Steam von Chiaro (Water and Fire) ================================================================================ Prolog: -------- Jays Tritte ließen den Schlamm aus Abwasser auf der Straße aufspritzen, als er rannte. Er schlitterte in die nächstbeste Seitengasse hinein und presste sich eng zwischen die stinkenden Müllsäcke. „Verschwinde! Geh zurück in dein Loch, wo du hingehörst! Hier ist kein Platz für Punks!“ tönten die ärgerlichen Schreie der Bewohner. Er hatte Lust diesen engstirnigen Leuten seine Meinung zu geigen, ließ den Mob aber vorbeiziehen. Erst als kein Lichtstrahl ihrer künstlichen Fackeln mehr in die Gasse drang, wagte er es wieder, sich auf die Straße der zweiten Ebene zu begeben. Mit den Fingerspitzen fuhr er den Strichcode unter seinem linken Auge nach und zog sich seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Er hoffe, dass die flackernden Schatten, die von den holographischen Fackeln an den Hauswänden ausgingen, sein Mal ab jetzt verbergen mochten. Es war nicht immer einfach so gezeichnet zu sein. Seit der Herrschaft unter Victoria IV wurde jeder, der kein adeliges Blut nachweisen konnte, mit einem Strichcode unter dem Auge öffentlich als Punk ausgewiesen. Es gab zwar kein Gesetz, das die Trennung von Adel und Punks vorschrieb, aber praktisch war der Unterschied deutlich zu spüren. Selbst hier auf der zweiten Ebene des Untergrunds von Neu London, wo der niedere Adel wohnte, waren die Anzeichen der Armut schon zu erkennen. Aber wenigstens gab es hier künstliches Licht und die Versorgung mit Wasser und Strom lief beinahe problemlos. Von alledem konnten die Punks auf der unteren Ebene nur träumen. Alles was brennbar war wurde dort in Dampfkraft umgewandelt, womit man wenigstens einige Geräte am Laufen halten konnte, um zum Beispiel etwas künstliches Licht in die Dunkelheit des Untergrunds zu werfen. Es waren noch immer die schönsten Erinnerungen seiner Kindheit, wenn etwas Brennmaterial übrig war und damit ein Kinematograph betrieben wurde, der Schwarz-Weiß-Filme an die baufälligen Fassaden der Untergrundhäuser strahlte. Da die Versorgung mit Frischluft in der unteren Ebene aber eher dürftig war, roch es den ganzen Tag nach Schwefel und dünne Rauchschwaden zogen sich durch die verdreckten Gassen. Doch den Kindern der heutigen Generation war es nur höchst selten vergönnt, ein solches Spektakel mit anzusehen. Seit den strengeren Maßnahmen der Grenzhüter, die die Grenze zwischen den Ebenen überwachten, war kaum mehr Handel mit den oberen Ebenen möglich. Die Zeiten in der der Slum beleuchtet werden konnte, wurde von acht auf fünf Stunden am Tag verkürzt, es reichte kaum mehr dafür, dass jeder eine sichere Mahlzeit am Tag bekam und das Trinkwasser wurde mit der Zeit auch knapp. All das trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung unter den Punks zu verbessern. Tatsächlich war die Stimmung so gespannt, dass die Menschen sich dort schon fast gegenseitig an den Kragen gingen. Wohin auch sonst mit ihrer Wut? Sie hatten kaum eine Chance von der unteren Ebene auf eine höhere zu gelangen, da sie von einem etwa zehn Meter hohen Absatz aus Erde und Stein von ihnen getrennt waren. Die wenigen Dampfaufzüge, die es gab, wurden mittlerweile von bewaffneten Wachposten beaufsichtigt. Gab es ein paar Monate zuvor noch Punks, die sich durch ihren beruflichen Status in den oberen Ebenen behaupten konnten, waren mittlerweile fast alle in der untersten Ecke zusammengetrieben und hatten keine Aussicht auf Flucht. In all dem Chaos hatte sich ein Widerstand organisiert. Und deshalb war er hier. Kapitel 1: ----------- Ava legte ihre zitternden Hände in ihren Schoß und strich die feine Seide ihres prachtvollen Kleides in sattem violett glatt. Ihr Vater hatte es ihr zu diesem speziellen Anlass gekauft und es schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren schmalen Körper. Aber es lag nicht nur an ihrem Korsett, das heute etwas zu eng geschnürt war, dass sie sich nicht behaglich fühlte. Der stattliche Mann der ihr gegenüber saß würde ihr zukünftiger Ehemann sein. Er räusperte sich. Die peinliche Stille war wohl nicht nur ihr unangenehm, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, den ersten Schritt zu tun. „Ihr seht heute wunderschön aus, Mylady.“ „Vielen Dank, wie ich sehe habt Ihr Euch heute ebenfalls in Schale geworfen, Lord Derivan.“ Ein Kompliment für seine Garderobe. Das musste ihm genügen. Nicht dass der junge Duke ein hässlicher Bursche wäre. Seit sie hier am Hofe Quartier bezogen hatte, hatte sie sogar mitbekommen, wie einige Hofdamen von ihm schwärmten. Seine goldblonden Haare, die ihm ein wenig in seine nussbraunen Augen fielen, umrahmten sein glattes Gesicht sogar recht hübsch. Aber sein arrogantes Lächeln, das stets seine Lippen umspielte, zerstörte die Illusion. „Nennt mich doch bitte Isaac, meine Liebe. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch so nenne? Immerhin werden wir bald unsere Gemächer teilen.“ Sein Blick sagte ihr, was er damit meinte. „Natürlich, Isaac.“ Sie lächelte gequält. Zu Avas Glück musste sie dieses Gespräch nicht noch weiter führen, da der erste Gang ihres gemeinsamen Abendessens serviert wurde. Außerdem hatte sie vor, sich nach dem Essen schnell in ihr Gemach zurückzuziehen. Immerhin stand morgen der traditionelle Hochzeitszug durch die Stadt an, bei dem ihre Verlobung bekannt gegeben wurde. So schnell wie es auf dem glitschigen, steinbepflasterten Boden ging, rannte er die Straße entlang, solange sie noch menschenleer war. Über ihm erstreckte sich eine künstliche sternenklare Nacht. Er hatte aufgehört sich zu fragen, wie der echte Himmel aussehen möge. Das große Heilerhaus am Übergang zwischen der ersten und zweiten Ebene war noch immer hell beleuchtet. Er schlich sich an den Backsteinmauern entlang und verschwand in den zitternden Schatten, die die holographischen Fackeln an die Wand warfen. Im Schutz der Hauswand und dem Absatz der Ebenen tastete er nach dem großen Drehschloss des Hintereingangs. Mit beiden Händen brachte er die verrosteten Hebel in Stellung und öffnete vorsichtig die Tür. Der Raum der sich dahinter befand lag noch im Dunkeln. Es roch nach reinem Alkohol und Kräutern. Kaum hatte er sich an die Dunkelheit gewöhnt und einen schlichten Stuhl ertastet um sich darauf zu setzen, öffnete sich die vordere Tür des Raums und grelles Neonlicht und Stimmen drangen herein. Eine kleine Frau schob sich mit dem Rücken zu ihm durch den Türspalt und schien noch letzte Patienten zu verabschieden. Als das Schloss klickte, ordnete sie ihre weißen Heilerröcke und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Bevor sie den Schalter für den Holographen erreicht hatte, der den Raum in helles Licht tauchen würde, ließ Jay absichtlich seinen Stuhl knarren. Sie zuckte so heftig zusammen, dass ihr einige ihrer schulterlangen braunen Haare aus dem Zopf fielen. Grinsend lehnte er sich samt Stuhl nach hinten und ließ den Lichtschalter umschnappen. Sie riss ihre blauen Augen vor Schreck noch weiter auf und entdeckte dann den Mann, der lässig an ihrem Arbeitsplatz saß. Er trug wie immer ein dunkelbraunes Cape, dessen Kapuze ihm tief in die Augen hing und eine weißes Leinenhemd. Ein breiter Ledergürtel beherbergte seine Habseligkeiten. Darunter einige kleine Beutel und Gürteltaschen. „Jay“, hauchte sie, als ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. „Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.“ Sie sah erschöpft aus. Jay zog sich seine Kapuze von seinen zerzausten schwarzen Haaren und kratze sich über die kurzen Stoppeln, da seine Haare bis knapp über die Ohren abrasiert waren. Jetzt wo er hier war, wusste er nicht, wie er es ausdrücken sollte. „Fey“, fing er an. „Ich wollte dich um einen letzten Gefallen bitten.“, Die zierliche Frau sah ihm fragend in seine dunkelblauen Augen, doch er wich ihrem Blick aus. „Morgen ist es soweit. Wir werden die Chance ergreifen und unseren Plan umsetzen.“ Fey begriff. Wortlos nickte sie und machte sich daran, einige Fläschchen und Kräuterpackungen aus den Regalen zu ziehen um sie einzupacken. „Das ist alles was ich da habe.“, sagte sie schließlich. „Ich denke, es wird für etwa einen Monat, vielleicht zwei, reichen.“ Jay nahm das Päckchen entgegen, das sie ihm hinhielt und verstaute es in einer seiner Gürteltaschen. Er öffnete den Mund um sich zu bedanken, aber sie fiel ihm schon um den Hals, drücke ihn und wisperte „Leb wohl.“ Er zog sich seine Kapuze wieder ins Gesicht, wandte sich ab und verschwand aus der Hintertür. Kapitel 2: ----------- Es gab kaum eine Nacht, in der sie schlechter geschlafen hatte wie in dieser. Sie streifte ihr Schlafgewand ab und sank in die große Wanne, die mit heißem Wasser und duftenden Kräutern gefüllt war. Heute würde ihre Verlobung mit Duke Isaac Derivan bekannt gegeben werden. Es würde den Stand ihrer Familie erheblich aufbessern. Ihr war bis heute rätselhaft, wie ihr Vater, Baron Richard Roe, es geschafft hatte, diese Hochzeit zu arrangieren. Welcher Duke würde schon die Tochter eines Barons heiraten wollen? Eines wohlhabenden zwar, aber trotzdem mit so weit weniger Einfluss als die Dukes. Es musste sehr viel Geld geflossen sein. Ava versuchte sich zu beruhigen. Es hätte sie weitaus schlechter treffen können. Sie dachte nur an den etwas dümmlichen und fetten Sohn der Groomes, einer machtvollen Grafenfamilie an der Ostküste, der schon früher sein Interesse bekundet hatte. Irgendwie würde sie sich schon damit zurechtfinden. Immerhin war Isaac gebildet, gutaussehend und verbesserte ihren sozialen Stand. Alles wovon ein Mädchen träumen sollte. Das Klopfen der Mägde riss sie aus ihren Gedanken. Sie rief sie herein und ließ sich still von ihnen abtrocknen, ankleiden und frisieren. Ava musste aufkeuchen, als eine der Mägde ihr das Mieder zuzog. So fest saß es noch nie. „Die Männer mögen Wespentaillen!“ erklärte die Magd und zog noch fester zu. Das presse ihr sämtlichen Atem aus den Lungen, den sie noch zum Widersprechen verwenden wollte. Eine gute Stunde später betrachtete sie sich geschminkt und frisiert im Spiegel. Die Frauen hatten ihr einen hübschen Kussmund und rosige Wangen verpasst. Außerdem steckten dutzende glitzernde Perlen in ihrem blonden Haar, das zu einem lockeren Knoten hochgesteckt war. Sie funkelten in einem hellen Blau, das dem ihrer Augen glich. Das musste ein anderer Mensch sein, der sie dort anblickte. Fassungslos ließ sie sich noch in viel zu hohe Schuhe stecken und aus ihrem Gemach in die große Halle geleiten. Kaum ließen die Mägde von ihr ab, bot Isaac ihr schon seinen Arm an. Er musterte sie wohlwollend. „Ich kann kaum Worte für Eure Schönheit finden, meine Liebe. Ich hoffe, Ihr habt wohl geruht?“ „Natürlich.“ Warum log sie? Wenn diese Ehe Erfolg haben sollte, sollte sie in Zukunft ehrlicher zu ihm sein. Sie schob die Schuld auf ihre Nervosität. Ava klammerte sich an Isaacs Arm fest, kaum mehr darauf bedacht die wertvolle Seide seines Jacketts nicht zu zerknicken. Die Absätze ihrer Schuhe machten selbst den kurzen Weg über den Hofplatz zur Qual. Trotz allem meisterte sie, es unbeschadet in die feierlich geschmückte Dampfkutsche zu steigen und dabei dem Hofstaat, der sich auf dem Platz versammelt hatte, lächelnd zuzuwinken. Musste es unbedingt ein Duke sein? Hätte sie unter ihrem Stand geheiratet, wäre ihr diese öffentliche Zurschaustellung erspart geblieben. Aber letztlich war es nicht ihre Entscheidung. Die Kutsche nahm surrend ihren Dienst auf und passierte die breite Pflasterstraße, die zum Hoftor hinaus führte. Viele hatten ihre Häuser verlassen, um ihnen zuzujubeln. „Warum ich?“ fragte sie Isaac und brach damit die Stille, die sich schon wieder breitgemacht hatte. Sie fuhren gerade über eine schmale Landstraße zur nächsten Häusersiedlung, deshalb befand sie den Moment als passend, ihn zu fragen. „Ihr hättet jede haben können.“ Isaac schien verblüfft. „Ich wollte aber nicht jede, ich wollte Euch.“ „Warum?“ „Warum?“, Er überlegte. „Weil ich Euch vor zwei Jahren auf dem Winterball sah und mich in Euch verliebt habe. Aber Ihr wart noch zu jung.“ Ava hatte ihn wohl etwas ungläubig angesehen, denn er wirkte plötzlich verärgert. „I...Ich wusste gar nichts davon. Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht kränken.“ Er nahm ihre Hand. „Ich liebe Euch. Das ist alles was Ihr wissen müsst.“ „Natürlich.“ Sie senkte den Blick. Natürlich. An dieses Wort würde sie sich gewöhnen müssen. Aber hatte er gerade gesagt, dass er sie liebte? Errötet blickte sie aus dem Fenster und wartete darauf, dass die nächsten Häuser in Sicht kamen. Es dauerte gefühlte Stunden, bis sie den letzten Anlaufpunkt des Tages erreichten. Als der Eingang zum Untergrund sichtbar wurde, befiel sie ein flaues Gefühl. Sie hatte davon gehört, dass Menschen unter der Erde wohnten, aber mit eigenen Augen hatte sie es noch nicht gesehen. „Isaac, ist diese Gegend sicher?“ „Aber natürlich meine Liebe. Hier wohnen gewöhnliche Bürger niederen Adels, wie in den Stadtgemeinschaften auch. Hier sind nur die Mieten etwas niedriger.“ Isaac lächelte sie an und sie versuchte sich zu entspannen. Doch die Menschen jubelten ihnen auch hier so herzlich zu, bis sie ihre Sorgen vergaß. Wider ihrer Erwartung schien hier unten sogar die Sonne. Sie musste ganz genau hinschauen, um zu erkennen, dass das Bild, das sich ihr bot, ein wenig flackerte. Es musste von etlichen Holographen dort an die Decke geworfen werden. Die Kutsche erreichte den Absatz der ersten Ebene und arrangierte sich auf dem großen Lastenaufzug, dessen Hydraulik zischend ansprang und sich abwärts bewegte. „Wie viele Ebenen gibt es denn noch hier unten?“ fragte Ava unbehaglich. „Zwei offizielle Ebenen und ein Rattenloch voller Punks. Aber keine Sorge meine Liebe, wir werden nur eine kurze Runde durch die zweite Ebene drehen. Ihr werdet keinen Punk zu sehen bekommen.“ Punks. Diese unzivilisierten Kreaturen, die eher Tieren als Menschen ähnelten? Sie hatte davon gehört, aber sie hatte keine Ahnung, dass es davon welche in Neu London gab. Eine Gänsehaut kroch über ihre Arme. Es war beengend hier unten. Der Bürgermeister, der sich wie es schien heute in seine feinste Seide gekleidet hatte, winkte ihnen vom Rathausplatz aus zu. Die Freude der Bürger berührte Ava, obwohl sie nicht verstand, warum sich die Menschen über das Glück fremder Leute freuten. Wahrscheinlich gab es ihnen ein Gefühl von politischer Sicherheit. Ihre Kutsche passierte den großen Brunnen, der den Platz schmückte und lenkte gerade ein, um wieder in die entgegengesetzte Richtung zu fahren als eine heftige Explosion den Untergrund erschütterte. Krachend fielen Ziegel von den Häusern und die Menschen brachen in Panik aus. Ava musste vor Schreck aufkeuchen. Doch der Laut war kaum ihrer Kehle entwichen, als eine zweite Explosion, die von dem Brunnen ausging, ihre Kutsche erschütterte. Panisch krallte sie sich in die lederbespannten Sitze als die Kutsche ins Straucheln geriet und kippte. Ava wurde von einem Berg aus Seide und Unterröcken begraben und brauchte im Schock mehrere Sekunden, um sich wieder zu ordnen. „Isaac? Bei den Gestirnen, was ist hier los?“ Aber auch er hatte damit zu kämpfen, wieder in eine aufrechte Position zu kommen. Er hatte sich kaum aufgerichtet, als ein dumpfer Aufschlag die Kutsche zum Wanken brachte. Die Türe, die mittlerweile oberhalb der Kutsche lag, öffnete sich und ein Schwall Rauch schoss ins Innere, der Avas Augen zum tränen brachte. Als ihr Blick sich wieder klärte, beugte sich eine breite Gestalt über sie und griff nach ihrer Schulter. Als erstes nahm sie an, dass es ein Bürger sei, der sie aus ihrer misslichen Lage befreien wollte, aber dann entdeckte sie das Mal, das unter einem seiner dunklen Augen prangerte. Punk! Erschrocken zog sie sich zurück, als er sie berührte und schrie laut auf. „Isaac, Hilfe! Hilfe!“ wimmerte sie und fuchtelte wild umher, als der fremde Mann sie packte und an sich zog. Es musste eine Verwechslung vorliegen. Was sollte ein Punk mit ihr anfangen können? Isaac war doch der Sohn der, nach der königlichen Linie, einflussreichsten Familie Neu Englands. Der Punk presste ihr einen stinkenden Lappen auf Mund und Nase. Panisch versuchte sie zu schreien, aber sie brachte nicht mehr als dumpfe Laute hervor. Entsetzt Ava warf Isaac einen letzten verzweifelten Blick zu, bevor es dem Punk gelang, sie aus der Kutsche zu ziehen. Doch Isaac machte keine Anstalten, den Irrtum aufzuklären. Dann wurde die Welt schwarz. Kapitel 3: ----------- Dieses verdammte Weib war schwerer als erwartet. Vor allem ihre Röcke verhedderten sich so nervtötend in der Tür des umgestürzten Wagens, dass er die feine Seide einfach abriss. Mit dem Seil, das ihn auch schon herabgelassen hatte, band er ihren Körper an seinen und gab ein Zeichen. Schon wurde er von den Füßen gehoben und zu dem kleinen Zeppelin, der über ihnen schwebte, gezogen. Er wurde fast gegen eine Hauswand geschmettert, da sich der Zeppelin schon wieder in Bewegung gesetzt hatte, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig davon abstoßen. Oben angekommen griff er nach Ashers Hand, die er ihm schon entgegenstreckte. Sein Freund zog ihn an Denk und grinste ihn übermütig an. „Voller Erfolg, würde ich sagen.“ meinte Asher, als er ihm das Seil vom Leib schnitt. „Nicht so voreilig. Erst müssen wir noch unbeschadet hier rauskommen.“, erwiderte er und rollte das betäubte Mädchen von ihm herunter. „Gebt Volldampf!“ Ratternd und zischend schob sich der schwerfällige Zeppelin durch die Rauchschwaden, die noch immer in der Luft hingen. Es hatte Monate gedauert den Ballon zusammenzuflicken und den nötigen Wasserstoff herzustellen, aber endlich waren sie so weit gekommen. „Bringt das Mädchen unter Deck! Überlasst mir das Steuer! Mehr Dampf!“ bellte er zu seiner Crew. Das Schiff brach durch die letzten Rauchfetzen, die noch in der Luft hingen und gewann langsam an Fahrt. Unter ihnen hörte er Menschen rufen und schreien und plötzlich zerschnitten Schüsse die Luft. „Verdammte Scheiße, die schießen auf uns! Werft Rauchbomben!“ brüllte er und schon trugen einige seiner Männer dicke Bündel an die Reling. Einige Schüsse trafen den Rumpf des Schiffes und Holz splitterte. Er versuchte ruhig zu bleiben und die Maschine gegenzulenken, doch die nächsten Schüsse rauschten direkt durch die Haut des Ballons und zischend entwich Gas daraus. Endlich schlugen die Rauchbomben auf und hüllten den Untergrund in ein gleichmäßiges Grau. „Wir sind getroffen, werft Ballast ab!“ rief er seinen Männern zu und versuchte die Flughöhe des Schiffes zu halten. „Aber Captain... wir haben nicht viel abzuwerfen. Nur Nahrungsvorräte!“ richtete ein jüngerer Rebell das Wort an ihn. „Werft es ab, wenn ihr hier rauskommen wollt! Zuerst die Nahrung, dann das Wasser.“ sagte er entschlossen und klappte einen weiteren Schalter für zusätzlichen Schub um. Nachdem fast alle Vorratskisten über Deck gegangen waren, stabilisierte sich endlich die Flughöhe. Sie hatten die Stufe zwischen der zweiten und der ersten Ebene passiert und in der Ferne konnte man schon helles Licht in den Untergrund scheinen sehen. Seine Hände verkrampften sich um das Steuerrad bei dem Gedanken, dass sie dem ersten Schritt in die Freiheit so nahe waren. Ihr Kopf hämmerte und pulsierte heftig, um sie herum herrschte tosender Krach. Was war passiert? Sie war unterwegs mit Isaac... Ah! Sie musste auf der Feier nach der Verlobungsfahrt wohl zu viel getrunken haben und lag jetzt mit Kopfschmerzen im Bett. Sie wollte ihre Augen öffnen, doch ihre Lider schienen mit Blei gefüllt zu sein. Auch ihre Glieder gehorchten ihr nicht. Sie lag unbequem und ihr Bett war ungewöhnlich hart. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, die sie so dalag und sich nicht rühren konnte. Vergeblich versuchte sie die Hand auszustrecken, um nach einer Magd zu läuten. Der Lärm veränderte sich, wurde mal stärker, mal schwächer und etwas schien über den Boden zu kratzen. Plötzlich vernahm sie fremde Stimmen, die sich in rauem Ton unterhielten. Doch wie konzentriert sich auch hinhörte, verstehen konnte sie nichts. Die Welt schien in dicke Watte gewickelt zu sein. Ihr Bewusstsein schien wieder abzugleiten. Wie viel hatte sie getrunken? Nach einer weiteren Ewigkeit ohne klare Gedanken, gelang es ihr, sich zu räkeln. Endlich! Sie hatte sich schon fast wund gelegen. Aber bequemer wurde der Untergrund auch nicht. Mühsam richtete sich auf und versuchte die Trübheit aus ihren Augen zu blinzeln. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Das war nicht ihr Gemach. Sie hatte auch nicht zu viel getrunken. Sie war mit Isaac auf der zweiten Ebene unterwegs und dann war da dieser Punk, der ihr etwas ins Gesicht gedrückt hatte. Dann war ihre Erinnerung leer. Geschockt rieb sie sich über die Schläfen und versuchte sich zu orientieren. Sie kauerte in einer Ecke eines Kellers wie es schien und dort auf der anderen Seite scharrten zwei Männer Kohle auf dem Boden zusammen und warfen sie in einen Brennofen. Große kupferne Zahnräder knarrten bei jeder Fuhre Kohle und griffen schneller ineinander. Eine große Belüftungspumpe wurde von einem jüngeren Mann, fast noch ein Knabe, betätigt und blies kontinuierlich Luft in den Ofen. Diverse weitere Pumpen und Rohre füllten den Raum und es schienen sich zu viele Zahnräder zu drehen, als dass jedes eine wichtige Rolle spielen könnte. Wenn sie schnell hinter dieses große Rohr gelangen würde, das mitten durch den Raum verlief, könnte sie ungesehen die Treppe erreichen. Ohne größere Gedanken darauf zu verschwenden, wie es von dort aus weitergehen könnte, raffte sie ihre Röcke, um hinter das Rohr zu hechten. Entsetzt stellte sie fest, dass ihr festliches Kleid komplett zerrissen war. Unter ihrem Mieder waren nur noch ein paar Fetzen der feinen Seide übrig und der untere Teil fehlte einfach. Nur mit schlichten Unterröcken bekleidet fühlte sie sich schrecklich nackt. Ein Schauder durchfuhr sie. Diese Leute hatten ihr doch nicht etwa Gewalt angetan? Errötet prüfte sie ihre Schenkel, fand aber keine Anzeichen. Sicherlich hätte sie auch gespürt, wenn etwas Unziemliches passiert wäre. Ihr war schlecht. Wo war sie da nur hinein geraten? Sie sammelte sich und zog noch geistesgegenwärtig ihre viel zu hohen Schuhe aus, bevor sie hinter das Rohr sprang und sich dort zusammenkauerte. Hatten die Männer sie gesehen? Sie wagte es nicht nachzuschauen. Der Ruß, der sich am Boden gesammelt hatte, heftete sich an ihre Kleidung und Handflächen, als sie in Richtung Treppe krabbelte. Mit einem Satz überwand sie die kurze, vom Rohr ungeschützte Strecke, bis zur ersten Stufe. Ihre Lunge krampfte. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Doch oben angekommen blieb ihr wieder die Luft weg. Sie flogen! Das hier war kein Keller, es war der Maschinenraum eines verdammten Zeppelins! Und an Deck befanden sich etwa zehn weitere Männer, einer furchteinflößender als der andere und alle mit demselben Mal. Punks! „Hallo.“ sagte eine weiche hohe Stimme. Ava gefror vor Schreck das Mark in den Knochen. „Hallo.“, wiederholte die Stimme. „Wer bist du?“ Etwas zupfte an ihren Röcken. Ein Kind! Etwas von Avas Anspannung ließ nach. Da stand ein Mädchen neben ihr. Klein und dünn, mit weißem Haar. Und was bei allen Gestirnen war mit ihrer Haut los? Fassungslos starrte Ava das kleine Mädchen an. Ihre Haut war rissig und an manchen Stellen aufgeplatzt. Etliche Narben von genähten Wunden bedeckten ihre Arme und auch teilweise ihr Gesicht. Sie lächelte sanft, doch ihre Augen waren leer. Milchig trüb starrte sie an ihr vorbei und schien noch immer eine Antwort zu erwarten. „Ich bin Silph. Und wer bist du?“ versuchte sie es wieder. „I... ich bin Ava.“, rutsche es ihr heraus. Warum um alles in der Welt hatte sie geantwortet? „Es tut mir furchtbar leid, aber ich muss jetzt gehen.“ Gehen? Wohin? Das hier war ein fliegendes Gefängnis! Ava musste ein hysterisches Kichern unterdrücken. Die Männer schienen damit beschäftigt zu sein, dieses Ding am Fliegen zu halten, deshalb huschte Ava zur nächstgelegensten Reling und kletterte unbeholfen darauf. Das bloße Holz schien sich in ihre nackten Füße zu krallen und sie klammerte sich hilflos an einige Seile, die die Bretter mit dem Ballon verschnürten. Sie zitterte. Unter ihr konnte sie nur vage ausmachen, dass sich dort wohl einige Bäume und Dörfer befanden. Um Hilfe zu schreien wäre zwecklos. Und wenn sie springen würde, verringerte sie ihre Chancen, aus diesem Dilemma lebend herauszukommen, auf etwa genau Null. Jetzt fing sie doch an hysterisch zu glucksen, als sie sich ihrer Hoffnungslosigkeit bewusst wurde. „Was machst du da?“ wollte das Mädchen wissen und zog sie wieder am Zipfel ihrer rußbefleckten Röcke. Das wüsste sie auch gerne. Einen Moment lang hatte Ava tatsächlich daran gedacht, sich einfach fallen zu lassen. Aber was könnten diese Leute schon von ihr wollen? Geld hatte ihr Vater genug, um sie wieder freizukaufen. Krampfhaft klammerte Ava sich an diesen Hoffnungsschimmer und wurde jäh aus ihren Überlegungen gerissen. „Komm sofort da runter du verrücktes Weib!“ befahl eine tiefe Stimme mit einer Lautstärke und Autorität, dass Ava unwillkürlich zusammenzuckte. „Was fällt Euch ein, in diesem Tonfall mit mir zu reden? Wisst Ihr überhaupt wen Ihr vor Euch habt?“ erwiderte sie kleinlauter als beabsichtigt, als sie ihren Schreck überwunden hatte. Noch immer klammerte sie sich an die Seile, die sie vor dem Sturz in den Tod bewahrten. „Ich denke, das weiß ich sehr genau.“ Jetzt kam der Mann mit einem verwegenen Lächeln auf sie zu. Avas Atem stockte. „Ihr!“ zischte sie. Es war der Punk, der sie aus ihrer Kutsche gezerrt und sie betäubt hatte. Er war groß und wirkte bedrohlich. Seine Stiefel, in denen dunkelbraune Hosen steckten, ließen die Holzdielen knarren. Um seine Hüften trug er einen breiten Gürtel, der mit unzähligen Utensilien gespickt war. Er war bewaffnet! In zwei Gürteln, die um sein rechtes Bein geschlungen und an der Hose befestigt waren, glänzten kurze Messer. „Miss Ava Roe.“, erklärte er. „Zukünftige Gattin des nächsten Thronanwärters und damit nur eine Handbreit vom Titel der Victoria entfernt. Außerdem Tochter des wohlhabendsten Barons Neu Englands.“ Ava musste schlucken. Tatsächlich war sie sich nie darüber bewusst geworden, dass Victoria IV immer noch kinderlos war und sie mit der Heirat in die Erbschaft des Titels einrücken würde. „Wie Euch wohl entgangen sein muss, bin ich noch nicht verheiratet. Was sollte es Euch also nützen, mich zu entführen? Warum ich?“ Avas Lippen bebten, aber ihre Stimme war noch immer ruhig. „Ich würde sagen, das war wohl ein unglücklicher Zufall für Euch. Ihr wart lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort. Außerdem, warum hätte ich einen verzogenen Duke entführen sollen, wenn ich die Wahl hatte zwischen ihm und einer entzückenden jungen Lady wie Euch.“ Er leckte sich grinsend über die Lippen und Ava wurde bleich. Er bemerkte, dass ihr die Anspielung nicht entgangen war, grinste noch breiter und fuhr fort. „Ich bin mir sicher, dass Euer zukünftiger Gatte dafür sorgen wird, dass wir bekommen, was wir wollen.“ Er wirkte sich seiner Sache sicher. „Also geht es um Geld? Ihr könnt mich sofort hier absetzen und nach Hause schicken. Mein Vater wird Euch alles ausbezahlen, was ihr begehrt.“ „Bei euch Adligen geht es immer nur um Geld, oder?“, Er schüttelte abwertend den Kopf. „Was wir wollen ist viel mehr wert als Euer Vater jemals in Goldmünzen aufwiegen könnte! Ja, viel mehr als das ganze Adelspack jemals zusammenbringen könnte!“ Er war laut geworden und erntete nun jubelnde Zustimmung seiner Leute. Es war kaum zu übersehen, dass er der Anführer der Punks war, denn bisher hatte keiner der anderen Männer es gewagt, sich einzumischen. „Und nun kommt endlich da runter.“ Er kam noch weiter auf sie zu. „Wenn niemand aufbringen kann, was ihr verlangt, warum habt Ihr mich dann gefangen?“ Avas Stimme kippte. Sie war nicht weit von einem Nervenzusammenbruch entfernt. „Kommt keinen Schritt weiter! Lasst mich frei! Oder... oder...“, Mittlerweile kreischte sie. Sie riss das Mädchen an sich, das erschrocken quiekte. „... oder ich werfe das Kind über Bord!“ Silph lag ganz ruhig in ihren Armen und blickte sie mit großen milchigen Augen an, ohne sie wirklich zu fokussieren. Ava zögerte. „Collin!“ zischte der Punk und bevor Ava verstehen konnte, was passierte, peitschte ein dünnes Seil um sie herum und schnürte sie zusammen. Sie wurde von der Reling heruntergezogen und ihre Hände an ihrem Rücken zusammengepresst. Ein schmächtiger Junge, der eine Schweißerbrille auf sein mausbraunes Haar geschnallt hatte und die Ärmel seines Overalls an den Hüften zusammengebunden hatte, lächelte sie verlegen an und lockerte das Seil etwas, das aus einem messingfarbenen Armband an seinem Handgelenk herausgeschossen war. „Darf ich vorstellen? Das ist Collin. Der beste Mechaniker unter uns mit seinen siebzehn Jahren.“ Der Junge errötete und gab sie frei. Mit einer Hand fuhr er sich verlegen durch sein struppeliges Haar. Auch er war ein Punk, was der Strichcode, der auf einem seiner hohen Wangenknochen prangerte, zur Schau stellte. Wahrscheinlich waren alle hier an Bord Punks. Ava schauderte. Collin verbeugte sich kurz und zerrte dann Silph mit sich. „Ich bin übrigens Jay.“ Auch er deutete jetzt eine Verbeugung an, ohne sie jedoch aus den Augen zu verlieren. Er war ihr plötzlich näher, als es ihr lieb war und sie starrte hilflos in sein unerwartet schönes Gesicht. In seinen dunklen Augen lag ein neckisches Funkeln und sein weißes Leinenhemd bildete einen eindrucksvollen Kontrast zu seinen nachtschwarzen Haaren, die ungewöhnlicherweise bis über die Ohren zu kurzen Stoppeln rasiert waren. Darüber fielen sie jedoch in struppeligen, daumenlangen Strähnen über seine Stirn. „Ihr könnt kooperieren und die ganze Sache erleichtern. Oder aber wir werden Euch dazu bringen zu kooperieren.“ Jetzt wirkte er wieder gefährlich. Er wandte sich ab, um wieder das Steuer zu übernehmen, und Ava sackte in sich zusammen. Kapitel 4: ----------- Ein Rumpeln riss Ava aus ihrer Ohnmacht. Hatte der Boden eben gewackelt? Nervös tastete sie umher, fand aber nicht mehr als bloße Bodenbretter, an denen sie sich festhalten konnte. Dumpfe Schreie und Durcheinander verwirrten ihr die Sinne. Wieder wurde der Boden erschüttert. Plötzlich begriff sie und schrak auf. Sie befand sich wieder im Maschinenraum des Zeppelins, welcher gerade unangenehm durchgeschüttelt wurde. Neben ihr kauerte Silph. Ein Stich durchzuckte sie beim Anblick des Mädchens. „Silph, es tut mir so leid. Ich hätte niemals...“ „Ich weiß.“, erwiderte das Mädchen schlicht und drängte sich an sie. „Ich habe Angst. Warum wackelt es so?“ Zaghaft legte Ava ihr die Hand auf die Schulter, unsicher wo sie sie berühren durfte, ohne eine Wunde aufzureißen. „Ich bin mir nicht sicher...“ „Bei den Geiern, was tut ihr beide hier? An Deck, sofort!“ fuhr sie ein dunkelblonder Mann harsch an und zerrte sie hoch. „Was geht hier vor?“ wollte Ava wissen und ließ sich nur widerwillig von dem Mann mitziehen. Doch bevor sie eine Antwort erhielt hörte sie Jay vom Steuerrad aus rufen. „Asher! Ich brauche dich hier!“ „Ihr habt den Captain gehört.“ sagte der Punk, der Asher zu heißen schien und übergab die beiden an Collin. „Wir haben ein paar kleine Probleme mit dem Schiff.“, gab Collin zu und lächelte wieder verlegen, während er hoch zum Ballon zeigte. „Ich glaube, wir sollten uns etwas zum festhalten suchen.“ Avas Augen wurden groß, als sie die flatternden Fetzen sah, die wohl dazu gedient hatten, mehrere Löcher im Ballon zu flicken. Aber jetzt waren sie aufgebrochen und zischendes Gas strömte heraus, während sie kontinuierlich an Höhe verloren. Collin hielt ihr ein Seilende entgegen und hatte das andere Ende um sich selbst geschlungen. Ava zögerte. Doch wenn sie einem dieser Wilden vertrauen konnte, war es wohl Collin. Er schien so schüchtern und ungefährlich, obwohl sie eine seiner Erfindungen schon zu spüren bekommen hatte. Er hatte sie sofort befreit, als er die Situation unter Kontrolle gebracht hatte. Sie konnte ihm nicht böse sein. Außerdem waren sie gleichaltrig. Ava nahm das Seilstück entgegen und verknotete sich und Silph daran. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment machte der Zeppelin einen Satz, der sie von Deck gerissen hätte. Das Seil schnitt Ava in die Taille, aber sie versuchte ruhig zu bleiben und legte ihre Arme um die aufgeregt quietschende Silph. Was war hier nur los? Jetzt machte sie sich schon Sorgen um ein Punkmädchen und hatte Mitleid für einen Punkjungen, der mit hochrotem Gesicht versuchte, sich selbst an den Planken festzuhalten, gleichzeitig Ava und Silph zu sichern und noch gebührenden Abstand zwischen ihnen zu wahren, obwohl das kurze Stück Seil es kaum zuließ. Hinter sich hörte sie Jay Befehle brüllen und der Klang seiner Stimme ließ eine Gänsehaut über ihre Arme schießen. Dieser Mann war verdammt unerhört und furchteinflößend! Jetzt hatte sie schon zum zweiten Mal geflucht, seit sie hier war. Großartig. So würde ihr Leben also enden. Kapitel 5: ----------- An Bord herrschte Chaos. Männer riefen Anweisungen, rannten kreuz und quer durcheinander und versuchten, eine Notlandung einzuleiten. Die Hoffnung, dass sie wieder an Höhe gewinnen würden, hatten sie anscheinend aufgegeben. Das hatte jetzt auch Ava verstanden und klammerte sich hilflos an die kleine Silph. Nach grausamen Minuten, in denen der Zeppelin abstürze, hörte sie von irgendwoher ein „Macht euch bereit!“. Ihr Körper spannte sich unwillkürlich an und sie kniff die Augen zusammen. Trotzdem traf sie der Aufprall unerwartet. Das Holz des Maschinenraums splitterte und barst und sie wurde durch die Erschütterung hochgeschleudert. Das Seil spannte und presste ihr die Luft aus den Lungen. Tränen schossen ihr in die Augen und sie ächzte auf. Der Boden unter ihnen zerbrach und sie wurde mitsamt Collin und Silph von Bord geworfen. Krachend landete Ava auf Collin und spürte, wie seine Rippen brachen. Weiße Punkte tanzten ihr vor den Augen und alles was sie wahrnahm war Collins Keuchen und Silph, die sich an ihr festgekrallt hatte. Mit zittrigen Händen versuchte sie den Knoten zu lösen, der Silph und sie an ihn band und rollte sich schließlich von ihm herunter. Das Mädchen griff nach seiner Hand und saß nun neben ihm als würde sie ihn trösten. „Seid ihr in Ordnung?“ fragte Asher, der mit den Händen in den Hosentaschen auf sie zukam. „W...wie könnt Ihr so ruhig sein? Wir sind soeben abgestürzt!“ Ava war noch immer durch den Wind und nestelte nervös an einer blonden Haarsträhne, die sich nicht als einzige aus ihrer Frisur gelöst hatte. „Ich glaube ich habe ihm die Rippen gebrochen.“ Sie deutete auf Collin, der noch immer schwer atmend am Boden lag. „Solange es Euch gut geht.“ sagte Asher verschmitzt und senkte seinen Kopf zu einem gehauchten Handkuss, wobei ihm einige seiner langen dunkelblonden Strähnen in seine haselnussbraunen Augen fielen. Zu verblüfft um zu widersprechen oder zu reagieren, ließ Ava sich von ihm mitziehen. Der Zeppelin war ein einziges Wrack. Maschinenteile von der Farbe von Kupfer und Messing lagen gemischt mit Holzsplittern überall verstreut und sie musste darauf achten, nirgends hinein zu treten, da sie noch immer barfuß war. Weit und breit war kein Dorf oder andere Anzeichen von Leben zu sehen. Wo waren sie hier? Sie wurde bleich als ihr die einzige Gegend in Neu England einfiel, die so menschenleer sein konnte. Das Brachland vor Torrid’s Barren. Mental kramte sie nach allem, was sie über Torrid’s Barren gelesen hatte. Es war eine riesige magische Wüste, die sich weit im Norden von Neu London über fast die gesamte Breite Neu Englands erstreckte. Sie war meilenweit von jeglicher Zivilisation abgeschottet. Der Gedanke an die Wüste machte Ava nervös. Falls die Punks wirklich vorhatten sie zu durchqueren, wäre sie komplett von der ihr bekannten Zivilisation abgeschottet. Am liebsten würde sie einfach losrennen und nach Hilfe rufen, aber Asher hielt mit einer Hand immer noch ihren Ellenbogen fest. Auch er trug wie die anderen Punks schlichte Kleidung, an der mit mehreren größeren und kleineren Gürteln und Schnallen sein Hab und Gut befestigt war. Sein Cape flatterte im Wind und Ava kroch eine Gänsehaut über die Arme. Sie waren zwar nur knapp von einer Wüste entfernt, doch da sie magischer Natur war, herrschte hier trotzdem das kaltfeuchte Wetter, das sie auch aus Neu London kannte. Bedauernd schaute sie an sich herunter. Von ihrem Seidenkleid war nichts geblieben. Selbst ihre Unterröcke lagen jetzt in Fetzen und waren fleckig vom Ruß. Ihre Füße waren erdig und verdreckt und die meisten Perlen ihrer Frisur hatten sich herausgelöst. Sie schlang den einen Arm um sich, der nicht von Asher beansprucht wurde und versuchte die Tränen zu ersticken, die gerade in ihr aufstiegen. „Sie ist wohlauf, Captain. Aber vielleicht sollte sich jemand um Collin kümmern.“ sagte Asher und schubste Ava auf Jay zu, der sie an der gleichen Stelle packte. Seine Hand brannte heiß auf ihrer kalten Haut und jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Sofern Euch nichts anderes gesagt wird, werdet Ihr Euch in meiner Nähe aufhalten. Bleibt in meinem Blickfeld.“, zischte Jay sichtlich gestresst. „Ash, kümmere dich um Collin und die anderen Verletzten!“ Die Sonne warf ein paar letzte klägliche Strahlen über die Ödnis und legte das Lager der Punks in lange Schatten. Ava hatte den ganzen Abend damit zubringen müssen, Bretter einzusammeln und Vorräte aufzuteilen. Es reichte gerade so für eine Flasche Wasser und einen kleinen Beutel mit einer Handvoll trockener Kekse für jeden. Was dachten sich die Punks dabei so wenig Proviant einzupacken? Sie waren wohl nicht nur unberechenbar, sondern auch noch dumm. Stöhnend ließ sie sich am Lagerfeuer nieder, um das sich schon einige der insgesamt achtzehn Punks versammelt hatten. Jay setzte sich neben sie. Er hatte sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, was Ava unglaublich ärgerte. Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen um davonzulaufen und nun saß sie hier und ihr schmerzten sämtliche Glieder. Ihre Schuhe hatte sie in der Ruine auch nicht wiedergefunden, wobei sie darin sowieso kaum hätte laufen können. Sie hatte solchen Hunger, dass sie frustriert gleich zwei ihrer Kekse auf einmal aß und dabei abschätzige Blicke der anderen erntete. Silph kauerte neben Collin, der auf einigen Stofffetzen gebettet dalag, und kratzte sich an den blutigen Wunden ihrer Arme. „Was ist mit ihr?“ wollte sie von Jay wissen. Er folgte ihrem Blick und seine Miene wurde hart. Dann zischte er abfällig. „Was sollte das ein verwöhntes Adelsbalg wie dich angehen?“ Er war also sauer wegen den Keksen. Na schön. Provokativ biss sie von ihrem letzten Keks ein großes Stück ab, würgte es hinunter und streckte ihm die Zunge heraus. Sollte er lieber dafür sorgen, dass sie nicht verhungerte, wenn er noch irgendjemanden mit ihr erpressen wollte. Zu ihrer Überraschung grinste er sie jetzt verwegen an. „Ganz schön trotzig. Das gefällt mir.“ Seine tiefe Stimme kratze über ihre selbstsichere Fassade und ließ sie beinahe zerfallen. Ava raffte ihre Schultern. „Also? Ich höre.“ Er schnaubte. „Silphs Eltern waren die letzten Magiebegabten unter uns. Sie hatten zwei Töchter. Zwillinge. Beide hatten sehr vielversprechende magische Anlagen, aber Silphs Schwester starb zusammen mit ihren Eltern bei einem schweren Brand, den ein paar verzogene Adelssöhne durch Brandbomben verursacht haben. Sie fanden das wohl sehr unterhaltsam.“ Er lächelte schwach. „Für Silph war es alles andere als lustig. Die Magie ihrer Schwester hat sich bei ihrem Tod auf sie übertragen. Ganz zu schweigen vom Verlust ihrer Familie. Seither reißt ihr Körper unter der Spannung der Magie auf, die viel zu viel ist für einen so kleinen Körper. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie schon elf Jahre alt ist? Seit dem Brand vor drei Jahren ist sie kaum gewachsen.“ Avas Gefühle schwankten zwischen Erleichterung, dass Jay auf ihren Ablenkungsversuch eingegangen war und tiefer Bestürzung. „Das tut mir sehr leid.“, brachte sie schließlich mit gesenktem Blick hervor. „Das ist also Magie? Kein Wunder, dass sie verboten ist.“ Jay lachte scharf auf. „Silphs Eltern waren gute Leute. Sie haben unsere Kranken geheilt und unsere spärlichen Vorräte haltbar gemacht. Und obwohl sie nie Interesse an der Kriegsmagie gezeigt haben, wurden sie trotzdem zum Ziel gemacht. Ich kann nicht verstehen, warum ihr Adeligen so darauf bedacht seid, uns zu unterdrücken. Wir wollen nichts weiter als in Frieden leben.“ In seiner Stimme lag ein Zischen, was ihr einen kalten Schauer über die Arme laufen ließ. Sie war selbst bis zu eben diesem Moment davon überzeugt gewesen, dass Punks keinen gesellschaftlichen Wert hätten und in ihrem Verhalten mehr animalisch als menschlich wären. Sie schluckte schwer, als sie zu Silph und Collin hinüberschaute, der sie vor dem Aufprall geschützt hatte und nun verletzt war. Und zu Jay, der sie zwar grob, aber dennoch anstandsvoll behandelte, wie es ihr als Entführungsopfer wohl kaum zustand. Sie alle entsprachen keineswegs diesem Vorurteil, was sie umso stutziger machte, warum sie überhaupt entführt worden war. Sie wagte es allerdings nicht, den gereizten Jay noch einmal darauf anzusprechen, deshalb hielt sie nur stumm ihre eisigen Hände in Richtung des Lagerfeuers. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)