Falsche Blüten von Flordelis (Custos Vitae reminiscentia) ================================================================================ Kapitel 6: Am Tatort -------------------- Wie Kieran feststellte, wurde der Tatort bewacht – auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, weswegen – so dass er tagsüber keine Gelegenheit fand, in den Stall zu kommen. Also blieb ihm nichts anderes übrig als bis in die Nacht hinein zu warten. Die inzwischen ausgewechselten Wachen passten zwar immer noch auf, aber er hatte im Laufe des Tages eine Strategie entwickelt, um die Männer abzulenken – und zu seinem Glück hatte die dafür notwendige Schlüsselfigur sich bereit erklärt, ihm zu helfen. Zufrieden beobachtete er, wie die Wachen allesamt davongingen, dann lächelte er Bellinda entgegen. „Vielen Dank für deine Hilfe.“ Sie rückte sich die Brille zurecht, wobei ein Ärmel ihrer marineblauen Jacke an ihrem dünnen Arm hinabrutschte. „Keine Ursache~. Ich kann doch nicht zulassen, dass irgendwer versucht, Richard die Schuld in die Schuhe zu schieben.“ Kieran war froh über ihre Worte, immerhin sagten sie ihm auch, dass er nicht der einzige war, der von Richards Unschuld überzeugt war – neben Allegra. „Wie hast du die Wachen überredet, wegzugehen?“ Vielleicht konnte er dieses Wissen auch gebrauchen, irgendwann einmal... wer wusste schon, was das Leben noch für ihn bereithielt? Doch sie schmunzelte. „Das ist ein Geheimnis. Eine Frau verrät doch nicht alles, was sie weiß.“ Er lächelte ein wenig, erwiderte aber nichts mehr darauf, sondern begab sich in den Stall hinein. Jemand hatte die Lampen, die an den Balken befestigt waren, angezündet, so dass ein wenig Licht das Innere erhellte und es ihm erlaubte, sich umzusehen. Bauer Foreman war bereits alt gewesen und hatte seine Tiere zum größten Teil an einen anderen Landwirt abgegeben, deswegen war der Stall leer – abgesehen von der einen Kuh, die in einer der Ecken stand und ihn interessiert betrachtete. Kieran sog scharf die Luft ein, als er sie bemerkte und wich einen Schritt zurück. Seine Beine zitterten ein wenig, während er das Tier auf Anzeichen von Aggressivität musterte. Bellinda trat neben ihn und sah ihn fragend an. „Was ist los, Kieran?“ Er deutete wortlos auf das Tier, sie folgte seinem Fingerzeig, verstand aber offenbar nicht, was er ihr damit sagen wollte. „Es ist doch nur eine Kuh.“ Das änderte nichts daran, dass er sich vor ihr fürchtete. Es war ja nicht so, dass er Tiere nicht mochte, solange sie in sicherer Entfernung waren, störten sie ihn nicht – aber sobald sie in greifbarer Nähe waren und er nicht erkennen konnte, was sie vorhatten, flößten sie ihm doch einiges an Respekt ein. Und Kühe gehörten zu jener Tierart, denen man nicht ansehen konnte, was sie planten. Hunde zeigten die Lefzen und knurrten, während Katzen die Ohren anlegten und einen Buckel formten, aber Kühe? „Oh, ich glaube es ist Bessy!“ Mit strahlendem Gesicht trat sie auf Bessy zu. Kieran wollte sie zurückziehen, war vor Furcht aber zu sehr gelähmt und beobachtete somit untätig, wie Bellinda vor der Kuh stehenblieb und dieser über den Kopf zu streicheln begann. „Awww, wer ist eine brave Bessy? Du bist eine brave Bessy~.“ „Sie ist kein Hund“, murmelte Kieran verstimmt, während seine Furcht langsam schwand, da Bessy diese Behandlung wohl zu gefallen schien. Bellinda beachtete ihn nicht weiter, sie schien viel zu sehr in ihrem Element der Tierliebenden zu sein und Kieran beschloss, sie nicht weiter zu stören. Immerhin hielt sie ihm damit auch die furchteinflößende Kuh vom Leib. Es grauste ihm, dass Bellinda sich diesem Wesen wirklich freiwillig näherte, aber solange ihr nichts geschah, könnte er das nutzen. Er widmete sich dem rotgefärbten Stroh, auf dem Blythe gefunden worden war. Sie hatte ruhig dagelegen, wenn er sich an Farens und Joshuas Aussage zurückerinnerte, hatte Richard auf ihr gesessen und ihren Brustkorb geöffnet. Er wollte ihr Herz essen... ihr Herz... Die beiden jungen Männer hatten nur davon gesprochen, dass er dabei gewesen war, ihren Brustkorb zu öffnen, aber er kannte dieses Tatmuster. Sein Vater, Cathan, hatte einst einen Dämon gejagt, der die Herzen von Menschen verschlang, um deren Lebenskraft in sich aufzunehmen. Er hatte diesen Dämon nie fangen können – war dieser etwa hier am Werk? Aber konnte er überhaupt seine Gestalt ändern? Cathan hatte ihm nie sehr viel über seine Arbeit oder die Merkmale der einzelnen Dämonen erzählt. „Ich will nicht, dass du so viel leidest wie ich“, hatte er stets dazu gesagt. „Es ist besser, wenn du nicht zu sehr in diese Welt hineingezogen wirst.“ Jetzt bin ich auch so in diese Welt geraten, dachte Kieran seufzend, und könnte dieses Wissen gut gebrauchen. Sein Blick wanderte über das rote Stroh, er versuchte sich vorzustellen, wie alles in der Tatnacht ausgesehen hatte und rief sich dabei auch ins Gedächtnis, was Faren und Joshua ihm erzählt hatten. Dabei schien es ihm als würden geisterhafte Figuren alles visuell vor ihm sichtbar werden lassen und nur für ihn das Schauspiel wiederholen. Sie haben ihn gestellt, er stand auf und warf diese Nadel, die sie ihm zurückschleuderten. Sie streifte seinen Hals und... Es müsste bedeuten, dass diese Nadel noch irgendwo hier war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand sie mitgenommen hatte, also müsste er sie nur finden, vielleicht bekam er somit weitere Einblicke, was den Mörder anging. Er sah sich noch einmal nach Bellinda um, die immer noch mit der Kuh sprach, als würde diese irgendein Wort davon verstehen und widmete sich dann wieder seiner Suche nach der Nadel. Er begann damit, indem er erst den Blick über den Boden wandern ließ, aber da dies erfolglos blieb, machte er mit der Wand weiter. Und dort wurde er nach kurzer Zeit fündig. Eine kaum sichtbare Nadel steckte in der Wand, deswegen war sie wohl noch von niemandem entdeckt worden. Kieran nahm sie an sich, um sie genauer zu betrachten. Die Oberfläche war seltsam rau, was dafür sprach, dass sie nicht aus einer Schmiede stammte, außerdem war sie warm, also konnte sie auch nicht aus Metall sein. Er wusste, dass manche Dämonen in der Lage waren, ihre Knochen als Waffen zu verwenden, das hatte seinem Vater das Leben gekostet und die Erinnerung daran zog wieder schmerzhaft in seiner Brust. Aber die Nadel in seiner Hand war auch nicht aus diesem Material. Es scheint eher... Holz zu sein. Wie seltsam. Holz war zerbrechlich und anfällig für Hitze, außerdem konnte es splittern, es war eine seltsame Idee, es zu einer ernstzunehmenden Waffe umzufunktionieren. Aber diese Waffe hier hatte eindeutig Richard verletzt und höchstwahrscheinlich auch Allegra und sie hatte in der Holzwand festgesteckt. Er spürte eine plötzliche Änderung in der Atmosphäre, so als wäre jemand mit lautlosen Schritten in den Stall getreten und würde ihn nun beobachten, aber er dachte sich nichts weiter dabei, da er nicht glaubte, dass jemand derart leise sein konnte und überlegte weiter, was es zu bedeuten hatte, dass die Waffe aus Holz war. Seine Gedanken wurden plötzlich von Bellinda unterbrochen: „Ähm, Kieran?“ „Was ist los?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. „Du solltest wirklich... mal hersehen.“ Ihre Stimme klang weniger ängstlich, mehr verunsichert und verwirrt, dennoch konnte er nicht anders als anzunehmen, dass die Kuh plötzlich doch aggressiv geworden war oder ähnliches. Er drehte sich daher mit dieser Erwartung um und erstarrte geradezu, als er nicht einer Bessy mit roten Augen und Schaum vor dem Maul gegenüberstand. Zwischen ihm und Bellinda stand eine Gestalt mit hängendem Kopf, umgeben von einer finsteren Aura – aber das wirklich Furchteinflößende war die Tatsache, dass er aussah wie Kieran. „W-was bedeutet das?“, fragte Bellinda mit zitternder Stimme. Also hatte ich recht! Ein Dämon ist für diese Tat verantwortlich! Ich muss es nur noch irgendwie beweisen. Der beste Beweis wäre wohl, diesen Dämon zur Wache zu schleppen, aber er hatte bereits das Gefühl, dass es nicht so einfach werden würde – und das bestätigte sich auch bereits sofort, als das Wesen den Kopf hob, etwas aus dem Ärmel schnellen ließ und es auf Kieran schleuderte. Dieser wich hastig zur Seite aus. Die Nadeln blieben mit einem dumpfen Laut in der Wand stecken und verrieten erneut, wie scharf und widerstandsfähig sie waren. „Was soll das?“, fragte Bellinda ratlos. „Was geht hier vor?!“ Zu Kierans Erleichterung beachtete das Wesen sie nicht weiter, sondern konzentrierte sich vollkommen auf ihn. Er wollte nach einer Waffe greifen, stellte aber fest, dass er keine mit sich trug, immerhin war er nicht davon ausgegangen, dass er würde kämpfen müssen. Zwei finstere Klauen schossen aus dem Rücken des Dämons und wollten nach Kieran greifen. Er duckte sich darunter hinweg – die schattenhaften Hände trafen aufeinander und lösten sich auf – und startete aus der Hocke in einen Sprint auf seinen Gegenüber zu. Zu seiner Erleichterung und Verwunderung wich das Wesen aus, so dass er daran vorbeirennen konnte. Es würde vermutlich nichts bringen, zu fliehen versuchen, das kannte er zur Genüge, deswegen brauchte er eine Waffe. Eigentlich wollte er eine Heugabel ergreifen – falls er eine finden würde – aber Bellinda begriff die Situation sofort. Sie griff an ihren Gürtel und zog ihre eigene Waffe hervor, die sie Kieran reichte, als er neben ihr zu stehen kam. Es war eine Elefantenaxt, eine Waffe, die im ersten Augenblick an einen kurzen Speer erinnerte, dessen Griff mit Leder umwickelt war, aber die Klinge war die eines Kurzschwertes – soweit Kieran wusste, nutzte man diese Axt normalerweise, um auf Elefantenjagd zu gehen, weswegen er nicht verstand, warum sie so eine Waffe nutzte, aber im Moment kümmerte ihn das auch nicht weiter. Dankend ergriff er die Axt, die überraschend schwer war, wie er bemerkte und wechselte dann wieder seinen Standort, um Bellinda nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Er lief aus dem Stall hinaus und wurde dabei von dem Dämon verfolgt, der ein furchterregendes Lachen ausstieß, das nichts Menschliches an sich hatte. Kieran überlegte, das Wesen bis zur Wache zu locken, doch es schien das zu ahnen, denn plötzlich landete mehrere dieser Holznadeln vor ihm und wuchsen in rasender Geschwindigkeit zu einem hölzernen Zaun an, der ihm den Weg abschnitt. Leise fluchend blieb er stehen und fuhr herum, damit er sich seinem Doppelgänger stellen konnte, auch wenn er über keinerlei Erfahrung im Kampf verfügte. Ich darf nicht verlieren. Wenn ich sterbe, wird er mit Sicherheit auch Bellinda angreifen und dann wird niemand mehr Richard retten können. Der Dämon nutzte wieder die schattenhaften Klauen, diesmal in einem Versuch, seine Beine zu ergreifen, doch Kieran wich zur Seite aus, um ihm zu entgehen und sprintete dann erneut auf ihn zu, auch wenn es ihm mit der schweren Waffe in der Hand deutlich weniger leicht fiel. Dieses Mal wich der Dämon auch nicht aus, sondern erwartete den Angriff offenbar. Als die Axt ihn streifte – ohne Erfahrung im Umgang damit, konnte er keinen besseren Angriff zeigen – wusste Kieran auch sofort, weswegen er das Ausweichen für überflüssig empfand: Ein scharfer Schmerz zog sich an seinem linken Arm entlang; als er hinsah, entdeckte er, dass er zu bluten begonnen hatte und die Verletzung war dieselbe wie am Arm des Doppelgängers. Das erklärt, warum Richard verletzt war, obwohl sie den Dämon erwischt haben. Aber wie besiegt man ein solches Wesen? Er war zu sehr in Gedanken versunken, um die schattenhaften Klauen dieses Mal zu bemerken, so dass sie sich um ihn schließen und in die Luft heben konnten. Ohne jeden Kontakt zum Boden, fühlte er Hilflosigkeit in sich aufsteigen, die mit Panik einherging, von ihm aber mit Logik gekontert wurde. Würde er panisch und kopflos werden, wäre dies auf jeden Fall sein Ende und er war nicht gewillt, einfach so zu sterben. Er versuchte sich zu befreien, aber obwohl diese Klauen aus Schatten oder Rauch zu bestehen schienen und nicht einmal an seinem verletzten Arm für Schmerzen sorgten, hielten sie ihn erstaunlich fest. Sein Doppelgänger grinste und enthüllte dabei zwei Reihen lächerlich scharfer Zähne, die direkt aus dem Maul eines kleinen Hais entnommen sein mussten. Doch gerade als Kieran sich seinem Schicksal ergeben wollte, schrie der Dämon schmerzerfüllt auf und ließ ihn wieder fallen, so dass er schmerzhaft auf dem Boden aufkam. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass Bellinda eine Schleuder hervorgezogen und etwas auf den Rücken des Wesens gefeuert hatte. Sie ist wirklich tapfer, das muss ich ihr lassen... Ihre impulsive Tat hatte ihn aber nicht nur aus den Fängen seines Gegners befreit, sondern diesem offenbar auch noch derart zugesetzt, dass er es nicht mehr schaffte, seine Form dauerhaft beizubehalten. Immer wieder verschwamm die Gestalt Kierans und gab den Blick auf sein wahres Wesen frei, das eine nackte und haarlose Marionette zu sein schien. Es drehte sich zu Bellinda um, so dass Kieran auf den Rücken sehen konnte – und dort eine Art blau schimmernder Kristall entdeckte. Die Kraftquelle? Zwar bestand die Gefahr, dass er sich selbst schaden würde, wenn er diesen Kristall angriff, aber ihm blieb auch keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn das Wesen hatte es nun auf Bellinda abgesehen, da es sie als akute Bedrohung wahrnahm. Ihm blieb also nur das Risiko oder der Verlust einer Freundin. „Wenn der Moment kommt, wirst du wissen, was zu tun ist“, hörte er die Stimme seines Vaters und erkannte erstmals, was diese Worte zu bedeuten hatte. Kurzentschlossen stürmte er also mit erhobener Axt auf das Wesen zu und ließ die Klinge auf den Kristall niederfahren, der im selben Moment in unzählige Scherben zersplitterte. Ein lautes Kreischen erklang und ließ Kieran wieder zurückweichen. Das Wesen fiel zu Boden, verlor endgültig seine Gestalt als Doppelgänger und blieb reglos liegen. Die Erleichterung, dass Bellinda blass, aber gesund war und der Blutverlust, ließen das Adrenalin in seinem Inneren abflauen und ersetzten es durch ein dumpfes Gefühl, auf das sich ein dunkler Schleier legte. Noch bevor er Angst haben konnte, möglicherweise selbst nicht mehr aufzuwachen, wenn er erst einmal bewusstlos war, fiel er selbst zu Boden. Er sah noch, wie Bellinda schockiert auf ihn zulief, hörte wie durch Watte, dass sie seinen Namen rief, dann fiel der Vorhang und ließ vorerst seine Schmerzen verschwinden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)