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Demon Girls & Boys

von

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Alles eine Frage der Zeit

Alles eine Frage der Zeit

 

 

 

Nachdem sie noch eine Weile in dem Büro der Direktoren gesessen und vor sich hin geschwiegen hatten, atmete Laura tief durch und richtete sich auf. „Wäre… Ähm… Ist es okay, wenn ich den Unterricht ausfallen lasse? Ich würde gerne schauen, wie es Carsten geht…“

Herr Bôss warf ihr ein schwaches Lächeln zu und zuckte mit den Schultern. „Wenn du dich krank fühlst, werden wir dich wohl kaum dazu zwingen in den Unterricht zu gehen.“

Es war schon ein bisschen seltsam, ausgerechnet vom Direktor die Erlaubnis zum Schwänzen zu bekommen. Aber andererseits war Laura auch froh darum. Schule war momentan wohl ihre geringste Sorge. So langsam vermisste sie den Stress von der Prüfungsphase. … Dass es mal so weit kommen würde…

Laura verließ das Direktorat und ging durch den gold-farbenen Flur, die Treppe hinunter und aus dem Gebäude raus. Vor dem Jungengebäude angekommen traf sie auf Raven. Die flauschige schwarze Katze saß vor der Tür und schien wohl darauf zu warten, dass man sie endlich rein ließ.

„Na? Ist dir auch kalt?“, fragte Laura. Raven antwortete mit einem Maunzen und ließ sich von Laura hochheben. Selbst als sie die Tür öffnete und die Treppen hoch in das zweite Stockwerk ging, machte die Katze keine Anstalten selbst zu laufen.

Eigentlich war Raven eine Einzelgängerin und kam sehr gut alleine zurecht. Aber in Wahrheit war sie ganz schön verkuschelt. Traurig lächelte Laura und betrachtete das schnurrende Fellknäul in ihren Armen. Von wem hast du diese Eigenschaft wohl?

Inzwischen stand sie vor der Tür zu den Räumen der Schülervertretung. Sie verlagerte Ravens Gewicht, damit sie eine Hand frei hatte um die Klinke herunter zu drücken. Laura war schon länger nicht mehr hier gewesen und schon alleine beim Betreten des Aufenthaltsraumes wurde sie wehmütig.

Laura betrachtete die Fotos auf der gegenüberliegenden Wand und fragte sich leicht amüsiert, wie viele Schulfotografen Benni wohl schon in den Wahnsinn getrieben hatte. Denn er machte sich noch nicht einmal die Mühe seine Foto-Abneigung zu verstecken.

Sie ging zu der Tür links von den Fotos, die wie erwartet nicht verschlossen war. Dennoch war der Raum viel zu dunkel, als dass man jemanden hier vermuten würde.

Traurig musterte Laura die Silhouette, die auf dem Bett lag und schweigend auf irgendwelche Zettel in der Hand starrte.

„Dachte ich mir doch, dass du hier bist.“, meinte sie nur und setzte sich auf die Bettkante.

„Bin ich so durchschaubar?“ Carstens Stimme wirkte zwar nicht mehr so aufgewühlt wie vorhin, aber diese tonlose Resignation gefiel ihr noch weniger.

„Arbeitest du am Zauber?“, fragte sie, mit einem Blick auf die Blätter in seiner Hand.

„Ich versuche es zumindest.“ Seufzend legte er sie zur Seite. „Aber es bringt ja sowieso nichts.“

„Jetzt sag doch sowas nicht.“

Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Ich stecke schon seit Ewigkeiten fest. Die symbolische Magie war nie meine Stärke und genau dieser eine Punkt bereitet auch Konrad Kopfzerbrechen.“

„Welcher?“, erkundigte sich Laura und hoffte, Carsten mit dieser Frage irgendwie zu helfen. Es war ja häufig so, dass man die Erklärung genau dann fand, wenn man sein Problem schilderte. … Zumindest hatte Laura dies sehr häufig bei irgendwelchen Matheaufgaben…

Seufzend richtete sich Carsten auf und reichte Laura einen der Zettel. Trotz des dämmrigen Lichtes hatte sie überhaupt keine Probleme damit, die Zeichen und Muster auf dem Blatt zu erkennen. Eine Fähigkeit, die sie ihrer erst kürzlich erhaltenen Dämonenform zu verdanken hatte.

Sie betrachtete die Zeichen in der oberen Hälfte des Blattes. Runen, Kreuze, Pentagramme und alles andere, was irgendwie eine magische Bedeutung zu haben schien. Daneben waren ein Haufen Notizen zu den Elementen, deren Bedeutung und so weiter. In der unteren Hälfte waren vier nach außen immer größer werdende Kreise aufgezeichnet, wo auf bestimmten Positionen Abkürzungen eingetragen waren.

Jedoch fiel es extrem schwer sich einen Reim aus all dem zu machen, wenn man nicht die Person war, die dieses Blatt beschrieben hatte. Denn es war das reinste Chaos.

Ein Teil war durchgestrichen, korrigiert und wieder durchgestrichen und zum Teil war es Laura noch nicht einmal möglich, die Schrift zu entziffern.

Der Großteil dieses Durcheinanders war mit einem schwarzen Stift geschrieben. Jedoch gab es auch Stellen, wo in blau und deutlich lesbarer Handschrift jemand anderes Punkte hinzugefügt oder verbessert hatte.

Leicht amüsiert warf Laura Carsten einen Blick zu. „Ich kannte bisher immer nur deine ordentliche Handschrift, aber du schaffst es wohl doch, das Arzt-Klischee zu erfüllen.“

Ihr bester Freund zuckte mit den Schultern. „Die Notizen waren auch nicht dazu gedacht, dass sie jemand anderes als ich verwenden würde.“

Laura kicherte. „Du musst Konrad in den Wahnsinn getrieben haben, als er sich deine Sachen zum Überarbeiten angeschaut hat.“

Leider half ihr Kommentar nicht wirklich dabei, Carstens Stimmung zu erhellen. Sie atmete bedrückt aus und rückte näher an ihn heran, damit sie gemeinsam auf den Zettel schauen konnten. „Erklär mir, was da steht. Ich kann kein Wort entziffern.“

Sie merkte, wie Carsten sich innerlich zu sträuben schien, ihren Hilfeversuch anzunehmen. Also versuchte Laura noch etwas mehr nachzuhaken. Sie tippte auf die Abkürzung, die ganz oben auf dem äußersten Kreis stand. „Was ist GT?“

Nun gab sich Carsten doch geschlagen. „Gelbe Tarantel.“

„Also ist das die Anordnung der Dämonenbesitzer?“

Er nickte. „Es entspricht der Rangfolge der Dämonen. Je weiter innen, desto höher der Rang und desto mehr kommt die Kraft des Dämons der eines Gottesdämons gleich. Ganz außen sind die Lebenskräfte, davor die abgewandelten Naturelemente, die Naturelemente und schließlich die Ursprungskräfte. Die Anordnung im Kreis selbst ergibt sich zum Teil aus den Himmelsrichtungen.“

Laura ging ein Licht auf. „Ah, so wie die Elemente einer Himmelsrichtung zugeordnet sind. GA im zweiten Kreis von innen ist also Grauer Adler. Also muss Eagle dann im Osten stehen. Öznur im Süden, Lissi im Westen und- …im Norden…“

„… Jack. Genau.“

Laura seufzte. Wenn er überhaupt mit ihnen kooperieren würde…

Sie warf einen prüfenden Blick auf Carsten und beobachtete, wie dieser wiederum das Blatt betrachtete. „Denkst du… Jack wird uns helfen?“, fragte sie verunsichert.

„Er ist von allen das geringste Problem.“, antwortete Carsten und klang so überzeugt, dass Laura ihren irritierten Blick unmöglich verbergen konnte.

Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen, als er ihre Verwirrung bemerkte. „Von dem was ich so mitbekommen habe, scheinen er und Benni sich irgendwie angefreundet zu haben.“

Raven gab zwar ein bestätigendes Maunzen von sich, aber Laura war umso verwirrter. „Wirklich? Trotz allem, was er getan hat? Mit… Chief? Und bei dir damals?! Und… und Herr Weihe?“

Traurig senkte Laura den Blick, als sie sich an Bennis Großvater erinnerte. Er war so ein lieber Opi, dem es so viel bedeutet hatte, dass sein Enkel glücklich war… Ja klar, Jack hatte ‚nur‘ das Feuer gelegt. Aber das sprach ihn trotzdem nicht frei von Schuld. Und Laura hatte es damals deutlich mitbekommen, wie Benni unter dem Tod seines Großvaters gelitten hatte. Wie er wahrscheinlich immer noch unter seinem und Eufelia-Senseis Tod litt…

Bedrückt atmete Carsten aus. „Deshalb finde ich es umso mehr einen Grund Jack zu vertrauen, sollte er sich wirklich mit Benni angefreundet haben.“

Damit hatte Carsten einen Punkt. Benni vergab sein Vertrauen nicht leichtfertig. Und sie hatten häufig genug miterlebt, wie gut er Situationen einschätzen und vorhersehen konnte. Laura mehr als alle anderen. Also wenn er tatsächlich der Meinung war man könne Jack trauen…

Sie richtete ihren Blick wieder auf Carstens Notizen und betrachtete den zweiten Kreis von außen. Das waren wohl die abgewandelten Naturelemente, deren Positionen von den Naturelementen selbst abhingen. Zwischen Wasser und Erde war das Türkise Einhorn mit der Pflanzen-Energie. Daneben, zwischen Erde und Wind die Grüne Schlage mit Sand. Der Besitzer des Farblosen Drachen mit Blitz, den sie immer noch nicht gefunden hatten, würde im Kreis hinter Eagle und Öznur stehen. Und der Lila Killerwal, also Johannes mit Schnee beziehungsweise Eis, wäre im Kreis hinter Öznur und Lissi.

Irritiert betrachtete Laura den äußeren Kreis, wo die Abkürzungen nur mit blauem Stift eingetragen waren.

„Die abgewandelten Naturelemente verstehe ich ja, aber was hat es mit der Anordnung der Lebenskräfte auf sich?“, fragte Laura irritiert. Offensichtlich hatte auch Carsten damit seine Probleme gehabt, da diese Einträge eindeutig von Konrad kamen.

„Allem Anschein nach repräsentieren sie in gewissem Sinne die Kräfte der Gottesdämonen.“

„Ah, Heilen für Entstehung, Blut für Erhaltung und Gift für Zerstörung?“

Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Fast.“ Er tippte auf die Petrole Fledermaus rechts unten. „Entstehung.“ Dann auf den Pinken Bär in der linken unteren Hälfte. „Erhaltung“ Und schließlich auf die Gelbe Tarantel ganz oben. „Zerstörung.“

Laura runzelte die Stirn. „Warum repräsentiert Susis Energie nicht die Entstehung?“

„Weil ihre Kraft nur weitergegeben werden, also wenn du es so möchtest die Gesundheit nur ‚erhalten’ aber nicht ‚erschaffen‘ kann. Konrads Blut-Energie entspricht dem Ursprung des Lebens. Denn Blut lässt sich eher… regenerieren.“

„Gesundheit doch auch, wenn es nicht direkt so wie in… Susis Prüfung ist.“ Schaudernd schob Laura die Erinnerung an Susannes Erzählung beiseite. Sie hatte sich häufig genug gefragt, wie der Pinke Bär ihr so etwas hatte antun können. Und sie hatte einfach nie eine Erklärung finden können.

Doch Carsten schüttelte den Kopf und lächelte sie traurig und nicht zuletzt wissend an. „Es gibt Krankheiten, die unheilbar sind… Susanne könnte sie zwar von einer Person auf die andere übertragen, aber der Tod ist gewiss. Konrad hat mit seiner Energie wirklich die Kraft Leben zu retten, ohne gezwungenermaßen ein anderes opfern zu müssen.“

Bedrückt atmete Laura aus. „Ich habe Susi um ihre Kraft immer beneidet aber wenn du das so sagst… Eigentlich ist sie ganz schön…“

„…Doof?“, beendete Carsten ihren Satz und warf ihr wieder ein bedrücktes Lächeln zu.

Aber immerhin lächelte er überhaupt mal wieder, stellte Laura halbwegs erleichtert fest. Wenn dieser traurige Blick in seinen lila Augen nur nicht wäre…

Laura betrachtete den Zettel erneut und tippte in den innersten Kreis. „Da müssten dann wohl Nane und ich sein, aber… Wo stehen wir?“

Carsten seufzte und selbst das traurige Lächeln verschwand wieder. „Sag du es mir… Das ist der Punkt, an dem ich einfach nicht weiterkomme. Du, Nane, Benni und ich. Wir vier müssen definitiv im inneren Kreis stehen. Ihr beiden wegen der Ursprungskräfte und Benni und ich wegen der Durchführung des Rituals.“

Laura legte den Kopf schief. „Ihr beide?“

„Ich für den Zauber und Benni für den Blutzoll.“, erklärte er knapp. „Aber wie genau die Anordnung sein muss… Keine Ahnung. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, Arianes Standort von der Position der Sonne abhängig zu machen. Der Rest müsste sich dann von selbst ergeben. Aber das würde die ganze Sache nur unnötig verkomplizieren. Besonders in der Unterwelt. Und irgendwie… Ich weiß nicht, es fühlt sich falsch an.“

„Dann ist es wahrscheinlich auch nicht so.“, gab Laura ihm nachdenklich recht. Immerhin war das ja für sie schon eine goldene Regel: Wenn Carsten auch nur glaubte etwas zu wissen, war es zu zweihundert Prozent richtig.

Dieser seufzte erneut. „Und jetzt sind wir in der Gegenwart angelangt. Ich sitze vor diesem verfluchten Zettel und zerbreche mir den Kopf darüber, was dieser eine verdammte letzte Schritt ist.“

Irritiert musterte Laura ihn. Vorhin war ihr das auch schon aufgefallen: Hatte Carsten schon immer so viel geflucht? Natürlich kamen auch über seine Lippen mal unangebrachte Worte, aber für gewöhnlich drückte er sich doch recht gemäßigt aus. Besonders in so normalen Gesprächen.

„Ich glaube, Eagle hat einen schlechten Einfluss auf dein Vokabular.“

Carsten erwiderte ihren Blick verwirrt. „Wie meinst du das?“

„Na ja, weil du verflucht viele verdammte Wörter verwendest, und es dir scheiß egal zu sein scheint.“

Tatsächlich brachte ihr Kommentar Carsten zum Lachen. Na endlich!

„Das klingt so falsch aus deinem Mund.“

„Ach, und aus deinem nicht?“

Immer noch amüsiert schüttelte Carsten den Kopf. „Komm, so schlimm bin ich nicht.“

„… Soll ich eine Strichliste machen?“

Nach geraumem Schweigen, wo Carsten wohl selbst noch einmal über die letzten Gespräche reflektierte, meinte er schließlich: „… Lieber nicht.“

Laura kicherte und wandte sich erneut dem Zettel zu. „Ich vermute mal, Nane und ich müssen gegenüberstehen und du und Benni dann genau dazwischen. Wegen Kräftegleichgeweicht und so.“

Carsten nickte.

„Und warum stehe ich nicht im Norden und Nane im Süden? Das würde Licht und Dunkelheit doch am besten repräsentieren.“

„Schon, aber es kommt auch auf das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Kreisen an. So wie abgewandelte Naturelemente und Naturelemente zum Beispiel.“

„Ach so…“ Laura runzelte die Stirn. „Und was ist dann mit den Lebenskräften? So zusammenspielend mit den anderen wirkt das nicht.“

Carsten nickte. „Das hatte ich mir auch gedacht. Aber Konrad scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass sie so angeordnet werden müssen, da sie dem Lebenszyklus entsprechen.“

„Geburt, Leben, Tod?“

„Welcher sonst?“

Gedankenverloren starrte Laura auf den Zettel, wie es Carsten wahrscheinlich schon so viele Stunden getan hatte. Sie würde niemals dahinterkommen.

Sie betrachtete die magischen Zeichen auf dem oberen Teil des Zettels. Pentagramm, Kreuz, Yin und Yang, andere Symbole die sie noch nie zuvor gesehen hatte… Irgendwie versuchte sie, da Verbindungen zu ihrer bisherigen Aufstellung zu finden. Aber ohne Erfolg.

So langsam verstand Laura, wieso Carsten bis spät in die Nacht daran sitzen konnte. Es war schon wie ein kleines Rätsel. Also nein, eigentlich ein großes. Und wenn man sich dessen bewusst war, wie relevant es dafür war den Herrscher der Zerstörung zu bannen…

Laura betrachtete den Zettel eingehender. Moment mal… ‚Viele Stunden‘? ‚Bis spät in die Nacht‘?

„… Eine Uhr!“, rief sie plötzlich.

Carsten betrachtete sie als sei sie es, die durch Schwarzmagie den Verstand zu verlieren drohte. „Bitte was?“

„Das ganze ist im Prinzip nichts anderes als eine große Uhr.“, meinte Laura aufgeregt. Konnte es wirklich sein, dass sie, ausgerechnet sie, eben das Rätsel gelöst hatte?!?

Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Das hatte ich auch gedacht, aber schau mal genauer hin: Wenn man die Personen mit der Mitte verbindet, wo Mars sich befinden sollte, sind die Winkel nicht gleichmäßig. Und bei einer Uhr betragen die Winkelgrößen zwischen den Stunden immer 30°.“

Laura schaute ihn herausfordernd an. „Hattest du nicht selbst gesagt, dass das eben keine Matheaufgabe ist?“

Beschämt wich Carsten ihrem Blick aus, erwiderte aber nichts darauf.

Laura rückte noch näher an ihn und zupfte am Ärmel des Hemdes seiner Schuluniform. „Jetzt komm, ich will zumindest wissen, was du von meiner Idee hältst. Also: Du sagtest, die Lebenskräfte symbolisieren den Lebenszyklus. Na ja, und wenn man von den Kreisen immer weiter nach innen geht, hat man halt immer kleinere Zyklen. Und das immer im Uhrzeigersinn.“

Carsten runzelte die Stirn. „Also meinst du, die abgewandelten Naturelemente repräsentieren…“

„… Die Jahreszeiten!“ Laura tippte auf das Türkise Einhorn. „Pflanzen für Frühling, Sand für Sommer, Gewitter im Herbst und…“

„… Im Winter Schnee.“ Carsten verstand worauf sie hinauswollte. „Und die Elemente selbst sind der Tageszyklus.“

Laura nickte grinsend. „Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen. Kennt doch jedes Kind, diesen Spruch.“

„… Ich kannte den nicht…“, stellte Carsten beschämt fest.

„Hä? Du weißt alles, außer den Merksatz für den Sonnenverlauf und die vier Himmelsrichtungen?“

„Na ja… Ich konnte mir das auch ohne ganz gut merken…“

Laura seufzte. „Zu schlau für diese Welt…“

Carsten schüttelte den Kopf, schien inzwischen aber selbst endlich mal wieder motivierter. Er richtete sich etwas mehr auf und zeigte auf den inneren Kreis. „Und was gibt es das kürzer als der Tageszyklus ist?“

„Stunden!“

„Und deshalb kamst du auf die Uhr?“

Laura zwirbelte eine Haarsträhne. „So halb… Ich hatte mich eher gefragt, was der Ursprung, also die Grundlage von all dem ist. Und das ist die Zeit.“

Carsten ging ein Licht auf. „Und diese wird durch die Uhr repräsentiert…“

„Genau! Nane und ich können nicht auf gegenüberliegenden Seiten stehen. Denn sowohl das Licht als auch die Dunkelheit sind im Prinzip um zwölf Uhr am stärksten. Was dich und Benni betrifft bin ich mir zwar nicht ganz sicher… Aber könnte es nicht sein, dass ihr bei der entsprechenden Stundenanzeige von Sonnenauf- beziehungsweise Sonnenuntergang steht?“ Nun war Laura doch etwas verunsichert. „Ich… Ich kenne mich mit dem Zauber natürlich nicht aus. Ich dachte nur… Na ja, da du ja derjenige bist, der Mars bannt… Da geht ja für ihn im Prinzip die Sonne unter…“ Sie spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Beschämt legte sie das Blatt weg. „Tut mir leid… War nur ein Gedanke…“

Eine Zeit lang brach Schweigen aus und ironischer Weise war nur das Ticken der Wanduhr aus dem Gemeinschaftszimmer zu hören. Und Raven, die sich schnurrend in Lauras Schoß gekugelt hatte.

Laura wurde immer unruhiger und schallte sich innerlich dafür, überhaupt auf die Idee gekommen zu sein diesen Gedanken mit Carsten zu teilen. Und ihm damit unnötige Hoffnungen gemacht zu haben…

Nach einer weiteren Weile meinte sie, Carsten plötzlich leise Lachen zu hören. … Oder weinte er? Laura war sich nicht ganz sicher.

Verunsichert legte sie eine Hand auf seine zitternde Schulter. „Alles okay? Habe… ich was falsch gemacht?“

Doch Carsten schüttelte den Kopf. „Nein Laura, du hast alles richtig gemacht. Derjenige, der was falsch macht bin ich. Immer und immer wieder. Und doch lerne ich nie dazu.“

„Hä?“

Sie konnte seine Reaktion immer noch nicht ganz deuten. Und noch weniger, als Carsten mit einem verbitterten Lächeln und Tränen in den Augen ihren Blick endlich erwiderte. „Das Zahlen des Blutzolls ist die Einleitung für das Ritual. Und der Spruch… beendet es.“

In Lauras Kopf drehten sich die Rädchen. „Du meinst also… meine Idee…“

„Sie stimmt, Laura. Du hast den Zauber fertig gestellt.“

„WAS?!“ Ungläubig starrte sie Carsten an. „Aber- aber es klang so, als würde noch voll viel fehlen! Also von dem, was du alles erzählt hast!“

„Ja und nein. Das war der Knackpunkt, weshalb ich an dem Spruch nicht weiterarbeiten konnte. Aber jetzt, wo die Bedeutung von allem klar ist…“ Carsten lehnte seine Stirn gegen Lauras Schulter. Mit einem Schlag wirkte er total müde und erschöpft, als wäre die ganze Anspannung der letzten Wochen, nein, der letzten Monate mit einem Mal verschwunden.

Raven richtete sich auf und schmiegte sich maunzend an Carstens Brust. Als er auch darauf nicht reagierte, begann Laura doch sich etwas Sorgen zu machen. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Arm. „… Alles okay?“

Die einzige Antwort darauf war ein schwaches Kopfschütteln.

Ein unangenehmes Gefühl breitete sich aus, als sich ihr Herz zusammenzog und sie vorsichtig die Arme um Carstens Schultern legte. Hatte sich sein Körper schon immer so schwach und mager angefühlt?

Dieses Mal war es unverkennbar ein Schluchzen, was aus Carstens Kehle drang als er sich an Lauras Jackett-Ärmel klammerte. Laura schluckte schwer und verstärkte ihren Griff.

Es war nicht so, dass sie seine Reaktion nicht nachvollziehen konnte. Im Gegenteil, eigentlich sollte sie sogar froh sein, dass Carsten endlich die ganze angestaute Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit rausließ. Und besonders, dass er endlich mal offen zeigte, wie schlecht es ihm in Wahrheit ging.

Aber anderseits konnte Laura bei diesem herzzerreißenden Schluchzen selbst kaum gegen die Tränen ankämpfen. War es nicht schon schlimm genug, dass Benni und so viele andere bei Mars gefangen und dessen Launen ausgesetzt waren? Musste sie wirklich auch noch mitansehen, wie all das seinen Tribut von Carsten verlangte?

Konnte sie denn gar nichts tun?!?

Laura drückte ihren besten Freund noch fester an sich, während sie sich den Kopf darüber zermürbte, wie sie Carsten bloß helfen konnte ohne dabei direkt einen Nerv bei ihm zu treffen. Denn offensichtlich hatte er ja riesige Probleme damit, Hilfe anzunehmen. Oder gar um Hilfe zu bitten.

Nach einer Weile wurde Carstens Schluchzen schwächer und schließlich schien er sich weit genug beruhigt zu haben, um sich von selbst aus der Umarmung zu lösen. „Entschuldige…“, meinte er nur matt.

Laura lächelte ihn mitfühlend an. „Ach was, auch Helden dürfen ihre schwachen Momente haben.“

Traurig lachte Carsten auf. „Ich bin nicht der Held.“

„Nicht? Wer sollte es sonst sein?“

Mit einem bedrückten Seufzen kraulte er Raven am Kopf und warf einen Blick in das dunkle Zimmer. „Ist das nicht offensichtlich? Benni natürlich. Ich bin höchstens der tollpatschige Sidekick.“

„Hm, dann werden wir wohl um diese Position kämpfen müssen.“, stellte Laura fest.

Die Erinnerung an Lauras ellenlange Liste von tollpatschigen Aktionen schien Carstens Gemüt tatsächlich wieder etwas aufzuheitern. Zumindest ein kleines bisschen. „Okay, du hast gewonnen. Ich bin noch nicht einmal dafür zu gebrauchen.“

Laura stöhnte auf. „Ach Carsten! Du klingst ja noch schlimmer als ich.“

„Ich bin schlimmer als du.“

Diese Aussage klang in ihren Ohren viel zu resigniert, um auch nur annähernd witzig zu wirken. Was die Sorgen, die sie sich um ihren besten Freund machte, nicht gerade verringerte.

Bedrückt schaute auch sie sich im Zimmer um, während Raven in den Genuss der doppelten Menge an Krauleinheiten kam.

„Warum fällt es dir eigentlich so schwer, dich uns anzuvertrauen?“, fragte sie schließlich.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete Carsten bedrückt. Zumindest bestritt er es inzwischen nicht mehr.

Laura seufzte. „Wenn zumindest Benni hier wäre…“

Carsten erwiderte nichts darauf, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er sich das auch schon oft genug gedacht hatte. Vielleicht sogar noch häufiger als sie selbst…

„Es ist nicht die schwarze Magie, oder? Also… nicht nur.“, stellte sie fest und erntete einen verwirrten Blick. „Na ja… Nimm‘s mir nicht übel, aber du bist nicht gerade die ausgeglichenste Person. Genauso wenig wie ich.“ Beschämt lächelte sie. „Wir brauchen einfach diesen einen Ruhepol. Besonders in so… schwierigen Zeiten. Und du bist noch mehr auf so eine Stütze angewiesen als ich.“

Carsten erwiderte wieder nichts darauf, doch das brauchte er auch gar nicht. Selbst wenn Laura nicht genau wusste, was in ihm vor sich ging… Sie wusste, dass es schon immer Benni war, der ihm immer und immer wieder auf die Beine geholfen hatte. Damals, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten, während ihrer Grundschulzeit, und auch während Carstens Zeit im FESJ. Es war immer Benni gewesen, den er aufgesucht hatte, wenn es ihm nicht gut ging. Und selbst, wenn dieser die Ursache seines Leids nicht aus der Welt schaffen konnte, hatte er es doch ertragbar machen können. Als sei das alles halb so wild. Aber jetzt…

Betrübt seufzte Laura.

Ausgerechnet bei Carsten und Ariane zehrten all die Ereignisse an ihrer zuversichtlichen Denkweise. Am Ende wäre Laura noch die optimistischste von der ganzen Gruppe…

 
 

~*~

 

Eagle hatte alle Mühe die Augen offenzuhalten und dem Stammesoberhaupt von Tahi zuzuhören. Er war nie jemand gewesen, der sonderlich viel Schlaf gebraucht hatte. Aber in letzter Zeit war er trotzdem andauernd erschöpft und würde sich nach der Schule am liebsten hinlegen. Doch dieser Traum würde wohl noch eine ganze Weile unerfüllt bleiben. Eagle nahm sich vor, wenn all das vorbei war, würde er einfach mal einen ganzen Tag durchschlafen und auf den Rest der Welt scheißen.

Er warf einen versucht unbemerkten Blick auf sein Handy, der natürlich nicht ganz unbemerkt blieb, doch von Öznur war keine Antwort mehr gekommen. Natürlich war Janine nicht zu ihm nach Indigo gekommen, so gerne Eagle ihr das auch geantwortet hätte.

Verdammt, das alles war nur passiert, weil sie nach Mur gegangen war um ihre Mutter zu besuchen! In der Academy wäre sie sicher gewesen! Und als wäre das nicht genug, musste sein kleiner Bruder natürlich auch direkt auf die geisteskranke Idee kommen, sie mit schwarzer Magie suchen zu wollen. Zum Glück hatten die Mädchen ihn daran hindern können. Auch, wenn die Diskussion einen dramatischeren Abschluss gefunden hatte als notwendig.

„Keine Neuigkeiten, nehme ich an?“, erkundigte sich das Stammesoberhaupt von Keipo.

Eagle schüttelte den Kopf.

„Damit würden wir auch schon beim nächsten Punkt ankommen.“, fügte dieser hinzu.

Eagle verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Meine Antwort lautet immer noch nein. Ich brauche keine Aufpasser.“

„Häuptling, der Geleitschutz ist notwendig.“, warf das nächste Stammesoberhaupt ein. „Wir dürfen kein Risiko eingehen. Nicht, dass Euch am Ende noch dasselbe widerfährt wie Eurem Vater.“

Eagle biss die Zähne zusammen und zwang sich mit aller Kraft ruhig zu bleiben. „Ich bin aber nicht mein Vater.“

„Trotzdem-“

„Wenn ihr so fest damit rechnet, dass ich keine weiteren zwölf Stunden überlebe, solltet ihr vielleicht endlich meiner Gesetzesänderung zustimmen.“, unterbrach er ihn, schroffer als angemessen. Aber egal.

„Aber mit diesem Gesetz wäre der Häuptling überflüssig. Wollt Ihr wirklich-“

„Wollt ihr, dass sich das ganze Drama der letzten Wochen wiederholt?“, unterbrach Eagle ihn erneut. „Ich sehe es ja ein, dass Indigo mit einer Demokratie momentan noch völlig überfordert wäre. Aber zumindest in diesem Kreis sollten wir abstimmen dürfen, damit der Häuptling nicht einfach so seinen Willen durchsetzen kann. Und noch wichtiger: Wenn es einfach keinen volljährigen Nachfolger gibt, brauchen wir einen Weg, trotzdem handlungsfähig zu bleiben und nicht dem nächstbesten die Federkrone auf den Kopf zu stecken.“

Das Stammesoberhaupt von Tahi betrachtete ihn belustigt. „Ihr wisst, dass Ihr unsere Zustimmung für die Gesetzesänderung nicht benötigt?“

Eagle schnaubte. „Da wäre ich ja schön konsequent. Ein Gesetz erzwingen was die Mehrheit entscheiden lässt, obwohl die Mehrheit eben gegen dieses Gesetz ist.“

Die Stammesoberhäupter tauschten untereinander Blicke aus, die Eagle nicht ganz deuten konnte. Schon krass, wie traditionsbesessen Indigo noch war. Da wollte er im Prinzip den Leuten mehr Macht verleihen und diese weigerten sich, weil es nun mal schon immer der Häuptling war, der seinen Kopf am Ende durchsetzen konnte, durfte und musste.

Innerlich seufzte Eagle. Und dabei findet es doch eigentlich jeder geil, mehr Macht zu haben.

Der Stammesführer von Chôyon schaute ihn fragend an. „Und sollte ab sofort wirklich jemand Minderjähriges gezwungen sein die Federkrone zu tragen, wollen Sie wirklich…“

„Ich will es nicht, ich verlange es.“, stellte Eagle klar. „Auch, wenn mir dieses Gesetz seit gestern leider nichts mehr bringen wird.“

„Warum?“

Eagle atmete geräuschvoll aus, antwortete aber nicht darauf.

„… Ist es wegen Ihres Bruders?“, hakte das Stammesoberhaupt von Keipo nach.

„Auch.“, gab er zu.

„Wenn ich so frei sprechen darf: Er hat bei Ihrem Amtseintritt keine schlechte Figur gemacht. Insbesondere seine Ansprache. Natürlich war diese alles andere als professionell. Aber gerade, wenn man berücksichtigt, dass er nie auf so etwas vorbereitet wurde…“

„Er ist in dem Moment innerlich gestorben.“, warf Eagle verbissen ein. Und als wäre es nicht genug, dass er damals Carsten in diese Situation gebracht hatte, obwohl er ganz genau wusste, wie sehr sein kleiner Bruder unter einer solchen geballten Menge an Aufmerksamkeit litt… Er hatte ihm ja auch noch direkt danach die irrsinnigsten Vorwürfe machen müssen. „Car- ähm Crow wäre ein guter Anführer. Viel besser als ich, das ist keine Frage. Aber wie zum Henker soll er eine Region repräsentieren, vor Leuten reden und alles, was sonst noch öffentlich getan werden muss, wenn er es noch nicht einmal im Unterricht schafft den Mund aufzumachen.“

Das Stammesoberhaupt von Chôyon runzelte die Stirn. „Ist das so schlimm?“

Verbittert lachte Eagle auf. „Sie wissen ja gar nicht, wie sehr ihm seine Schüchternheit zum Verhängnis geworden ist.“ Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Eigentlich ging das diese Typen nichts an. „Um zum eigentlichen Thema zurückzukehren: Es geht mir nicht nur darum, dass mein Bruder schon alleine beim Erwähnen des Begriffs ‚Kronprinz‘ fast in Ohnmacht fällt. Es geht mir auch um Sakura.“

„Aber ihre Halbschwester-“

„Wäre nach ihm die nächste rechtmäßige Nachfolgerin.“ Er warf einen eindringlichen Blick in die Runde. „Ich kann nicht garantieren, dass Crow und ich die Konfrontation mit etwas überleben, das ‚Herrscher der Zerstörung‘ genannt wird. An sich, sosehr ich mir auch wünsche, dass es ihr gut geht, momentan kann ich noch nicht einmal für ihr Überleben garantieren. Im schlimmsten Fall…“ Eagle wollte den Gedanken nicht zu Ende führen. Dass er selbst bei der ganzen Aktion draufgehen könnte, störte ihn dabei noch am allerwenigsten. Vielmehr waren es die Auswirkungen, die das auf Carsten oder Sakura haben könnte.

… Ob es seinem Vater damals auch so gegangen war, als er Häuptling geworden ist?

Eine Zeit lang herrschte Schweigen, bis das Stammesoberhaupt von Keipo schließlich meinte: „Ich stimme dafür. Für beides. Ich weiß, Indigo war immer stolz darauf, wie schnell und mit wenig Formalitäten wir auf Situationen reagieren konnten. Aber es stimmt, wir sind viel zu sehr vom Häuptling abhängig. Wir benötigen mehr Flexibilität, gerade in den kommenden Zeiten.“

Innerlich atmete Eagle auf, als nach und nach die restlichen der fünf Stammesoberhäupter langsam aber sicher eingestanden, dass diese Gesetzesänderung wirklich keine so dumme Idee war. Und tatsächlich dauerte es keine halbe Stunde mehr, bis alle Formalitäten geklärt und das Gesetz geändert war.

Schön, dass es manchmal auch relativ einfach gehen durfte.

Manchmal.

„Und Sie sind sich wirklich sicher? Ein Geleitschutz wäre nur von Vorteil. Insbesondere, nachdem auch die Besitzerin der Gelben Tarantel entführt wurde.“

Eagle stöhnte auf. „Wie oft soll ich das noch sagen? Nein.“ Wobei… „Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen. Aber wenn ihr unbedingt Geld für eine Leibwache ausgeben wollt…“

„Ihre Stiefmutter wird natürlich auch Schutz bekommen.“, warf das Stammesoberhaupt von Keipo ein. „Und wenn Sie möchten, selbstverständlich auch Crow. Jedoch scheint er wirklich jemand zu sein, der sich problemlos selbst verteidigen kann.“

In Kämpfen vielleicht… Betrübt schob Eagle den Gedanken an Carsten und die Folgen des FESJ und der Schwarzmagie beiseite. Dank Ariane hatten sie ja nun zumindest die Hoffnung, dass es sich in naher Zukunft wieder bessern könnte. Zumindest, wenn er wirklich auf jegliche Formen der schwarzen Magie verzichten würde.

„Nein, ich meinte jemand anderes. Ist mir egal, ob das in euren Augen eigennützig erscheint oder einfach nur dem größeren Wohl dienen soll. Aber es gibt definitiv jemanden, der so einen Schutz mehr benötigt als wir.“

Eagle berichtete den Stammesoberhäuptern von seinen Gedanken, die ihm überraschend aufmerksam zuhörten. Eigentlich hätte Eagle damit gerechnet, dass sie genauso ablehnend reagieren würden wie anfangs bei seiner Gesetzesänderung. Aber irgendwie…

Plötzlich klopfte es gegen die Holztür und Ituha betrat den Konferenzraum. „Darf ich kurz stören?“

Als würde sie das eben nicht sowieso schon tun.

„Ist es dringend?“

Ituha nickte. „Sehr. Da ist jemand, der mit dem Häuptling sprechen möchte.“

„Kann das nicht bis nach der Sitzung warten?“, erkundigte sich das Stammesoberhaupt von Chôyon, doch Ituha schüttelte den Kopf.

Da sie es ohnehin gewohnt waren, Ituha niemals im Leben zu widersprechen, hatte sich die Sache eigentlich von selbst geklärt.

Eagle richtete sich auf. „Dann sehen wir uns nächste Woche.“

„Sie reden bis dahin mit ihr?“

„Werde ich.“, meinte er nur und verließ den Raum.

So traditionsbesessen sie auch waren, Indigoner legten zum Glück legten nicht allzu viel Wert auf Formalitäten. Da hatte das Stammesoberhaupt von Keipo durchaus Recht, sie waren dadurch in der Lage viel schneller und spontaner zu reagieren als die restlichen Regionen. Und es machte die ganze Sache für Eagle deutlich ertragbarer. Er hasste es schon in der Schule, ständig irgendwelchen Mist auf irgendwelche Zettel schreiben zu müssen.

Während er Ituha zu ihrer Bar folgte, wo anscheinend dieser ominöse Besucher auf ihn wartete, erkundigte sich Eagle kritisch, wer das überhaupt war.

Doch sie zuckte einfach nur mit den Schultern.

Hm, seltsam. Eagle hatte eigentlich damit gerechnet, dass jemand wie Öznur oder Carsten ihn dringend sprechen wollte. Aber Ituhas Reaktion nach kannte sie diese Person selbst noch nicht einmal.

Ituha öffnete die schwere Holztür und trat in die spärlich beleuchtete Kneipe. Anscheinend hatte sie nicht geöffnet, was dem Wochentag und der Uhrzeit nach ziemlich eigenartig war.

„Da seid ihr ja endlich!“, rief Risa erfreut. Das kleine Mädchen rutschte von einer der Bänke kam ein paar Schritte auf sie zu.

Ohne jemand bestimmtes anzuschauen meinte sie: „Das ist Eagle, unser Häuptling. Und der Besitzer des Grauen Adlers.“

Eagle runzelte die Stirn. Was zum-

Er betrachtete eine kleine Gestalt, die von der gegenüberliegenden Bank runter kletterte. Sie war etwa so groß wie Risa und trug einen dunkelgrünen, schweren Wollumhang, der ihren zierlichen Körper und das Gesicht komplett unter sich verbarg. Aber es war weniger die vermummte Erscheinung, die ihn stutzig machte. Eher war es das vertraute Gefühl von… Energie! Von dieser kleinen, schmächtigen Person ging Energie aus!

Mit einer ruhigen mädchenhaften Stimme meinte sie: „Ich bin geehrt, Euch kennen zu lernen, Besitzer des Grauen Adlers.“

Mit diesen Worten zog sie die Kapuze zurück und offenbarte ihr Gesicht. Tatsächlich war es das rundliche Gesicht eines jungen Mädchens, umrahmt von dunkelbraunen schulterlangen Haaren. Ebenso braun war ihr linkes Auge, aber das rechte war Blattgrün. Das war nicht weiter seltsam, doch schien sie weder Indigonerin, noch ein Menschenmädchen zu sein. Zumindest hatte Eagle noch nie jemanden gesehen, dessen Haut so einen Oliv-Ton hatte. Er hatte nur von solchen Leuten gehört.

„… Eine Dryade?“

Aber wie war das möglich?! Das gesamte Dryaden-Volk war doch dem magischen Krieg zum Opfer gefallen. Oder etwa nicht?

„Ich werde Kito genannt.“, stellte sich das kleine Dryaden-Mädchen vor und schien sich nicht daran zu stören, Eagle gerade vollkommen aus der Bahn geworfen zu haben. „Bitte verzeiht, dass ich noch nicht so gut sprechen kann. Ich lernte zwar ein bisschen Indigonisch und Damisch, aber noch nicht so ausdrucksstark.“

Hä? Ausdrucksstark? „Ehm… Schon okay…“

„Aber dafür bin ich ja da!“, warf Risa erfreut ein. „Du kannst mit mir so viel Indigonisch und Damisch üben wie du willst, Kito!“

„Das begeistert mich sehr, vielen Dank.“, antwortete sie lächelnd.

Eagle versuchte die Verwirrung abzuschütteln und ging vor den beiden Mädchen in die Hocke, wie er es schon bei Sakura früher immer gemacht hatte. „Sag mal Kito, wo kommst du denn her? Lebst du in Obakemori?“

Diese Frage schien wiederum das Mädchen aus der Bahn geworfen zu haben. Nach einer Weile meinte sie: „Ich muss schweigen.“

So langsam verstand Eagle, was Sache war. „Darfst du nichts sagen, weil sich dein Volk vor dem Rest von Damon verstecken muss?“

Kito senkte den Blick und nickte traurig. „Sakim sprach, dass Menschen uns töten möchten. Töten und foltern und in Zirkel zeigen.“

Risa legte den Kopf schief. „Meinst du ‚Zirkus‘?“

Nachdenklich nickte Kito. „Da, wo Tiere kunststücken.“

Au scheiße, und Eagle hatte sich schon über die potenzielle Sprachbarriere zwischen Indigonern und Menschen Sorgen gemacht. Er verdrängte diesen Gedanken und fragte stattdessen: „Aber wenn ihr euch vor den Damonern verstecken müsst, warum bist du dann hier?“

„Ryû sagte, ihr wollt mich.“

… Nein, das definitiv nicht. Risa musste ihr unbedingt Nachhilfe in Damisch geben, bevor Eagle wegen diesem verirrten Vokabular noch als Pädophiler dastand.

„Wer ist Ryû? Warum meint er, dass wir dich brauchen?“

„Darum.“ Lächelnd hielt Kito Eagle die Hand hin. Und Tatsache, er hatte sich das Energie-Gefühl nicht eingebildet. Zwischen Kitos kleinen, grünlichen Fingern zuckten winzige Blitze hin und her, bei denen man zum Teil sogar ein leichtes Zisch-Geräusch hören konnte.

Ungläubig starrte Eagle sie an. „Du bist… Eufelias Nachfolgerin? Du bist die neue Besitzerin des Farblosen Drachen?“



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2020-11-22T21:40:24+00:00 22.11.2020 22:40
Oh, dieser Moment zwischen Laura und Carsten war so schön!!! Und es ist toll, dass Laura das Rätsel gelöst hat! Ich freu mich voll für sie! Endlich konnte sie mal zeigen, dass sie nicht so dumm ist wie sie selbst glaubt. <3 Und war echt schön, dass Carsten sich ihr öffnet. Und auch dass explizit gesagt wird, wie wichtig Benni für die zwei ist.
Und die Aufstellung der Dämonenbesitzer finde ich richtig interessant! Sehr cool.

Die Szene mit Eagle war auch beeindruckend. Jetzt kann er mal zeigen, dass er tatsächlich ein bedachter, guter Herrscher ist. Wer hätte das gedacht! XD
Ui, die Kleine Kito ist ja auch niedlich! Ich bin gespannt!!!

Antwort von:  RukaHimenoshi
23.11.2020 20:16
Ja, Laura und (sogar) Eagle haben mehr im Köpfchen als man erwarten würde. :D
Leider schafft Kito es trotzdem kaum ins Rampenlicht. T-T Sie ist dafür viel zu still, vergleichbar mit Susanne und Janine, und geht entsprechend leicht unter. .-. Ich kämpfe aber mit aller Kraft um ein paar Glanzmomente für sie!
Antwort von:  Regina_Regenbogen
24.11.2020 22:32
:) Die Stillen geben dem Ganzen ja auch was und glänzen dann in den wenigen Momenten umso mehr. ^^


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