Draug von abgemeldet (Die Tage nach dem Untergang) ================================================================================ Kapitel 4: 3.Kapitel: Das Eichhörnchen -------------------------------------- 3. Kapitel: Das Eichhörnchen Soweit wir sehen, werden wir weiterhin nicht verfolgt und können unseren Weg relativ entspannt fortsetzen. Um auf Nummer sicher zu gehen, marschieren wir jedoch die Nacht durch. Da wir schon zu Mittag eine Pause eingelegt haben, fällt uns dies nicht so schwer, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Sterne leuchten hell und auch die kühle Nachtluft ist sehr angenehm. Stehen bleiben wir erst, nachdem die Sonne aufgegangen ist und es merklich heißer wird. Den Vormittag über schlafen wir im Schatten eines großen Eichenbaumes. Zu Mittag setzen wir uns zusammen, denn wir haben noch immer ein Vorratsproblem vor uns, das gelöst werden muss. »Wir sollten versuchen, zu jagen«, schlägt Gernot vor. »Wenn wir nicht bald etwas Essbares finden, haben wir ein Problem. Hannah, kannst du nach Wasser und genießbaren Pflanzen Ausschau halten?« Sie nickt als Antwort und scheint mit ihrer Aufgabe ziemlich zufrieden zu sein. »Draug, hast du schon einmal gejagt?« Ich schüttle den Kopf und brumme: »So schwer kann das doch nicht sein, ein Tier totzuschießen.« Florian scheint mich anscheinend nicht zu mögen, denn er antwortet gereizt: »Dann kannst du uns ja zeigen, wie einfach das ist, und vor uns mit einem erlegten Tier hier sein.« Wir trennen uns und jeder geht seines Weges. Da nicht weit entfernt ein Waldstück liegt, beschließe ich, darin nach Beute Ausschau zu halten. Zumindest gehe ich davon aus, dass Tiere in einem Wald leben. Anscheinend ist irgendetwas in meinem Kopf während des langen Schlafes kaputtgegangen. Ich kann mich noch an vieles erinnern, aber die grundlegenden Erinnerungen daran, wie unsere Welt außerhalb von Bifröst, der Basis, auf der ich stationiert war, funktioniert, sind verschwunden. Das dichte, grüne Blätterdach schirmt mich von den Strahlen der Sonne ab. Ich spüre einen deutlichen Temperaturunterschied und kann den Geruch von Moos, nassem Holz und Gras wahrnehmen, während eine Symphonie aus unzähligen Vogelstimmen, dem Rauschen des Windes und dem Rascheln der Blätter an mein Ohr dringt, die den Eindruck erzeugt, als ob jedes Element genau aufeinander abgestimmt wäre und einer geheimen Melodie folgt. Ich fühle mich, als hätte ich eine wundersame, fremde Welt betreten. Ich gehe tiefer in den Wald und suche mir ein Versteck am Rande einer Lichtung. Dort lege ich mich ins Unterholz und verharre regungslos, meine Pistole im Anschlag und jederzeit bereit, unser Abendessen zu erjagen. Zu meinem Pech gehört zum Jagen mehr als nur am Boden zu liegen und zu warten, denn es kommt nichts vorbei, das irgendwie schmackhaft aussieht. Nach einer mir unbekannten Zeitspanne stehe ich auf und gehe tiefer ins Waldesinnere. Jagen ist anscheinend doch anstrengender, als ich gedacht habe. Wahrscheinlich fehlt mir für so etwas einfach die Geduld. Ich möchte schon aufgeben und wieder zurückgehen, als ich auf eine mit Efeu bewachsene Wand stoße. Ich zweifle nicht daran, dass es sich dabei um ein altes Gebäude handeln muss. Meine Neugierde ist geweckt. Ich gehe an der Wand entlang, bis ich auf ein Fenster stoße. Ich muss erst einmal ein bisschen Efeu ausreißen, da die Öffnung schon komplett überwuchert ist. »Loch in der Wand« erscheint mir eine wesentlich treffendere Bezeichnung für das, was hinter den Pflanzen zum Vorschein kommt, als »Fenster«. Ich klettere jedenfalls hindurch. Da kaum Licht von außen ins Gebäude dringt, schalte ich die Taschenlampe ein, die an meiner Hör-Sprech-Garnitur befestigt ist. Ich erkenne eine ziemlich verwüstete Küche. Wahrscheinlich haben Wildtiere schon vor Jahren die letzten essbaren Reste mit purer Gewalt an sich gerissen. Da es hier nichts Spannendes zu entdecken gibt, verlasse ich den Raum und gelange in einen langen Flur. Ohne Scheu öffne ich die anderen Türen und finde dahinter Büros und Konferenzräume, die allesamt keinen guten Eindruck machen, da sie sogar noch in einem schlechteren Zustand sind als die Küche. Allem Anschein nach ist dieses Gebäude seit Jahrzehnten nicht mehr von Menschen betreten worden. Leider funktioniert die Stromversorgung nicht mehr, denn ich hätte zu gerne herausgefunden, was für Informationen auf den Computern gespeichert sind. Ich lasse mir Zeit, um das Erdgeschoss zu durchsuchen. Bis jetzt habe ich kein Emblem oder Logo gefunden, das darauf hinweisen könnte, von wessen Firma dieses Haus früher betrieben wurde. Mein Herz schlägt stärker, als ich schließlich unser Zeichen in der Eingangshalle finde. Es ist verschmutzt und halb verblichen, aber ich erkenne es sofort. Es ist unser Symbol, das Zeichen von Fimbulvetr. Da ich meine Begleiter und besonders Gernot nicht zu lange warten lassen möchte, verlasse ich das Gebäude durch den Haupteingang und versuche, den Weg zurück zu unserem Lagerplatz zu finden, was mir leider nicht gerade leicht fällt, da mein Orientierungssinn ziemlich bescheiden ist. Auf meinen Missionen gab es immer jemanden, der wusste, wo ich war, und mir den Weg ansagte. Wie schön wäre es, wenn mir jetzt auch jemand sagen würde, wohin ich gehen muss. Nach ein paar Umwegen gelange ich schließlich an den Waldrand zurück und kann von hier das Lager sehen. Hannah hat unsere Wasserschläuche aufgefüllt und Äpfel mitgebracht. Sie schaut mich erwartungsvoll an. »Und? Was hast du erjagt?«, fragt sie. »Gernot und Florian sind am Bach. Sie haben eine Hirschkuh erlegt, die sie gerade ausnehmen.« »Ich habe ein Dach über dem Kopf für uns gefunden«, antworte ich leicht gereizt. Es ist mir unangenehm, dass ich wieder einmal nichts Großartiges beitragen konnte. Die Dinge, die ich so tue, scheinen meine Kameraden ja nie wirklich zufriedenzustellen. »Nicht weit von hier ist ein Gebäude. Es sieht aus wie ein ehemaliger Bürokomplex und ist ziemlich heruntergekommen, aber das ist immer noch komfortabler, als hier draußen zu schlafen. Außerdem ist es ein wesentlich besseres Versteck.« »Das ist alles? Nichts zu essen?« Gernot und Florian sind zurückgekommen, und ich hoffe, dass mich Letzterer mit seiner Aussage nur necken will. Mein Verdacht, dass er mich nicht mag, erhärtet sich, ich weiß jedoch nicht, wie ich darauf reagieren soll. »Ich bin eben nur gut im Töten. Jagen liegt mir anscheinend nicht besonders.« Ich versuche, locker zu bleiben und mir nicht anmerken zu lassen, dass mich diese Kritik doch trifft. Bis auf Florian scheinen meine Begleiter es mir jedenfalls nicht übel zu nehmen, dass ich praktisch mit leeren Händen wiedergekommen bin. »Wir zerlegen noch unser Abendessen. Zeigst du uns dann den Weg? Ich glaube, dass ich mir Schöneres vorstellen kann, als in der Nacht vom Regen überrascht zu werden«, bittet mich Gernot, der noch immer gut gelaunt und freundlich wirkt. Während sich meine Begleiter an diese anspruchsvolle Arbeit machen, drehe ich mich um und schaue weg, denn ich kann bei so etwas einfach nicht hinsehen. Mir ist durchaus bewusst, dass Fleischessen so seine ekelhaften und unschönen Seiten hat, ich muss aber nicht dabei zusehen, wie einem Tier die Eingeweide entnommen werden. Das Geräusch davon ist schon abschreckend genug. Hannah und ich räumen derweil unser Lager zusammen, damit wir gleich danach aufbrechen können. Da wir ja das Lager neu aufbauen und das Gebäude erkunden müssen, liegt noch viel Arbeit vor uns. Die Männer arbeiten sehr routiniert, und so brauchen sie nicht allzu lange, um die Hirschkuh auszuweiden. Die Reste der Beute, die sie nicht brauchen, haben sie zu einem Haufen geschichtet, den sie einfach so hier liegen lassen. Ob man dies tun sollte oder nicht weiß ich nicht, mische mich aber lieber nicht ein, da ich einfach von vielen Dingen keine Ahnung habe. Wir gehen gemeinsam in den Wald und ich muss mich konzentrieren, den Weg zurück zu finden. Es wäre extrem peinlich für mich, wenn ich mich dabei verlaufen würde. Mit etwas Glück schaffe ich es, meine Begleiter zu meiner Entdeckung zu führen, ohne mich großartig zu verirren, und die drei staunen nicht schlecht, als wir das Gebäude erreichen. Ihrer Reaktion nach zu urteilen haben sie nicht mit einem so großen und gut erhaltenen Bauwerk gerechnet. »Warst du schon drinnen?«, fragt Florian skeptisch. »Ja. Das Erdgeschoss müsste ich fast komplett durchsucht haben, und ich habe dabei nichts Auffälliges entdeckt.« Dies wäre der beste Zeitpunkt für Gernot, mir irgendeine haarsträubende Geschichte über Zombies, fleischfressende Affen oder andere grausig mutierte Tiere zu erzählen, die sich zufälligerweise gerne in Häusern wie diesem verstecken. Nachdem ich von der Farbe erfahren habe, würde mich so etwas auch nicht mehr schockieren. Stattdessen nickt Gernot bloß aufgeräumt. »Gut, dann durchsuchen wir den Rest des Gebäudes, bevor wir unser neues Lager aufbauen. Nicht, dass wir in der Nacht überrascht werden.« Gesagt, getan. Wir betreten das Gebäude und verschaffen uns erst einmal einen groben Überblick über die Räumlichkeiten. Die Entscheidung für einen der ehemaligen Büroräume fällt uns nicht schwer; wir wählen einen Raum, der sich noch im Vorbau des Gebäudes befindet und in dessen Decke und einem Teil der Außenwand ein großes Loch klafft, durch das wir das Blätterdach des Waldes sehen. So können wir ein Feuer entfachen, ohne uns dabei auszuräuchern oder zu ersticken. Wir legen unsere Habseligkeiten im Raum ab und teilen uns in zwei Gruppen auf. Gernot und ich gehen in den Keller, während Hannah und Florian die oberen Stockwerke durchsuchen dürfen. Ich verkneife mir den Protest, da ich froh bin, endlich einmal Zeit alleine mit Gernot verbringen zu können. Für die oberen Stockwerke werde ich sicher auch noch alleine genug Zeit finden. Ich schalte meine Taschenlampe an, und wir gehen hinunter in den feuchten, modrig riechenden Keller, der hauptsächlich mit ausgedienten Möbeln, Kisten und Kartons angefüllt ist. Der perfekte Ort, um sich zu verstecken und uns zu überraschen, denke ich mir und habe ein ziemlich mulmiges Gefühl in der Magengegend. Da ist es selbstverständlich für mich, dass ich wieder meine Pistole ziehe. »Hast du Angst?«, fragt Gernot amüsiert. Ich kann jedoch in seiner Stimme einen leicht besorgten Unterton hören. »Eigentlich solltest du dich schon daran gewöhnt haben, dass ich sehr vorsichtig bin. Und ja, ich habe Angst«, antworte ich und leuchte in eine Ecke, um zu sehen, ob sich dort nicht doch ein zweiköpfiger, geflügelter, menschenfressender Affe versteckt, der an mein Gehirn will. Mehr als eine alte Kiste und eine fette Spinne, die in diese hineinklettert, als der Lichtschein sie trifft, kann ich jedoch nicht erkennen. »Stimmt. Das sollte ich«, antwortet er und wirkt dabei nachdenklich. »Es fällt mir jedoch nicht so leicht, mich daran zu gewöhnen, wie ich es gerne hätte. Du bist so anders als die anderen Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe.« Mein Herz macht einen Sprung. Ist »anders« etwas Gutes oder Schlechtes? »Und wahrscheinlich bin ich auch mit Abstand die Älteste«, scherze ich und versuche mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Mittlerweile muss ich doch zugeben, dass Gernot für mich mehr als nur ein guter Freund ist und mein Interesse geweckt hat. Nicht unbedingt so sehr, dass ich von Liebe sprechen kann, aber mein Gefühl für ihn ist stark genug, um meinen natürlichen Jagdinstinkt zu wecken. Gernot ist freundlich, intelligent und sieht noch dazu gar nicht mal so schlecht aus. Besonders gut gefällt mir sein Kinnbart. Je besser ich ihn kennenlerne, desto mehr wächst in mir der Drang, ihn zu besitzen und ihm nahe sein zu können. Als Antwort auf meinen Scherz lacht er nur kurz. »Was hältst du davon, wenn wir zurückgehen? Bis jetzt haben wir ja nur haufenweise Kisten, Ratten und Spinnen gefunden.« Ich sehe ihn fragend an. Seine leichtsinnige Art schockiert mich schon fast, aber daran, dass er so ist, sollte auch ich mich schon gewöhnt haben. »Wir können jetzt nicht einfach so zurückgehen. Was ist, wenn sich doch etwas hier unten versteckt und dann in der Nacht hochkommt, um uns im Schlaf zu überraschen? Die letzte Auseinandersetzung hat doch gezeigt, dass ihr euch nicht selbst verteidigen könnt und mich als Beschützer braucht.« Er wirkt etwas eingeschnappt. »Mach dir nicht gleich ins Hemd, Draug, hier unten ist nichts. Deine Angst ist wie immer komplett unbegründet. Die Welt hat sich stark gewandelt, aber Monster oder Mutanten gibt es nicht. Auch wenn ich dir sehr dankbar für die Hilfe bin, die du uns vorhin geleistet hast, muss ich sagen, dass wir es auch ohne dich geschafft hätten. Auf eine friedliche Art.« Er nimmt mir anscheinend immer noch übel, dass ich gleich geschossen habe. Dies ermutigt mich jedoch noch mehr, mich zu bemühen, interessant auf ihn zu wirken. Leider bildet sich in mir ein innerer Konflikt, der sich in einer Panikattacke entlädt. Auf der einen Seite möchte ich Gernot nachgeben und ihm zeigen, dass ich ihm entgegenkomme und auf seine Entscheidungen vertraue. Er soll das Gefühl bekommen, dass ich meine Ängste zumindest ansatzweise im Griff habe. Dem gegenüber steht die Furcht, die mich noch immer fest in ihrem Griff hält. Ich fürchte, dass hier unten etwas lauert, nur darauf wartet, dass die Sonne untergeht, um hervorzukommen und uns anzugreifen oder noch schlimmere Dinge mit uns anzustellen. Ich weiß, dass diese Angst ziemlich kindisch, völlig irrational und komplett unbegründet ist. Sie fühlt sich jedoch sehr real an. Fast schon so, als hätte ich die Gewissheit, dass von meiner Fantasie Erdachtes Wirklichkeit wird. Mit großer Überwindung und einer Menge Widerwillen schlucke ich meine Ängste so gut es geht hinunter. Sie hinterlassen jedoch einen bitteren Nachgeschmack und fühlen sich wie Steine in meinem Magen an. »Gut, dann gehen wir eben wieder zurück.« Ich seufze und hoffe, dass meine Furcht sich bald wieder in Luft auflöst. Gemeinsam gehen wir nach oben. Meine Beine fühlen sich noch immer an, als wären sie aus Gummi, und ich halte mich lieber am Treppengelände fest, um nicht hinunterzufallen. Florian und Hannah sind noch nicht zurück, als wir unsere Ausrüstung erreichen. »Komm, lass uns Holz zusammensuchen. Dann können wir schon einmal ein Feuer machen, es wird sicher bald dunkel«, beschließt Gernot. »Ja klar, warum denn nicht?« Ich hoffe, dass ich auf ihn ruhig und gelassen wirke und er nichts von meiner Angst mitbekommt, die langsam wieder verschwindet. »Muss ich irgendetwas beachten? Ich habe bis jetzt keine Erfahrung im Holzsammeln und will es nicht so wie das Jagen vergeigen.« Er grinst und verkneift sich ein Lachen. Ich muss ebenfalls lächeln, denn ich sehe ihn gerne glücklich. »Du stellst Fragen. Nimm einfach ein paar nicht zu große Hölzer, die möglichst trocken sind. Nasses Holz brennt schlecht.« Klingt logisch. Und einfach. Wir verlassen das Gebäude wieder und ich fühle mich hier draußen eindeutig besser als in dem feuchten, dunklen Keller. Die letzten Sonnenstrahlen, die mich treffen, berühren auch mein Innerstes und vertreiben alle Ängste und negativen Gedanken. »Warum hast du eigentlich keine Freundin?«, frage ich und versuche damit, das Gespräch in eine für mich günstige Richtung zu lenken. Wer sagt denn, dass nur Männer flirten dürfen? Gernot hebt gerade einen Ast auf und legt ihn auf die anderen, die er schon gesammelt hat. »Wann habe ich gesagt, dass ich keine habe? Vielleicht warten ja zuhause Frau und Kind auf mich.« Ich presse die Lippen zusammen und möchte mich schon entschuldigen, als Gernot fortfährt. »Du liegst aber richtig. Ich habe die Frau fürs Leben noch nicht gefunden. Was ist mit dir? Hattest du damals den Richtigen?« Während er mir antwortet, schaut er nicht zu mir, sondern sucht den Waldboden weiter nach geeignetem Feuerholz ab. »Man kann auch mit dem Falschen Spaß haben«, antworte ich und tue ebenfalls so, als ob ich mich für die Äste, die am Boden herumliegen, interessieren würde. »Ich hatte jemanden, den ich gut fand, aber mehr war da nicht.« Ich will ihm nicht von Arvid erzählen und verfluche mich dafür, dass ich dieses Thema angeschnitten hatte. Es war doch klar, dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickeln und fast sogar zwangsläufig auf diese Frage hinauslaufen würde. »Aber das war einmal. Ich habe damit abgeschlossen. Er ist sicher genau wie alle anderen tot. Lass uns bitte über ein fröhlicheres Thema sprechen. Ich muss ja schon dankbar sein, dass ich überhaupt noch am Leben bin.« Gernot nimmt dies kommentarlos hin und ich bin ihm sehr dankbar dafür. An Arvid zu denken, schmerzt noch immer, denn er fehlt mir, genauso wie so viele andere Personen aus meinem früheren Leben. »Wie soll denn dein Prinz sein? Vielleicht musstest du ja hundert Jahre schlafen, um ihn zu treffen. Wie Dornröschen.« Habe ich einen idealen Typ Mann? Bis jetzt habe ich ja nicht so viele Erfahrungen mit Männern gemacht. Um genau zu sein kann ich mich nicht daran erinnern, was vor Fimbulvetr war. Ich bin mir sicher, dass ich in dieser Zeit niemanden hatte. Aber davor? Es beunruhigt mich zunehmend, dass ich keine Erinnerungen daran habe. Eigentlich mag ich ja Männer, die älter sind als ich. Mit meinen hundertvierundzwanzig Jahren ist es jedoch fast schon unmöglich, so jemanden zu finden. Ich bemühe mich, eine ehrliche, aber doch diplomatische Antwort zu geben. »Nach dem, was ich so erlebt habe, bin ich was das betrifft nicht mehr so wählerisch und anspruchsvoll. Ich möchte einfach jemanden, mit dem ich glücklich sein kann. Natürlich schadet es nicht, wenn er gut aussieht. Intelligenz ist mir jedoch sehr wichtig. Ich will mich mit ihm unterhalten können.« Gernot lacht erneut. Insgesamt lacht er oft über die Dinge, die ich sage. Mir war bisher nie bewusst, dass ich so lustig bin. »Also, so schwer sollte das mit deinem Körper nicht sein, jemanden zu finden, auf den diese Beschreibung zutrifft.« Kommt es mir nur so vor oder macht er sich an mich heran? Ich bin etwas unschlüssig, ob ich weiter flirten oder warten soll, wie er reagiert. Vielleicht ist er jemand, der gerne nett zu Frauen ist, oder er denkt, dass ich wieder Scherze mache. »Wenn es so einfach wäre. Ich habe ja bis jetzt nur dich und Florian kennengelernt. Und bei aller Freundschaft, er ist nun wirklich nicht der Typ Mann, den ich gerne an meiner Seite hätte.« Ich bücke mich gerade wieder halbherzig nach einem Ast, als ich spüre, dass Gernot an mich herankommt und nun dicht hinter mir steht. »Und was ist mit mir? Bin ich der Typ Mann, den du gerne an deiner Seite hättest?« Ich drehe mich zu ihm um und schaue in seine braunen Augen. Da er diesmal nicht lacht, gehe ich davon aus, dass er es ernst meint. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich wirklich die Wahrheit sagen soll. »Du bist schon nicht schlecht«, versuche ich weiterhin diplomatisch zu bleiben und etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Er greift jedoch meine Hand und hält sie fest. Ich könnte mich natürlich losreißen, lasse mich jedoch näher an ihn heranziehen. Ohne weiter zu zögern küsst er mich leicht unbeholfen, und es fühlt sich so an, als würde ein Blitz durch meinen ganzen Körper fahren, als seine Lippen die meinigen berühren. Es ist fast schon unbeschreiblich, was in diesem Augenblick in mir vorgeht. Ich erwidere seinen Kuss vorsichtig und warte darauf, dass er nun den nächsten Schritt macht. Dieser fällt jedoch etwas anders aus als von mir erwartet. »Du hast es aber eilig. Kannst du es kaum erwarten, bis du wieder jemanden für dein Bett hast?«, fragt er mich, nachdem er sich wieder von mir gelöst hat, in einem Ton, der eindeutig belegt, dass dies kein Scherz ist. Die Stimmung und Bereitschaft zum Küssen hat sich dadurch bei mir jedenfalls in Luft aufgelöst. Was soll diese dumme Frage? Sehe ich aus wie ein dummes Flittchen, das wieder gestopft werden möchte? »Ich bin kein leichtes Mädchen«, antworte ich und schubse ihn von mir weg. »Ja, ich hätte gerne jemanden für mein Bett, aber so verzweifelt, dass ich mich vom Erstbesten nehmen lasse, bin ich nicht. So eine Beziehung und vor allem Liebe sind viel Arbeit. Man lernt sich kennen, verbringt Zeit miteinander, trifft sich hin und wieder und verliebt sich dann. Das kann mit etwas Pech sogar Jahre dauern!« Er schaut mich nur verständnislos an. »Haben wir jetzt genug Brennholz? Ich würde gerne zurückgehen«, beende ich das Gespräch genervt. Langsam scheint auch er zu realisieren, was gerade passiert ist. »Ja, ich glaube, das müsste reichen«, antwortet er. Wir gehen wieder hinein. Gerade in diesem Moment kommen Florian und Hannah von oben herunter. Da sie wesentlich mehr Stockwerke zu durchsuchen hatten, aber dafür nicht viel länger als wir gebraucht haben, bin ich mir sicher, dass sie ebenfalls nicht sehr gründlich gearbeitet haben. Ich versuche, die eisige Stimmung zwischen mir und Gernot mit einem mehr oder weniger gelungenen Lächeln zu verschleiern. »Wir waren schneller fertig und haben noch Holz gesammelt«, erkläre ich unnötigerweise, da wir beide gut beladen sind. »Dann kümmern wir Männer uns um das Feuer und das Essen«, bestimmt Florian. »Macht das, was Frauen am besten können, und kümmert euch um den Schlafplatz.« War heute der Tag der dummen Sprüche? »Ich wollte mich eigentlich noch etwas in den oberen Stockwerken umsehen, wenn es euch recht ist«, antworte ich etwas enttäuscht. »Dieses Gebäude gehörte früher Fimbulvetr. Vielleicht kann ich etwas über die Vergangenheit der Organisation herausfinden. Immerhin stehen noch genügend Computer herum.« Dass ich im Grunde nur Gernot ausweichen will, erwähne ich nicht extra. Meine Begleiter reagieren zu meiner Verwunderung eher genervt auf meine Frage. »Mach dich doch bitte etwas nützlich«, fällt mir sogar Gernot in den Rücken, der mir anscheinend den Korb von eben heimzahlen will. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir die ganze Arbeit erledigen, während du nichts tust? Immer müssen wir kochen, abwaschen, das Lager ab- und aufbauen und dann noch in der Gegend herumschleppen. Du stehst nur daneben und schaust zu.« Das betretene Schweigen der anderen beiden signalisiert mir, dass sie genauso denken wie er. »Also gut. Wenn du jetzt keinen weiteren Stress machst, helfe ich gerne«, antworte ich widerstrebend. Wir Mädchen breiten zuerst die Unterlagen aus und dann die Schlafsäcke, um sie darauf zu legen. Mit etwas gemischten Gefühlen betrachte ich unsere Schlafstätte. Normalerweise lege ich mich zu Hannah oder Gernot. Letzteren möchte ich momentan lieber nicht sehen, oder wenigstens zuvor in Ruhe über das Geschehene sprechen, also bleibt wohl nur noch Hannah. »Ist etwas mit dir? Du wirkst ziemlich geistesabwesend«, stellt diese fest. Soll ich ihr von dem Streit mit Gernot erzählen? Bis jetzt habe ich mich doch gut mit ihr verstanden, aber ich habe Angst, dass sie sich auf seine Seite schlägt und ich dann komplett zur Außenseiterin werde. »Es ist nichts. Ich hatte nur einen anstrengenden Tag«, belüge ich sie. »Wie war dein Tag? Hattest du Spaß mit Florian? Ich glaube, er will etwas von dir. Zumindest habe ich den Eindruck bekommen, weil er dir immer Komplimente macht und deine Nähe sucht.« Sie schüttelt ihren Schlafsack aus, ehe sie ihn ausbreitet. »Ja, das mag schon sein. Alle Männer stehen auf mich. Ich habe schöne lange Haare, ordentlich Vorbau und eine gesunde Hautfarbe. Männer haben nichts übrig für käsige Mannsweiber. Aber das stört dich ja sicherlich nicht.« Ich verstehe nicht genau, auf was sie anspielt, fühle mich aber trotzdem ziemlich beleidigt. »Warum sollte mich das nicht stören?« Ich kann kaum glauben, dass sie mir plötzlich so in den Rücken fällt. »Naja ... Ich dachte, du bist lesbisch.« Ich schaue sie fassungslos an. »Wie kommst du darauf?« Sie wirkt relativ gleichgültig und entschuldigt sich nicht einmal für ihren Irrtum. »Du siehst nicht besonders weiblich aus. Außerdem sind deine Augenbrauen ziemlich buschig. Bei den Männern hast du es wahrscheinlich nicht sehr leicht.« Wenn sie wüsste, dass Gernot mich gerade geküsst hat ... Sie wird schon sehen, wie sehr sie sich irrt, wenn wir dieses kleine Missverständnis geklärt haben und doch noch zusammenkommen. »Ich glaube, dass es durchaus Männer gibt, die Frauen wie mich mögen«, sage ich. »Dich wollen sie doch nur einmal fürs Bett, mich für eine Beziehung.« Sie lacht erneut. »Du meinst Schwule?« Sie nimmt mich überhaupt nicht ernst. »Und was du da über mich sagst, ist nicht richtig, denn ich habe immerhin einen festen Freund. Ich bin mit Gernot zusammen.« Damit schießt sie endgültig den sprichwörtlichen Vogel ab, und bevor ich ihr noch eine Kugel durch den Kopf jage, verlasse ich lieber erst einmal das Lager, um mich zu beruhigen. »Bis später«, murmle ich den anderen zu, ehe ich mich trolle. Auch wenn ich meine Aufgabe nicht perfekt erfüllt habe, halte ich es bei dieser dummen Göre einfach nicht mehr aus. Ich muss mich ablenken und verbinde dies gleich mit etwas Recherche. Ich gehe die Treppe hoch in die oberen Stockwerke. Auch wenn noch ein schwaches Restlicht der untergehenden Sonne durch die Fenster fällt, schalte ich zur Vorsicht meine Taschenlampe wieder ein. Auf den ersten Blick sieht hier oben alles vielversprechender aus als im Keller. Die Möbel sind nicht mehr gut in Schuss, dafür stehen hier jedoch eine Menge technischer Geräte – leider alle ohne Strom. Ich überlege, ob ich etwas mit den Geräten anfangen kann. Theoretisch sollte ich mit meinem Passwort Zugang zu allen Daten haben. Was mir fehlt, ist also der Strom. In meinem Kopf bilden sich abenteuerliche Pläne, wie ich mit meinem Anzug, Gemüse oder anderen Geräten Strom erzeugen oder umleiten könnte. Ich verwerfe diese Ideen jedoch sofort wieder, und meine kurze Euphorie wird fast schon im Keim erstickt. Selbst wenn ich es irgendwie schaffen sollte, eine dieser alten Kisten zum Laufen zu bringen, sind die wesentlichen Daten auf den Servern gespeichert. Ich verfluche mich dafür, dass ich während Fimbulvetr nichts Sinnvolles mit meiner Zeit angefangen habe. Meine Betreuer haben mich stets zu ermuntern versucht, etwas Neues zu lernen. Wann immer sie mich jedoch gefragt haben, was ich tun möchte, war meine Antwort: »Töten.« Während die anderen also Spionagetechniken oder Kampfsport gelernt haben, war ich auf dem Schießstand oder bin auf Missionen geschickt worden, um Menschen zu ermorden. Da ich noch nicht zurückgehen möchte, entscheide ich mich dazu, mich doch noch etwas in dem Gebäude umzusehen. Obwohl die ganze Einrichtung ihre besten Jahre schon hinter sich gelassen hat, fühle ich mich hier heimisch. Ich durchsuche mehr oder weniger systematisch die Büroräume, in der Hoffnung, doch noch etwas Interessantes zu finden. Nachdem ich eine Zeit lang erfolglos umhergestreift bin, setze mich auf einen der Bürosessel, der vergleichsweise bequem aussieht, und starre an die Decke. Jetzt, da die Sonnenstrahlen völlig verschwunden sind, holt mich meine Angst wieder ein. Ich fühle mich nutzlos und unendlich einsam. Hannah hat mit dem, was sie gesagt hat, recht. Männer interessieren sich nicht für mich, und wenn überhaupt, dann nur für eine Nacht mit mir. Gernot hat es sicherlich nur bei mir versucht, weil er angenommen hat, dass er mich leicht herumkriegt, da mich ja sonst niemand möchte. Langsam beginne ich zu akzeptieren, dass ich wirklich nur dazu da bin, um zu töten, und sonst nichts wirklich gut kann. Es ist kein besonders schöner Gedanke, aber ich weiß, dass ich wenigstens zu etwas zu gebrauchen bin. Komplett nutzlos zu sein wäre wahrscheinlich noch schlimmer. Ein Geräusch, das aus einem der Nebenräume kommen muss, reißt mich aus meinen sinisteren Gedanken und lässt mich zusammenzucken. Mein erster Gedanke ist, dass die Zombieaffen aus dem Keller doch real sind und nach meinen Begleitern nun auch mein Gehirn essen wollen; mein zweiter, dass Gernot vielleicht nach mir sehen möchte, um mit mir über unsere Auseinandersetzung zu sprechen. Auch wenn er sicher wieder Witze über mich machen wird, ziehe ich meine Waffe und mache mich auf die Suche nach dem Ursprung des Geräusches. Ich bin mir schon einmal sicher, dass ich Schritte höre. Diese klingen jedoch komplett unbekannt. In der geräumigen Cafeteria sehe ich dann, wer sich außer mir noch in diesem Stockwerk aufhält. Es ist ein Mädchen, dessen Kleidung mir sehr bekannt vorkommt, da ich genau dieselbe trage. Es leuchtet mit seiner Taschenlampe in meine Richtung. Im Gegensatz zu mir trägt die Fremde einen leichten Helm, der ihren Kopf vor Verletzungen schützt. Darunter kommen zwei lange, schwarze Zöpfe zum Vorschein. Ich bilde mir ein, das Mädchen zu kennen, sein Name oder wo ich es zum ersten Mal gesehen habe, fällt mir jedoch nicht ein. Ich kann vor Freude kaum glauben, dass ich sie an einem Ort wie diesem und in einer Situation, die mehr als nur aussichtslos auf mich wirkt, treffe. Schlagartig verschwinden für einen Moment all meine Ängste und Sorgen, und die Hoffnung, dass meine Einsamkeit nun ein Ende hat, sie mich mitnimmt und zu weiteren Menschen wie uns bringt, entsteht in mir. »Hallo!«, rufe ich dem Mädchen zu. »Ich bin Draug. Was führt dich hierher? Du kannst nicht glauben, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen.« Sie antwortet nicht, sondern mustert mich nur mit ihrem kritischen Blick. Dann wendet sie sich von mir ab. »Ich habe zu tun, Kind. Tu einfach so, als ob du mich nicht gesehen hättest, und lass mich in Ruhe.« Sie spricht die Worte ruhig aus und die Dominanz in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Sie duldet keine Wiederworte. Meine Enttäuschung wird schnell durch blanken Ingrimm ersetzt. All die negativen Gefühle, die sich durch das Verhalten von Hannah und Gernot aufgestaut haben, werden nun von der abweisenden Art des Mädchens zum Überlaufen gebracht, und ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Wie kann sie mir so etwas antun? Ich richte zitternd meine Pistole auf sie und drücke ab. Sie ist wie ich, so ein kleiner Schuss wird sie schon nicht umbringen. Da sie mit dem Rücken zu mir steht, sieht sie meine Handlung nicht, zuckt aber zusammen, als die Kugel an ihrer Panzerung abprallt. Bilde ich es mir nur ein oder hat sie versucht, in letzter Sekunde auszuweichen? Geschickt wie eine Raubkatze springt sie auf mich zu und drückt mir ihr Knie gegen die Brust. Sie ist so schnell, dass ich gar keine Chance habe, zu reagieren. Trotz der dicken Panzerung, die mich schützt, tut dieser Kniestoß verdammt weh und drückt mir die Luft aus den Lungen. Ich weiß es in dem Moment nicht besser und versuche, weiter auf sie zu schießen. Ich glaube, dass ich sie ein- oder zweimal treffe, bin mir aber nicht sicher, da mir schwarz vor Augen ist. Sie drückt meine Hand gewaltsam zur Seite und hält mir Mund und Nase zu. Verzweifelt will ich mich wehren, bin jedoch zu schwach, um gegen meine Angreiferin eine Chance zu haben. Immer mehr Panik steigt in mir hoch. Ist das jetzt das Ende? Sterbe ich aus einem Grund, der mir nicht einmal wirklich bekannt ist? Meine Lungen brennen mittlerweile wie Feuer und ich spüre, dass ich langsam das Bewusstsein verliere. Plötzlich lässt der Druck auf meine Brust nach und ich kann wieder atmen. Ich hole tief Luft und genieße jeden Atemzug. »Alles in Ordnung mit dir?« Ich schaue nach links, von wo die Stimme kommt. Florian steht in der Tür und betrachtet mich skeptisch. Kein Wunder, ich liege ja auch schwer atmend und komplett verängstigt auf dem Boden und ringe weiterhin nach Luft. »Was machst du da auf dem Boden und warum schießt du wild herum? Hast du eine Ahnung, was für einen Schreck du Hannah eingejagt hast?« Ich sehe mich verwirrt um. Das Mädchen ist spurlos verschwunden. Allmählich zweifle ich an meinem Verstand. Vielleicht habe ich mir ja alles nur eingebildet? »Ich ... bin erschrocken, weil mich eine Ratte überrascht hat, und dann hingefallen«, lüge ich erneut. Ich stehe auf, klopfe mir den Staub von der Kleidung und atme tief durch. Meine Lungen brennen noch immer, aber es fühlt sich einfach zu gut an, am Leben zu sein. »Gehen wir wieder zurück«, schlage ich vor. »Das waren eindeutig genug Nachforschungen für einen Tag.« Florian lächelt mich mitleidig an, und ich kann mir schon denken, dass er mich für total durchgeknallt hält. »Warum bist du so erpicht darauf, etwas über die Vergangenheit herauszufinden? Du musst doch mittlerweile selbst merken, dass du große Probleme hast, dich zurechtzufinden. Konzentriere dich doch erst einmal darauf, dich einzuleben. Wenn du das geschafft hast, kannst du ja noch immer nach deiner Vergangenheit suchen. Vielleicht merkst du sogar, dass du auch glücklich sein kannst, ohne über alles, was passiert ist, genau Bescheid zu wissen.« Ich bin empört. »Misch dich bitte nicht in mein Leben ein. Ich entscheide schon selbst, was ich wann mache.« Im Grunde hat er ja nicht ganz unrecht, doch ich will es einfach nicht wahrhaben. Ich wünsche mir, dass ich aufwache und alles nur ein schlechter Traum war. Mein Umfeld fehlt mir einfach zu sehr, und hier ist niemand, dem ich wirklich vertrauen kann. Mittlerweile sind wir schon direkt vor unserem Lager. Gernot und Hannah haben es sich in der Zwischenzeit gemütlich gemacht. Zu gemütlich für meinen Geschmack, denn sie sitzt auf seinem Schoß und schmiegt sich an ihn. »Tut mir leid, Draug, als du unterwegs warst, haben wir beschlossen, dass wir morgen früh aufstehen und uns auf den Weg machen, damit wir es schnell nach Hause schaffen. Du kannst ja später alleine hierher zurückkommen.« Ich nicke. »In Ordnung.« Sie können ja nicht wissen, dass mein Interesse an diesem Ort fürs Erste gesunken ist. Ich setze mich demonstrativ an den von Gernot und Hannah am weitesten entfernten Platz am Feuer und hoffe, dass man mir meine Eifersucht nicht anmerkt. Auch wenn ich hungrig bin und Teile des Fleisches schon gar sind, schmerzt mein Magen und ich will nichts essen. »Ist etwas passiert?«, fragt Hannah, die sich gerade an den Mann schmiegt, von dem eigentlich ich etwas will. »Es war nichts. Ich bin einfach nur erschrocken«, bleibe ich bei meiner peinlichen Lüge. Sie würden mir ohnehin nicht glauben, wenn ich das Mädchen erwähne. Florian hat es nicht gesehen, und sie würden denken, dass es nur eine Ausrede ist, um der Situation die Peinlichkeit zu nehmen. »Unsere Draug ist eben ein kleiner Angsthase«, ärgert mich Florian und setzt sich neben mich. »Aber keine Sorge, ich habe dich ja vor den bösen Ratten und Krabbeltieren gerettet und sicher zurückgebracht.« Ich werde rot. Viel mehr als Florians Spott regt mich jedoch auf, dass Gernot anscheinend ein falsches Spiel mit mir und Hannah treibt. Ich kann das nicht einfach ignorieren, aber ich will ihn auch nicht darauf ansprechen. Das Beste wird sein, wenn ich meine Eifersucht hinunterschlucke und mich darauf konzentriere, was ich als nächstes tun soll. Ich bin sogar erstaunt, dass ich sie in meinem jetzigen Zustand noch nicht alle erschossen habe. »Macht euch nur lustig über mich. Mit mir kann man es ja machen«, brumme ich vor mich hin. »Nun sei doch nicht so schnell eingeschnappt«, nuschelt Hanna. »Florian hat doch nur Spaß gemacht.« Warum ist es spaßig, immer Scherze auf meine Kosten zu machen? »Es tut mir leid, mir ist momentan nicht nach Scherzen zumute. Ich hatte gehofft, hier mehr zu finden«, antworte ich. »Ich kann verstehen, dass dir deine Vergangenheit wichtig ist. Du verrennst dich aber zu sehr in etwas. Du musst im Hier und Jetzt bleiben. Nutze die Zeit, die du hast, für etwas Besseres als zu leiden«, versucht es Gernot auf seine umschmeichelnde Art. Irgendwie frustrierend, wenn alle mich in eine bestimmte Richtung drängen wollen. Ich muss doch selbst am besten wissen, was gut für mich ist. »Es ist sicher schwer für dich, aber wir wollen dir doch nur helfen. Wir sind deine Freunde«, bleibt Gernot hartnäckig. Seine Worte schmeicheln mir zwar, aber das Gefühl, dass sie meine Freunde sind, ist nicht mehr vorhanden. Sollten Freunde mich nicht lieber bei meinem Vorhaben unterstützen und mich wieder aufbauen, wenn es mir schlecht geht? Sie sollten mich jedenfalls nicht beschimpfen und betrügen. »Danke, aber alles, was ich momentan brauche, ist etwas Ruhe und Zeit für mich.« Ich stehe auf und gehe in den Nebenraum. Hier steht ein altes, halb durchgerostetes Sofa, das nicht sehr bequem aussieht, aber dennoch eine bessere Alternative zum Boden ist. Für mich steht fest, dass ich erst einmal alleine schlafen möchte. Die Couch quietscht, als ich mich darauf lege, und sie fühlt sich genauso unangenehm an, wie sie aussieht. Da nun endlich Stille herrscht, kann ich über die Situation nachdenken. Es muss doch irgendetwas geben, das ich tun kann. Ich brauche erst einmal Abstand, soviel ist klar. Vielleicht sollte ich ein wenig alleine durch die Welt laufen. Dann würde auch Gernot erkennen, was er an mir hat. Ich muss mir nur noch etwas für Hannah überlegen. Ich habe ja nicht wirklich etwas gegen sie persönlich, ich denke einfach nur, dass ich viel besser für Gernot geeignet bin. Also ist die einfachste Lösung, sie zu erschießen. Ich bin ja schon vor ein paar Stunden darauf gekommen, dass Töten das Einzige ist, was ich wirklich beherrsche. Wenn ich es mir genau überlege, ist dies wirklich eine gute Idee. Menschen erschießen kann so viele Probleme lösen, und wenn Gernot nichts davon merkt, kann er auch nicht wütend auf mich sein. Ich denke, ich werde es nach einem Hinterhalt aussehen lassen. Ideen, wie ich das Ganze durchführen kann, habe ich jedenfalls schon genug. Ja, ich bin überzeugt, dass ich meinen Plan so umsetzen werde. Zufrieden kuschle ich mich an den verstaubten Stoff des Sofas, das bei jeder Bewegung vor sich hin knarrt und sich dabei so anhört, als würde es gleich zusammenbrechen. Durch die Schmerzen, die ich noch im Brustbereich habe, werden meine Gedanken wieder auf das Mädchen gelenkt. Ich bin mir sicher, dass ich es mir nicht eingebildet und sogar schon einmal getroffen habe. Auch wenn mir sein Name nicht sofort einfällt, kommt mir sein Gesicht sehr bekannt vor. In einem Traum, den ich in dieser Nacht habe, kehrt die Erinnerung an das Mädchen zurück. Ich habe es vor Jahren zum ersten Mal in Bifröst getroffen, der Basis, in der ich stationiert war. Ich unterhielt mich nur ein einziges Mal mit ihr, wenn man das wirklich so nennen kann. Damals sprach ich sie an und wurde von ihr ebenso wie heute ignoriert. Schon vor all den Jahren war ich darüber wütend, aber Arvid beruhigte mich und erklärte mir, dass ich mir nichts daraus machen sollte. Sie sei eben so und rede nicht mit jedem, da sie ja eine der besten Einherjar war, die Fimbulvetr zu bieten hatte. Arvid nannte im Traum ihren Namen, und ich kann mich auch noch nach dem Aufwachen an ihn erinnern. Sie ist Ratatösk – schnell, tödlich, und alle nennen sie nur »Das Eichhörnchen«. Hosted by Animexx e.V. 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