Das Panopticon von Kiryava ================================================================================ Kapitel 2: Teil II ------------------ Da wünschte ich, du solltest doch wenigstens mein Lachen hören, gerade während man dich ans Kreuz schlüge – Und so lachte ich auf, so schrill, so laut ich konnte. Das war das Lachen, Fridolin – mit dem ich erwacht bin. Arthur Schnitzler: Die Traumnovelle Rose saß in ihrem Büro und versuchte verzweifelt, sich auf die Korrektur ihrer Berechnungen zu konzentrieren, doch es war unmöglich. Die Zahlen tanzten vor ihren Augen und fügten sich einfach nicht zu den logischen Ketten zusammen, die sie sonst immer bildeten. Schließlich stützte sie den Kopf in die Hände und bohrte ihre Fäuste tief in ihre Augenhöhlen. Es war nicht nur, dass sie Alexander gut gekannt hatte. Es war nicht nur, dass er so ziemlich ihr einziger Freund gewesen war. Nein, viel schlimmer war, dass sie sein Fehlen bis zu dem Moment, als Karla mit der Nachricht seines Todes hereingeplatz war, nicht mal bemerkt hatte. Sie konnte sich kaum noch erinnern, was danach geschehen war. Alle hatten herumgebrüllt und irgendwas geschrien, der Lärm war unerträglich gewesen. Am Ende hatte sie nur verstanden, dass Alexander offenbar ermordet worden war, mehr wusste sie nicht. „Der Mörder muss einer von hier sein, niemand sonst hat Zugang zum PIT-Firmengelände.“ Rose wusste nicht mehr, wer das gesagt hatte, nur, dass der Gedanke sie maßlos erschreckte. Das war wie in einem Horrorfilm. Der Rest des Essens war wie ein furchtbarer Albtraum gewesen, als die schrecklichen Details langsam auch bis zu ihr durchsickerten. Sie war zum Schluss eine der wenigen, die noch saß und eine der wenigen, die nichts sagte. Jemand habe Alexander auf höchst grausame Weise die Kehle aufgeschlitzt, erklärte ein Mann. Er sei im Bad auf seinem Wohnflügel gefunden worden. Das wusste eine Frau. Rose wusste nur noch, dass sich ihr der Kopf gedreht hatte. Und irgendwann stand sie außerhalb des Saals mit Carter, der einen Arm um sie gelegt hatte, wahrscheinlich um sie zu stützen. „Vielleicht solltest du dich ein wenig hinlegen“, sagte er sanft. Sie schüttelte den Kopf. „Wenn ich mich jetzt hinlege...“ ... kann ich nachher nicht wieder aufstehen, hatte sie sagen wollen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Stattdessen ließ sie es ungesagt. „Ich sollte wieder ins Büro.“ „Bist du sicher?“ Sie nickte. „Das lenkt mich ab.“ Er musterte sie aufmerksam. „Du kanntest ihn.“ Es war keine Frage. „Ja, wir waren befreundet. Er ...“ Sie schüttelte den Kopf, um nicht in Tränen auszubrechen. Jetzt, in ihrem Büro, alleine, hielt sie nichts davon ab zu weinen. Sie spürte, wie ein paar Tränen zwischen ihren Fingern hindurch rannen, aber es waren nicht viele. Wie sollte sie den Rest des Tages überstehen? Die Stunden zogen quälend langsam dahin. Rose kritzelte abwechselnd auf ihrem Notizblock herum, starrte in die Luft oder versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie machte keine Pause um vier wie sonst immer, sondern blieb in ihrem Büro sitzen, starrte auf den Bildschirm und versuchte ihre Gedanken auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Es klappte nicht. Sie musste um halb sieben das Büro verlassen, ohne den Auftrag fertig gestellt zu haben. Die Gänge begannen gerade sich zu füllen, als sie nach draußen trat. Die meisten machten jetzt Feierabend und gingen in ihre Zimmer, oder trafen sich auf ein Gespräch in der Cafeteria oder einem der anderen Aufenthaltsräume. Wie üblich steuerte Rose ihr Schlafzimmer an, denn besonders heute hatte sie keinerlei Interesse an jeglichem Kontakt mit den anderen. Es machte sie fertig, wie normal die Leute sich verhielten. Im Fahrstuhl stand sie mit geschlossenen Augen an die verspiegelte Rückwand gelehnt und versuchte, sich auf ihr Bett zu freuen. „Roseville soll in einem der Badezimmer umgebracht worden sein.“ Der Satz brach brutal in ihre Gedanken ein. Sie öffnete ihre Augen einen Spalt weit und sah eine Gruppe von vier Männern einsteigen, die sich angeregt unterhielten. „Natürlich“, antwortete ein älterer Herr mit Bart und Brille, den sie als Dr. Marley erkannte. Sie erinnerte sich, beim Essen einige Male neben ihm gesessen zu haben. Er redete gerne und viel, und Rose hatte sich oft von seinen lauten Reden und häufigem Lachen geradezu erschlagen gefühlt. „Wenn ich jemanden umbringen wollte, würde ich das auch im Bad tun. Ist schließlich der einzige Ort, an dem du unbeobachtete bist.“ „Sonst sind ja überall Kameras“, bestätigte der, der zuerst gesprochen hatte. „Ich weiß sowieso nicht, was daran so ungewöhnlich sein soll. Er wurde in dem Badezimmer umgebracht, das auf dem Stockwerk liegt, in dem er wohnte. Und es war nicht die Frauentoilette.“ „Ja schon, aber warum sollte jemand die öffentlichen Badezimmer benutzen? Das ist doch bescheuert, wenn du eigene hast.“ Das Öffnen der Tür unterbrach das Gespräch der Männer kurzzeitig. Die Gruppe stieg aus. Rose warf einen kurzen Blick auf die Anzeige. Sie waren im ersten Stock, sie hatte ihr Stockwerk verpasst. Ehe sie wusste was sie tat, folgte sie den Männern in einigem Abstand. „... hat da wohl etwas nicht ganz Einwandfreies gemacht“, hörte sie Marley mit einem dumpfen Lachen sagen. „Oder sein Mörder hat etwas Verbotenes gemacht und Roseville hat ihn dabei erwischt.“ „Du sprichst ja wie dieser Detektiv aus dem Fernsehen.“ „Ja, ich muss zugeben, die Sache interessiert mich.“ Marley lachte wieder. „Nach vierunddreißig Jahren passiert hier endlich mal etwas Interessantes.“ „Mach dir nicht zu viele Hoffnungen“, meinte der erste Mann, während er in sein Zimmer ging, „in ein, zwei Tagen hat die Verwaltung den Fall eh aufgeklärt. Denen bleibt doch nichts verborgen.“ „Wir werden sehen“, brummte Marley und setzte seinen Weg fort. Die öffentlichen Badezimmer auf allen fünf Stockwerken waren in der Mitte der Schlaftrakte positioniert worden. Rose nahm an, dass sie temporären Besuchern der Firma dienen sollten, auch wenn sie noch nie einen solchen gesehen hatte, und auch selber nie einen ihrer Kollegen diesen Raum hatte nutzen sehen. Genau genommen wusste sie nicht mal, wie die Dinger aussahen, denn sie hatte es sich zur Regel gemacht, sich um nichts zu kümmern, außer um sich selbst und ihre Arbeit. Sie war in den letzten Jahren so folgsam gewesen, dass sie beinahe vor sich selber erschrak, als sie sich plötzlich dabei wiederfand, wie sie die Tür zum öffentlichen Bad am Ende des Flures öffnete. Sie hatte nicht erwartet, irgendetwas zu finden und so bekam sie einen furchtbaren Schrecken, als eine Person im Raum stand. Für einen Moment dachte sie, es handele sich um Alexander. Er war es natürlich nicht. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass es Carter war, der sich zu ihr umdrehte und ähnlich erschreckt aussah, wie sie. „Was machst du denn hier?“, fragte er mit leichtem Beben in der Stimme. „Ich wollte mir den Ort ansehen, wo Alexander Roseville sterben musste.“ Der Raum war steril und künstlich. Boden, Wände und Decke waren weiß gefließt. Es erinnerte Rose an ein Schwimmbad oder vielleicht auch an ein Schlachthaus. Über den Waschbecken hingen Spiegel. Die Duschen gingen zur linken Seite ab, die Toiletten zur rechten. Ein starker Desinfektionsgeruch lag in der Luft, sonst war aber nichts Auffälliges am Raum. „Es ist nichts mehr zu sehen, das dachte ich mir“, sagte sie leise und fuhr sich nervös durch die Haare. Der Gedanke, dass hier einer ihrer wenigen Freunde gestorben war – nein nicht gestorben, sondern ermordet! – machte ihr stärker zu schaffen, als sie gedacht hatte. „Ja, die Putzkolonne hat das Meiste beseitigt“, erklärte Carter emotionslos. „Sie haben ihn in irgendeiner Kammer, oder so, aufgebart und bringen ihn morgen zu seiner Familie zurück. Das ist zumindest die Information, die ich aus den Leuten herauskriegen konnte.“ Dass Alexander eine Familie gehabt hatte, war Rose neu. Obwohl sie beide sich gut verstanden hatten, hatten sie niemals über solche Dinge geredet. Man sprach hier nicht viel über Persönliches. „Wart ihr sehr gut befreundet?“ Sie nickte. „Er war so ein bisschen wie ein großer Bruder für mich. Manchmal habe ich-“ Sie unterbrach sich. Sie wollte solche privaten Dinge nicht einfach so einem praktisch Fremden erzählen. Energisch rieb sie sich über die Augen; und sie wollte jetzt nicht anfangen zu weinen. Nicht hier. „Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass er nicht da war“, sagte sie leise. „Es ist niemandem aufgefallen.“ „Ja, natürlich, die dachten nur es sei ein weiterer Normalfall, aber ich hätte es wissen müssen!“ „Ein Normalfall?“ „Ab und zu ... verschwinden Leute. Einfach so. Das ist normal. Wenn man sich nicht an die Regeln hält, fliegt man raus.“ „Und man sieht diese Leute nie wieder?“ Rose schüttelte den Kopf. „Sie dürfen nicht mehr hier hinein, wenn sie nicht mehr hier arbeiten. Die Verwaltung handelt bei sowas immer schnell. Wir müssen unsere Ergebnisse schließlich schützen.“ Carter nickte. „Was machst du eigentlich hier?“, fragte Rose plötzlich. „Es ist mein erster Arbeitstag und ein Mensch ist gestorben. Und auch noch auf meinem Stockwerk. Natürlich mache ich mir Gedanken. Ich hoffe sowas kommt nicht öfter vor“, fügte er mit einem Grinsen hinzu. „Nein“, sagte Rose, die nicht zurücklächeln könnte. „Normalerweise nicht.“ „Dann brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen.“ Er ging zu einem der Waschbecken und wusch sich die Hände. In Rose stieg ein plötzlicher Ekel über diesen Raum auf, sie hätte nicht mal im Traum daran denken können, hier irgendetwas anzufassen. „Ich gehe dann mal wieder“, presste sie hervor und verließ dann fluchtartig das Bad. Es war eine schlechte Entscheidung gewesen, hierherzukommen. Die Erinnerung an das kalte, künstliche Zimmer, in dem Alexander gestorben war, bereitete ihr Übelkeit. Sie hätte sich einfach in ihr Bett legen und schlafen sollen. „Sieh mal einer an“, sagte plötzlich eine Stimme. „Wo kommen Sie denn her?“ Rose hob den Kopf. Ihre Sicht war ein wenig verschwommen, aber sie konnte trotzdem das Gesicht von Susan Locks erkennen. Susan arbeitete auf demselben Stockwerk wie sie und - wie Rose vermutete - auch an demselben Thema. „Ich wollte sehen, wo Alexander gestorben ist“, antwortete sie leise. „Aber ich fürchte es war keine so gute Idee.“ „Sie haben heute aber früh Schluss gemacht“, sagte Susan mit einem Blick auf die Uhr. „Ich habe bis gerade eben gearbeitet. Waren Sie etwa schon früher fertig?“ „Das geht Sie nichts an“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Beide, Rose und Susan, drehten sich um. Es war Carter, der gerade aus dem Raum getreten sein musste. „Wenn Ihr Freund stirbt, arbeiten Sie dann auch einfach weiter wie zuvor?“ „Arbeit geht hier nun mal vor“, sagte Susan. „Wenn man vorankommen will, muss man sich anstrengen. Aber das müssen Sie wohl erst noch lernen.“ Mit diesem Satz rauschte sie an ihnen vorbei. Rose bedankte sich bei Carter, dass er sie in Schutz genommen hatte. Auch wenn sie lieber keinen Streit mit Susan vom Zaun gebrochen hätte, war sie froh, sich nicht mehr mit ihr abgeben zu müssen. „Das war doch selbstverständlich“, erklärte er nur und lächelte schon wieder. „Lass dich von der nicht unterkriegen, die ist nur eifersüchtig.“ „Vielleicht hast du recht.“ Auf einmal war sie furchtbar müde. „Ich sollte jetzt wirklich gehen“, sagte sie. „Bis morgen.“ „Willst du nicht noch ein bisschen bleiben?“, fragte er leise. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“ Dann nahm sie den Aufzug nach oben. „Guten Morgen, Herr Liebermann. Hier ist Ihre Post.“ Fanny trat wie jeden Morgen durch die Tür und legte ihm einige Umschläge auf den Platz auf seinem Schreibtisch, der dafür vorgesehen war. Liebermann bedankte sich, und wollte ihr eine weitere Anweisung geben, als ihm der Brief, der ganz oben auf dem Stapel lag, ins Auge fiel. Es war dasselbe Logo wie auf dem ersten Schreiben, das er erhalten hatte. Auf einmal fiel ihm der Besuch bei Doktor Breugen ein und die Bescheinigung. Wie hatte er das vergessen können? Er versuchte sich an die Untersuchung zu erinnern, aber alles gestern Geschehene war wie hinter einem dichten Nebel, als hätte er es nur geträumt. Mit zittrigen Fingern griff er nach dem Umschlag und öffnete ihn mit dem silbernen Brieföffner, den er vor scheinbar endlos langer Zeit von einem Mädchen geschenkt bekommen hatte. Wie hatte sie noch geheißen? Er hatte es vergessen. Das Papier fühlte sich rau unter seinen unsicheren Fingen an, und beinahe hätte er sich mit dem angespitzten Metall in den Finger gestochen. Vielleicht schreiben sie mir, dass es sich bei dem letzten Brief um einen Irrtum gehandelt hat, mutmaßte er. Zu jeder anderen Zeit wäre ihm dieser Grund plausibel vorgekommen. Er faltete das Papier auseinander. Sehr geehrter Herr Liebermann, wir freuen uns von Ihrer Tauglichkeit für unsere Beamtenschaft erfahren zu dürfen. Um sie optimal auf Ihren Aufgabenbereich vorzubereiten möchten wir Sie am folgenden Freitag zu einem Treffen einladen. Wir bitten Sie darum, sich gegen 20 Uhr im Restaurant „Zum Advokaten“, einzufinden. Wir freuen uns auf Ihr Kommen. Mit freundlichen Grüßen Liebermann sprang auf und lief zu seinem Mantel, der an einem Messinghaken an der Wand hing und kramte in den Taschen nach der Bescheinigung, die ihm Doktor Breugen am Vorabend ausgestellt hatte. Er fand die Rechnung in der linken Tasche, die rechte war leer. Vielleicht in der Brusttasche ... auch diese leer. Er durchsuchte die Taschen ein weiteres Mal. Wo war die Bestätigung? Er war doch am Vorabend nach Hause gegangen, ohne den Umschlag in den Briefkasten zu werfen. Oder hatte er sich den Besuch nur eingebildet? Nein, die Rechnung, die er in der Tasche gefunden hatte, bewies das Gegenteil. Wie konnte das sein? Wie hatte die Behörde von seiner Tauglichkeit erfahren? Er verließ sein Büro, vielleicht waren ihm die Dokumente ja auf den Boden gefallen. Hecktisch suchte er den Boden ab. „Suchen Sie etwas Herr Liebermann?“ Es war Fanny auf dem Rückweg von ihren Botengängen. „Fanny, haben Sie hier zufällig einen Umschlag gefunden und abgeschickt?“ „Natürlich nicht, Herr Liebermann. Die Post bringe ich doch immer erst vor der Mittagspause weg.“ „Aber war hier ein Umschlag?“ „Nein, ich denke das wäre mir aufgefallen. Ist es denn etwas Wichtiges?“ Liebermann schüttelte den Kopf. „Nein, nein, schon gut. Machen Sie sich keine Gedanken.“ Ermattet schlurfte er in sein Büro zurück und ließ sich hinter seinen Schreibtisch fallen. Ihm kam ein unangenehmer Gedanke. Vielleicht steckte Breugen mit ihnen unter einer Decke und hatte sofort gemeldet, dass er ihn untersucht und für befähigt empfunden hatte. So beunruhigend diese Vorstellung auch war, sie erklärte nicht das Verschwinden des Umschlages. Da Liebermann ein sehr sorgfältiger Mensch war, gab er immer darauf Acht, nichts zu verlieren. Ihm war noch nie etwas aus seiner Tasche gefallen. Er stützte den Kopf in die Hände und fragte sich, was er tun sollte. Ein Treffen am Freitag ... Der Brief lag vor ihm und schien zu grinsen. Liebermann zerriss das Papier und beschloss, nicht zu diesem Treffen zu gehen. „Irgendwie lässt mir diese Sache mit Alexander keine Ruhe“, sagte Rose und beugte sich über den Tisch zu Carter hinüber, der kaum von seinem Essen aufsah. „Grübelst du immer noch darüber nach?“ „Es ist erst vier Tage her!“ Sie stützte den Kopf in die Hand. „Alle denken darüber nach, das sieht man ihnen an.“ „Wenn du’s sagst.“ „Macht es dir keine Sorgen, dass der Mörder mit großer Wahrscheinlichkeit einer von hier ist?“, fragte Rose und ließ ihren Blick über die versammelte Belegschaft schweifen. „Es könnte wirklich jeder sein.“ „Du musst keine Angst vor so etwas haben“, sagte Carter und schaute ihr in die Augen. „Ich passe auf dich auf.“ Sie lächelte. „Das sagst du jetzt, aber du weißt ja nicht, wann der Mörder wieder zuschlagen wird.“ „Lass uns lieber über etwas anderes reden“, schlug er vor. „Was machst du am Wochenende? Besuchst du deine Familie?“ Sie senkte den Blick auf ihren Teller. Über ihre Familie sprach sie nicht gerne. „Wahrscheinlich nicht. Sie wohnen sehr weit weg.“ „Dann siehst du sie nicht oft?“ „Ein paar Mal im Jahr, zu den Feiertagen, wenn ich etwas mehr Zeit habe.“ „Findest du es nicht schade, dass du so weit weg von ihnen arbeiten musst?“ „Der Job ist gut bezahlt“, sagte sie nur. „Ich muss meine Familie unterstützen.“ Sie gab dem letzten Satz einen Klang, der eindeutig vermittelte, dass das Gespräch vorbei war. Sie mochte Carter. Mehr, als sie sich eingestehen wollte. Es war ihr ein Rätsel wie er innerhalb von ein paar Tagen etwas geschafft hatte, was normalerweise Wochen, sogar Monate dauerte, um sich zu entwickeln. Sie waren Freunde geworden. Trotzdem war sie immer noch auf der Hut und versuchte, so wenig wie möglich von sich preiszugeben. Es fiel ihr schwer, jemandem zu vertrauen. Aber es tat gut, mit jemandem reden zu können. Rose hatte gar nicht gemerkt, wie ihr das all die Jahre gefehlt hatte. Seit sie 18 war arbeitete sie hier und sie hatte ihre Familie seitdem nur eine Handvoll Male gesehen. Sie dachte immer noch daran, als sie sich bereits von Carter verabschiedet hatte, und im Zug zu ihrer kleinen Wohnung saß. Nachdenklich drehte sie das Handy, das sie gerade erst wiederbekommen hatte, in ihren Händen hin und her. Wenn man sich im Gebäude der Firma befand, durfte man niemanden anrufen. Auch das diente der Geheimhaltung. Jetzt, auf dem Weg nach Hause, hatte sie alle Zeit der Welt. Sie konnte ihre Mutter anrufen und sie fragen, wie es ihren beiden kleinen Schwestern ging, die immer noch zu Hause wohnten. Ob Batty wohl schon wusste, was sie nach dem Abitur machen wollte? Sie fragte sich, wann sie das letzte Mal zuhause angerufen hatte. Ein paar Monate war das sicherlich schon her. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)