100 Assoziationen von Eldeen (100 Themen Herausforderung ~ Schreibzieher) ================================================================================ Kapitel 1: Zahnschmerz ---------------------- Eine leichte Brise umspielte die gewaltige Klippe, wirbelte einige Blüten durch die Luft und brachte die dichten Baumkronen im Schatten des gewaltigen Felsens zum Säuseln, während sich im Westen die Sonne dem Horizont näherte und ein warmes, freundliches Farbenspiel an den abendlichen Frühlingshimmel zauberte. Am höchsten Punkt der Klippe befand sich das Drachennest, in dem die Drachenmutter ihren Schweif um den kleinen Jungdrachen gerollt und einen mächtigen Flügel schützend über ihn gelegt hatte, während sie den Sonnenuntergang beobachtete. „Mama?“ Sie hob den Flügel ein wenig an, um ihr Junges anzusehen. „Werde ich auch mal so groß wie du?“ „Aber natürlich“, erwiderte sie und ein Lächeln lag in ihren Augen. „Du wirst einmal ein richtiger, großer Drache sein.“ „Kann ich dann auch feuerspucken?“, fragte das Kleine aufgeregt und mit großen Augen. „Und genauso hoch fliegen?“ „Ja, und ich verrate dir noch etwas“, antwortete die Mutter und senkte verschwörerisch den Kopf näher an den Jungdrachen. „Damit unsere Zähne das Feuer überstehen, sind sie besonders hart und ein echter Drache plagt sich niemals mit Zahnschmerzen herum, so wie es andere Lebewesen müssen. Unsere Zähne halten ein Leben lang.“ „Wirklich?“ „Drachenehrenwort.“ Glücklich und stolz darauf, ein echter Drache zu sein, rollte sich das Kleine daraufhin zusammen und presste seinen Körper näher an den der Mutter. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und nur noch ein leichter, orangefarbener Schein erhellte den westlichen Horizont, als das Drachenjunge die Augen schloss. Mitten in der Nacht erwachte es plötzlich. Im ersten Moment wusste es gar nicht wieso, denn seine Mutter schlief ruhig, die Nacht war klar und bis auf vereinzelte Eulenrufe war nichts zu hören. Als der kleine Drache dann aber ganz wach war, erkannte er schnell den Grund für sein Erwachen – er hatte einen dumpfen Schmerz in seinem Maul. Ängstlich riss der Kleine die Augen auf und sein Herz begann schneller zu schlagen. Der junge Drache starrte seine Mutter an. Wenn er doch ein echter Drache war, dann durfte er keine Zahnschmerzen haben! Wieso also hatte er welche? War er vielleicht kein echter Drache? Was würde seine Mutter sagen, wenn sie erfuhr, dass er Zahnschmerzen hatte? Zitternd stand er vorsichtig auf und schob den Flügel seiner Mutter beiseite. Geduckt schlich er an den Rand des Nests und blickte zurück. Welcher Drache wollte schon ein Junges, das Zahnschmerzen hatte und somit kein echter Drache war? Wären Drachen in der Lage gewesen zu weinen, so hätte der kleine Drache sicherlich geweint, als er aus dem Nest sprang und sich mit leisen Flügelschlägen davon machte. Da er aber nicht weinen konnte, blickte er nur ein letztes Mal unendlich traurig zurück, bevor er sich dem Wald zuwandte. Dort landete er unsanft und suchte Schutz zwischen den Bäumen, um sich unter einer großen Kiefer zusammenzurollen. Was sollte er jetzt bloß tun? Und wenn er kein echter Drache war, was war er dann? Gegen Morgen wachte der kleine Drache auf, weil er ein Geräusch im Unterholz vernommen hatte. Er blieb liegen, wickelte seinen Schweif enger um sich und hob nicht einmal den Kopf, um nachzusehen, woher das Geräusch gekommen war. Sein Zahn schmerzte immer noch, vielleicht sogar noch schlimmer als in der Nacht, aber da war sich der Kleine nicht ganz sicher. Das Rascheln wurde lauter und ein Kaninchen sprang aus einem nahegelegenen Busch, um an einigen Blättern wilder Petersilie zu knabbern. Der kleine Drache beobachtete das Kaninchen reglos, bis dieses ihn schließlich bemerkte und zusammenfuhr. Mit angsterfüllten Augen starrte es ihn an. „Bitte, friss mich nicht!“ Das Drachenjunge sah das kleine, pelzige Tier an und seufzte. „Wieso sollte ich?“, fragte es. „Weil du ein Drache bist“, erwiderte das Kaninchen noch immer zitternd, obwohl es mittlerweile neugierig wirkte. „Nein, ich bin kein echter Drache“, antwortete der Kleine und rollte sich enger zusammen. „Ich habe nämlich Zahnschmerzen und ein echter Drache hat niemals Zahnschmerzen.“ Nun sah das Kaninchen völlig verwirrt aus und traute sich sogar, einige Zentimeter näher zu hoppeln, bevor es den kleinen Drachen genau beäugte. „Aber du siehst aus wie ein Drache“, stellte es fest, während eines seiner Ohren zuckte. „Wie ein ziemlich kleiner Drache.“ „Aber meine Mama hat gesagt, dass Drachen nie Zahnschmerzen haben.“ Das Kaninchen bekam Mitleid mit dem kleinen Drachen, der so verloren dalag und obwohl das pelzige Tier wohl eine leichte Beute gewesen wäre, hoppelte es näher und saß schließlich unmittelbar vor dem Reptil. „Lass mich mal den Zahn sehen.“ Der kleine Drache zögerte und öffnete schließlich langsam sein Maul. Die messerscharfen Zähne des Drachenjungen waren bereits jetzt für das Kaninchen mehr als angsteinflößend. Mit angelegten Ohren und einem leichten Zittern beäugte es die Zähne und entdecke schließlich einen, der leicht schief stand. „Es sieht so aus, als ob der Zahn locker wäre“, stellte das Kaninchen fest und hastig schloss der junge Drache seine Kiefer, um das kleine Tier vor ihm erschrocken anzusehen. Dabei trafen seine Zähne allerdings schwungvoll aufeinander. Mit einem leisen Jaulen sprang das Jungtier auf und öffnete das Maul. Der Zahn fiel geräuschlos in das Gras. Voller Entsetzen starrte der Drache seinen Zahn an und auch das Kaninchen wirkte überrascht, bevor es dann keck den Kopf schieflegte. „Haben Drachen Milchzähne?“, fragte es dann und stellte dabei die Ohren auf. „Milchzähne?“, hakte der junge Drache nach und wirkte sichtlich verwirrt. „Was ist das?“ „Das sind Zähne, die man während der Kindheit hat“, erklärte das Kaninchen und stupste den Drachenzahn vorsichtig an. „Wenn man älter wird, verliert man sie und bekommt die richtigen, bleibenden Zähne.“ „Oh“, machte das Drachenjunge und blickte von seinem Zahn zu dem Kaninchen. „Dann kriege ich einen neuen Zahn?“ „Vielleicht halten nur die bleibenden Drachenzähne Feuer aus“, schlug das Kaninchen als Erklärung vor. „Drachen können doch auch erst feuerspucken, wenn sie erwachsen sind, oder?“ Der kleine Drache nickte eifrig und spürte, wie in ihm die Hoffnung zurückkehrte, dass das alles ganz normal war und dass er doch zu seiner Mutter zurückkehren konnte. „Also bin ich doch ein echter Drache?“ „Sieht ganz so aus“, erwiderte das Kaninchen mild. „Und ich glaube, dass sich deine echte Drachenmutter Sorgen um dich macht.“ „Dann muss ich sofort nach Hause!“, rief der kleine Drache und spreizte die Flügel. Im letzten Moment hielt er inne und blickte noch einmal das Kaninchen an. „Danke!“ Noch bevor das Kaninchen noch etwas sagen konnte, hatte sich der kleine Drache mit kräftigen Flügelschlägen durch die Baumkrone gekämpft, um sich kurz zu orientieren und dann zielstrebig und so schnell wie möglich nach Hause zu fliegen. Dort wurde es von seiner besorgten Mutter empfangen, die ihr Kleines an sich presste und erst nach mehreren Minuten wieder losließ. „Wo bist du gewesen?“, fragte sie halb verärgert, halb erleichtert. „Ich war schon ganz krank vor Sorge!“ Der kleine Drache ließ den Kopf hängen, bevor er seiner Mutter kleinlaut von seinen Erlebnissen erzählte. „Na dann zeig mir doch mal deine Zahnlücke“, forderte sie das Jungtier auf und dieses öffnete etwas ängstlich sein Maul. „Da ist ja schon die Spitze vom neuen Zahn zu sehen! Kein Wunder, dass es gedrückt hat.“ Der kleine Drache tastete mit seiner Zunge nach der Lücke und bemerkte tatsächlich die scharfe Spitze des nachwachsenden Zahns. Stolz richtete es sich auf. „Bald habe ich alle bleibenden Zähne und dann lerne ich Feuerspucken!“, prahlte es. „Ja, bald“, bestätigte die Mutter, auch wenn das Wörtchen ‚bald‘ aus ihrem Mund nach einer deutlich längeren Zeit klang. „Aber flieg bitte nicht wegen jedem Zahn davon, ja?“ „Nein, jetzt weiß ich ja Bescheid“, informierte das Drachenjunge seine Mutter. „Schade, dass ich den Zahn nicht mitgenommen habe…“ Das Kaninchen hingegen hatte natürlich nicht gewusst, ob Drachen wirklich Milchzähne hatten, aber es war froh darüber, dass der junge Drache zu seiner Mutter zurückkehrte, nicht zuletzt weil es dann keine Gefahr mehr lief, gefressen zu werden. Den Drachenzahn hatte das Kaninchen als Andenken behalten, denn einem Drachen begegnete man im Wald schließlich nicht alle Tage. Kapitel 2: Erschöpfung ---------------------- Im Fernsehen lief eine der üblichen Talkshows, in denen sich die Gäste entweder gegenseitig anschwiegen oder ankeiften. Bei dieser war ganz klar Letzteres der Fall. Nach einigen Minuten, in denen der Moderator es noch immer nicht geschafft hatte, die Gesprächsrunde zu beruhigen, griff Elaine nach der Fernbedienung, um umzuschalten. Sie fand einen Film, der schon seit mindestens einer halben Stunde lief, eine Telenovela, deren Schauspieler in etwa so begabt waren wie ein Wandschrank, eine Dokumentation über die Herstellung von Plastiktüten und einen alten Schwarzweißfilm. Mit einem Seufzen ließ sie den Schwarzweißfilm laufen, in dem gerade eine leicht pikierte Frau einen Schmollmund zog, obwohl sie – da war sich Elaine sicher – am Ende doch ihren Traummann bekommen würde. Die Blumenwiese duftete, eine laue Brise umspielte das Leben und die bunten, wunderschönen Blumen wogten hin und her wie ein farbenprächtiges Meer. Ein Schmetterling flog lautlos von Blume zu Blume und ließ sich für einen Sekundenbruchteil auf der Hand des kleinen Mädchens nieder, bevor er davonflog, um nach Nektar zu suchen. Sacht spürte das Mädchen die Gräser, Blätter, Halme und Blumen auf ihrer Haut, an den Beinen und Armen, die das weiße Kleidchen nicht bedeckte und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie die kitzelnden, zarten Pflanzen berührten. Der leichte Wind fuhr ihr durch das Haar und sie fühlte sich frei. Frei und glücklich, glücklich und frei, fast so, als könne sie fliegen, genauso wie der bunte Schmetterling von Blüte zu Blüte, sich vom Wind treiben lassen. Und dieser Duft! Der Duft des Frühlings war allgegenwärtig, alles schien zu wachsen, zu blühen, zu leben, jede Pflanze, jedes Tier und sogar der Wind schienen den wundervollen Tag zu genießen – und das Mädchen war ein Teil davon, ein Teil dieses farbenprächtigen, duftenden Frühlings. Elaine starrte auf den Fernseher. Der Film endete mit einer rührenden, kitschigen Schlussszene, in der die beiden Hauptfiguren sich stürmisch umarmten und schließlich – endlich – küssten. An den Mittelteil des Filmes konnte sie sich nicht erinnern, er konnte also nicht sonderlich spektakulär gewesen sein, sodass sie mit einem Seufzen kurz die Augen schloss und anschließend wieder auf den Fernseher blickte, der nun als nahtlose Anknüpfung an den Schwarzweißfilm eine Dauerwerbesendung zeigte. Um die Uhrzeit war das vermutlich auch kein Wunder… Elaine starrte für einen Moment auf ihre weiße Bettdecke und anschließend auf die Uhr. Fast Vier Uhr. Mit der Fernbedienung schaltete sie den Fernseher in den Standby-Modus und griff nach dem Buch, das auf dem Schränkchen neben ihrem Bett lag. Wenn der Fernseher nichts hergab, würde sie eben lesen. ‚Effi Briest‘ stand auf dem Buchdeckel und Elaine wusste nicht, wie oft sie den Roman bereits gelesen hatte, aber er gefiel ihr immer wieder. Seite 48, das hatte sie sich gemerkt, sodass sie besagte Seite aufschlug und schnell den Absatz fand, bei dem sie beim letzten Mal aufgehört hatte. Der Sommertag war heiß, aber nicht schwül. Hin und wieder kam ein Lüftchen auf und kleine, bauschige Wolken glitten langsam über den Himmel, während sie Schäfchen, Kaninchen oder Katzen formten. Das Mädchen lag auf der Wiese und blickte in den Himmel, während eine große, tief brummende Hummel sich in der Nähe auf Blütenflug befand. Von Zeit zu Zeit kicherte das Mädchen, wenn seine Mutter es mit einem Grashalm im Nacken oder im Gesicht kitzelte, um sie zu ärgern oder einfach um sie Lachen zu hören. Manchmal hatte das Mädchen das Gefühl, dass es ihre Mutter glücklich machte, sie lachen zu sehen. Die dicke Hummel flog durch ihr Blickfeld und für einen Augenblick vergaß sie den kitzelnden Grashalm an ihrer Wange, als sie das Insekt mit großen Augen ansah. Wie konnte ein so dickes und rundes Tier nur fliegen? Als die Hummel außer Sichtweite war, wurde ihr der Grashalm wieder bewusst und sie rollte sich auf den Bauch um sich an ihre Mutter anzupirschen und diese umzuwerfen, sodass sie gemeinsam in Gras lagen und lachten. Es war ein seltsames Lachen, ein Lachen, das nicht völlig echt war, ein Lachen, das irgendetwas zu verbergen schien, aber es war ein Lachen und das Mädchen dachte nicht weiter darüber nach. Elaine las zum wiederholten Mal den Satz, den sie bereits zuvor gelesen hatte und blinzelte heftig, um anschließend zur Uhr zu blicken. Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, als sie die Uhrzeit sah. Vier Uhr und Dreißig Minuten. Ihr Blick glitt zurück zu dem Roman in ihren Händen, der noch immer auf Seite 48 aufgeschlagen war. Zitternd presste Elaine ihre Lippen aufeinander, umklammerte das Buch fester, als könne es ihr Halt geben. Sie war so erschöpft, so müde, aber sie konnte, wollte, durfte nicht schlafen. Wütend spürte Elaine, wie sich Tränen in ihren Augen formten und entschlossen wischte sie diese beiseite, ohne zu bemerken, wie sehr ihre Hand zitterte. Hilflos und suchend glitt ihr Blick durch das Zimmer, blieb am Fenster hängen und versuchte vergeblich einen Weg durch die dichten Vorhänge nach draußen zu finden. Als hätte ihr Blick ein Eigenleben, als wollte er fliehen. Elaine klappte den Roman zu und starrte auf den Buchdeckel, musterte jeden noch so kleinen Kratzer, der sich seinen Weg in das Material gebahnt hatte. Mit einem Finger strich sie über den Buchrücken, blätterte anschließend durch die Seiten und spürte den leichten Widerstand des Papiers, als sie die Seiten wieder und wieder über ihren Finger gleiten ließ. Endlich hatte der verhasste Regen aufgehört und die schweren, dichten Wolken waren einer schwachen, aber freundlichen Herbstsonne gewichen, die sich nun alle Mühe zu geben schien, den Tag und die Welt doch noch etwas aufzuwärmen. Pfützen und Regentropfen glitzerten und funkelten wie tausend Edelsteine und das Mädchen stand ungeduldig an der Tür, während es darauf wartete, dass seine Mutter ihm endlich den Schal und die Mütze angezogen und die Gummistiefel befestigt hatte. Auch wenn das Mädchen nicht verstand, warum es sich so dick anziehen musste, weil es draußen doch eigentlich warm war, protestierte es nicht und trat lediglich von einem Fuß auf den anderen. Als die Mutter endlich die Tür öffnete, gab es kein Halten. Draußen wartete eine verzauberte Welt, eine Welt voller bunter Blätter, voller Pfützen und Tropfen, in denen man kleine Regenbogen sehen konnte, eine Welt voller klarer, leicht feuchter Herbstluft und dem typischen frischen und doch etwas muffigen Herbstgeruch. Mit einem kräftigen Sprung landete sie in einer Pfütze und lachte, als die Wassertropfen in alle Richtungen flogen, bevor sie sich dann zu ihrer Mutter umdrehe. Diese setzte sofort ein Lächeln auf, aber etwas an dem Lächeln bewirkte, dass das Mädchen innehielt und seine Mutter fast schon traurig ansah. Augenblicklich kam die Mutter lächelnd auf das Mädchen zu, nahm es an der Hand und begann ein lustiges Regenlied zu singen, während sie nun ihrerseits durch die Pfützen hüpfte. Das Mädchen sang mit, aber es spürte, dass die Freude nicht echt war, spürte es tief im Herzen. „Na komm, gehen wir rein und trinken einen heißen Kakao, Elaine“, sagte die Mutter nach einer Weile und die Vorfreude auf das geliebte Getränk verdrängte alle anderen Gedanken aus dem Kopf des Kindes. Elaine spürte Tränen auf ihren Wangen und wusste nicht, woher sie gekommen waren, wie lange sie schon stumm weinte, aber ihre Augen waren schwer und sie war so erschöpft, so unendlich erschöpft. Ein zittriger Atemzug dang aus ihrem Mund, als sie die Lippen leicht öffnete und sofort eine der salzigen Tränen schmecke, die sich dorthin verirrt hatte. Das Buch lag achtlos auf der weißen Bettdecke, in die sich ihre Hände nun krallten, sodass ihre Fingerknöchel weiß unter der Haut hervortraten. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nichts dagegen tun, als sei die Erschöpfung stärker als sie, als hätte sie keine Chance, wach zu bleiben. Fünf Uhr. Nur noch ein paar Stunden. Erfolglos versuchte Elaine, sich in ihrem Bett aufzusetzen. Dafür fehlte ihr schon lange die Kraft. Manchmal hatte sie den Eindruck, als würde all das Weiß ihre Kräfte rauben, die weiße Bettdecke, das weiße Bettgestellt, die weiße Wand, der weiße Schrank. Nur das Buch auf ihrer Decke und das Foto von ihr und ihrer Mutter, das auf dem Schränkchen neben ihrem Bett stand, brachten etwas Farbe in den Raum. Das Foto war alt und sie konnte es nicht gut sehen, aber sie kannte es sowieso auswendig. Es war vor ein paar Jahren gemacht worden, zeigte sie und ihre Mutter bei irgendeinem Schulfest und beide lachten, lachten obwohl sie beide wussten, dass es doch eigentlich nichts zu lachen gab. Es war an diesem Tag gewesen, als ihre Mutter sie gefragt hatte, ob sie wisse, was ihr Name bedeutete. Die Strahlende, hatte sie ihr erklärt und Elaine hatte gelacht, weil das so lächerlich war, so unpassend und so furchtbar makaber. Die Strahlende. Ihre Mutter hatte erkannt, was sie gedacht hatte und hatte sie getröstet, sie war immer dagewesen. In wenigen Stunden würde sie wiederkommen, würde sich an ihre Bett setzen und mit ihr reden oder einfach ihre Hand halten, sie würde da sein, aber Elaine musste wachbleiben, musste gegen die Erschöpfung ankämpfen und gewinnen. Neue Tränen rannen über ihr Gesicht, benetzten schließlich auch das Kopfkissen und sie hatte nicht mehr die Kraft, um sie beiseite zu wischen. Stumm, lautlos und elegant glitten die Schneeflocken durch die klirrende Winterkälte, sanken langsam zu Boden oder sammelten sich auf Ästen, auf parkenden Autos, im Garten und hüllten die ganze Welt ein. Alles war weiß und hell, es war ein frohes Weiß, ein gediegenes, edles Weiß. Große, funkelnde Eiszapfen hingen an den Fenstern und brachten das spärliche Licht des Wintertages, lenkten ab von dem unfreundlichen, grauen Himmel. Aber Wolken, das wusste das Mädchen, blieben niemals ewig und sobald sie sich aufgelöst haben würden, würde die Sonne zum Vorschein kommen. Sie kannte klare, kalte Wintertage. Tage, an denen die Kälte fast greifbar und die Sonnenstrahlen kaum spürbar waren, aber dafür glitzerte alles – all der Schnee und das Eis, ja die ganze Welt schien zu strahlen. Bei dem Gedanken daran begann auch das Mädchen zu strahlen, sie lächelte und legte die Stirn gegen die Fensterscheibe, die sie von der Winterwelt trennte. Sie wusste nicht, wieso sie nicht nach draußen durfte, aber ihre Mutter hatte es ihr verboten. Zu kalt, hatte das Mädchen gehört, du bekommst eine Erkältung. Das Lächeln verblasste und zurück blieb die Sehnsucht nach dem weichen, weißen Schnee, bis sie ihre Mutter hinter sich bemerkte, die ihr einen Kakao brachte. Das Mädchen sah den Kakao an, ohne sich darüber zu freuen, sie hatte schon lange keinen echten Appetit mehr. „Wenn du ihn nicht trinkst, nehm‘ ich ihn“, sagte die Mutter und bisher hatte diese Drohung das Mädchen immer dazu gebracht, den Kakao doch zu trinken, aber dieses Mal schüttelte sie nur den Kopf. „Was ist los, Mama?“ An der Trauer, die über das Gesicht ihrer Mutter huschte, erkannte das Mädchen, dass das die falsche Frage gewesen war, die eine Frage, die sie immer vermieden, nie gestellt hatte und nie hatte stellen sollen, aber nun hatte sie es getan, nun war die Frage da und stand zwischen ihnen wie die Glasscheibe zwischen ihr und der Winterwelt. „Schatz, wir müssen bald nochmal ins Krankenhaus.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern und eine Träne war da, lief über die Wange ihrer Mutter, die sonst nie weinte. „Es ist Krebs.“ Krebs. Das Mädchen kannte das Wort nicht, aber es erkannte am Klang, dass das nichts Gutes war, sah es in den Augen ihrer Mutter, hörte es in ihrer Stimme. Krebs. Lautlos fielen die Schneeflocken zu Boden und genauso stumm waren das Mädchen und die Mutter, als diese ihr Kind in den Arm nahm. Mit einem Blinzeln betrachtete Elaine die weiße Decke des Zimmers. Weiß wie der Schnee, aber anders. Es war ein abweisendes Weiß, ein unfreundliches, kaltes und lebloses Weiß, anders als der Schnee, an den sie sich erinnern konnte, als sei es gestern gewesen. Anders als der Schnee... Ihre Augen brannten und sie wusste nicht, ob es an der Müdigkeit oder den Tränen lag, aber es wurde von Minute zu Minute schwerer, sie offen zu halten. Sie hatte Bücher gelesen über andere, andere, die auch Krebs hatten, hatte von Kindern gelesen, die mit dem Sterben gewartet hatten, bis sie alleine waren, um ihre Eltern nicht zu erschrecken, Kinder, die keine Angst hatten. Sie hatte Angst und sie wollte, dass ihre Mutter bei ihr war, aber sie war so erschöpft, so müde… Mit aller Gewalt versuchte sie, ihre Augen offen zu halten. Vielleicht würde man über sie ebenfalls ein Buch schreiben und vielleicht würde man auch über sie erzählen, dass sie mit dem Sterben gewartet hatte, dass sie das ihrer Mutter nicht hatte zumuten wollen, aber das stimmte nicht. Tränen rannen über ihre Wangen. ‚Mama‘, formten ihre Lippen stumm, ‚wann kommst du?‘ Kapitel 3: Seekrank ------------------- Es roch nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Er lehnte mit dem Rücken an der kalten, stählernen Wand hinter ihm, hatte die Augen fest geschlossen, wollte die Realität ausblenden, doch die Geräusche und Gerüche drangen weiterhin auf ihn ein, als versuchten sie, ihn in die Verzweiflung zu treiben. Das laute Knarzen des arbeitenden Stahls des protestierenden Schiffsrumpfes, das dumpfe Geräusch des Sturms, der Wellen, die gegen das Schiff schlugen, das ohrenbetäubende Donnern der Maschinen, die verzweifelt versuchten, das gewaltige Frachtschiff auf seinem Kurs zu halten und leise, so unglaublich leise und kaum zu vernehmen, hier und da ein Stöhnen, ein Seufzen, ein Schluchzen. Er presste die Hände auf seine Ohren, unternahm den verzweifelten Versuch, die Geräusche verschwinden zu lassen, versuchte ruhig zu atmen, sich zu beruhigen, den kalten Schweiß zu ignorieren, der ihm auf der Stirn stand, versuchte seinen pochenden, hämmernden, schmerzenden Kopf zu vergessen, den Schwindel, die Übelkeit. Sein Magen rebellierte, obwohl er erst vor wenigen Minuten seinen Inhalt an die Außenwelt abgegeben hatte. Er wollte hier weg, wollte schwimmen, wollte dem vollen Frachtraum entkommen. Es gelang ihm schließlich – endlich – die Geräusche zu vergessen, er konzentrierte sich auf seinen eigenen Atem, so unregelmäßig und hektisch der auch war, er klammerte sich daran fest. Klammerte sich daran fest wie an einem rettenden Floß auf hoher See, klammerte sich fest, bis die Gerüche zu dominant wurden, bis sie drohten, ihn genau wie die mühsam besiegten Geräusche zu überwältigen. Schweres Maschinenöl lag in der Luft, Abgase, Rauch von den nahegelegenen Motoren, altes, feuchtes und modriges Holz von Teilen der Ladung, aber über allem, allgegenwärtig, dominant, lag der Geruch nach anderen Menschen. Nach Schweiß, nach Urin, nach Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Er hielt die Luft an, doch das brachte nur wenig Erleichterung. Die Gerüche hatten sich bereits festgesetzt und resignierend ließ er die Hände sinken. Er war hier gefangen, es gab kein Zurück, auch wenn er alles dafür tun würde, diesem Albtraum zu entkommen. Irgendwo weinte ein Kind, erntete harsche Rufe und Mahnungen, er hörte das verzweifelte, beruhigende Flüstern der Mutter, irgendwo übergab sich jemand, aber niemand sprach. Sein Magen verkrampfte sich und als der Schmerz unerträglich wurde, tat er es seinem Mitmenschen gleich, übergab sich auf den kalten Stahlboden. Zitternd wand er die Arme um seinen Körper, versuchte den letzten Rest Wärme an sich zu binden. Halb wünschte er sich, einfach zu sterben, den Schmerz, den Schwindel, die Übelkeit, die Geräusche und Gerüche, die Kälte zurückzulassen, aber dann, das wusste er, hätte er auch einfach bleiben können, hätte das Angebot ablehnen können. Er hörte ein raues, gequältes und leises Stöhnen und brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es aus seinem eigenen Mund gekommen war, während er an der Wand entlang zu Boden gesunken war. Zitternd öffnete er die Augen. Die Menschen um ihn herum saßen dicht an dicht. Manche blickten ängstlich umher, andere umarmten einander, suchten Halt, Schutz und Wärme bei Familie und Freunden, einige saßen lethargisch da, die Augen geschlossen, ähnlich wie er selbst, einige wenige weinten stumme Tränen, viele beteten. Der Mann neben ihm tätschelte kurz und fast etwas mitleidig seine Schulter. Er war älter als er, war auch alleine hier, hatte vielleicht auch seine Familie aus den Augen verloren, hatte sie vielleicht ebenfalls auf andere Schiffe verteilt, hatte sie vielleicht schneller, früher, besser, bequemer und sicherer fortgeschickt. Hatte mit Sicherheit Ähnliches erlebt wie er selbst. Mühsam setzte er sich wieder auf und sofort war der Schwindel wieder da. Durch den Schleier der Kopfschmerzen hindurch starrte er die anderen Passagiere an, jene, die in seiner Nähe saßen. Er fragte sich, wie vielen von ihnen es genauso schlecht ging, wie ihm, wie viele von ihnen sich insgeheim wünschten, nicht auf dieses Schiff gegangen zu sein, wie viele von ihnen sich insgeheim wünschten, einfach zu sterben. Der alte Mann neben ihm, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter als er, setzte ein mildes Lächeln auf, das nicht bis zu seinen Augen reichte, aber dennoch ein Lichtblick war in diesem düsteren, kalten Frachtraum voller Menschen und Geräuschen und Gerüchen und Angst. „Meine Familie ist schon da“, sagte der Alte, während sein Lächeln verschwand und sein Blick in die Ferne zu gleiten schien. „Meine Frau auch“, murmelte er, bemerkte den scharfen Geschmack nach Erbrochenem in seinem Mund. „Meine Frau auch…“ Es zu wiederholen, gab ihm Sicherheit, machte es wahrscheinlicher, sicherer, wahrer. Ein erneuter Brechreiz schüttelte ihn, doch es war nichts mehr da, das der Magen noch hätte abgeben können. Heiße Tränen vermischten sich mit dem kalten Schweiß auf seinem Gesicht. „Es kann nur besser werden“, stellte der Alte fest. Im ersten Moment glaubte er, der Alte meinte seinen Zustand, die Seekrankheit, das, was das Schiff ihm antat, aber eigentlich wusste er es besser. Der Alte meinte alles, meinte viel mehr als diesen Frachtraum auf dem Schiff, so viel mehr als das. Das war ein Gedanke, der seine Kopfschmerzen erträglicher machte, der das Schwindelgefühl ein wenig schwächer wirken ließ, der zumindest den ein oder anderen, klaren Gedanken zuließ. „Es kann nur besser werden“, flüsterte er. Alles war besser als Deutschland, als die Kennzeichnung als Jude, als die Konzentrationslager, als der Tod, der dort überall lauerte. Alles war besser – selbst diese Schifffahrt, dieser Frachtraum, selbst die Luft, die nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, Angst und Furcht und Panik roch, selbst die leidigen Geräusche, die hämmernden Motoren, das Knarren des Stahls, das dumpfe Tosen der Wellen. Alles war besser, konnte nur besser werden, egal wo dieses Schiff ankommen würde. Er sah sich im Frachtraum um, sah die anderen Juden an. Es roch nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Und ein wenig, so schien es ihm, ein kleines bisschen, roch es nach Hoffnung. Kapitel 4: Bis ans Ende der Welt -------------------------------- Es war ein wundervoller Tag, der mit seinem strahlenden Sonnenschein und dem klaren, blauen Himmel die Bewohner des kleinen Dorfes aus ihren Häusern lockte. Fast wirkte es so, als wolle sich der Sommer, der seit einigen Tagen dem Herbst gewichen war, doch noch einmal von seiner schönsten Seite zeigen. Auch das angrenzende, tiefblaue Meer funkelte wie ein gewaltiger Edelstein und wiegte das kleine Fischerboot, das dort vertäut war, sacht hin und her. Die Erwachsenen ließen die Feldarbeit ruhen, genossen diesen warmen Tag vor ihren Häusern, wo sie über das Vieh und die Feldarbeit sprachen und den nahenden Winter und den damit verbundenen Hunger vergaßen. Die Mädchen saßen bei ihren Familien, sonnten sich und kicherten über die Jungen, die Krieger spielten und sich gegenseitig mit Holzstöcken durch das Dorf jagten. Nur ein Dorfbewohner schien mit dem Tag genauso wenig anfangen zu können wie mit allen anderen. Es war ein alter Mann, angeblich ein ehemaliger Seefahrer, aber niemand wusste es genau und wie es dann eben so war, machten die verschiedensten Gerüchte die Runde. Einige hielten ihn für einen Spion des Königs, andere für einen ausgedienten Soldaten, manche behaupteten sogar, er sei ein ehemaliger Pirat und die Tatsache, dass der Alte kaum mit den anderen sprach, immer mürrisch und wortkarg war und nicht einmal seinen Namen verraten hatte, bekräftigte das Gerede nur noch mehr. Eigentlich hätten die Dorfbewohner ihn nur zu gerne aus ihrem Dorf verjagt, aber da er abgeschieden in einer alten Hütte am Strand lebte, mit dem Fischen seinen Lebensunterhalt verdiente und seinen Fang gegen Brot oder Milch tauschte, gab es außer dem allgemeinen Misstrauen keinen Grund, um ihn zu verjagen. Auf den ersten Blick wirkte der Alte wie immer, saß wie jeden Tag auf einem großen Felsen im Sand unweit von seiner Hütte und starrte mit seinem kalten Blick hinaus auf das Meer. Das faltige Gesicht schien frei von jeglichen Gefühlen zu sein, war eingefallen und hart, fast so als gehöre es einem Toten. Seinen merkwürdigen, den Dorfbewohnern fremd anmutenden, dreieckigen Hut, der ausgefranst und verbeult war, hatte er dabei wie immer tief in die Stirn gezogen. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag anders sein würde als die anderen, denn der Alte konnte noch nicht ahnen, dass der heutige Tag der eine sein würde, auf den er sein ganzes Leben gewartet hatte und der nun alles verändern würde. Während der Alte auf das Meer starrte, schlich sich ein kleines Mädchen davon. Sie hatte es satt, ein Mädchen zu sein, das später heiraten, Kinder bekommen und dem Mann bei der Feldarbeit helfen würde. Sie wollte Abenteuer erleben, wie die Jungen, von denen manche fortgingen, um zur See zu fahren oder Soldaten des Königs zu werden. Mit pochendem Herzen hielt sie sich geduckt und lief hinter den Holzhäusern des Dorfes entlang in Richtung Strand, denn dort fand man manchmal hübsche Muscheln und besonders schöne konnte man bei fahrenden Händlern gegen Geschichten oder wertvolle Dinge eintauschen. Barfuß huschte sie durch das Gras – ihre Eltern waren arm und konnten sich wie jedes Jahr nichts weiter leisten als das Essen für den Winter – und außer Atem aber stolz über ihre Flucht erreichte das Mädchen schließlich den Strand. Sie breitete die Arme aus und lief durch den weichen Sand in Richtung Meer, um kichernd durch das knöcheltiefe Wasser zu laufen. Dass der Alte mit dem Hut sie dabei düster beäugte, bemerkte das Kind gar nicht erst. Arglos und beflügelt von dem kurzzeitigen Gefühl der Freiheit begann sie damit, den Sand nach Muscheln abzusuchen, wobei sie die Zeit und ihre Umgebung völlig vergaß. Der Alte hingegen beobachtete, wie sie sich langsam näherte und immer wieder stehen blieb, um im Sand nach etwas zu suchen. „Was willst du hier?“, raunte er schließlich, als sie in Hörweite war und keine Anstalten machte, umzukehren. Er mochte keine Kinder, sie waren laut, sie waren dreckig und sie hatten ebenso wenige Manieren wie ihre Eltern, die Bauerntrottel. „Verschwinde.“ Das Mädchen erstarrte und richtete ihren Blick auf den Alten, während sich der Griff um die zwei Muscheln, die sie gefunden hatte, verstärkte. Natürlich hatte auch sie gehört, was man sich über den Aussiedler erzählte, was man zu wissen glaubte, und sofort packte sie die Angst. Sie wollte wegrennen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht und so blieb sie wie angewurzelt stehen, was den Alten nur noch zorniger machte, denn mühsam erhob er sich und entblößte dabei das furchtbare Holzbein, dass sich Anstelle seines linken Fußes befand. „Ich sagte, du sollst verschwinden!“, fuhr er sie an und machte ein paar humpelnde Schritte auf das Mädchen zu, das noch immer auf seinem Strand stand. „Was hast du hier überhaupt verloren?“ „I-ich…“, brachte sie schließlich ängstlich stotternd hervor und ihr gelang ein erster, unsicherer Schritt nach hinten, „ich… suche Muscheln. Ich… ich wollte Euch nicht stören!“ „Muscheln“, wiederholte der Mann und schob seinen Hut ein Stück zurück, um das Mädchen anzusehen. Sie war höchstens sechs oder sieben Jahre alt, klein und dünn für ihr Alter und schien tatsächlich etwas in ihren Händen zu halten. Eine alte Erinnerung kam dem Mann in den Sinn, die Erinnerung daran, wie er als kleiner Junge an schönen Tagen an einem anderen, weit entfernten Strand, ebenfalls Muscheln gesammelt hatte. Ohne es zu bemerkten griff er in eine Tasche seines Mantels und das Mädchen beobachtete, wie er einen Gegenstand hervor holte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie eine flache Muschel, die fast den gesamten Handteller des Mannes bedeckte. Sie wies tiefe Furchen auf und war gleichzeitig quer gestreift, ganz in warmen Orange- und Rottönen. Eine solche Muschel hatte das Mädchen noch nie zuvor gesehen. „Die ist wunderschön! Woher habt Ihr sie?“, entfuhr es ihr und erst jetzt bemerkte der Alte, dass er die Muschel in der Hand hatte. Er sah sie nachdenklich an, fuhr mit einem Finger eine der Rillen nach und erinnerte sich daran, wie er sie gefunden hatte. „Ja, das ist sie“, murmelte er und ließ sie wieder in die Tasche seiner Jacke gleiten, bevor er sich dem Kind zuwandte. „ Ich habe sie gefunden. Vor langer Zeit und weit entfernt.“ Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Der Aussiedler war tatsächlich nicht aus dieser Gegend, war herumgekommen und hatte vielleicht viel von der Welt gesehen – vielleicht kannte er Geschichten über fremde Länder oder Orte, Geschichten über Abenteuer! Dem Alten fiel sofort auf, dass die Angst des Kindes einem strahlenden Lächeln gewichen war und er warf ihr einen besonders düsteren Blick zu. „Warum siehst du mich so an?“ „Ihr wart in der Welt unterwegs!“, antwortete sie aufgeregt und sprach so schnell, dass sie sich dabei ein wenig verhaspelte. „Bitte erzählt mir davon! Was habt Ihr gesehen, wo seid Ihr gewesen?“ Der Alte seufzte schwer. Er hatte vieles gesehen und erlebt, hatte in seinem Leben als Seeräuber viele Dinge getan, die er diesem Mädchen nicht erzählen konnte, hatte Orte gesehen, die sie sich wahrscheinlich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte, aber sie war die Erste, die ihn danach fragte, die hören wollte, was er zu sagen hatte, und so kam ihm die Muschel wieder in den Sinn. „Ich bin alt und habe das meiste vergessen, was ich erlebt habe“, log er und drehte sich um, um sich wieder auf seinem Felsen niederzulassen, „doch ich weiß noch, wie ich die Muschel gefunden habe.“ Das Mädchen trat einige Schritte näher und ließ sich im Sand nieder, während sie mit Spannung erwartete, was der Alte mit seiner rauen Stimme zu sagen hatte. „Diese Muschel ist nicht mehr und nicht weniger als der Schlüssel zum Glück“, begann er dann seine Erzählung und das Mädchen bekam große Augen. „Bis ans Ende der Welt bin ich gereist, um sie zu finden, bis ans Ende der Welt… Als ich ein junger Mann war, kam mir zu Ohren, dass es eine Insel geben soll, die sich irgendwo in einem entlegenen Winkel des Ozeans befindet, fernab von den Städten und Häfen. Eine Insel, die so weit entfernt ist, dass sie noch niemand gefunden hat, so weit, dass sie niemand je finden wird. Eine Insel am Ende der Welt. Und auf jeder Insel, so erzählte man sich, befand sich der größte Schatz, den man sich vorstellen konnte. Nicht etwa Gold oder Edelsteine, nein, das Glück selbst sollte auf jener Insel liegen! Man sagte, die Götter selbst hätten es dort versteckt, um sicherzugehen, dass die Menschen es niemals finden und ihr Leben lang danach suchen würden. Aber ich… ich wollte diese Insel finden, mehr als alles andere. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was dran war an dieser Geschichte, ich wollte das Glück finden und dafür… dafür nahm ich mir vor sogar bis ans Ende der Welt zu fahren. Und so machte ich mich auf den Weg – zunächst als Schiffsjunge, später als Kapitän meines eigenen Schiffs. Ich suchte und suchte, aber es gelang mir nicht, die Insel zu finden, doch ich hatte es mir in den Kopf gesetzt und wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann bringt man mich nicht so schnell davon ab. Irgendwann geriet ich mit meinem Schiff in einen schrecklichen Sturm und wir liefen auf ein Riff. Das Schiff zerbrach, als sei es nichts weiter als Papier und als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf einer Insel, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich sah auf meinen Kompass, aber der zeigte mir nichts an, spielte verrückt und ließ mich im Stich, also begann ich, die Umgebung zu erkunden und sah die ungewöhnlichsten Pflanzen und Tiere, als sei ich in einer anderen Welt. Und nachdem ich die kleine Insel umrundet hatte, wurde mir klar, wo ich mich befand – ich hatte die Insel gefunden, nach der ich mein Leben lang gesucht hatte! Jene eine Insel, auf der sich das Glück selbst verbergen sollte, die vor mir niemand entdeckt hatte. Ich konnte es kaum glauben, aber ich war am Ziel meiner Suche angelangt, am Ende der Welt, dort, wo das Glück versteckt liegt. Ich begann, danach zu suchen und fand in der Mitte der Insel einen großen Stein, der einem natürlichen Altar glich und eine Aufschrift trug. ‚Jeder begehrt das Glück, doch um es zu finden, benötigt man mehr als einen Schlüssel. Jeder begehrt das Glück, doch um es zu finden, muss man wissen, was das Glück ist.‘ Auf dem Stein fand ich die Muschel, aber gleichzeitig begriff ich, was geschehen war. Ich hatte lange Jahre meines Lebens damit verbracht, nach dieser Insel zu suchen in dem Glauben, ich fände dort das Glück. Stattdessen fand ich den Schlüssel, aber nicht das Glück selbst. Es ist, als hätte man mir den Schlüssel zu der Truhe mit allen Schätzen der Welt gegeben, den ich nun in den Händen halte und der dennoch nutzlos ist, solange ich nicht weiß, wo sich die Truhe befindet. Ich bin ans Ende der Welt gesegelt, um das Glück zu finden und fand stattdessen die Verzweiflung. Ich fand den Schlüssel, nicht aber den Schatz.“ Das Mädchen hatte aufmerksam gelauscht und war fasziniert von der Erzählung des Alten, aber sie wusste, dass man ihn getäuscht hatte. Sie wusste zwar nicht, warum das so war, aber sie wusste es mit einer absoluten Sicherheit, die sie selbst ein wenig überraschte. „Meine Mama hat mir früher oft eine Geschichte erzählt, eine Geschichte über das Glück“, sagte sie und grub ihre Zehen in den Sand. „Einst waren alle Menschen glücklich, aber irgendwann beschloss eine große Königin, ihnen das Glück zu nehmen, damit sie härter arbeiten und immer danach streben würden. Aber sie sollten es niemals finden und es niemals erreichen, sodass sie überlegte, wohin sie das Glück bringen sollte, damit es für immer verbogen blieb. Und schließlich, nachdem sie die entlegensten Orte bereist hatte, hatte sie eine Idee. Sie versteckte das Glück in den Menschen selbst, im Wissen, dass die Menschen es immer suchen würden, überall auf der Welt, aber dass niemand auf die Idee kommen würde, es in sich selbst zu suchen.“ Der Alte starrte das Kind verblüfft an. Natürlich war das nur eine Geschichte, eine alte Legende oder Erzählung, aber er hatte sie noch nie gehört und auch wenn sie nicht plausibel erschien, hatte sie eine seltsame Wirkung auf ihn. Was, wenn das Mädchen recht hatte? Wenn das Glück wirklich nicht gefunden werden konnte, weil jeder es bereits besaß? Er holte die Muschel erneut hervor. „Ich glaube, die Muschel ist der Schlüssel zum Glück“, fuhr das Kind unbeirrt fort. „Ihr seid bis ans Ende der Welt gefahren, um sie zu finden, Ihr seid der einzige, der das vollbracht hat und das muss Euch sicherlich mit Stolz erfüllen!“ Bevor der Alte antworten konnte, erklangen ängstliche Rufe und das Mädchen erkannte die Stimme seiner Mutter. „Vielen Dank für die Geschichte“, bemerkte es noch, während es hastig aufstand und mit einem Lächeln im Laufschritt verschwand. Der Alte blieb alleine zurück und starrte die Muschel an. Das Mädchen hatte erkannt, was ihm verborgen geblieben war. Die Muschel war tatsächlich der Schlüssel zum Glück, aber während er sein restliches Leben damit verbracht hatte, den zugehörigen Schatz zu suchen, hatte er nicht bemerkt, dass er ihn bereits gefunden hatte. Sein Blick glitt zu seinem kleinen Fischerboot, das am Strand vertäut war. Am nächsten Morgen, der noch immer schön aber deutlich kühler war, schlich sich das Mädchen erneut davon in Richtung Strand, denn es hatte die geheime Hoffnung, dass der Alte ihr eine weitere Geschichte erzählen würde. Als sie den Strand aber erreichte, saß niemand auf dem Felsen. Zögernd ging sie näher und betrat vorsichtig die heruntergekommene Hütte, doch auch die war leer, sodass sie ratlos und betrübt wieder nach draußen trat. Suchend blickte sie den Strand entlang und stellte fest, dass sogar das kleine Fischerbott verschwunden war. Stattdessen bemerkte sie etwas auf dem Stein, auf dem der Alte jeden Tag gesessen hatte und sie näherte sich dem Felsen, bis sie das Objekt erkennen konnte. Es war die Muschel, über die sie am Vortag gesprochen hatten. Verwirrt griff das Mädchen danach und nahm den Schlüssel zum Glück an sich, während sie sich fragte, wohin der Alte gegangen war. Dieser befand sich in seinem kleinen Fischerboot bereits auf hoher See, weit draußen, fernab vom Land. Jahrelang hatte er sich gewünscht, das Glück zu finden, um den Schlüssel benutzen zu können, resigniert hatte er sich irgendwann an Land begeben, hatte sich in der Nähe des Dorfes niedergelassen und nun, da er endlich erfahren hatte, wo das Glück lag, war es völlig anders, als er es sich vorgestellt hatte. Verschwendet hatte er sie, Jahre und Jahre seines Lebens. Aber nun, da das Mädchen ihm die alte Geschichte erzählt hatte, würde er es besser machen und die verbliebene Zeit nutzen, so, wie er am glücklichsten war. Er würde auf den Ozean hinaus segeln, auch wenn er nicht wusste, wie weit ihn das kleine Fischerboot tragen würde. Vielleicht bis ans Ende der Welt, vielleicht auch nicht, aber diese Richtung war ein guter Anfang und seit Jahren stahl sich das erste Lächeln auf das Gesicht des alten Mannes, während er seinen Hut tiefer in die Stirn zog und sich mit seinem kleinen Boot auf ein letztes Abenteuer begab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)