächelnd stand er ebenfalls auf und drückte Kolja die Visitenkarte in die Hand und ging. „Ich werde da sein“ - 2. Staffel der verschollenen Animeserie Digimon Ich werde da sein, wenn ihr mich braucht. Wir sind ein Team, wir geben niemals auf. Der Weg wird weit sein - wir werden sehn, Ob wir die Kraft haben zu bestehen! Denn keiner weiß genau was kommen wird... 7. Mai des Jahres 1429, Bachstraße 9 Elias gammelte gelassen in dem großen und bequemen Sessel, der in einer Ecke des geräumigen Wohnzimmers stand. Obwohl er schon ein, zwei mal bei Kolja zu Besuch gewesen war, sah er sich gern in der Wohnung und besonders im Wohnzimmer um. Die Wohnung hatte ihren ganz eigenen Charme, der in ihrer Zeit genauso alt wirkte wie das Wort Charme an sich. Sein Blick blieb an den Wandregalen hängen. Dort standen zerkratzte und mit Rissen übersäte Tonvasen neben glänzend polierten Figuren von Göttern. Kolja hatte ihm die Namen und die Beziehungen der Götter untereinander genannt, doch spätestens die vielen Tiergestalten, in denen Zeus seine Partnerinnen begattet hatte, setzten sein Gehirn schachmatt. Naviam hingegen, der an diesem Tag dabei gewesen war, hatte sich begeistert gezeigt. Ihr Gespräch hatte sich über Stunden hingezogen und Elias hatte ihnen halb gelangweilt und halb zufrieden gelauscht. Denn zum ersten Mal hatte er es geschafft, dass Naviam sich wieder jemanden annäherte. Seine beiden Sorgenkinder waren drauf und dran Freunde zu werden und Elias gab sich alle Mühe das zu unterstützen. Diese Woche allerdings lief sein Unterfangen schlecht. Naviam leistete seinen Dienst in der Jerame der Volljährigkeit ab und kam jeden Tag als Nervenbündel nach Hause. Kolja verhielt sich ebenfalls nervös, schreckte bei jedem Geräusch hoch und hörte kaum ein Wort von dem, was man ihm sagte. Und bei ihm wusste Elias nicht mal, was los war. Er versuchte sich aufzuteilen und für seinen Geliebten und seinen neuen besten Freund gleichzeitig da zu sein, was wirklich nicht einfach war und meistens zog Kolja den Kürzeren. Das tat ihm leid. In den wenigen Wochen, seit er Kolja kennen gelernt hatte, hatte er diesen schätzen gelernt. Das Schriftstück, falls es existierte, war längst in den Hintergrund gerückt. Er mochte Kolja, auch abseits von dessen Wissensmenge. Man konnte ihn zwar schwer zum Lachen bringen, dafür wusste man hinterher jedoch, dass es wirklich lustig gewesen war. Über alles, was man ihm sagte, dachte er sorgfältig nach und gab erst danach seine begründete Meinung hinzu. Naviam hatte er nicht einfach verurteilt, sondern sich den Menschen, nicht den Zilener, angesehen und ihm eine Chance gegeben. Dafür hätte Elias ihn abgeknutscht, wenn nicht bereits die Vorstellung jemand anderen als Naviam zu küssen, Schuldgefühle in ihm auslösen würde. Heute wollte Elias seine Abwesenheit in den letzten Tagen wieder etwas gut machen. Sie hatten sich zum Brunch verabredet, zudem es bisher noch nicht gekommen war. Nachdem er an der Haustür geklingelt hatte, hatte ihm ein überraschter Kolja die Tür geöffnet, der ihr Treffen komplett vergessen hatte. Schlimm war das nicht gewesen, Kolja hatte auch so alles da, was man für einen richtigen Brunch brauchte, aber das nächste Unglück war dem ersten dicht gefolgt. Obwohl es ja eher mehrere Unglücke gewesen waren. In seltener Unachtsamkeit hatte Kolja es geschafft zwei seiner kostbaren Vasen um zuschmeißen und war anschließend gegen ein Bücherregel gestolpert. Elias hatte spontan über Koljas verdatterte Miene lachen müssen, war ihm jedoch sofort zur Hilfe geeilt. So hatten sie eine halbe Stunde damit zugebracht, jede winzige Scherbe zusammenzusuchen, um Kolja nicht die Hoffnung zu nehmen, dass dieser die Scherben später wieder zusammensetzen könnte. Die Bücher zwischendurch und hinterher wieder einzuordnen, erwies sich ebenfalls als nicht einfacher. Elias fühlte sich danach reichlich geschafft und hatte sich auf den Sessel eingerollt, den er im Moment noch immer für sich beanspruchte. Kolja hingegen hatte einen Anruf bekommen und war wortlos aus dem Zimmer gehetzt. Ein Blick aus großen Augen war ihm seitens Elias gefolgt. Aber auch das war bereits vor zehn Minuten gewesen. Elias begann sich zu langweilen. Sich streckend und gähnend erhob er sich aus dem Sessel und wanderte ziellos im Wohnzimmer umher. Es gab wirklich dauernd neues zu entdecken und wenn es nur der sich jeden Tag erhöhende Papierstapel auf dem Schreibtisch war. Kaum jemand schrieb noch Briefe oder benutzte gar Papier. Elektronische Geräte waren billig und da die Lsker verboten hatten sie weiter zu entwickeln, wurden sie auch nicht teurer. Neues Papier aus Bäumen herzustellen hingegen war verboten, daher war es eine Rarität. Aber das hielt Kolja nicht davon ab, die Abschriften der alten Pergamente auf Papier herzustellen, denn diesem vertraute er mehr als jeglicher Technik. Elias schmunzelte und besah sich das oberste Blatt. Es hatte etwas von einer Einkaufsliste, einer sehr alten Einkaufsliste. Er konnte mit keinem der Begriffe etwas anfangen. Als er das erste Blatt anhob, um sich auch das zweite anzusehen, verrutschte ihm der Stapel versehentlich etwas und bei dem Versuch ihn zu ordnen, fielen ein paar Blätter heraus. Er seufzte genervt. Scheinbar war das Unglück heute nicht nur auf Koljas Seite. Also bückte er sich und hob das erste Blatt auf, gerade in dem Moment, als Kolja ins Zimmer zurück gestürmt kam und dabei nicht weniger durch gerüttelt aussah als vorher. Elias blickte auf und wurde im nächsten Augenblick bereits auf die Füße gezogen. „Du musst gehen! Tut... tut mir leid, ich kriege... Besuch... genau, Besuch von... von.. jemanden. Tut mir echt leid. Ein andermal, ja? Bis dann!“ Elias fing an etwas zu stottern, das wohl eine Frage sein sollte, was los war, aber er bekam nie die Gelegenheit auszusprechen. Kolja lotste ihn aus der Tür und achtete nicht aus das Blatt Papier, das er in der Hand hielt. Wahrscheinlich konnte er froh darüber sein, dass sein Portmonee und seine Schlüssel in seiner Hosentasche waren, denn Kolja schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Generell nahm er Elias kaum mehr wahr und schlug diesem fast die Tür gegen die Nase. Damit war Elias ausgesperrt, das Blatt unachtsam in der Hand haltend und leicht verstört. Er blieb noch eine Minute stehen und betrachtete die Tür, die sich nicht mehr öffnen wollte. Dann drehte er sich um und stieg die Stufen der Terrasse hinunter, die an das kleine Haus angebaut war. Zum wiederholten Male an diesem Tag seufzte er, als er sein Auto aufschloss und einstieg. Ein junger Mann bog mit seinem Fahrrad um die Ecke und betrachtete ihn unfreundlich. In der Nähe von Koljas Haus stieg er ab und schob das Fahrrad ab da weiter. Elias beachtete ihn nicht. Er fuhr nach Hause. Weisheit aus einer der verbotenen Buchreihen […] Und so geht es immer weiter zurück. Wir leben nach den Abmachungen, die unsere Eltern getroffen habe, stoßen auf die Wut derjenigen, die sie verletzt haben und versuchen auf dem Seil zu balancieren, das sie für uns gewebt haben. Dieses beschissene Seil zieht sich durch Milliarden von Generationen und wird niemals abreißen. 7. Mai des Jahres 1429, Paul-Kirsch-Allee 2 Um 20 Uhr kam Naviam nach Hause und fand einen Elias vor, der die Stirn runzelnd ein Blatt Papier betrachtete. Das war an sich schon ungewöhnlich, aber dass dieser es in Dunkelheit tat, kam noch hinzu. Fürsorglich knipste Naviam den Lichtschalter an und kurbelte die Rollos herunter, um die Dunkelheit der Nacht aus ihrer Wohnung zu verbannen. Durch das leicht quietschende Geräusch schien Elias wieder zu sich zu kommen. Desorientiert hob er den Blick und ließ die Hand mit dem Papier sinken. Er lächelte Naviam nicht an, wie dieser es von ihm gewohnt war. Ein Lächeln hätte er jetzt gut gebrauchen können, doch irgendwie wusste er, dass es nicht unbedingt der Augenblick für Jammerei war. Ruhig setzte er sich neben Elias und legte seine Arme um ihn. „Was hast du da?“ Elias zögerte sichtlich, bevor er Naviam das Blatt vor die Nase hielt und auffordernd damit herum wedelte. „Lies selbst“. Sekundenlang wanderten seine Augen zwischen Elias und dem Papier hin und her. Die Situation machte ihn misstrauisch. Er fühlte sich nicht wirklich in der Lage eine weitere seelische Anstrengung auszuhalten. Nach einem Tag in der Jerame der Volljährigkeit fiel es schwer, normal zu agieren. Heute war es ein tapferes und stolzes Kind gewesen. Aber morgen könnte man wieder eins zu ihm führen, das weinte und darum flehte, ihm noch nichts zu amputieren. Manche wollten lediglich einen Aufschub, ein, zwei Jahre, bis sie bereit wären. Naviam hätte es gewährt, aber er machte nicht die Regeln. Das taten die Lsker. Er sah das Blatt Papier an und wusste einfach, es würde etwas mit ihnen zu tun haben. Sonst wäre Elias nicht so ernst, oder? Er schluckte die Angst angestrengt hinunter und überflog den Zettel. Sonne, Menschen, Schatten, Rache, es ergab keinen Sinn. Manche der Buchstaben drehten sich vor seinen Augen und ihm war selbst kalt, obwohl Elias an ihn geschmiegter Körper ihm tröstliche Wärme spendete. Zwei Atemzüge konzentrierte er sich auf dieses Gefühl, bevor er noch mal genauer las. Allgemeines Sprichwort (verschiedene Versionen vorhanden) Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern zur Tat zu schreiten, obwohl man Angst hat. 7. Mai des Jahres 1429, Bachstraße 9 Der Mann hatte gesagt, er würde in zehn Minuten da sein. Alex nannte er sich und Kolja hatte schreckliche Angst vor ihm. Das lag nicht an seinem Erscheinungsbild. Wenn möglich war er noch unauffälliger als Kolja selbst. Sein Körper war schmal, seine Körpergröße lag unter dem Durchschnitt. Zwar hatte er scharf geschnittene Gesichtszüge, doch hielt er diese derart unter Kontrolle, dass sie in ihrer Ausdruckslosigkeit kaum Aufmerksamkeit auf sich zogen. Was an ihm wirklich auffiel, war seine Stimme. Leise, energisch und bedrohend. Bei jedem Wort verspürte Kolja den Drang, sich vor ihm auf die Knie zu werfen. Hätte Alex das von ihm verlangt, hätte er es vermutlich getan. Aber Alex wollte mehr und heute hatte er es sich holen wollen. Er tauchte nur nicht auf. Am Anfang hatte Kolja zitternd im Sessel gesessen und auf das Klingeln gewartet. Nachdem der Mittag ruhig vergangen war und auch das helle Sonnenlicht des Nachmittags dem sanften Glühen des Mondes Platz gemacht hatte, verspürte Kolja fast so etwas wie Erheiterung. Er hörte auf nach der Uhrzeit zu schauen, machte sich Abendbrot und nahm sich danach ein Buch zum Lesen. Er verdrängte Alex, wie er viele Sachen in seinem Leben verdrängte, die ihm nicht gefielen. Die Ziffern der altmodischen Standuhr wechselten unbemerkt auf 21 Uhr und ließen ein leises Klimpern ertönen. Kolja hörte es längst nicht mehr, nachdem er sich jahrelang daran gewöhnt hatte. Was er jedoch hörte, war das Klingeln, welches nur eine Minute zeitverzögert durch die Wohnung schallte. Das Buch in seinen Händen fiel beinah lautlos zu Boden, als Kolja panisch hochschreckte. Da waren sie wieder, seine Angst, seine Nervosität. Besonders letzteres war manchmal wie eine liebgewonnene Freundin, aber wenn sie mit der Angst zusammenging, wurde sie zu einem Monster. Und gegen Monster konnte man nichts ausrichten. Höchstens Elias. Dieser hatte etwas an sich, das einen an die eigene Stärke glauben ließ. Jetzt bereute Kolja es ihn hinausgeworfen zu haben. Was, wenn Elias wütend auf ihn war und die neue Freundschaft sogleich wieder beendete? Vorsichtig öffnete Kolja die Haustür und blinzelte Alex an. Alex, der scheinbar immer noch die gleichen Klamotten trug, wie an dem Tag vor einer Woche und wie damals kein Wort sagte, da er das nur tat, wenn er sich sicher war nicht belauscht zu werden. Also ließ er ihn ein. Alex stellte sich vor ihn hin und musterte ihn kritisch. Kolja fragte sich, was sich an ihm verändert haben könnte, oder wollte er ihm Angst machen mit der Musterung? Vor seinem Blicken hatte Kolja keine Angst, nur vor seiner Stimme. „Wer war das heute Mittag? Was wollte er?“ Kolja zuckte zusammen. „Nichts wollte er... das war Elias, ein... ein Freund von mir...“ Alex lachte, glucksend und irgendwie falsch. „Freund? Du hast keine Freunde. Er wollte etwas von dir, jeder will etwas von dir, sonst würde man sich nicht mit dir abgeben.“ Das traf ihn und zwar auf eine Weise, die Alex vermutlich genau berechnet hatte. Kolja drehte sich wortlos um und ging voraus ins Wohnzimmer. Über Elias dachte er nicht nach. Elias gehörte nun zu den unübersichtlichen, viel zu großen Haufen an verdrängten Gedanken in seinem Inneren. Aber eine fiese Stimme in ihm flüsterte ihm gnadenlos zu, dass er es doch genau wisse. Elias war genau wie Alex an den Lskern und an dem, was er über sie wusste interessiert und nicht an Kolja selbst. Naviam war möglicherweise ehrlich gewesen, aber ihn hatte er kaum kennengelernt. Sie standen vor seinem Schreibtisch. „Wo ist es,“ fragte Alex ungeduldig und Kolja bedeutete ihm ruhig zu sein. Seltsamerweise hatten die niederschmetternden Worte seine Nervosität und seine Angst verdorren lassen. Er fühlte sich schlicht emotionslos. Es erschreckte ihn nicht mal, als er bemerkte, dass seine sorgfältige Abschrift der alten Prophezeiung verschwunden war. Sorgfältig ging er den ganz Stapel durch, obwohl er sich sicher war, sie genau zwischen das Dokument über den Angriff der Spartaner und die Rechte der Prinzessin Myrca gelegt zu haben. Alex scharrte währenddessen mit seinen dreckigen Turnschuhen über den eh schon zerkratzten Paketboden und hinterließ braune Schleifspuren. Schließlich gab Kolja es auf und drehte sich zu Alex um. „Sie ist nicht mehr da.“ Die Gesichtszüge des Angesprochenen entgleisten einen Herzschlag, dann schien ihm etwas zu dämmern. „Dieser Typ, dieser Elias, er hatte ein Blatt Papier in der Hand, als er dein Haus verließ. Du hast sie ihm gegeben!“ Kolja schüttelte den Kopf und versuchte sich zu erinnern, ob Elias etwas in der Hand gehabt hatte, als er ihn aus der Wohnung geschmissen hatte. Er konnte sich nicht erinnern und das sagte er Alex auch. „Wieso sollte ich das tun und wieso sollte Elias sie nehmen? Er mag die Lsker genauso wenig wie jeder andere und er hat vor nichts Angst. Vielleicht aus Versehen... ich weiß es nicht, ich erinnere mich nicht... Ich kann morgen zu ihm gehen und ihn fragen, ja? Ich werde das regeln.“ Selbst wenn Elias gar nicht sein Freund war und das Papier vielleicht mit Absicht genommen hatte, wollte Kolja ihn da nicht mit reinziehen. Er wollte gerne von sich glauben, mutig zu sein, wenn es darauf ankam. Nur einmal wollte er sich selbst davon überzeugen. Doch Alex schien das egal zu sein. Er schnaubte genervt und kam drohend einen Schritt auf Kolja zu. „Du bist ab jetzt raus. Wenn du die Wahrheit sagst - und ich warne dich, ich bekommen es raus, wenn mich jemand anlügt – dann werde ich mich um diesen Elias kümmern. Gib mir seine Adresse, los!“ Schwach regte sich der Trotz in Kolja. Zu schwach. Er nickte, nahm ein Blatt und einen Stift und schrieb die Adresse auf. Er war noch nicht dort gewesen und würde es jetzt auch niemals sein. Ein wenig hatte er sich darauf gefreut. Naviam und Elias waren vollkommen unterschiedliche Charaktere und er konnte sich keine Wohnung vorstellen, die sie beide widerspiegelte. Waren die Farben hell oder dunkel? War die Einrichtung pragmatisch wie Naviam oder bunt durcheinander wie Elias Haarfarbe seit kurzem wieder? Er lächelte leicht und mochte kaum aus seinen Tagträumen auftauchen, um Alex ins Gesicht zu sehen, der mit der Aushändigung der Adresse scheinbar noch nicht mit ihm fertig war. „Morgen Nachmittag um 15 Uhr wartet ein kleines Flugzeug auf dich. Du weißt wo, es ist gefährlich so etwas zweimal zu erwähnen. Es wird dich zur Basis bringen, aber nur wenn du pünktlich bist. Länger als sieben Minuten wird der Pilot nicht warten. Keiner wird dir Probleme bereiten, solltest du dich dagegen entscheiden, uns beizutreten. Aber wenn du uns verrätst,“ und bei diesen Worten kam Alex ihm nah genug, dass Kolja seinen Atem riechen konnte, „Dann. Werde. Ich. Dich. Töten.“ Kolja lachte. Er wusste nicht wieso oder ob das klug war, aber er lachte und entfernte sich von Alex nach Curry riechendem Atem. Dafür bekam er einen Blick ab, der tatsächlich überrascht schien. „Wieso sollte ich euch verraten? Ihr habt eh keine Chance. Monster kann man nicht töten.“ Alphaville - Forever young Let us die young or let us live forever we don't have the power but we never say never 8. Mai des Jahres 1429, Paul-Kirsch-Allee 2 Die Sonne ging auf und fiel, lückenhaft und gedämpft durch die Rollos, auf ihre Gesichter. Sie lagen nebeneinander auf dem großen Bett, das eins der wenigen neueren Stücke ihrer Möbelsammlung war. Ihre Hände waren ineinander verschränkt, ansonsten berührten sie sich kaum. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, die doch den gleichen Ausgangspunkt hatten. Vielleicht hätten sie noch stundenlang so dagelegen, wenn es nicht an der Wohnungstür geklingelt hätte. Elias war als erster auf den Beinen. Kurz schwankte er ein wenig und blinzelte perplex in die Sonnenstrahlen, als könnte er nicht glauben, dass er die Fähigkeit besaß zu stehen. Beinah fühlte er sich wie auf einem Drogentrip, der Mangel an Nahrung schlug sich auf seinen Kreislauf nieder und der Schlafentzug benebelte sein Gehirn. Er blinzelte noch mal und sah, wie Naviam sich im Bett aufsetzte. Umgeben von der schneeweißen Bettwäsche und mit einem Kranz aus tanzenden Staubpigmenten um seinen Kopf herum, wirkte sein Liebster schrecklich verletzlich. Einige wenige Sekunden nahm Elias sich die Zeit, ihm ein zärtliches Lächeln zuzuwerfen, bevor er sich wegdrehte und in genau der selben Kleidung, die er bei Kolja getragen hatte, auf die Tür zustrebte. Zwischen dem ersten Klingeln und Elias Ankunft bei der Tür konnte nicht viel Zeit vergangen sein, dennoch ertönten ein zweites und ein drittes, bevor er nach der Klinke greifen und sie herunterdrücken konnte. Sofort nahm er an, es wäre der Hausmeister, der jeden dritten Morgen zu unmöglichen Zeiten bei allen Mietern klingelte und ihnen wichtige Sachen mitzuteilen hatte. Doch Elias wurde überrascht. Er kannte den Besucher nicht, der da vor ihm stand. Einfache Kleidung, durchschnittliches Aussehen. Möglicherweise hätte er sich an ihn erinnert, wenn er sich nach dem Rausschmiss aus Koljas Wohnung auf der Straße umgesehen hätte. Geändert hätte es nichts. Keiner kannte Alex, wenn er nicht wollte, dass man ihn kannte. „Guten Tag, mein Name ist Alex. Es tut mir wirklich leid so früh stören zu müssen. Sie sind doch ein Freund von Kolja Heinrich, nicht wahr? Dürfte ich reinkommen?“ Seine Stimme vermittelte Elias das Gefühl besorgt sein zu müssen. 101 Szenarien spielten sich in seinem Kopf ab und er dachte gar nicht daran die Worte seines Besuchers in Frage zu stellen. Augenblicklich trat er einen Schritt zur Seite, um ihn einzulassen. „Ja, ich bin ein Freund von Kolja, was ist passiert?“, kam Elias sofort zur Sache und schloss die Tür hinter Alex. Dieser lächelte nur beruhigend und deutete in den Raum hinein. „Ist ihr Mitbewohner da?“ Aus Reflex schüttelte Elias sofort den Kopf. „Nein... ich meine ja, aber er ist nicht mein Mitbewohner, er ist mein Freund... mein Lebensgefährte.“ Alex schien nicht überrascht und nickte. Er lächelte noch immer, aber bevor Elias sich vorsehen konnte, hatte er ein Messer am Hals. „Wehr dich nicht. Geh in die Küche und ruf ihn,“ zischte er. Elias tat wie geheißen. Er zuckte nur unmerklich zusammen. Im ersten Moment war die Situation zu absurd, um sie wirklich zu realisieren. Es musste eine Verwechslung sein, ein Scherz oder zumindest ein Raubüberfall, auch wenn er nicht wusste, wieso der ausgerechnet früh am Morgen stattfand. Sein Gehirn schaffte es nur träge darüber nachzudenken, während er so ruhig atmend wie möglich mit Trippelschritten in Richtung Küche ging. Das Messer an seiner Kehle war kalt und erinnerte ihn an die Operationstische in den Jeramen. Und als er daran dachte, wusste er mit einem Mal ganz klar, dass es etwas mit der Prophezeiung zu tun haben musste. Die Prophezeiung, die ihm den Atem geraubt hatte und die ihm in ihrer gesamten Tragweite unbegreiflich erschien. Er wollte den Kopf schütteln, um die Gedanken loszuwerden, aber das wäre sein Tod gewesen, also unterdrückte er den Reflex. Sie kamen in der Küche an.Alex blieb stehen und Elias mit ihm. „Naviam? Könntest du bitte kurz kommen? Wir haben Besuch,“ rief er angespannt. Sein Liebster kam sofort. Im ersten Augenblick schien er Alex nicht mal zu bemerken. Er sah müde aus, die Augen halb geschlossen versteckte er ein Gähnen hinter vorgehaltener Hand. Dann hob er den Blick und warmes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. Ein Lächeln, das zu Stein wurde, als er Alex und das Messer bemerkte. Alex stieß eine Art schnaubendes Lachen aus und nahm das Messer von Elias Kehle, der vor Erleichterung fast in die Knie gesunken wäre. Jetzt erst bemerkte er den Druck, der seinen Atem fast vollständig angehalten hatte. Er wollte Alex schlagen, überwältigen, irgendetwas, aber seine Hände zitterten zu sehr, um sie zu bewegen. „Nur die Ruhe. Ich will euch nichts tun. Ich will die Prophezeiung, wo ist sie? Solltet ihr planen, sie den Lskern zu übergeben, dann werde ich euch etwas tun.“ Seine Stimme klang viel zu freundlich, sie schickte Elias und Naviam gleichzeitig Schauer über den Rücken und sie kamen kaum besser gegen Alex an als Kolja. „Setzt euch doch bitte,“ befahl er und sie taten es. Elias, der langsam wieder zu sich kam, presste wütend die Lippen aufeinander. „Ich weiß,“ sprach er Naviam an, „dass du mit der ganzen Sache nichts zu tun hast. Entschuldige, wenn ich jetzt deine Gefühle verletze, aber du siehst aus wie ein... Feigling. Wahrscheinlich weißt du nicht mal, worum es hier geht. Aber du weißt es... nicht wahr?“ Er schenkte Elias ein Grinsen, das eine Reihe blütenweißer Zähne zum Vorschein brachte und eine einzelne Goldkrone im Sonnenlicht blitzen ließ. Erstaunlicherweise nahm das Grinsen seinen Worten die Schärfe, es war, als überließe er einem selbst die Wahl, ob man sie für einen Scherz hielt oder ernst nahm. Doch weder Naviam noch Elias schienen sich unschlüssig zu sein. „Du täuschst dich, ich habe sie gelesen.“ Naviam war selten trotzig, aber für einen Moment vergaß er seine Unsicherheit und widersprach Alex mit blitzenden Augen. Elias griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Die beiden blickten erst sich und dann wieder Alex an. „Was soll das hier, wer bist du?“, ergriff Elias das Wort. Längst war es vorbei mit Höflichkeit. Wieder lachte ihr Besucher. „Bist du taub oder dumm? Alex, ich heiße Alex. Und was das hier soll... nun... ich habe eure Wohnung seit gestern Abend überwacht. Ihr habt sie nicht verlassen. Also wenn ihr die Prophezeiung den Lskern hättet übergeben wollen, hättet ihr es bereits getan. Deshalb verdient ihr möglicherweise mein Vertrauen,“ meinte Alex nachdenklich und strich sich scheinbar überlegend durch die Haare. Elias und Naviam sah er nicht an, empfand sie nicht als gefährlich genug für seine Aufmerksamkeit. Obwohl es ihre Wohnung war, hatte er die Kontrolle. Daran ließ er keine Zweifel. Es verging ein wenig Zeit, bis er wieder anfing zu sprechen. „Ihr denkt, die Lsker würden alles beherrschen, nicht wahr? Keiner von euch hat daran gezweifelt, dass sie alles wissen, oder? Aber sie sind nicht allmächtig. Ihr habt die Prophezeiung gelesen, ihr wisst es. Ich gehöre zu Anti Lsker, kurz gesagt A.L. Bescheuerter Name, nicht wahr?“ Fast unhörbar knirschte Elias mit den Zähnen. Hatte Alex schon die ganze Zeit hinter jedem zweiten Satz ein nicht wahr gehängt oder tat er es erst jetzt? Dieses kleine Detail nahm Elias Aufmerksamkeit fast mehr in Anspruch als das, was Alex ihnen erzählte. Das war zermürbend und nun schüttelte er wirklich den Kopf, um die unsinnigen Gedanken los zu werden. Er musste sich konzentrieren, er musste nachdenken. „Aber das kann man sich eben nicht aussuchen,“ Alex hatte bereits weiter gesprochen, „Wir wissen jedenfalls schon lange, dass sie verwundbar sind, aber dieses Schriftstück ist sozusagen das letzte Indiz dafür. Wir suchen immerzu nach Beweisen. Unsere Forscher führen Experimente durch und unsere Sucher durchforsten jedes Medium nach Anhaltspunkten. Die Radiosendung, wir hatten sie erst nur aufgezeichnet und später angehört, hat uns auf Koljas Fährte geführt. Aber ich hätte wissen müssen, dass er etwas falsch macht. Deshalb bin ich nun hier. Gebt mir die Prophezeiung. Und alles ist gut.“ Elias versuchte nachzudenken. Er hatte das Gefühl, dass sich hinter Alex Worten eine geheime Bedeutung verbarg, doch je länger er darüber nach grübelte, umso schwachsinniger erschien es ihm. Alex hatte gesagt, was er gesagt hatte und nichts anderes, aber dadurch wurde dieser ihm auch nicht sympathischer. Beinah schon angeekelt sah er ihn an und wollte eigentlich nicht mehr hören. Eigentlich wollte er nur, dass Alex ging und sie in Ruhe ließ. Doch Alex ging nicht und plötzlich war es Naviam, der den Mut aufbrachte Fragen zu stellen. „Was ist A.L? Eine Organisation? Die Basis dieser Organisation, wo ist sie? Und wie bitte wollt ihr etwas gegen die Lsker ausrichten?“ Die Fragen klangen äußerst sinnvoll in Elias Ohren und kurz verspürte ein vorbei rauschendes Gefühl von Stolz auf Naviam, dessen Stimme kaum zitterte und der aufrecht auf seinem Stuhl saß, als wäre er diesmal Herr der Situation. Elias brauchte nicht mal mehr etwas hinzuzufügen. Liebevoll strich er über Naviams Handrücken und blickte zu Alex, der sie beide ungewöhnlich still und ausdruckslos ansah. „Für wie dumm haltet ihr mich? Ihr seid weiterhin gefährliche Objekte. Tretet A.L bei und ihr werdet es zu gegebener Zeit erfahren...Wahrscheinlich ist das Risiko zu hoch... aber nun... heute Nachmittag um 15 Uhr wird ein kleines Flugzeug hinterm Waldgebiet warten. Genügend Platz für euch wäre vorhanden, selbst wenn euer Freund Kolja entgegen meiner Erwartung doch kommen sollte. Steigt in das Flugzeug und es bringt euch zur Basis. Lasst es bleiben, schweigt und ihr werdet niemals Probleme bekommen. Sagt ein Wort zu den falschen Personen und ihr seid tot.“ So unscheinbar Alex in den Minuten aussah, in denen er schwieg und ihnen Zeit gewährte über seine Worte nachzudenken, umso aussagekräftiger wirkten seine Finger, die in einem eintönigen Rhythmus über den Eichenholzgriff seines Messers strichen. Elias und Naviam hatten kein Messer, nur ihre miteinander verschränkten Hände und ihre Blicke. Sie atmeten kaum. Dann, auf ein unsichtbares Signal hin, vielleicht ein Flackern in ihren Augen, standen sie gemeinsam auf und gingen in ihr Schlafzimmer. Alex Blick folgte ihnen schweigend. Nach einer Minute kamen sie zurück und hielten Alex die Prophezeiung hin. Erst da gestattete dieser sich wieder ein Lächeln. Er nahm sie, stand auf und ging. Alles, was wichtig war, hatte er gesagt und die beiden, die zurück blieben, wussten das. Sie umarmten sich, noch bevor die Wohnungstür ins Schloss zurückgefallen war und ertranken fast in dem Meer aus Fragen, Möglichkeiten und Ängsten, die Alex ihnen da gelassen hatte. Rosenstolz – Wie weit ist vorbei Wie weit muss ich gehen um uns nicht mehr zu sehen Welcher Zug nimmt mich mit und bringt mich nicht zurück 8. Mai des Jahres 1429, neues Waldgebiet Als Alex ging, waren ihnen neun Stunden geblieben, um eine Entscheidung zu fällen und sich danach, wenn nötig, vorzubereiten, um zum Landeplatz des Flugzeugs zu gelangen. Fünf Stunden davon hatten sie verschlafen. Erschlagen von den Erkenntnissen der letzten Stunden hatten sie es vorläufig aufgegeben zu denken und waren ins Bett gefallen, dessen Matratze weich unter ihnen nachgegeben und sie zum Träumen verlockt hatte. Aber allzu bald waren sie wieder aufgewacht, kaum ausgeruhter als vorher und fast hektisch angesichts der wenigen Zeit, die ihnen noch blieb. Elias dachte daran, dass, wenn er sich A.L anschloss, er endlich die Möglichkeit hätte zu kämpfen. Er wollte die Hilflosigkeit abschütteln, die ihn jedes Mal in der Jerame überkam, wenn er keine Möglichkeit mehr hatte die Augen vor seinen fehlenden Zehen zu verschließen. Nicht zu vergessen, auch Naviam wäre dann frei. Sein Naviam, der so selten über die Splitter redete, in die seine Seele mit jedem weiteren Tag zerfiel, an dem er jemanden Schmerzen zufügen musste. Und vielleicht, Elias nahm sich nicht die Zeit darüber nachzudenken, war es zudem das Abenteuer, das ihn lockte. Für Naviam war es alles anderes, nur keine Abenteuerlust, die ihn nach dieser schwachen Möglichkeit greifen ließ. Nach Freiheit strebte er, nach Frieden. War die Chance nie wieder zurück zu müssen in die unterirdischen Operationssäle noch so gering, er wollte sie ergreifen. Er wollte leben, ohne Zwänge, ohne Lsker. Doch beide hatten hier etwas, das sie liebten. Da waren ihre Eltern. Elias glaubte durchaus, dass seine Eltern sein Verschwinden verkraften würden. Er war schon immer unabhängig gewesen und seit seinen Auszug und dem Tod seiner geliebten Hündin Elfe, die er bei seinen Eltern zurück gelassen hatte, war der Kontakt mit ihnen spärlich gewesen. Manchmal hatte er das Gefühl, seine Mutter hätte ihn bereits in dem Moment aufgegeben, als er seine Volljährigkeit erreicht hatte. Nie wieder war das Verhältnis zu ihr das gleiche gewesen. Dennoch liebte er seine Eltern. Seine Freunde waren ihm nicht weniger wichtig und sein Beruf war der tollste, der beste, den er sich je hatte vorstellen können. Mit seinen Zuschauern zu reden machte Spaß, neue Gäste zu interviewen und durch sie Stückchenweise hunderte Facetten der Welt kennen zu lernen faszinierte ihn. Sogar an ihrer Wohnung hing er inzwischen. Sie war perfekt, sie war sein und Naviams zu Hause. Wollte er das wirklich für die Fremde aufgeben? Naviam hatte weniger. Keine Arbeit, die er liebte. Keine Freunde, die er vermissen würde. Sicherlich mochte er die Wohnung irgendwie, doch an ihr haftete wie alles auf dieser Welt der Gestank der Lsker. Aber seine Mutter konnte er nicht so einfach abtun. Sie hatte ihn alleine groß gezogen und immer mit vollstem Herzen geliebt. Dass er ebenfalls Zilener werden musste, dafür konnte sie nichts. Sie wollte nur, dass er glücklich war und als er schließlich Elias lieben gelernt hatte, stand sie mit Leib und Seele hinter ihnen. Er wusste nicht, was sie ohne ihn tun würde und er fürchtete sich davor, es zu erfahren. Ihm wurde schlecht bei dem Gedanken sie alleine zu lassen. Irgendwie hatten Elias und Naviam gewusst, was der jeweils andere gedacht hatte, auch ohne Worte. Trotzdem waren die Blicke unsicher gewesen, die sie getauscht hatten. Denn weder hatte Elias gewusst, ob Naviam sich fürs gehen entscheiden würde, noch hatte Naviam Elias Gedanken bezüglich dieser Sache lesen können. Aber so hatten sie es stillschweigend ausgemacht, jeder von ihnen musste sich selbst dafür oder dagegen entscheiden. Aber eigentlich hatten sie beide es tief in sich drin gewusst, würde der eine nicht gehen, würde der andere ebenfalls nicht gehen. Als sie ihre Entscheidung gefällt hatten, waren ihnen noch drei Stunden geblieben. Diese hatten sie in verzweifelter Hast verbracht. Alex hatte ihnen nicht gesagt, was sie mitnehmen mussten oder überhaupt brauchten. Also hatten sie einiges an Kleidung in eine Tasche geschmissen und ein paar andere, für sie bedeutende Gegenstände hinterher. Dreimal hatten sie die Tasche gepackt, ausgepackt und wieder mit Dingen voll geschmissen, bis sie keine Zeit mehr gehabt hatten. Es hatte sich keine Zufriedenheit einstellen können, ihr ganzes Leben ließ sich nicht in eine Tasche packen. Schließlich hatten sie keine andere Wahl, als sich damit abzufinden und das mitzunehmen, ohne das ihnen ein Stück ihres Herzens fehlen würde. Ihr Auto hatten sie ebenfalls dagelassen, zusammen mit ihren Identifikationskarten. Stattdessen hatten sie sich ein Taxi bestellt, das sie einen halbe Kilometer vorm neuen Waldgebiet raus gelassen hatte, direkt an einem wenig besuchten Hotel. Sie hatten es der Fantasie des Taxifahrers überlassen, was sie dort wollten. Kaum zwei Kilometer waren es danach noch bis zum besagten Treffpunkt gewesen. Ganz still standen Naviam und Elias Hand in Hand am Rande einer kleinen Lichtung und sahen zum Himmel auf. Im ersten Augenblick sahen sie das Flugzeug, das an einen Privatjet erinnern mochte, gar nicht. Es verschmolz nahezu mit den reinweißen Wolken und dem seltsam azurblauen Himmel. Aber es war auf die Sekunde pünktlich und landete fast lautlos vor ihnen. Ein Schnurren wie von einer Katze erklang, dann stand es vor ihnen. Sie hörten das leise Quietschen, als eine Tür aufging und ein älterer Mann das Cockpit verließ. Hinter der Scheibe saß noch jemand, derart undeutlich zu erkennen, dass sie nicht mal sagen konnten, ob es ein Mann oder eine Frau war. Aber dafür hatten sie keine Aufmerksamkeit über. Der ältere Mann kam auf sie zu und lächelte viel freundlicher, als Alex es wahrscheinlich je gekonnte hätte. Naviam entspannte sich sichtlich, Elias jedoch sah den Mann halb neugierig, halb misstrauisch entgegen. Nur einen Moment sah er woanders hin, als er sich an Kolja erinnerte, den Alex ebenfalls im Zusammenhang mit dem Flugzeug erwähnt hatte. Er war nicht da und Elias war klar, dass er nicht mehr kommen würde. Ein weiterer Mensch, den er nie wiedersehen würde. Nun blieb der ältere Mann vor ihnen stehen und schüttelte ihnen die Hände. „Elias Regen? Naviam Jed?“, fragte er dabei und sie bejahten. Damit schien alles geregelt. „Kommt mit,“ sagte der Unbekannte und sie folgten ihm. ~~~ Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen ^^ In den Steckbriefen werde ich gleich nach dem Abschicken des Kapitels Koljas Hintergrundgeschichte ergänzen. Zu Alex kommt nach dem nächsten regulären Kapitel etwas. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)