Ursache und Wirkung von sammy-chan ================================================================================ Kapitel 1: 1 ------------ Titel: Ursache und Wirkung (Original) Raiting: P-12 Warnings: Slash, aber sonst ganz harmlos Wortanzahl: 9383 Disclaimer: alles meins =) Beta: -Ria- Anmerkung: Eine Story, die ich für das alljährliche FF-Wichteln in diesem Forum : http://schreiberwald-und-lesewinkel.phpbb8.de/forum.php geschrieben hab. Mein Wichtel hatte sich eine Geschichte über ein Genie gewünscht, dass total schüchtern und nicht in diese Gesellschaft eingegliedert ist. Ich wünsche allen hiermit nachträglich Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr =D ~~ooOoo~~ Die Welt war zusammengesetzt aus ein paar einfachen Grundformen, jedes beliebige Objekt war durch diese Formen erfassbar, egal wie kompliziert es auch sein mochte, man konnte es letztendlich durch einfachste Strukturen darstellen und berechnen. Was man nicht berechnen konnte waren Menschen, das hatte Vincent früh erkannt. Sie passten nicht in seine Welt, er verstand sie nicht, er erkannte keine Formen in ihnen, sie waren zu sprunghaft, zu unberechenbar. Er stellte seine Tasche neben den Tisch, irgendwer kicherte. „Vincent pass auf! Der Stuhl!“, grellte Emilys Stimme durch den Raum und erinnerte Vincent an das Geräusch einer Kreissäge. Der Rest der Klasse gab ihren Unmut lautstark bekannt. „Mensch, Emily, du bist so ne Spielverderberin!“ Tobias, natürlich. Vincent klappte den Sitz herunter – im Physikraum waren die Plätze treppenartig angeordnet, wie in einem Hörsaal - und erst mit dem zweiten Blick erkannte er die aufgetragene klare Flüssigkeit auf Sitzfläche und Rückenlehne, Klebstoff, vielleicht, Vincent sparte sich die Mühe es auszutesten. Er ließ den Sitz wieder hochklappen. „Und ihr seid Arschlöcher“, verteidigte sich Emily kleinlaut. Vincent mochte sie nicht, sie hatte Mitleid, wahrscheinlich, vielleicht auch einen Helferkomplex. Er hatte ihr Mitleid nicht verdient, brauchte es nicht und verstand es noch viel weniger. Sie handelte sich nur Ärger mit der Klasse ein. Vincent nahm die Tasche und stieg langsam die Stufen im Mittelgang herauf. Es machte keinen Unterschied, ob er in der ersten Reihe oder in der Letzten saß, die sowieso komplett unbesetzt war. Etwas bohrte sich für einen Moment in seine Schläfe, fiel dann klappernd zu Boden. Einer dieser Anspitzer, bei dem gleich ein Behälter mit angebracht war. Vincent warf nur einen kurzen Blick darauf. „Was denn Vinni? Weinst du gleich?“ Die Jungs lachten. Vincent steuerte auf die letzte Reihe zu. „Warum setzt du dich nicht hier hin? Hier ist doch noch nen Platz frei.“ Menschen waren nicht berechenbar. Vincent lenkte seinen Blick auf den blonden Jungen, hatte er schon jemals ein Wort mit ihm gesprochen? „Jannes will heut wohl den heiligen Samariter spielen!“ Vincent schüttelte kaum merklich den Kopf, aber Jannes machte eine Handbewegung, als wollte er ihn fassen. Vincent zuckte zusammen. „Komm schon, ist doch langweilig da ganz allein.“ Die Jungs johlten. „Verarsch ihn doch nicht so, unser armer Vinni, ist schon ganz verschreckt.“ Vincent hörte, wie sich die Tür öffnete. „Was ist hier los?“ Die Schüler wurden still. „Setz dich bitte, Vincent, es ist Unterricht.“ Noch immer spürte er Jannes’ Augen auf sich ruhen und obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, setzte er sich auf den freien Platz. Er war froh, dass der Unterricht begann, die anderen hielten sich dann zurück, meistens zumindest. Dennoch wusste er, dass etwas passieren würde. Jannes gehörte zu ihnen, zu der Gruppe rund um Tobias. Tobias kannte er schon lange, genau genommen schon zwölf Jahre und drei Monate, sie waren in direkter Nachbarschaft aufgewachsen. Seine Mutter hatte sich mit Tobias’ Mutter unterhalten, als sie noch vorgab, dass alles in Ordnung wäre, das perfekte Familienleben spielte. Sie hatte gemeint, dass es perfekt wäre einen Jungen im gleichen Alter direkt in der Nachbarschaft zu haben, dass sich Vincent und Tobias bestimmt wunderbar verstehen und den Rest ihres Lebens beste Freunde sein würden. Das erste, was Tobias tat, nachdem ihre Mütter die Augen von ihnen nahmen, war, Vincents Gesicht in eine Pfütze voll Matsch zu stoßen, solange bis er dachte, er würde nie wieder etwas anderes schmecken, als den Matsch, der zwischen seinen Zähnen knirschte und ihm Kopfschmerzen bereitete. Und Tobias hatte ihn sein Leben lang begleitet, nur, dass er niemals sein bester Freund gewesen war, nicht im Kindergarten, nicht in der Grundschule, nicht im Gymnasium. Vincent fühlte einen Stoß in die Seite, zuckte zusammen. „Verstehst du das?“ Jannes deutete mit der Handbewegung Richtung Tafel, an die der Lehrer eine Formel geschrieben hatte. „Ja…“ Jannes sah ihn abwartend an. Was erwartete er? Dass Vincent es ihm erklärte? Dass er irgendetwas Dummes tat, über das er sich lustig machen konnte? Dass er ihm einen Grund lieferte, ihn einen Streber nennen zu können? Er senkte den Kopf, schrieb den Text von der Tafel ab und ignorierte Jannes’ verwirrte Blicke. Aus irgendeinem, nicht definierbaren Grund passierte gar nichts mehr. Die komplette Stunde ging vorbei, ohne dass überhaupt etwas bemerkenswertes passierte. Vincent verstand es nicht, dachte schon lange nicht mehr darüber nach, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich ging. Er schloss die Tür zur Wohnung auf und ging mit raschen Schritten zum Wohnzimmer, er hielt vor der Tür, atmete einmal ein und wieder aus, bevor er sie öffnete. „Ich bin wieder da, Mum.“ Die Gesprächsfetzen irgendeiner dieser Nachmittags-Doku-Soaps drangen an sein Ohr. Es wurde wieder schlimmer. „Das ist schön.“ Seine Mutter drehte kaum den Kopf in seine Richtung, fixierte den Bildschirm, ohne ihn wirklich zu sehen. Manchmal hatte sie gute Tage, so wie letzte Woche, da war Vincent heimgekommen und sie hatte freudestrahlend in der Küche gestanden. Auf dem Tisch sein Lieblingsessen. Doch das war selten, meistens erwartete ihn dasselbe Bild, wie es sich auch jetzt zeigte. Vincent ging in die Küche, er ignorierte sich türmende, leere Tablettenverpackungen, an deren Anblick er sich mittlerweile gewohnt hatte. Irgendwo fand er eine angebrochene Tüte Salzstangen. Er atmete auf, als er die Tür seines Zimmers schloss. Sein Weg führte automatisch zum Schreibtisch, er drückte den kleinen runden Knopf und das vertraute Bios-Beep beim Hochfahren des Computers vermittelte ihm das Gefühl zu Hause zu sein. ~ooOoo~ Er hatte gelernt es auszublenden, das feixende Lachen, mit dem seine Mitschüler ihn bedachten, er wusste nicht mehr, ob es ihm galt oder sie jemand anderes als Opfer gewählt hatten. Es war einfacher so, er wusste nicht, warum sie an einem Tag über ihn lachten, an einem anderen Tag nicht, es gab kein Muster in ihrem Verhalten. Vincent studierte das sich immer wiederholende bunte Muster, ein Fraktal, selbst in den chaotischsten Abläufen finden sich immer wiederkehrende Muster und doch konnte die kleinste Veränderung ein vollkommen anderes Ergebnis produzieren. Veränderte er an einem Tag etwas? An einem anderen nicht? War er der Auslöser oder doch der Regen draußen, der heute auch durch die dickste Jacke bis auf die Haut durchkroch? Das Bild des bunten Fraktals entzog sich seinem Sichtfeld. „Was hast’n du da für’n streberhaftes Buch, Vinni?“ Vincent sah auf, Tobias stand vor ihm, hielt sein Buch in der Hand, in dem er halbherzig herumblätterte. Neben ihm stand Adrian, warf einen neugierigen Blick in das Buch. „Da sind ja nur bunte Bilder drin!“ „Vinni steht auf Bilderbücher, der tut nur immer so superschlau.“ Die Jungs lachten. „War doch klar, der will halt einen auf Brain machen...“ Jannes war auch bei der Gruppe, er stand etwas hinter den anderen. Vincents Blick legte sich automatisch auf ihn, er hatte Sommersprossen ein paar auf der Stirn, ein wenig mehr auf den Wangen, ihre Verteilung verstärkte sich auf der Nase. Vincent fragte sich einen Moment lang, ob man sie zählen konnte, ob es ein Gesetz für ihre Verteilung gab, mit dem man ihre Anzahl bestimmen konnte. Jannes erwiderte seinen Blick, er lachte nicht. „Hey Vinni, du solltest uns zuhören!“ Vincent nahm seinen Blick von Jannes, als er ein flatterndes Geräusch wahrnahm und noch aus den Augenwinkeln sah, wie „Chaos und seine Ordnung“ einen Bogen in einer fast perfekten Parabel beschrieb, vom Wind erfasst wurde und im nächsten Moment aus seinem Blickfeld geriet. Man hörte kein Geräusch von dem Aufprall draußen vor dem Fenster, denn der Regen hatte sämtliche Geräusche bereits nach wenigen Sekunden verschluckt. „Seht ihr? Das ist es, was ich meine!“ Tobias grinste ihn an. „Seine Visage? Gleich versteckt sich der kleine Vinni auf dem Klo, um zu heulen, weil sie ihm sein Bilderbuch weggenommen haben.“ Erst nach dem Unterricht hatte Vincent die Möglichkeit nach dem Buch zu suchen. Er stand vor dem Beet, das unter dem Fenster des Klassenzimmers im zweiten Stock war. Es war überwuchert mit Springkraut, was Vincent bis zu den Hüften reichte und keine Sicht zuließ. Er machte einen Schritt in das nasse Gestrüpp und bog die Pflanzen zur Seite. „Suchst du das hier?“ Vincent drehte sich um, Jannes, zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein Buch von sich fortgestreckt, dessen Farbigkeit zwar an Vincents Exemplar erinnerte, aber dessen Seiten so aufgequollen waren, dass es dreimal so dick wirkte. Vincent machte genau den Schritt aus dem Beet wieder hinaus, den er hineingegangen war. „Gib es mir.“ Jannes hob eine Augenbraue und bedachte das Buch mit einem skeptischen Blick. „Meinst du nicht, das ist etwas spät? Das hättest du eben sagen sollen, bevor sie es in den Regen geworfen haben. Das fällt doch schon auseinander, wenn man es nur falsch anguckt.“ Jannes machte ein paar Schritte auf Vincent zu und er wünschte sich, Jannes würde ihm einfach das Buch geben und wieder fortgehen. „Wie willst du das überhaupt mitkriegen, das wäre ja, als würdest du einen nassen Schwamm in deine Tasche packen wollen. Warte mal.“ Jannes gab ihm das Buch tatsächlich und begann dann in seiner Tasche zu wühlen. Vincent sah ihm zu, er sollte vielleicht einfach gehen, er hatte, was er wollte und irgendetwas an Jannes’ Verhalten alarmierte ihn, es passte nicht ins Bild. Es war als würde plötzlich eine Zahl ausgetauscht, in einer sonst perfekten Rechnung, sie war falsch, unlogisch und wenn man nicht aufpasste, dann veränderte sie alles, was darauf folgte bis hin zum falschen Ergebnis. Jannes beförderte eine mit Obst und Gemüse bedruckte Tüte aus der Tasche und grinste triumphierend. „Siehst du, die hat mir meine Mum gegeben, zum einkaufen, aber ich kann auch ne Neue kaufen.“ Er hielt Vincent die offene Tüte auffordernd entgegen und er ließ „Chaos und seine Ordnung“ hineinfallen, wahrscheinlich hatte Jannes recht und er würde es zu Hause sowieso wegschmeißen müssen. Jannes musste ein Stück in dieselbe Richtung laufen; wie lange waren sie mittlerweile in einer Klasse? Vier Jahre. Sie waren niemals zusammen nach Haus gegangen. „Warum lässt du dir das gefallen? Was sie ständig mit dir machen?“ Vincents Blick folgte der Bordsteinkante, sauber gelegt, jetzt von Witterung bearbeitet, aus der Form gebracht durch die Belastung der Jahre. „Warum sagst du es nicht den Lehrern?“ Warum interessierte es Jannes plötzlich? Nach vier Jahren? Es war nicht, als hätten die anderen gestern damit begonnen. „Sie sagen, es ist eine normale Schulhofauseinandersetzung.“ Vincent spürte Jannes’ Blick auf sich ruhen, es war ein seltsames Gefühl, dass jemand ihm soviel Aufmerksamkeit schenkte, ohne ihn dabei auszulachen. Vincent war angespannt. „Und deine Eltern? Denen kann das doch nicht egal sein.“ Er setzte einen Schritt vor den anderen. Vincent hatte keine Eltern, er hatte eine Mutter, die selber mehr Hilfe brauchte, als sie ihm jemals bieten können würde. „Tut mir Leid.“ Jannes’ Stimme wirkte unsicher, er schien zu ahnen, dass er einen Bereich angeschnitten hatte, den zu berühren ihm nicht erlaubt war. „Ich mein’ ja nur… is’ ja nich’ fair.“ Er blieb stehen, automatisch tat Vincent es ihm gleich. „Ich muss jetzt hier runter.“ Er deutete in die abgehende Straße. Vincent nickte, es herrschte einen kurzen Augenblick Stille. Jannes trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Hast du nicht Lust noch mitzukommen? Ich muss ja noch einkaufen, meine Mum wird unausstehlich, wenn sie kein Mehl mehr zum backen hat.“ Er lachte, Vincent schüttelte den Kopf. Jannes wirkte nicht, als würde er wirklich wollen, dass Vincent mitkam. Warum er ihn dennoch gefragt hatte, verstand Vincent noch viel weniger. „Oh, na gut, ich schätze du hast noch was vor.“ Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Wir sehen uns dann morgen. Ich hoffe, du kannst dein Buch noch irgendwie retten.“ Er hob die Hand zum Abschied und kehrte Vincent den Rücken. ~~ooOoo~~ Jannes’ irritierendes Verhalten hielt nicht an, zumindest sprach er Vincent nicht wieder an und sein Leben rückte zurück in seine regulären Bahnen. Die einzige Variation löste er selbst aus, einen Grund dafür konnte er nicht nennen. Er sah nicht mal nach, ob sein ursprünglicher Sitzplatz wieder in Ordnung war. Er sah nur einmal in Jannes’ Richtung, vielleicht war die Realität tatsächlich wieder zurückgesprungen und Jannes wollte seine Nähe nicht mehr. Aber als sich ihre Blicke trafen, lächelte er auffordernd und Vincent verbrachte auch die nächste Stunde Physik auf dem Platz direkt neben Jannes, als ob es immer so gewesen wäre. Vincent wusste nicht, ob er diese Veränderung einfach hinnehmen sollte, aber wenn er sie hinterfragte, fand er keine Antwort. Der Physikunterricht hatte sich verändert und doch hatte das keine Auswirkungen auf irgendwas anderes. Nicht auf Mathe, nicht auf Deutsch, Englisch, Kunst, Biologie, Sport. Das dachte Vincent und dieser Unterschied war in Ordnung. Der Unterricht, den er am wenigsten mochte, war Sport. Es war kein Unterricht, wie die anderen, wo man etwas lernte, einen theoretischen Stoff, den man daraufhin in der Praxis verwendete oder verwenden konnte. Die meisten Sportarten hatten eine soziale Komponente, wurden Mannschaften gewählt, war Vincent der letzte, der einer Mannschaft zugeordnet wurde. Schlimmer noch war es, wenn sie Zweiergruppen bilden mussten. Meist bildete derjenige eine Gruppe mit Vincent, der das Pech hatte übrig zu bleiben, manchmal Tobias, weil es Vincent fast komplett auslieferte. Sie spielten Badminton an diesem Tag. „Sucht euch einen Partner und macht euch zusammen warm“, war die Anweisung des Lehrers. Es folgte das gewohnte Verhalten, ein allgemeines Chaos von Stimmen und durcheinander laufender Schüler, die sich meist in bereits etablierten Gruppen zusammenfanden. Ursache und Wirkung, immer der gleiche Ablauf. Vincent wartete und atmete innerlich auf, als er sah, dass Tobias sich mit Adrian zusammentat. „Hey, Vincent? Hörst du mich?“ Vincent sah überrascht auf. Jannes stand vor ihm und grinste. „Wo warst du denn? Ich hab dich gefragt, ob du Lust hast mit mir in einer Gruppe zu sein.“ Er nickte. Wieder Jannes. Auf gewisse Weise war es angenehm nicht der letzte zu sein. Sie folgten dem Beispiel der anderen und begannen in Runden um das Feld zu joggen. „Badminton ist so ein Mädchenspiel. Ich wünschte wir würden Basketball spielen oder so. Findest du nicht auch?“ Vincent hatte das Gefühl, dass Jannes sein Tempo ihm anpasste, er zuckte mit den Schultern, als er merkte, dass Jannes ihn erwartungsvoll ansah. „Ich spiel in einem Verein, Basketball mein ich“, plapperte er daraufhin im Plauderton weiter. „Wir haben Samstag ein Spiel in einem richtigen Turnier.“ Vincent beobachtete Jannes’ Gesicht, es war als würden seine Augen funkeln bei den Worten. „Ich hoffe wir machen die anderen platt, so weit sind wir noch nie gekommen.“ Es entstand eine kurze Pause. „Bist du in nem Verein? Irgendein Sport oder so?“ Sie stoppten, um mit Strechting-Übungen fortzufahren. „Nein“, antwortete Vincent. Jannes lachte. „Mann, es ist echt nicht leicht mit dir ein Gespräch zu führen, du bist nicht der Gesprächigste, weißt du?“ Jannes beugte sich hinab, führte unenthusiastisch seine Fingerspitzen zu der Spitze seines Schuhs. „Irgendetwas anderes, was du in deiner Freizeit machst?“ „Nein, nichts.“ Jannes sah auf, seine Stirn legte sich in Falten und Vincent erahnte eine weitere Frage, als der Lehrer durch einen Pfiff in seine Pfeife die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die nächste halbe Stunde stand Jannes auf der anderen Seite des Netzes, außerhalb der Reichweite in der man ein Gespräch führen konnte, war bemüht auch noch jeden schlechten Ball, den Vincent über das feinmaschige Gitter beförderte zu erreichen. Ein richtiges Spiel kam dennoch nicht zustande. „Sieht aus, als wären wir beide nicht wirklich gut im Badminton.“ Vincent zuckte zusammen, als Jannes ihm auf die Schulter klopfte. „Aber da es sowieso ein Mädchensport ist, ist das wohl auch nicht schlimm.“ Es schien, als wäre es ein Naturgesetz, dass Jannes gut gelaunt war, eine unverrückbare Konstante, selbst nach einer miserablen Stunde Sport… die er größtenteils mit dem Looser der Klasse verbracht hatte, zierte sein Gesicht immer noch ein Lächeln. „Vincent? Hast du nicht Lust am Samstag zu dem Spiel zu kommen? Ich würde mich freuen.“ Jannes’ Augen strahlten wieder, Vincent schüttelte automatisch den Kopf. „Nein, ich…“ Und für einen Moment war es weg, das Lächeln, aber der Augenblick war so kurz, dass es die Gesetzmäßigkeit nicht brach, so hoffte Vincent. „Schade, du hast keine Zeit?“ Er nickte nur, er hätte nichts anderes sagen können. „Aber du hast eben gesagt, du machst nichts in deiner Freizeit und dann hast du Samstag zu tun?“ Vincent öffnete den Mund, wusste nichts zu antworten, dementsprechend folgte auch keine Antwort und wieder formte sich die Frage in seinem Kopf, warum es Jannes überhaupt interessierte, was er machte. Der grinste jetzt. „Schon klar, kein Problem, ist auch nicht so wichtig. Wir sehen uns dann.“ Er hob kurz die Hand und drehte sich weg, schloss sich der Gruppe der anderen Jungen an und begann mit ihnen ein Gespräch. Vincent hatte wieder seinen eigenen Raum, so, wie es immer war und so, wie er es gewohnt war, wie es richtig war. Niemand der ihn ansah, ihm Fragen stellte, so, dass er nervös wurde und doch war das Gefühl in ihm nicht so, als sei es richtig. Es fühlte sich an, als hätte er etwas falsch gemacht, eine falsche Lösung, die er nicht korrigieren konnte. Aber es war immer richtig gewesen, so wie es war. Vielleicht hatte sich aber eine Variable geändert, dann musste es eine andere Lösung geben, oder? ~~ooOoo~~ Vincent hatte nie Freunde gehabt, er sprach nicht mal oft mit anderen Menschen, eigentlich nur, wenn er musste. Wenn die Lehrer ihn etwas fragten zum Beispiel. Das war einfach, auf ihre Fragen gab es meist eine richtige Antwort, ob es eine Vokabel im Englischen war, eine Stadt in Erdkunde, eine Lösung in Mathe, entweder man wusste die Antwort oder man wusste sie nicht. Gespräche waren anders. Es gab keine einzig richtige Antwort, man konnte auf viele Weisen antworten, ob die Antwort richtig oder falsch war lag im Auge des Gegenübers, kein Buch konnte einem weiterhelfen. Deshalb vermied Vincent Gespräche, es machte ihn nervös und unsicher nicht zu wissen, wie seine Antwort bewertet werden würde. Deshalb sollte er wohl froh sein, dass Jannes nicht mehr versuchte ihn in einem Gespräch zu verwickeln, aber das war er nicht. Im Laufe der nächsten Woche ertappte sich Vincent öfter dabei, wie er von einem seiner Bücher aufsah und den Klassenraum absuchte bis er irgendwo das Gesicht von Jannes in der Menge der anderen Schüler ausmachte. Es war eine völlig untypische Verhaltensweise für ihn, noch weniger verstand er es. Wenn Jannes ihn etwas fragte, wusste er nicht, was er sagen sollte, wenn er ihn fragte, ob er etwas außerhalb der Schule mit ihm unternehmen würde, dann würde er mit ‚nein’ antworten, denn niemand hatte ihn jemals danach gefragt, ob er mehr als nötig mit ihm zu tun haben wollte. Und er war sich sicher, dass auch Jannes das nicht wollte oder eben nicht mehr. Noch immer fragte er sich nach seiner Motivation, aber egal, was es gewesen war, es schien nicht mehr zu existieren. Vincent stand am Fenster, er stand jede Pause am Fenster, oben im zweiten Stock, einen Gang entfernt von ihrem Klassenzimmer. Es hatte sich als der günstigste Platz herausgestellt. Ein stetiger Strom von Schülern füllte hier den Gang, keiner nahm gesonderte Notiz von ihm, ein Schüler unter vielen. Wenn er den Blick aus dem Fenster richtete hatte er den Innenhof im Blick, die meisten seiner Klassenkameraden waren dort und wenn sie dort waren und er hier, dann konnten sie sich nicht über ihn lustig machen, zumindest nicht so, dass es ihn erreichte. Er ließ seinen Blick wandern und blieb hängen bei den blonden Haaren, nein, sie waren nicht einfach blond, sie schimmerten in verschiedenen Farbtönen, von einem satten Gold, wenn die Strähnen die Strahlen der Sonnen reflektierten, über ein Bronzeton hin zu einem warmen Hellbraun und sie hingen nicht einfach hinab, sie waren leicht gewellt, nicht so wie Vincents Haare, die einfach glatt und schwarz waren. Andere Gene, andere Vorraussetzungen, ein anderes Ergebnis und auf gewisse Weise war Jannes doch nicht einfach das Produkt der genetischen Vorrausetzungen. Er war in Mitten der Gruppe von Jungen, hatte den Kopf Christoph zugewandt, plötzlich lachte er auf, klopfte Christoph freundschaftlich auf die Schulter. Nach Vincents Ermessen hatte Jannes viele Freunde, er kam mit den meisten gut klar, gehörte irgendwo zu der Gruppe rund um Tobias. Jemand, der viele Freunde hatte sprach nicht mit Vincent, musste es nicht. Und dennoch hatte Jannes es getan. Vincent hatte sich damit abgefunden, dass er andere Menschen nicht verstand, diesmal war es anders. Vielleicht konnte er Jannes verstehen lernen, wie ein Rechenweg, der einem Anfangs unklar erscheint, aber den man erlernen kann, wenn man es nur versuchte und dann konnte er die Gleichung lösen, konnte zum richtigen Ergebnis kommen. Wenn Jannes ihm die Chance dazu bot. ~~ooOoo~ Es schellte, nur Sekunden später sprangen die ersten Schüler auf. Vincent packte sein Buch in die Tasche, dann das Heft, dann das Stifteetui, immer dieselbe Reihenfolge, immer so lange, bis er beinahe der Letzte war. „Vince?“ Er sah auf, direkt in Jannes’ Gesicht und automatisch spürte Vincent die Anspannung in sich aufsteigen. „Was?“ „Ähm, sorry, ich dachte Vince ist etwas einfacher als Vincent, aber wenn du es nicht willst.“ Die anderen nannten ihn Vinni, nicht, weil es einfacher war, sondern um ihn zu erniedrigen, doch das hörte sich anders an und Jannes’ Ausdruck war freundlich. Vincent schüttelte den Kopf. „Schon okay.“ „Gut, ich wollt nur fragen, du meintest ja letztens in Physik, du hättest das verstanden. Ich bin irgendwie zu blöd dafür.“ Er hob einen Block hoch und zeigte auf die Formel, die sie im Physikunterricht besprochen hatten. „Ich dachte vielleicht würdest du es mir erklären.“ Jannes Handschrift war spielerisch und unordentlich, viel zu groß für die Reihen, so als wollten sich die Buchstaben nicht einzwängen lassen. Vincent gab automatisch die Definition der Formel wieder, die er mit elf gelernt hatte. Er hatte noch nie jemanden etwas erklären müssen. Wahrscheinlich machte er es falsch. Jannes runzelte die Stirn und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich bin wohl doch zu blöd.“ Jannes starrte die Formel an, Vincent starrte Jannes an. Der hob den Kopf, sah Vincent ein bisschen hilflos an. „Könntest du es etwas ausführlicher erklären?“ Vincent deutete zum Block. „Darf ich?“ Jannes gab ihm den, mit einer Ringbindung zusammengehaltenen, Stapel Papier. Vincent hörte, dass er sich hinsetzte, während er einen seiner Stifte nahm und anfing zu schreiben, zuerst die Definition der verwendeten Größen, dann die Problematik, die mit der Formel zusammenhing, den Zusammenhang der Werte und zuletzt ihre Herleitung. Als er fertig war, sah er auf, direkt in Jannes’ erstauntes Gesicht. „Wow! Das weißt du alles auswendig? Is’ ja krass, das würd’ ich nie in meinen Kopf kriegen, selbst, wenn mein Leben davon abhinge.“ Er nahm den Block entgegen, noch immer erstaunt, doch dann lächelte er wieder. „Es sah fast so aus, als hättest du Spaß daran, du bist echt nen Streber.“ Das war ein Schimpfwort, was Tobias sehr oft zu Vincent sagte, aber bei Jannes wirkte es anders, nicht böswillig. „Danke, das wird mir hoffentlich weiterhelfen.“ Jannes packte den Block weg. Vincent stand auf, nahm seine Tasche und zögerte, sah noch mal zu Jannes. „Wie war das Spiel?“ Woher die Frage plötzlich kam, wusste Vincent selbst nicht. Auch nicht, warum er sie stellte. Basketball interessierte ihn nicht. „Du hast mir ja doch zugehört.“ Jannes klang erfreut, nahm seine Sachen und sie verließen gemeinsam den Klassenraum. „Ich hatte ehrlich das Gefühl, dich interessiert es nicht die Bohne. Na ja, wir haben verloren, war nicht unser bestes Spiel, also war es gut, dass du nicht dort gewesen bist. Wenn ich ehrlich bin, dann haben die uns richtiggehend auseinander genommen.“ Und obwohl Jannes darüber redete, dass sie verloren hatten, schien er zufrieden, mehr als das, seine Augen strahlten und es sah aus, als wäre er glücklich. Vincent fühlte seine eigene Anspannung. Er hatte sich in eine Situation manövriert, die für ihn völlig unbekannt war. Jannes hatte von dem Basketballspiel erzählt, als er plötzlich innegehalten, Vincent angesehen und ihn gefragt hatte, ob er nicht doch mal nachmittags etwas mit ihm unternehmen wollte. Vincent hatte zugesagt, eine Entscheidung, die er wahrscheinlich bereuen würde, Jannes’ Freundlichkeit war ihm noch immer unerklärlich und suspekt, dennoch hatte er alle Bedenken kurzerhand über Bord geworfen. Wahrscheinlich die absurde Hoffnung jemanden zu finden, der ein Freund sein konnte. Vincent hatte nie das Gefühl gehabt, dass ihm so etwas gefehlt hätte, vielleicht hatte er sich geirrt. Er verstand andere Menschen nicht, wie sollte er dann sich selbst verstehen? Der Fußweg dauerte sieben Minuten, 738 m, 1382 Schritte und mit jedem weiteren Schritt, den Vincent tat, wusste er, dass er einen Fehler beging. Er sah Jannes schon von weitem, der ihm winkte und zu laufen schien. Erst mit dem zweiten Blick sah er, dass ihm ein, wie es aus der Entfernung aussah, braunes Wollknäuel folgte. Das Wollknäuel stellte sich mit abnehmender Entfernung als Hund heraus, der auf den letzten Metern an Geschwindigkeit zunahm und Jannes hinter sich ließ, um freudig um Vincent herumzuspringen. Vincent wich automatisch ein paar Schritte zurück. Er beobachtete das Tier. Tiere waren unberechenbar und machten Dreck, das zumindest hatte seine Mutter gesagt, als er mit acht einen Hund gewollt hatte. „Hey, Vince!“ Jannes blieb vor ihm stehen, holte ein paar Mal tief Luft, seine Haare waren vom Laufen zerzaust. „Hab ich es noch pünktlich geschafft?“ Er grinste zufrieden, dann deutete er in Richtung des Hundes. Der sich zumindest etwas beruhigt hatte, aber noch immer Vincent belagerte. „Du brauchst keine Angst vor ihr haben, das ist Cherry.“ Jannes setzte sich in die Hocke, was Cherry anscheinend sehr erfreute, sie lief ihn beinahe um und er ließ seine Hand in dem langen braunen Fell versinken, so als wolle er demonstrieren, dass sie harmlos sei. Sie war ein mittelgroßer Hund, mit einem hochgebogenen buschigen Schwanz und fast schon bronzefarbenen Fell. Vincent machte einen Schritt auf beide zu und ließ sich ebenfalls in die Hocke nieder, sofort lag die gesamte Aufmerksamkeit der Hündin auf ihn und er musste sich zwingen nicht wieder aufzustehen. Stattdessen ließ er seine Hand probeweise über ihren Rücken gleiten, das Fell fühlte sich seidig an, die Hündin stupste ihn an. „Vorsicht sie kann beißen.“ Erschrocken zog Vincent seine Hand weg und das wohlbekannte Gefühl der Enttäuschung stieg in ihm auf, dass Jannes ihn reinlegen hatte wollen. Der lachte kurz. „Keine Sorge, aber nur bei Leuten, die sie nicht mag und sie hat denselben Geschmack wie ich. Sie mag dich.“ Es brauchte einen Moment bis Vincent die Bedeutung der Worte verstanden hatte, er sah unsicher zu Jannes, der ihn anlächelte. Es verwirrte ihn. Sie gingen eine Weile, in der sie immer wieder einen Tennisball warfen, dem Cherry mit wachsender Begeisterung hinterherlief und wieder zu ihnen zurückbrachte. Vincent hatte keine Ahnung, was man zu zweit unternahm, also überließ er die Entscheidungen Jannes, der vorgeschlagen hatte ein paar Körbe zu werfen, was bei genauerer Betrachtung vielleicht doch nicht so eine gute Idee war. Vincent war nämlich nicht nur eine Niete in Mädchensportarten, wie Badminton, sondern eigentlich auch in allen anderen existierenden Sportarten, einschließlich Basketball. Jannes warf ihm den Ball zu, den er prompt fallen ließ bei dem einfachen Versuch ihn zu fangen. Jannes lachte, aus irgendeinem Grund hatte Vincent aber noch immer nicht das Gefühl ausgelacht zu werden, wie es bei jedem seiner anderen Mitschüler der Fall gewesen wäre. Er hob den Ball auf und warf ihn Richtung Korb. „Ballsportarten sind nicht so deins, oder?“ Jannes lief dem davon gesprungenen Ball hinterher. Vincent ließ sich seufzend auf den Rasen neben der Hofeinfahrt fallen. Sofort war Cherry bei ihm und meinte die Chance nutzen zu müssen sein Gesicht mit ihrer Schnauze zu attackieren. Jannes dribbelte zurück, man merkte seinen Bewegungen an, dass er oft Basketball spielte, es war als wäre es eine Einheit. Ball und Körper, ohne, dass er auch nur einen Blick auf den Ball warf, der zuverlässig immer wieder zu seiner Hand zurückkehrte. Jannes hielt einige Meter vom Korb entfernt an, warf den Ball, der am oberen Rand des Korbes abprallte. Mit einem resignierten Seufzen fing er den Ball wieder auf, der zu ihm zurücksprang. „Siehst du, das ist der Grund, warum wir immer verlieren.“ „Du musst in einem anderen Winkel werfen.“ Der Satz war heraus, bevor Vincent darüber nachdachte. Jannes sah zu ihm rüber. „Wie?“ „Nimm’ die rechte Hand etwas höher und etwas weiter nach hinten.“ Jannes versuchte seine Haltung beim nächsten Wurf so zu verändern, wie Vincent ihm geraten hatte. Würde er jetzt genauso viel Kraft verwenden, wie beim Wurf zuvor sollte der Ball treffen. Jannes warf, der Ball fiel in den Korb ohne auch nur den Rand zu berühren. „Wow!“ Er lief dem Ball nach. „War wahrscheinlich nur ein Zufall.“ Es war unwahrscheinlich, dass er selbst unfähig war, den Ball auch nur in die Nähe des Korbes zu bringen, aber jemand anderes dazu bringen konnte zu treffen, zumal nur wenige Faktoren von ihm beeinflusst werden konnten. „Das glaube ich nicht, versuchen wir es noch mal.“ Jannes stellte sich auf eine andere Stelle des Hofes, andere Richtung, andere Entfernung und ließ sich wieder von Vincents Instruktionen leiten, wieder traf er. Auch der nächste Ball traf sein Ziel oder der danach. Jannes ließ sich strahlend neben Vincent ins Gras fallen. „Das ist ja krass! Du solltest die strategische Leitung unseres Teams übernehmen oder so. Echt Wahnsinn, wie machst du das?“ Vincent zuckte unsicher mit den Schultern, er konnte nicht mal sagen, ob es bei einer anderen Person genauso funktionieren würde. „Ich glaub, ich werd dich jetzt öfter dazu überzeugen müssen mit mir zu üben.“ Jannes lächelte ihn an und Vincent wusste nicht, was es war, aber es fühlte sich gut an. Vielleicht war das der Grund, warum Menschen glücklicher waren, wenn sie Freunde hatten. ~~ooOoo~~ Vincent hatte es nicht bemerkt. Sie hatten gerade Mathe gehabt und es schellte zur Pause. Irgendjemand musste es auf seinen Tisch gelegt, ein zusammengefaltetes Stück Papier. „Hey Vince!“ Jannes ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen. „Dir ist da was runter gefallen.“ Er hob den zusammengefalteten Zettel auf und reichte ihn Vincent rüber. Vielleicht hätte er es ahnen können, aber Vincent nahm den Zettel entgegen und faltete ihn auf. ‚Alle hier hassen dich, warum springst du nicht einfach von der nächsten Brücke? Damit wär’ allen geholfen.’ Vincent starrte die Buchstaben an, die in einer Schrift geschrieben waren, die ihm nicht mal bekannt vorkam. Wohl einen Moment zu lang, denn er hatte nicht bemerkt, dass Jannes ebenfalls einen Blick auf den Zettel geworfen hatte. Der stieß einen erschrockenen Laut aus. Er hätte besser aufpassen sollen, er knüllte den Zettel zusammen und warf ihn weg, während er Jannes’ Blick auf sich fühlte. „Das ist ganz schön mies, willst du das nicht dem Lehrer geben?“ Jannes’ Stimme war unsicher, so als wisse er nicht, was er sagen sollte. Vincent schüttelte den Kopf. „Das passiert schon mal.“ Selten auf diesem direkten Weg in der Schule, aber diese Art von Nachrichten waren nicht neu für Vincent. Er schenkte aus diesem Grund Nachrichten, die ihn auf der SchülerVZ-Seite erreichten keinerlei Beachtung, manchmal erreichten ihn auch SMS mit unbekannten Absender und ähnlichem Inhalt, deshalb lag das Handy in einer Schublade in Vincents Zimmer. Woher die Personen seine Handynummer hatten, war ihm bis heute schleierhaft. Jannes sah ihn betroffen an und genau das wollte Vincent nicht, Mitleid, wie Emily es mit ihm hatte. Er sah weg, hätte sich Jannes’ Blick nicht weiter stellen können und doch fühlte er ihn noch immer auf sich ruhen. „Du solltest nicht so viel mit mir reden in der Schule, du wirst deine Freunde verlieren.“ Es folgte eine Stille und fast dachte Vincent, dass er bereits wieder allein war, dass Jannes seinen Rat befolgte und fort gegangen war. Aber als Vincent den Kopf hob, saß Jannes noch immer neben ihn und starrte ihn an, so, dass es Vincent unangenehm auf der Haut spürte. In seinem Gesichtsausdruck lag eine Mischung aus Unglauben und Wut, das war es zumindest, was Vincent entziffern konnte. Es verwirrte ihn und kurz fragte er sich, ob er Jannes je verstehen können würde, selbst wenn er es versuchte. „Ich such mir immer noch selbst aus, wer mein Freund ist oder nicht“, erwiderte Jannes in einem ernsten Tonfall, der Vincent vollkommen unbekannt war. Dann aber kehrte das Lächeln in Jannes’ Gesicht zurück. „Lass uns heut Nachmittag was zusammen machen, vielleicht kannst du meine Wurftechnik noch etwas verbessern.“ ~~ooOoo~~ Vincent blieb es ein Rätsel. Auf gewisse Weise schien es zu funktionieren, Jannes baute eine Freundschaft zu ihm auf, die zu den anderen Schülern schien trotzdem erhalten zu bleiben. Jannes verbarg es nicht mal, er sprach fast jeden Tag mit Vincent in der Schule, wo es jeder ihrer Mitschüler mitbekam, es wurde einfach akzeptiert. Der Kontakt, den sie zueinander hatten, schien sich im Laufe der Zeit noch zu verstärken, nicht nur in der Schule. Vincent zog einen Strich mit dem Lineal, es hatte sich mühelos in seinen Tagesablauf eingebettet, dass er die Hausaufgaben jetzt meist zusammen mit Jannes erledigte. Der kopierte Vincents gerade gezogenen Strich in sein Heft, jedoch ohne die Hilfe eines Lineals, wodurch die Linie lauter kleine Dellen und Ausbuchtungen erhielt. „Will ich Elektriker werden oder warum muss ich mir dieses Stromkreisgedöns antun?“ Jannes seufzte genervt. Vincent hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Jannes den Sinn jeder ihrer Aufgaben hinterfragte, umso mehr, wenn er die Aufgabe selbst nicht verstand, Schwierigkeiten mit dem Stoff hatte, oder es ihn schlicht und einfach langweilte. „Stromkreise sind die Grundlage jedes technischen Gerätes, du kannst scheinbar toten Gegenständen eine gewisse Art von Lebendigkeit geben.“ Vincent hatte sich daran gewöhnt, an die Fragen und wie er sie am besten beantwortete, wenn Jannes etwas nicht verstand. Der lachte kurz auf. „Du solltest Philosoph werden. Du schaffst es in jeder noch so blöden Aufgabe einen geradezu essentiellen Sinn zu sehen.“ Mit der Zeit hatte sich Vincents Nervosität, die er normalerweise im Umgang mit anderen Menschen aufwies, gelegt, solange er sich in Jannes’ Nähe aufhielt. Es war einem Gefühl der Sicherheit gewichen, Jannes wollte ihm nicht schaden, suchte keinen direkten Nutzen, wollte anscheinend wirklich nur Zeit mit ihm verbringen. Vincent fragte sich manchmal, ob er einfach begonnen hatte, Jannes zu vertrauen. Es war ein bisschen so, als ob seine Welt expandiert wäre. Sie hatte bisher nur Vincent und seine Mutter enthalten, jetzt gehörte auch Jannes dazu, war ein Teil von ihr und wog doch mehr, als nur eine hinzugekommene Person, mehr als ein Drittel von Vincents Welt. Im Flur vor Jannes’ Zimmer wurde es lauter und plötzlich schwang die Tür auf. „Hey Kleiner!“ Vincent kannte den Jungen, den er irgendwo zwischen 18 und 20 Jahren einschätzte und der plötzlich ins Zimmer geplatzt war, nicht. „Was machst du denn hier?“ Jannes’ Stimme hatte einen gereizten Unterton, den Vincent bisher selten von ihm gehört hatte. „Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich besuche meine Familie.“ „Oder nutzt die Gelegenheit unseren Kühlschrank auszuräumen und deinen zu füllen.“ Jannes’ Gegenüber zuckte lässig mit den Schultern. „Oder so.“ Dann deutete er auf Vincent. „Hast du dir endlich clevere Freunde gesucht? Ich bezweifele ja, dass das jetzt noch abfärben könnte, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, ne?“ „Vincent, das ist mein Bruder, Björn.“ Jannes klang schon beinahe widerwillig, als er sie kurz miteinander bekannt machte. Wenn man wusste, dass sie Brüder waren, konnte man eine wage Ähnlichkeit erkennen. Björn war größer, ihm fehlten die Sommersprossen und die Haare waren kürzer. Vincent stellte eine gewisse Antipathie gegen Björn fest, seine selbstsichere Art erinnerte ihn an Tobias. „Hi.“ Aber Björn wirkte so, als wäre er mit den Gedanken schon wieder fort, während Vincent nur kurz nickte. „Ich drück dir die Daumen, dass es noch was hilft.“ Er schlug Jannes auf die Schulter und war in der nächsten Minute bereits wieder aus dem Raum. Jannes’ Hand schraubte sich so fest um seinen Stift, dass die Knöchel weiß hervortraten. ~~ooOoo~~ Vincent schrak auf, vor seinen Augen lag der schwarze Bildschirm mit unzähligen von Buchstaben, ein weißes blinkendes Kästchen am Ende der letzten Zeile, in der er gerade einen neuen Code eingegeben hatte. Er brauchte einige Sekunden bis er realisierte, dass es die Türschelle gewesen war, die ihn aufgeschreckt hatte. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, halb zehn abends, niemand klingelte um diese Zeit bei ihnen. Er machte sich auf den Weg zur Tür, ein kurzer Blick ins Wohnzimmer zeigte ihm ein Bild seiner Mutter, die sich verwirrt umblickte, da sie bestenfalls aus dem Schlaf aufgeschreckt war, vielleicht aber auch so viele Tabletten genommen hatte, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war. Er öffnete die Tür. Jannes. „Hi.“ Er schaute Vincent einige Sekunden unsicher an. „Ich hätte wohl besser nicht kommen sollen, was?“ Mit jedem Wort wurde seine Stimme leiser und die Unsicherheit, die daraus sprach, ließ Vincent endlich aus seiner Starre erwachen, er schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon okay.“ Nein, eigentlich war es nicht okay. Vincent hatte Angst. Er kannte Jannes’ Familie, sie war perfekt und er hatte Angst, wenn er sah, was von Vincents Familie übrig war, wenn er sah, wie krank seine Mutter war, würde er fortgehen, würde er erkennen, wie unnormal Vincent war. Vincent holte tief Luft und ging trotz allem ein Schritt zur Seite, um Jannes hereinzulassen. „Es tut mir Leid, wenn ich ungelegen komme.“ Jannes sah ihn entschuldigend an. „Es ist okay“, wiederholte er seine Worte, ging vor, Unbehagen sammelte sich in seiner Magengegend. „Vincent?“ Er hätte die Wohnzimmertür schließen sollen, er hatte es nicht. Resigniert machte er einen Schritt hinein. „Ja, ich bin hier, Mum.“ Er konnte Jannes’ Anwesenheit und seinen Puls rasen fühlen. „Ist irgendwas gewesen?“ Seine Mutter versuchte, ihn mit den Augen zu fokussieren. „Nein, nur ein Freund, der mich besuchen kommt.“ Ein Lächeln glitt über ihre Lippen. „Tobias?“ „Ja.“ „Schön, habt viel Spaß.“ Er nickte und verließ den Raum, konnte spüren, wie Jannes ihm folgte und atmete erleichtert auf, als sie sein Zimmer erreichten. Erst jetzt traute er sich Jannes anzusehen. Der biss sich etwas nervös auf die Unterlippe. „Ich hätte wirklich nicht kommen sollen, oder?“ Einen Moment herrschte Stille, wenn Jannes jetzt gehen wollen würde, konnte Vincent es verstehen, zum Teil zumindest. „Was ist mit ihr?“ „Nichts“, sagte Vincent automatisch. „Nur… nichts.“ Jannes nickte und Vincent war froh, dass er nicht weiter nachfragte. Er ließ seinen Blick durch den Raum gleiten und das Lächeln kehrte zurück, wenngleich nicht so präsent, wie es sonst der Fall war. „Ich weiß so gut, wie nichts von dir.“ Sein Blick blieb an einem der Regale hängen. „Was ist das?“ Er machte zwei Schritte darauf zu, schien sich aber nicht zu trauen, die kleinen Maschinen zu berühren. „Roboter.“ „Roboter? Sie sehen nicht so aus.“ Vincent nahm einen der Roboter aus dem Regal, stellte den kleinen Schalter auf der Unterseite auf „on“ und stellte den Apparat auf den Boden. Er begann durch die Gegend zu fahren und scannte die Umgebung mit den Sensoren. „Wow! Die sind ja lustig, was können sie?“ „Verschieden, Ball spielen, Sachen transportieren, klettern. Bisher nur Kleinigkeiten.“ Jannes schien trotzdem fasziniert, als Vincent einen weiteren anschaltete und auf dem Boden absetzte. „Woher hast du die? Ich hab so was noch nie gesehen.“ Vincent zuckte mit den Schultern, auf gewisse Weise war es seltsam, so viel von sich zu erzählen. Er hatte nicht gedacht, dass Jannes es wirklich interessieren würde, aber es störte ihn nicht mal. „Ich hab sie selbst gebaut. Jannes sah erstaunt zu ihm rüber. „Wow! So was kannst du? Is’ ja Wahnsinn!“ Seine Augen strahlten, fast ein wenig so, wie wenn er von Basketballturnieren sprach. Vincent konnte nicht anders, als seinen Blick zu erwidern, in das tiefe grün von Jannes’ Augen und es schien ihm fast so, als würde das Strahlen noch intensiver. „Das solltest du öfter machen…“ Vincent deutete neben den Schreibtisch, wo der Haufen Bauteile lag, den er für den nächsten Roboter gesammelt hatte. „Ich arbeite bereits an dem nächsten.“ Jannes hatte nicht in die Richtung geblickt, in die Vincent gedeutet hatte, hielt noch immer den Augenkontakt aufrecht und schüttelte nur den Kopf. „Das mein’ ich nicht, du hast gelächelt, es war das erste Mal, dass ich das gesehen hab, es steht dir.“ Vincent wusste nicht, was er antworten sollte, er spürte ein Kribbeln unter seiner Haut und wandte jetzt doch den Blick ab. „Der ist süß.“ Jannes nahm einen weiteren der Roboter aus dem Regal, als wäre es ein kostbarer, zerbrechlicher Gegenstand. „Was kann er?“ „Treppensteigen.“ Vincent war noch gefangen von dem Moment und nickte nur, als Jannes etwas unsicher fragte, ob er ihn sich leihen könne. Es kehrte einen Moment Stille ein, während man nur das Klicken der Roboter hörte, Jannes betrachtete noch immer den, den er in der Hand hielt und noch immer so vorsichtig, als ob er Angst hätte ihn zu zerbrechen. „Weshalb bist du hergekommen?“ Die Frage hatte im Raum gehangen, deshalb musste Vincent sie stellen. Jannes seufzte, stellte den kleinen Roboter ab und ließ sich auf einen der zwei Stühle fallen, die in Vincents Zimmer waren. „Ich hatte Streit mit meinen Eltern.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das Übliche. Du hast doch letztens meinen Bruder kennen gelernt?“ Vincent nickte. „Er ist Hochleistungssportler, Leichtathletik, und studiert, hat mit 19 seine eigene Wohnung, er hat die Meßlatte ziemlich hoch gelegt, weißt du?“ Er gab ein Lachen von sich, was nicht klang, als würde er etwas lustig finden. „Sie geben mir ständig das Gefühl zu schlecht zu sein, vor allem, wenn Björn da ist.“ In Vincent fühlte sich das Gefühl der Abneigung, was er gegenüber Björn von Anfang an gehegt hatte, bestätigt. „Ich dachte… ich könnte heut’ Nacht hier bleiben, vielleicht.“ Die Unsicherheit in Jannes’ Stimme war zurückgekehrt. Vincent nickte. Erst einen Moment später fiel sein Blick auf sein Bett, was nicht für zwei Personen gedacht war. „Ich hab nur das Bett.“ Jannes sah gar nicht hin. „Das ist okay für mich, wenn es das für dich ist.“ „Ja, ich denke schon.“ Jannes wirkte dankbar, sein Lächeln kehrte zurück und Vincent fühlte, wie es seine Stimmung hob, dass er Jannes einen Gefallen tun konnte. Es schien beinahe so, als wäre Jannes seine eigene Sonne, die jetzt auch für Vincent schien, als hätte er einen Ball aus Energie und Wärme in sich, deren Strahlen Vincents Haut wärmte und bis in sein Innerstes vordrang. Und Vincent hatte das Gefühl nicht mehr ohne existieren zu können. Er bemerkte, dass er jeder von Jannes’ Bewegungen folgte. Jannes hatte fast jeden Zentimeter von Vincents Zimmer mehr oder minder unter die Lupe genommen, bis er sich neben Vincent auf das Bett gesetzt hatte. „Sag mal, Vince…“ Jannes kratzte sich am Hinterkopf. „hast du eigentlich an einem der Mädchen in der Klasse Interesse?“ Vincent legte seine Stirn in Falten, sie hatten fast noch nie über die anderen Schüler oder Schülerinnen der Klasse geredet. Dann zuckte er mit den Schultern. Er hatte sich auch noch nie Gedanken über dieses Thema gemacht, einfach, weil die meisten Mädchen ihn ignorierten. „Nein, aber es würde auch keine mit mir befreundet sein wollen.“ Jannes’ Blick lag forschend auf ihm. „Was ist mit Emily, sie scheint dich zu mögen.“ „Nein, sie hat Mitleid, das ist alles.“ Jannes gab ihm nicht Recht, sagte aber auch nichts Gegenteiliges. Villeicht war das alles keine gute Idee, Jannes hier, in einem Teil von Vincents Leben, den sonst niemand betrat. Es war ungewohnt, das Bett zu klein. Vincent lag am äußersten Rand, jeden seiner Muskeln angespannt. Einen Zentimeter weiter und er würde herunterfallen und trotzdem spürte er Jannes’ Wärme, seine Atmung oder wenn er sich bewegte. Einen Zentimeter in die andere Richtung und sie würden sich unweigerlich berühren. Das Licht war aus und Vincent hatte die Augen geschlossen, konnte den Körper neben sich deutlich spüren und seinen eigenen Herzschlag, der schneller schlug, als er es sollte. Er schlug die Augen wieder auf, wenn man sah war der Tastsinn weniger intensiv. Und trotzdem war Jannes’ Präsenz neben ihm überwältigend. „Es ist okay, Vince.“ Jannes hatte leise gesprochen und trotzdem war Vincent erschrocken zusammengezuckt, hatte gedacht, Jannes würde bereits schlafen. „Entspann dich, es ist okay“, wiederholte er seine Worte und Vincent spürte eine Bewegung, spürte die tastenden Finger Jannes’, die seinen Arm herabfuhren, bis sie sein Handgelenk erreichten. Mit sachtem Druck fasste er es und zog Vincent ein Stück zu sich rüber. Vincents Herz legte noch an Geschwindigkeit zu, er spürte warme Haut an seiner eigen und Jannes’ Atem sein Gesicht streifen, konnte ihn beinahe riechen, wie Sonne und draußen und Jannes. Im Licht, was durch die Straßenlaterne, die vor dem Haus stand, ins Zimmer flutete konnte Vincent sehen, dass Jannes ihn anblickte. Seine Hand hatte er nicht zurückgezogen, strich über Vincents Oberarm, es kitzelte, nicht unangenehm, nur viele kleine Schauer, die Vincents Haut entlang krochen. Jannes lehnte sich vor, schloss die wenigen Zentimeter, die sie voneinander trennten und platzierte seine Lippen auf diejenigen von Vincent. Warm und weich war die Berührung, Vincents erster Kuss, vorsichtig tastend und nur Sekunden dauernd. „War das okay?“ Jannes blickte ihm direkt in die Augen, seine Hand lag jetzt still auf Vincents Seite, sein Ausdruck fragend. Alles was Vincent zustande brachte war ein Nicken und Jannes’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Gut.“ Er beugte sich wieder vor bis ihre Lippen sich trafen, diesmal war der Kuss länger, intensiver und Vincent fand irgendwo den Mut ihn zu erwidern, drückte seine Lippen gegen die von Jannes’, spürte seinen warmen Atem, als der seinen Mund öffnete, mit seiner Zungenspitze über Vincents Unterlippe strich. Vincent ließ zu, dass der Kuss sich vertiefte, ihre Zungen sich trafen und er Jannes schmecken konnte. Ein Geschmack, der neu und aufregend war. Jannes’ Hand schlüpfte unter Vincents Shirt, streichelte die Haut seines Bauches, wo die Schauer stärker waren, seine Muskeln sich dennoch nach kurzer Zeit entspannten. Vincent mochte die Berührungen, es fühlte sich richtig an. Er rückte noch etwas näher zu Jannes herüber, der seinen Arm um Vincents Taille schlang. ~~ooOoo~~ Vincent sah in den Spiegel. Betrachtete sich selbst. Er sah zweifelsohne aus, wie man sich einen Streber vorstellte. Schwarze halblange Haare, die er nur so trug, weil er keine Lust hatte ständig zum Friseur zu gehen. Helle, fast weiße Haut, wahrscheinlich aufgrund der fehlenden Sonneneinstrahlung, der er seinen Körper viel zu selten aussetzte. Zu dünn war er ebenfalls, so, dass sein Schlüsselbein etwas zu viel herausstach. Und die obligatorische Brille. Die Nacht, die Jannes bei Vincent verbracht hatte, war ein paar Tage her und noch immer verwirrte es Vincent. Noch nie wusste er so wenig, was das Verhalten eines anderen bedeutete. Jannes behandelte ihn seitdem wie immer, er hatte ihn weder geküsst noch sonst außergewöhnlich berührt. Vielleicht war es nur ein kleines Experiment gewesen. Vincents Inneres selbst glich einem Chaos, unstrukturiert konnte er Gefühle erkennen, die ihm trotz allem fremd wirkten. Nicht ihm zugehörig. Da war Sehnsucht, er wollte es wiederholen. Und da war Angst, das Gefühl, dass ihm von allen am vertrautesten war. Vielleicht würde ihn Jannes zurückweisen, wenn er es von sich aus versuchte, wahrscheinlich würde er das, denn er konnte kein ernsthaftes Interesse an Vincent haben. Und diese Erkenntnis, die Vincent wahrscheinlich schon länger hatte, jedoch nicht in sein Bewusstsein vordringen ließ, schmerzte ihn. Und trotzdem war es okay, Jannes war sein Freund, der erste, den er jemals hatte, er konnte ihn nicht verlieren, durfte es nicht. Er wandte sich von seinem Spiegelbild ab und verließ die Schülertoilette. Er würde die Lösung finden. Vincent schlug die Richtung zum Klassenzimmer ein, wenn es schellte würden sie dort Mathe haben. Abrupt blieb er stehen. „Was soll das sein?“ Unverkennbar Tobias Stimme, wie immer eine Spur zu selbstsicher, zu eingenommen von sich selbst. Vincent würde sich nicht in die Höhle des Löwen begeben. Er konnte draußen warten, wandte sich um. „Ein Roboter.“ Vincent erstarrte in seiner Bewegung. Jannes. „Du solltest etwas Persönliches mitbringen, einen Beweis, keinen Haufen Schrott, den kannst du überall her haben.“ Vincent hörte das Geräusch von metallenen Teilen, die zerbrachen und in vielen kleinen Teilen auseinander sprangen. „Es ist etwas Persönliches, der ist selbstgebaut.“ Jannes’ Stimme war leiser jetzt, schwerer zu verstehen. In Vincent sammelte sich ein Gefühl der Angst. „Die Wette lautete, dass du einen persönlichen Gegenstand mitbringst, der beweist, dass du dort gewesen bist. Nen Foto oder so, besorg was anderes, dann bekommst du das Geld.“ Es fühlte sich an, als würde etwas zerbrechen, so wie der kleine Roboter, der Treppen steigen konnte, einen Moment vorher auf dem Fußboden zerschellt war. Eine Wette mehr nicht, mehr war es nicht gewesen, deshalb hatte Jannes begonnen, mit ihm zu sprechen, nachdem sie vorher, während vier Jahren, kaum ein Wort miteinander gewechselt hatten. Ursache und Wirkung. Vincent stieß sich von der Wand ab, an die er sich irgendwann gelehnt hatte. Ging fort. Er hatte nie Freunde gehabt, hatte Jannes’ Verhalten nicht verstanden, jetzt verstand er es. Wie eine einfache Gleichung, er hätte einfach nur die Hinweise wie die Komponenten einer Formel zusammenzählen müssen. Kapitel 2: Epilog -1- --------------------- Epilog Jannes runzelte die Stirn, als er seine Tasche nahm, aufsah und Vince’ Platz bereits leer war. Das war untypisch für ihn, irgendwann hatte Jannes festgestellt, dass fast jeder Handgriff in Vince’ Leben fest geplant war, alles in einer festen Reihenfolge ablief und wenn man diese störte, dann schien es, als würde für Vince alles ins Chaos stürzen. Jannes schnappte sich seine Tasche und beeilte sich, drängelte sich an den anderen vorbei und verabschiedete sich nur mit einem kurzen Wink von seinen Freunden. Vielleicht würde er Vince noch einholen, er hoffte es so. Es war schon seltsam, vor ein paar Wochen hatte er Vincent nicht mal richtig gekannt, jetzt wollte er wenn möglich jede freie Minute mit ihm verbringen. Und das aufgrund einer ziemlich dämlichen Wette, in gewisser Weise musste er Tobias ja dankbar sein, der Jannes die Wette unterbreitet hatte, wahrscheinlich mit dem Gedanken, dass es von Vorteil wäre jemanden zu haben, dem Vince vertraute, wahrscheinlich um ihn schwerer treffen zu können. Es war Jannes egal, er würde dafür sorgen, dass es nicht passierte. Ursprünglich war ihm das alles egal gewesen, Vince war ihm egal gewesen. Er war einer dieser seltsamern Jungen, der kaum mit anderen sprach, immer wirkte, als würde er sich in einer unsichtbaren Seifenblase befinden, selbst wenn sich die anderen über ihn lustig machten, drang das nicht wirklich durch die Barriere. Und genau das war es, hatte Jannes festgestellt, eine Barriere, mit der er sich fernhielt von den anderen. Jannes hatte gedacht, er würde niemals zu Vince durchdringen können und dann war er überrascht, wie schnell es ging, wie schnell Vince ihm Vertrauen geschenkt hatte, wie sehr er es sich gewünscht hatte, jemanden vertrauen zu können. Vince sprach auch dann nur das Nötigste, aber etwas hatte sich verändert, man konnte soviel in seinen Augen lesen. Jannes fragte sich manchmal, ob Vince sich bewusst war, wie er dann aussah, wie atemberaubend. Vor allem, wenn er etwas erblickte, was sein Interesse weckte, dessen Existenz er anscheinend bis ins Kleinste hinterfragte und ergründen wollte. Und irgendwann hatte Vince angefangen Jannes so anzublicken und jedes Mal, wenn er es getan hatte war Jannes ein Schauer den Rücken hinab gelaufen. Jannes hatte sich fast bis zum Ausgang durch die Schülermenge gewühlt, als er Vince entdeckte. Er sprintete die letzten paar Schritte bis er ihn eingeholt hatte und ihm freundschaftlich auf die Schulter schlug. „Hey Vince, hattest du es eilig heut oder warum bist du gleich weg?“ Vincent antwortete nicht sofort, sie gingen ein paar Meter weiter und Jannes runzelte die Stirn. Dann blieb er abrupt stehen, so, dass Jannes beinahe weitergelaufen wäre. Vince blickte auf, ihn an und Jannes stieß gegen die Barriere, von der er beinahe nicht mehr gewusst hatte, wie sie aussah. Etwas stimmte nicht in der Art, wie Vince ihn anblickte. Jannes fragte sich, ob die anderen heute irgendetwas gesagt oder getan hatten, was eine solche Reaktion hervorgerufen haben könnte. Und er fragte sich, ob es klug wäre, Vince darauf anzusprechen, doch der kam ihm zuvor. „Ich werde dir etwas mitbringen, etwas Persönliches.“ Er machte eine Pause und in Jannes’ Kopf begannen die Gedanken zu rotieren, ‚etwas Persönliches’, genau diese Worte hatte er an diesem Tag schon einmal gehört… von Tobias. „Etwas, was ein Beweis ist, damit du die Wette gewinnst. Ich hab’ es gehört heute, du brauchst mir nichts mehr vorspielen.“ Jannes erstarrte. Er wollte etwas sagen, dass die Wette keine Bedeutung mehr hatte, dass ihm das Geld völlig egal war, dass ihm egal war, was Tobias sagte. Er brachte nichts heraus, denn in diesem Moment bröckelte Vince’ Barriere, ließ einen kurzen Blick zu. Und Jannes wusste, dass er so leicht nicht wieder zu ihm durchdringen würde können, wahrscheinlich nie wieder. Denn er hatte etwas kaputt gemacht, etwas Zerbrechliches. Vince sah ihn noch einen Moment an und ging fort. Kapitel 3: Epilog -2- --------------------- Anmerkung: Eigentlich sollte die Story nach dem ersten Epilog nicht weitergehen, ich habe aber gedacht, dass es ein sehr hartes Ende war, gerade zu Weihnachten. Deshalb habe ich den zweiten Epilog angefertigt. Hat euch aber das erste Ende gefallen, dann lest lieber nicht weiter, ich weise euch nur darauf hin, dieser Epilog ist sehr zwiespältig angenommen worden. 3 Wochen später Vincent schraubte das kleine metallene Teil an. Ein Platz in seinem Regal war frei geworden. Einen Roboter, der Treppen steigen konnte, hatte er nicht wieder gebaut, dafür würde dieser hier Bälle werfen können, den exakten Winkel würde man einstellen können, ebenso die Kraft, die hinter dem Wurf liegen würde. Keine nicht einschätzbaren Variablen, alles war berechenbar und der Ball würde mit dem richtigen Winkel und der richtigen Kraft genau die Entfernung zurücklegen, die man vorhergesehen hatte. Er platzierte eine Tasse in genau 1,25 m Entfernung, stellte den errechneten Winkel und die Kraft am Roboter ein, bevor er den Tischtennisball in die Vorrichtung legte. Er drückte den kleinen Knopf, der den Roboter aktivierte. Der Ball flog über die Tasse hinaus, traf die Schreibtischplatte und sprang dann vom Tisch. Vincent hatte einen Fehler gemacht. Er würde die errechneten Werte noch mal überprüfen müssen, vielleicht auch seine Formel, vielleicht auch die Einstellungsmöglichkeiten des Roboters. Viele Faktoren konnten zu einer Fehleinschätzung führen. Es schellte an der Tür, Vincent schrak von seinen Gedanken auf. Bei ihnen schellte niemand, nicht um diese Uhrzeit. Er ließ die Tür zum Wohnzimmer geschlossen, öffnete diesmal nur die Wohnungstür. Jannes. Sie hatten drei Wochen kein Wort miteinander gesprochen, so wie vier Jahre zuvor. Wie es immer gewesen war und so wie es richtig gewesen war, bis es die Wette gegeben hatte und dann hatte sich das Schweigen nicht mehr richtig angefühlt. Jannes lächelte ihn unsicher an. „Komm ich ungelegen?“ Vincent schüttelte den Kopf, Jannes ging an ihm vorbei, betrat den Flur und Vincent war unsicher. In diesem Bereich hatte er Jannes schon mal gelassen und letztendlich hatte es ihn geschmerzt. Jannes trug eine Tasche bei sich, in der er jetzt etwas suchte. Nach kurzer Zeit holte er etwas hervor, einen Roboter, der dem, der Treppen stieg ähnlich sah, vielleicht war er es auch, Vincent erkannte Teile, die er eingebaut hatte. Jannes kratzte sich am Kopf. „Ich hab versucht ihn zu reparieren, aber ich bin da wohl doch zu blöd für. Er funktioniert nicht richtig.“ Jannes’ Blick hob sich von der kleinen Maschine, legte sich hilfesuchend auf Vincent. Einen Moment zögerte er, wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, wie er die Situation einschätzen sollte. Warum war Jannes hier? Er sollte die Wette gewonnen haben. Doch dann streckte er dennoch den Arm aus, nahm den Roboter in die Hand, es fehlten trotz allem Teile, manche waren nicht richtig montiert, zumindest nicht so, wie Vincent sie montiert hatte. Jannes lächelte ihn an und irgendetwas in Vincent wollte es spüren, seine Nähe, seine Wärme. Wieder suchte Jannes etwas in der Tasche. „Ich hab noch etwas.“ Es stellte sich als Buch heraus. Vincent nahm es entgegen und erkannte das Cover von „Chaos und seine Ordnung“, nicht aufgequollen, wie sein Exemplar, was er noch immer hatte, das aber unlesbar geworden war, sondern neu. „Ich bin unerwartet zu Geld gekommen.“ Jannes zwinkerte ihm vielsagend zu. „Und du hast da ein bisschen geholfen. Ich dachte du würdest gerne ein Neues haben. Außerdem haben wir noch weitere 40 € zum ausgeben.“ Das Lächeln in Jannes’ Gesicht verstärkte sich. „Es tut mir Leid, Vince, wirklich, diese Ganze Sache mit der Wette, ich wollte dich nicht… enttäuschen.“ Vincent biss sich auf die Unterlippe, er wusste nicht, was er sagen sollte, Jannes hatte keinen Grund hier zu sein, wenn nicht, um ihn zu sehen. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht? Vielleicht hatte er etwas falsch verstanden. Er verstand andere Menschen nicht, aber er wollte Jannes verstehen, vielleicht würde er es ihm erklären? Jannes sah ihn noch immer an, schien nicht einmal zu blinzeln. „Können wir es vielleicht noch mal neu versuchen? Ohne irgendwelcher Wetten? Einfach so?“ Vincent machte eine Bewegung zwischen Schulterzucken und Kopfnicken. Wusste es selbst nicht genau, wollte es, spürte die Angst. Aber Jannes gab ihm nicht viel Zeit. „Das reicht mir“, sagte er, machte einen Schritt auf Vincent zu, der in der einen Hand noch immer den Roboter hielt, in der anderen das Buch. Dann beugte Jannes sich vor und seine Lippen legten sich auf die von Vincent, warm und weich, wie Sonne und Draußen und Jannes. Vielleicht hatte Vincent es wirklich falsch verstanden, einen blöden Fehler gemacht, doch er konnte die Rechnung korrigieren, dann würde er auch zum richtigen Ergebnis kommen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)