100 Assoziationen von Eldeen (100 Themen Herausforderung ~ Schreibzieher) ================================================================================ Kapitel 3: Seekrank ------------------- Es roch nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Er lehnte mit dem Rücken an der kalten, stählernen Wand hinter ihm, hatte die Augen fest geschlossen, wollte die Realität ausblenden, doch die Geräusche und Gerüche drangen weiterhin auf ihn ein, als versuchten sie, ihn in die Verzweiflung zu treiben. Das laute Knarzen des arbeitenden Stahls des protestierenden Schiffsrumpfes, das dumpfe Geräusch des Sturms, der Wellen, die gegen das Schiff schlugen, das ohrenbetäubende Donnern der Maschinen, die verzweifelt versuchten, das gewaltige Frachtschiff auf seinem Kurs zu halten und leise, so unglaublich leise und kaum zu vernehmen, hier und da ein Stöhnen, ein Seufzen, ein Schluchzen. Er presste die Hände auf seine Ohren, unternahm den verzweifelten Versuch, die Geräusche verschwinden zu lassen, versuchte ruhig zu atmen, sich zu beruhigen, den kalten Schweiß zu ignorieren, der ihm auf der Stirn stand, versuchte seinen pochenden, hämmernden, schmerzenden Kopf zu vergessen, den Schwindel, die Übelkeit. Sein Magen rebellierte, obwohl er erst vor wenigen Minuten seinen Inhalt an die Außenwelt abgegeben hatte. Er wollte hier weg, wollte schwimmen, wollte dem vollen Frachtraum entkommen. Es gelang ihm schließlich – endlich – die Geräusche zu vergessen, er konzentrierte sich auf seinen eigenen Atem, so unregelmäßig und hektisch der auch war, er klammerte sich daran fest. Klammerte sich daran fest wie an einem rettenden Floß auf hoher See, klammerte sich fest, bis die Gerüche zu dominant wurden, bis sie drohten, ihn genau wie die mühsam besiegten Geräusche zu überwältigen. Schweres Maschinenöl lag in der Luft, Abgase, Rauch von den nahegelegenen Motoren, altes, feuchtes und modriges Holz von Teilen der Ladung, aber über allem, allgegenwärtig, dominant, lag der Geruch nach anderen Menschen. Nach Schweiß, nach Urin, nach Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Er hielt die Luft an, doch das brachte nur wenig Erleichterung. Die Gerüche hatten sich bereits festgesetzt und resignierend ließ er die Hände sinken. Er war hier gefangen, es gab kein Zurück, auch wenn er alles dafür tun würde, diesem Albtraum zu entkommen. Irgendwo weinte ein Kind, erntete harsche Rufe und Mahnungen, er hörte das verzweifelte, beruhigende Flüstern der Mutter, irgendwo übergab sich jemand, aber niemand sprach. Sein Magen verkrampfte sich und als der Schmerz unerträglich wurde, tat er es seinem Mitmenschen gleich, übergab sich auf den kalten Stahlboden. Zitternd wand er die Arme um seinen Körper, versuchte den letzten Rest Wärme an sich zu binden. Halb wünschte er sich, einfach zu sterben, den Schmerz, den Schwindel, die Übelkeit, die Geräusche und Gerüche, die Kälte zurückzulassen, aber dann, das wusste er, hätte er auch einfach bleiben können, hätte das Angebot ablehnen können. Er hörte ein raues, gequältes und leises Stöhnen und brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es aus seinem eigenen Mund gekommen war, während er an der Wand entlang zu Boden gesunken war. Zitternd öffnete er die Augen. Die Menschen um ihn herum saßen dicht an dicht. Manche blickten ängstlich umher, andere umarmten einander, suchten Halt, Schutz und Wärme bei Familie und Freunden, einige saßen lethargisch da, die Augen geschlossen, ähnlich wie er selbst, einige wenige weinten stumme Tränen, viele beteten. Der Mann neben ihm tätschelte kurz und fast etwas mitleidig seine Schulter. Er war älter als er, war auch alleine hier, hatte vielleicht auch seine Familie aus den Augen verloren, hatte sie vielleicht ebenfalls auf andere Schiffe verteilt, hatte sie vielleicht schneller, früher, besser, bequemer und sicherer fortgeschickt. Hatte mit Sicherheit Ähnliches erlebt wie er selbst. Mühsam setzte er sich wieder auf und sofort war der Schwindel wieder da. Durch den Schleier der Kopfschmerzen hindurch starrte er die anderen Passagiere an, jene, die in seiner Nähe saßen. Er fragte sich, wie vielen von ihnen es genauso schlecht ging, wie ihm, wie viele von ihnen sich insgeheim wünschten, nicht auf dieses Schiff gegangen zu sein, wie viele von ihnen sich insgeheim wünschten, einfach zu sterben. Der alte Mann neben ihm, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre älter als er, setzte ein mildes Lächeln auf, das nicht bis zu seinen Augen reichte, aber dennoch ein Lichtblick war in diesem düsteren, kalten Frachtraum voller Menschen und Geräuschen und Gerüchen und Angst. „Meine Familie ist schon da“, sagte der Alte, während sein Lächeln verschwand und sein Blick in die Ferne zu gleiten schien. „Meine Frau auch“, murmelte er, bemerkte den scharfen Geschmack nach Erbrochenem in seinem Mund. „Meine Frau auch…“ Es zu wiederholen, gab ihm Sicherheit, machte es wahrscheinlicher, sicherer, wahrer. Ein erneuter Brechreiz schüttelte ihn, doch es war nichts mehr da, das der Magen noch hätte abgeben können. Heiße Tränen vermischten sich mit dem kalten Schweiß auf seinem Gesicht. „Es kann nur besser werden“, stellte der Alte fest. Im ersten Moment glaubte er, der Alte meinte seinen Zustand, die Seekrankheit, das, was das Schiff ihm antat, aber eigentlich wusste er es besser. Der Alte meinte alles, meinte viel mehr als diesen Frachtraum auf dem Schiff, so viel mehr als das. Das war ein Gedanke, der seine Kopfschmerzen erträglicher machte, der das Schwindelgefühl ein wenig schwächer wirken ließ, der zumindest den ein oder anderen, klaren Gedanken zuließ. „Es kann nur besser werden“, flüsterte er. Alles war besser als Deutschland, als die Kennzeichnung als Jude, als die Konzentrationslager, als der Tod, der dort überall lauerte. Alles war besser – selbst diese Schifffahrt, dieser Frachtraum, selbst die Luft, die nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, Angst und Furcht und Panik roch, selbst die leidigen Geräusche, die hämmernden Motoren, das Knarren des Stahls, das dumpfe Tosen der Wellen. Alles war besser, konnte nur besser werden, egal wo dieses Schiff ankommen würde. Er sah sich im Frachtraum um, sah die anderen Juden an. Es roch nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, nach Angst und Furcht und Panik. Und ein wenig, so schien es ihm, ein kleines bisschen, roch es nach Hoffnung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)