Morpheus von Ixtli (Winter-Wichtel '11/'12 für Enisegu) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die kurzen Grashalme stachen in Percys nackte Fußsohlen, als er energisch über den Rasen schritt, um die Morgenzeitung einzusammeln. Dieser verdammte Baxter-Junge hatte sie in seiner schier unglaublichen Faulheit wieder nur dorthin geworfen, wo Percys Garten anfing, anstatt den Arm etwas höher zu heben, wie man es von einem gesunden Jungen in seinem Alter erwarten sollte, um die Papierrolle mit Schwung an den Fuß seiner Haustür zu befördern. Verweichlichte Jugend! Percys Morgenmantel wehte um seine dünnen behaarten Beine. Er bückte sich und hob die zu einer Rolle gewickelte Zeitung aus dem noch taubenetzten Gras auf. Nass war sie auch noch geworden. Die Adern auf Percys Schläfen pochten wütend und seine dürren Finger schlossen sich wie Schraubzwingen um die Zeitung in seiner Hand. Das Papier warf Falten und Percy stellte sich in einem Anflug von Zorn vor, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn es sich dabei doch nur um den Hals des Jungen handeln würde. Gut würde es sich anfühlen. Zweifelsohne. Das leise Knacken in seinen Bandscheiben ließ Percy leise aufstöhnen, als er sich wieder aufrichtete. Wenn ihm der alte Baxter über den Weg lief, würde er mit ihm einmal ein ernstes Wörtchen über seinen jüngsten Spross wechseln, der offensichtlich eine ausgesprochene Niete darin war, wenn es um das Zeitungsaustragen ging, was zig Generationen vor ihm schon bewältigt hatten, weil man dafür einfach nicht viel Grips brauchte (was im Übrigen diesen Baxter-Clan auch nicht gerade auszeichnete. Percys Meinung nach). Percy wandte sich seinem Haus zu und setzte den ersten Schritt, als es neben ihm im Gras leise zischte, als hätte jemand eine geschüttelte Mineralwasserflasche geöffnet, aus der nun die angestaute Kohlensäure entwich. Einen schillernden Regenbogen in die sich langsam erwärmende Morgenluft werfend versprühte der Rasensprenger im fröhlichen Takt das Wasser rings um sich herum, um damit den sorgfältig auf wenige Inch getrimmten Rasen zu bewässern – und Percy. Percys ärgerlich zusammengekniffene Lippen waren lediglich zwei schmale Striche, die sich immer weiter nach unten bogen, so dass es aussah, als wollten sie sich unter seinem Kinn wieder treffen. Dieser Tag hatte schon beschissen angefangen und wohl auch beschlossen, genauso beschissen weiterzugehen. Eine Reihe ungehöriger Wörter vor sich hinmurmelnd wollte sich Percy in Bewegung setzen, was der Großteil seines zwar pensionierten, aber nicht gerade gebrechlichen Körpers auch mühelos schaffte. Nur seine Füße wollten ihm nicht gehorchen, was dazu führte, dass Percy das Gleichgewicht verlor und mit rudernden Armen nach vorne kippte. Im letzten Moment fing er sich mit den Händen ab. Einem Sprinter gleich, der darauf wartete, dass der Startschuss fiel, stand oder hockte Percy – so genau ließ sich seine Körperhaltung nicht beschreiben – in seinem Vorgarten. Sein Morgenmantel war gefährlich nahe bis an den unteren Rand seines Hinterns hochgerutscht, was von der Straße aus gesehen sicher einen Anblick lieferte, den nicht einmal seine Frau zu Gesicht bekam. Ein Hexenschuss. Percy fluchte innerlich. Aber – in seinen Füßen? Der ältliche Mann streckte die gebeugten Knie etwas durch und warf einen Blick auf seine Füße, die mit dem Rasen förmlich verwurzelt zu sein schienen. Ein eiskalter Schauer durchfuhr Percy als er seine Füße sah. Die gesunde rosa Färbung seiner Krampfaderfreien Knöchel war einem bleichen Blauton gewichen, der heller wurde, je weiter diese seltsame Farbe, die aus dem Boden kam, seine Beine hinaufkroch. Percy quiekte erstickt. Was war das? Die Augen schockgeweitet starrte er auf seine Füße, um die sich eine immer dicker werdende Eisschicht gebildet hatte, der man beim Hinaufwandern förmlich zusehen konnte. Das durfte nicht wahr sein. Was ging da vor? Er spannte die Muskeln in seinen Beinen an und versuchte, seine Füße zu bewegen, doch die Eiskruste, die sie wie ein Panzer einschloss, war bereits zu dick und reichte bis weit in die Erde hinein, was Percy zu seinem Glück nicht wusste. So blieb ihm noch die Hoffnung, dieses Problem schon lösen zu können. Die Angst vor dem unbekannten Phänomen, das seine Füße und Waden in Eis einschloss, ließ Percys Brustkasten verkrampfen. Sein Atem ging zischend durch seine aufeinander gepressten Zähne. Er wollte nach seiner Frau zu rufen, doch der Schock und die Kälte, die mittlerweile seinen gesamten Körper erfasst hatten, lähmten ihn. Es wurde immer kühler und Percy zitterte unkontrolliert mit dem Teil seines Körpers, der noch nicht vom Eis eingeschlossen war. Es fühlte sich an, als krieche es zuerst an ihm hinauf und dann in ihn hinein, um ihn mit tausenden Nadeln zu durchbohren. Sein gesamter Körper war mittlerweile taub vor Schmerzen. Zu Percys Erstaunen wandelten sich durch die Kälte nun auch die Wassertropfen des Rasensprengers. Ungläubig sah er die Schneeflocken an, die um ihn herum tanzten und sich auf ihm niederließen, während über dem Dach seines Hauses die Julisonne aufging. Es würde ein schöner Tag werden, ganz so, wie es der Wetterbericht in der Zeitung verkündete, die Percys tiefgefrorene Finger noch fest im Griff hatten. "Wie kalt wird es denn werden?" "Waren Sie schon mal in der Arktis?" Rose hob eine Augenbraue und sah den Doctor vor sich zweifelnd an. "Der kälteste Ort, an dem ich bisher war, war die Tiefkühlabteilung im Supermarkt." Der Doctor nickte leicht. "Ein klein wenig kälter wird es schon werden, außer wir landen auf der falschen Seite. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit schon? Die Daunenjacke dürfte also reichen." Er lächelte Rose entwaffnend an, die den Reißverschluss ihrer Winterjacke langsam bis zum Kinn zuzog, ohne den Mann vor sich aus den Augen zu lassen, der seine obligatorische schwarze Lederjacke mit einer wärmeren Jacke getauscht hatte. 'Kind, denk daran, eine Mütze anzuziehen', hörte sie Jackies besorgte Stimme, die sich in ihre Gedanken geschlichen hatte. Sie hätten das Ende ihrer Galaxie dreißig Mal so weit hinter sich lassen können, aber die Worte ihrer Mutter würden sie weiter verfolgen und mit mütterlicher Sicherheit finden, um ihr auch im entferntesten Winkel irgendeines Sonnensystems die Leviten zu lesen. Rose lächelte unwillkürlich. Mütter waren einzigartig und das in jeder Dimension, wenn sie dem Doctor glauben durfte – was sie tat. "Sehen Sie den Schalter da?" Der Doctor war bereits um die Steuereinheit der TARDIS herumgegangen und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Bereich vor Rose, wo es unaufhörlich blinkte und piepte. "Den da?" Rose war im Begriff wahllos auf irgendeinen Knopf zu drücken, hielt aber inne, weil sie mittlerweile wusste, dass es besser war, zuerst die zweite Bestätigung abzuwarten, wenn sie nicht wieder an einem Ort landen wollten, wie beim vorletzten Mal. "Genau den", bestätigte der Doctor fröhlich. "Den drücken Sie bitte nicht." Als hätte sie es nicht geahnt! Rose ließ ihre erhobene Hand wieder sinken und wartete einfach ab. Der Doctor schien genau zu wissen, was er auf dem Steuerelement drücken, schieben oder ziehen musste, um die TARDIS in Bewegung zu versetzen. Rose selbst blieb das System dahinter verborgen. Gab es überhaupt eines? Im Grunde durfte es egal sein, welchen Schalter der Doctor betätigte. Rose vermutete, dass die TARDIS auch so von ganz alleine wusste, was das Ziel des Piloten der blauen Polizeibox sein sollte. Von scheinbar gequältem Quietschen und Ächzen begleitet erbebte der Boden der TARDIS leicht unter ihren Füßen. Es ruckelte und holperte und Rose mochte sich nicht vorstellen, welche Kräfte bei jeder Reise äußerlich auf die TARDIS einwirkten, ohne dass sie, bis auf das Ruckeln, besonders viel davon mitbekamen. Davon konnte sich die U-Bahn mal ein Scheibchen abschneiden. "Ich weiß ja nicht", begann Rose zögerlich. Ihre Blicke gingen über die sommerlich grüne Landschaft vor sich. "Das hier sieht nicht aus wie silberner Schnee von Ivat Zwo." "Eins. Ivat Eins." Das Gesicht des Doctors erschien ebenfalls in dem Spalt der geöffneten Tür. Seine Augen suchten flink die Umgebung ab, die alles andere als einen winterlichen Eindruck machte. "Oh, tatsächlich", setzte kurz hinzu. "Ich schätze, wir müssen uns wieder umziehen." "Das habe ich mir fast gedacht." Rose' Gesicht verschwand von der Tür. Der Reißverschluss an ihrer Jacke sirrte und der dicke Stoff raschelte, als sie sich aus dem warm gefütterten Kleidungsstück schälte. Irgendwie war sie froh, nicht auf einem Planeten gelandet zu sein, auf dem der Schnee silbern war, so hübsch das im ersten Moment auch klang. Aber wer wusste, welche Überraschungen dort auf sie gelauert hätten. Rose erschauerte. An Aliens und dergleichen musste sie sich erst noch gewöhnen. "Weshalb hat es die TARDIS wohl für nötig gehalten, uns hierher zu bringen?" Der Doctor zuckte mit den Schultern. "So, wie ich die TARDIS kenne, werden wir das schon noch herausfinden." Sichtlich um Gelassenheit bemüht ging Rose neben dem Doctor einher, der gemächlich das Ufer des Sees entlang schlenderte und mit Interesse das geschäftige Tun in seiner Umgebung verfolgte, als befänden sie sich auf einem ganz normalen Sonntagsausflug. Er trug wieder seine Lederjacke, was Rose daran erinnerte, dass sie ein ganz anderes Ziel gehabt hatten. Statt auf einem Planeten, dessen Wetterphänomene hier auf der Erde wohl eine minder schwere Massenpanik hervorrufen würden, waren sie, so weit man das sagen konnte, immer noch im heutigen London und der Doctor schien davon völlig unbeeindruckt zu sein. So langsam konnte Rose ihre Nervosität nicht mehr verbergen. Sie machte dieses Raum und Zeitreise-Ding noch nicht so lange. In ein paar Jahren, oder besser gesagt, nach ein paar Lichtjahren sah das sicher anders aus, aber jetzt- "Rose!" Die junge Frau hielt inne, als die Stimme ihres Begleiters sie unvermittelt aus ihren Gedanken riss. Sie hob den Blick und fand sich alleine am Ufer wieder. Der Doctor war ein paar Schritte zurückgeblieben und stand am Rande des Weges, die Blicke vom See abgewandt. "Wissen Sie den Grund?" Der Doctor zog die Stirn nachdenklich kraus. "Welchen Grund?", hakte er abwesend nach. "Für unseren Aufenthalt hier." Rose bemühte sich, den Blicken des Doctors zu folgen, konnte aber nichts sehen, was irgendwie anders war als sonst. Auf der Wiese lagen vereinzelt Menschen im Gras und sonnten sich, Kinder liefen um Picknickdecken herum, die wie bunte Flickstücke im satten Grün wirkten. Eine schmale graue Rauchsäule, die sich in den wolkenlosen Himmel wand, deutete darauf hin, dass auch die Grillstelle genutzt wurde und hinter sich hörten sie johlende Jugendliche, die von einem Bootssteg aus in den See sprangen. "Nein, den kenne ich noch nicht, aber ist es nicht schön hier?!" Der Doctor lächelte und sog genüsslich die klare Luft ein. Verdutzt schwieg Rose einen Moment. Natürlich war es schön. Es war ein recht warmer Julitag, so dass sie sich wunderte, weshalb der Mann an ihrer Seite eine Lederjacke tragen konnte, ohne nicht tierisch zu schwitzen. Sie selbst hatte schon kurz, nachdem sie die TARDIS verlassen hatten, ihre Sweatjacke ausgezogen und sie um ihre Hüfte gebunden, und trotzdem war ihr noch zu warm. "Eis wäre nicht schlecht", seufzte Rose. "Sehen wir, ob wir nicht welches finden!" Im Nachhinein wirkten die Worte des Doctors wie eine Prophezeiung. Rose erschauerte unwillkürlich. Vor ihnen lag, halb an das niedrige, sandige Ufer getrieben, ein Eisklotz im Seewasser und schaukelte leicht auf den sanft heranrollenden Wellen. Der Klotz war etwa so lang wie ein ausgewachsener Durchschnittsmensch. Er bildete ein nahezu perfektes Rechteck und war bis auf ein paar Luftbläschen so klar, dass man bis in sein gefrorenes Inneres schauen und das erschrockene Gesicht eines darin eingeschlossenen Menschen erkennen konnte. Rose wandte die Blicke ab, doch das schockierte Gesicht im Eis, das ihnen aus aufgerissenen Augen und zum Schrei geöffneten Lippen entgegen geblickt hatte, ließ sich nicht mehr aus ihrem Gedächtnis löschen. Der Doctor war in die Knie gegangen, um sich das Eis genauer betrachten zu können. Wäre der Klotz an einem anderen Ort aufgetaucht, wo man Eis nun mal eher vermutete, hätte er wahrscheinlich nicht viel Aufmerksamkeit bekommen. Man hätte die Gestalt aufgetaut, untersucht, wahrscheinlich als vermissten Bergsteiger identifiziert und dann wohl bestattet. Doch wie kam ein Eisklotz an einem warmen Sommertag in den See eines Parks? Der offensichtlich Tote war ohne Frage von hier und musste bis vor wenigen Minuten noch gelebt haben. Zumindest ließ darauf die Badehose und die nun still vom Bootssteg aus das Wasser absuchenden Jugendlichen schließen. "Schockgefroren." Der Doctor richtete sich wieder auf und blickte sich auf der Wasseroberfläche um, die wie ein dunkler Spiegel vor ihnen lag. "Wenigstens kennen wir jetzt den Grund." Das 'Doctor Wer?'-Spiel funktionierte auch dieses Mal reibungslos, wie Rose anerkennend zugeben musste. Dank des wenigen Aufhebens, den der Doctor darum machte, waren sie nach dem Fund des im Eis eingeschlossenen Jungen an weitere interessante Informationen gelangt. Etwa die, dass es sich hier bei weitem nicht um die erste tiefgekühlte Leiche handelte, die man gefunden hatte. Es hatte vor ungefähr zwei Wochen angefangen, etwa zeitgleich mit Beginn der großen Hitze, die London und den übrigen Süden Englands seitdem unter einer stickigen Glocke gefangen hielt. Und jedes Mal hatte man die in eine dicke Kruste Eis eingeschlossenen Leichen in der Nähe einer Wasserquelle gefunden. Nach dem Auftauen hatte man festgestellt, dass die Toten nicht wie gerade verstorben wirkten, wie auf den ersten Blick. Ihre Haut war ledrig wie die von tausende Jahre alter Eismumien. Man hatte sogar Probleme gehabt, ihnen noch genügend Blut für eine Untersuchung entnehmen zu können. Chemische Analysen des Eises hatten auch nichts Befriedigendes ergeben. Das Eis war gewöhnliches Wasser, das hier aus der Nähe stammte. Und damit war es mit den Gemeinsamkeiten auch schon getan. Die bisherigen Toten waren so unterschiedlich, wie es nur eben ging. Weder Alter, Geschlecht noch Größe wiesen ein besonderes Muster auf. Man hatte keinerlei Anhaltspunkte, um weiteres Unglück abzuwenden, bevor es geschah. Und Millionen Menschen aus Sicherheitsgründen mitten in einer Hitzeperiode den Wasserhahn abzudrehen oder Seen und Bäche trockenzulegen, ließ sich weder rechtfertigen, noch realisieren. Man konnte also nur abwarten, entschuldigten sich die ermittelnden Beamten. Der Doctor stand vor dem Steuerpult der TARDIS und beobachtete nachdenklich einen kleinen Bildschirm, der leuchtende Wellenlinien zeigte, die aufgeregt auf und ab hüpften. "Eine Gemeinsamkeit hatten die Toten schon", sagte der Doctor nach einer Weile, in der gespannte Stille geherrscht hatte, die nur ein kurzer Piepton unterbrochen hatte. "Welche denn?", wollte Rose atemlos wissen. Sie warf einen Blick an dem Doctor vorbei auf das kleine Display, das noch immer die pulsierenden Wellen zeigte. "Die Fundorte sind zwar etwas versetzte, aber sie scheinen trotzdem auf einer Linie zu liegen, die sich durch die Stadt zieht. Und wenn das stimmt, müssten sie sich auch unweigerlich an einem gemeinsamen Punkt treffen." Er ließ seine Worte einen Moment auf die junge Frau wirken, die ihn ernst ansah. "Um was für eine Linie könnte es sich handeln?" "Ich habe keine Ahnung." Wie um diesen Satz zu bekräftigen hob der Doctor die Schultern etwas an. "Wo könnten wir einen Stadtplan herbekommen?" "Nirgendwo", antwortete Rose prompt. "Jedenfalls nicht mehr heute." Die grelle Signalpfeife eines Zuges erklang in der schwarzen Stille ihres Zimmers und ließ Becky aus dem Schlaf schrecken. Schon wieder, dachte sie resigniert und kroch träge aus ihrem Bett. Schlaftrunken taumelte sie im Dunkeln zu dem Fenster hin, das einen Spalt weit offenstand und den Straßenlärm hineinließ, der sie schon seit Wochen wachhielt. Mit einem kräftigen Ruck schloss sie das Fenster. Die gelbe Gießkanne, die neben einem vertrockneten Ficus stand, kippelte bedenklich und etwas Wasser schwappte über den Rand. Eine Schrecksekunde später schlurfte Becky müde zurück in ihr Bett. Lieber lag sie in einem tropisch warmen Zimmer, als weiter von sämtlichen nächtlichen Geräuschen wachgehalten zu werden, die es ihr unmöglich machten, endlich wieder tief durchschlafen zu können. Becky drückte eine kleine Taste an ihrem Funkwecker. Trübes Licht beleuchtete die Ziffern auf dem Display. Nur noch zwei Stunden und dieses Mistding würde sie wecken und ihr einen neuen Tag bescheren, der geprägt war von ihrem Schlafmangel und den daraus resultierenden Dummheiten, die ihr passieren würden. Was es wohl dieses Mal sein würde? Etwas Harmloses vielleicht. Salz im Kaffee. Oder etwas Schlimmeres wie Salz im Kaffee, den sie dann ihrem Chef brachte. Noch ein paar Aussetzer auf der Arbeit konnte sie sich nicht leisten. Immerhin hatte sie vor, sich von dem Geld, das sie eisern zurücklegte, eine Klimaanlage für ihr Schlafzimmer zu leisten. Nichts großartiges, aber immerhin so gut, dass sie das Fenster in Zukunft selbst in der größten Hitze geschlossen lassen konnte, ohne dass der nahe Bahnhof sie diese wertvolle Ruhe kostete, die sie in den vergangenen Wochen erst so richtig zu schätzen gelernt hatte, seit sie sich bei ihr auf circa vier Stunden pro Nacht beschränkten. Und wenn sie wirklich die Beförderung bekam, die man ihr in Aussicht gestellt hatte, dann könnte sie es sich sogar leisten, eine neue Wohnung zu suchen. Weit weg vom Bahnhof und sonstigen Lärmbelästigern. Becky lächelte. Ja, sie würde ganz einfach umziehen. Die Klimaanlage konnte sie sich sparen. Es kam ihr auch nicht mehr so warm vor, wie eben noch, dachte die junge Frau. Eigentlich schien es immer kälter zu werden. Im Dunkeln suchte Becky mit den Füßen nach der dünnen Decke, die sie wegen der Hitze ans untere Ende ihres Bettes geschoben hatte. Wo war sie nur? Augenblicklich schlug Beckys Laune um. Verärgert sauste ihre Faust auf den Lichtschalter ihrer Nachttischlampe hinab. Jetzt würde sie wach bleiben. Wenn erst einmal das Licht gebrannt hatte, konnte sie sowieso nicht mehr einschlafen. Und alles nur wegen dieser Decke! Oh – die Hitze und den Lärm nicht zu vergessen. Ein wenig würde sie schon noch liegen bleiben können. Becky sank zurück auf ihr Bett. Ihr Kissen knisterte leise unter dem Gewicht ihres Kopfes und ein kalter Hauch stieß gegen ihre Wange, als die Luft aus dem Kissen entwich. Diese Polyesterfasern waren auch nicht besser als die Daunen. Von wegen sie wärmten gut... Oder war es so, dass sie im Winter wärmten und im Sommer kühlten? Aber, woher wussten diese Fasern, wann welche Jahreszeit anbrach? Und wenn sie das wussten, wer sagte ihnen, dass nicht zufällig gerade ein ungewöhnlich milder Winter herrschte? Oder ein kalter Sommer? Wie war das im Herbst? Frühling? Gott, sie dachte schon wieder zu viel über lauter unnützes Zeug nach. Langsam schlossen sich Beckys Augenlider. Sie würde doch jetzt nicht etwa einschlafen? Jetzt, wo sie sich schon innerlich darauf vorbereitet hatte, bald zu duschen und zu frühstücken? Sogar der defekte Duschkopf tröpfelte schon ungeduldig vor sich hin. Durch die dünnen Wände war er gut zu hören. Etwas kitzelte Beckys Wangen. Ganz leicht. Zuerst die linke, dann die rechte knapp unter dem Auge. Unwirsch wischte Becky mit der Hand über ihr Gesicht. Da, schon wieder. Auf der Nase. Und dem Kinn. Die Stirn. Ihr Ohr. Das andere Ohr. Nase. Mund. Ohr. Kinn. Es wurde immer mehr und bald riss Becky die Augen auf, um zu sehen, was da von der Decke herabrieselte. Wenn es wieder der Putz war, würde sie den Hausverwalter eigenhändig erwürgen! Doch es war nicht der bröckelnde Putz, der in zarten Flocken von der Decke taumelte. "Schnee", hauchte Becky ehrfurchtsvoll. Sie lächelte. Es schneite. Mitten im Sommer und mitten in ihrem Zimmer rieselten Schneeflocken von der Decke. Reglos lag Becky da und bestaunte das wunderliche Phänomen. Es war einfach zu schön wie die filigranen Eiskristalle kleine Tänzerinnen gleich durch die Luft taumelten. Schnee hatte sie immer schon geliebt. Es machte ihr nicht einmal etwas aus, dass ihr die Flocken in den vor Staunen offenstehenden Mund rieselten oder in ihre Augen. Still lag sie da und freute sich an dem dichter werdenden Schneegestöber in ihrem Zimmer und den Eisblumen, die an ihrem Fenster wuchsen. "Die Themse war es wohl doch nicht." Rose sah auf die bunten Linien des Stadtplans, den sie in einem der unzähligen Geschäfte gekauft hatten, in denen sich sonst nur Touristen das Geld aus der Tasche ziehen ließen. Jetzt saßen sie in einem Café, das mitten in dem Gebiet lag, das von den unheimlichen Eistoten betroffen war, und frühstückten. Ihr Tisch befand sich in einer relativ ruhigen Nische, wo sie ungestört den Plan studieren konnten. Rose hatte einen Kaffee und ein Glas Bitterlemon vor sich stehen. Ohne Eis natürlich. Dieser Genuss war ihr vorerst vergangen. "Rose, ich glaube, das Eis, beziehungsweise das Wasser ist nur eine Art Transportmittel für unseren Neuankömmling." "Wie kommen Sie darauf?" Rose blickte den Doctor über den Tisch hinweg neugierig an. Krümel fielen aus dem Bagel in ihrer Hand, den sie gerade im Begriff aufzuschneiden gewesen war. "Wegen seiner Spur, die es zieht. Alles mehr oder weniger große Wasserquellen, die nicht weiter auffallen." Rose' Hand, die den halb aufgeschnittenen Bagel hielt, sank in Richtung Tischplatte. "Aber weshalb das Eis?" "Zu Konservierungszwecken, schätze ich. Jedenfalls fällt mir nichts anderes dazu ein." Der Doctor drehte den Plan zu sich herum und folgte mit den Blicken den schnurgeraden Linien, die das Straßennetz Londons bilden sollten. Rose hatte Recht. Die Themse, die sie als die Linie der Fundorte der in Eis eingeschlossenen Toten in Verdacht gehabt hatten, fiel wortwörtlich ins Wasser. Sie machte an besagter Stelle, den sie mit einem Marker aufgemalten hatten, einen Schlenker. Stattdessen sprang ihm nun etwas anderes ins Auge. Eine weitere Wasserquelle, die sie neben all den Rasensprengern, Seen und Wasserhähnen bisher noch gar nicht in Betracht gezogen hatten. Dabei war diese Möglichkeit die naheliegendste, denn dorthin verschwand schlussendlich alles Eis. Und sie hatten sie die ganze Zeit praktisch vor der Nase gehabt. Oder besser gesagt: unter ihren Füßen. Gerade als der Doctor den Mund öffnete, um Rose von seiner Entdeckung zu berichten, durchbrach ein ohrenbetäubendes Zischen den normalen Lärm des Cafés. Jemand hinter der Theke schrie gellend auf und diejenigen, die davor gesessen hatten, rannten hin. Bald schon hatte sich eine Schar Menschen um eine am Boden liegende Person gesammelt, die Rose nicht sehen konnte, da die Menge sie verdeckte. Dafür konnte sie den Verletzten bestens hören. Er schrie und wimmerte und stammelte immer wieder etwas von seiner Hand. Geschockt beobachtete Rose das Geschehen von ihrem Platz aus. "Rose." Die Stimme des Doctors klang seltsam entfernt durch den Tumult. Es schien zu dauern, bis sie endlich zu Rose durchdrang, die nur langsam aus ihrer erschrockenen Starre erwachte. Sie hob den Blick und begegnete denen des Mannes vor sich, der sie anlächelte. "Wir müssen in den Untergrund." "Die U-Bahn?" Rose hob eine Augenbraue. Wie kam der Doctor zu diesem Schluss? Der Doctor faltete die Karte und stand auf. "Nein, der andere Untergrund." Hektisch kramte Rose nach Geld, das sie auf den Tisch legte, um, so schnell sie konnte, ihrem Begleiter aus dem Café zu folgen. "Sollten wir nicht lieber schauen, ob wir drinnen helfen können?", rief Rose dem Mann nach, der zielstrebig die Straße hinunter ging. "Nicht nötig, es wird so enden wie mit den anderen. Da bin ich mir absolut sicher." "Aber", wandte Rose ein, die zu dem vorauseilenden Doctor aufschloss. Sie musste ein paar Mal durchatmen, ehe sie weitersprechen konnte. "Woher wissen Sie, dass es so ist?" "Ganz einfach." Der Doctor zwinkerte Rose zu, die sich fragte, ob so eine Reaktion tatsächlich angebracht war. "Der Mann hatte, kurz bevor es passierte, den Milkshaker mit Eiswürfeln befüllt. Da wir annehmen müssen, dass es das Eis benutzt, um sich zu ernähren, wäre es also nur logisch, wenn ihm das gleiche zustieße, wie seinen Vorgängern. Erste-Hilfe bringt in diesem Fall leider nichts mehr." Trish fand Daniel auf dem Sofa. Er lag so still da, dass sie kurz erschrak. Seine linke Hand war bis zum Ellenbogen verbunden und ruhte auf seinem Brustkorb, der sich mit jedem seiner Atemzüge leicht hob und senkte. Ihre besorgten Blicke gingen zu dem weißen Verband, der die Verletzung verhüllte, von der sie noch immer nicht verstanden hatte, wie genau Daniel sie sich zugezogen hatte. Sie wusste von dem Telefonat mit Dave, Daniels Chef, nur noch, dass es einen Unfall mit dem Milkshaker im Café gegeben hatte. Was passiert war und wie schlimm es war, hatte er ihr nicht sagen können, und im Krankenhaus hatte sie als seine Freundin auch keine näheren Informationen bekommen. Die ganze Heimfahrt über hatte sie also genügend Zeit gehabt, sich sämtliche schlimme Dinge auszumalen, die einer Hand bei einem Unfall mit einem Milkshaker so zustoßen konnten. "Danny? Ich bin zu Hause." Sachte strich die junge Frau dem Schlafenden ein paar nasse Haarsträhnen aus der seltsam kühlen Stirn, die nicht zu den Schweißperlen passen wollte, die auf der bleichen Haut wie winzige Tautropfen glitzerten. Daniel schlug müde die Augen auf. Als er Trish erkannte, die vor ihm hockte und ihn anlächelte, bogen sich auch seine Mundwinkel zu einem erwidernden Lächeln. "Hey", antwortete er matt, bevor sich seine Lider wieder kraftlos schlossen. Trish strich die Schuhe von ihren Füßen und legte sich zu Daniel, der von einer Sekunde auf die andere eingeschlafen war. So nah sie konnte, rückte sie zu ihrem Freund, dessen Körper von einem leichten Schüttelfrost erfasst worden war. Armer Danny, dachte Trish mitfühlend. Wahrscheinlich stand er noch unter Schock. Sie legte ihren Arm um Daniels Schulter und streichelte zärtlich über sein kurzgeschnittenes Haar. Stirn an Stirn lagen sie da. Daniels verbundene Hand ruhte auf Trishs Taille und sein kalter Atem stieß gegen die lächelnden Lippen seiner Freundin, deren dunkles Rot sich bald bläulich zu verfärben begannen. Die konzentrierten Blicke nicht von den rutschigen Steinen lassend, folgte Rose dem Doctor die halb verfallene Treppe hinab in den Untergrund, wie er die Kanalisation genannt hatte. Hätte es sich nicht um einen alten, vor Jahren stillgelegten Teil der Abwasseranlage gehandelt, hätte sie garantiert nicht einfach so bereitwillig zugestimmt, den Mann zu begleiten, der gerade die letzte Stufe behände hinab sprang und die rostige Tür aufzudrücken versuchte, die ihnen den Zugang zu den sicher stockdunklen Tunneln verwehrte. "Es ist geschlossen." Rose klang erleichterter, als sie eigentlich beabsichtigte. "Gehen wir also wieder zurück und suchen oberirdisch nach einer Lösung, um diesen Spuk zu beenden? An der frischen Luft..." Der Doctor hatte die Hände von der Tür genommen und sich zu der jungen Frau umgewandt, die auf der letzten Stufe stehen geblieben war und sich haltsuchend an dem schlichten Eisengeländer festhielt. "Vor was haben Sie Angst, Rose?" "Davor, in einem dunklen unterirdischen Labyrinth auf etwas zu treffen, das nicht getroffen werden will", antwortete Rose leise. "Sie wollen mir weismachen, dass Sie nach unserem Besuch auf der Plattform Eins Angst vor fremden Wesen haben?" Interessiert sah der Doctor dem abwechselnden Mienenspiel seiner Begleiterin zu, die innerlich mit sich zu ringen schien. Rose senkte ertappt den Blick. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. "Eigentlich habe ich nicht unbedingt nur vor Aliens Angst, sondern vor allem vor – Ratten..." Das letzte Wort hatte Rose nur mit Mühe über die Lippen gebracht. Alleine der Gedanke an diese widerlichen Tiere erzeugte bei ihr eine Gänsehaut auf den Armen und ein drückendes Ekelgefühl im Magen. "Verstehe." Der Doctor lächelte. Seine Blicke gingen wieder zur verrosteten Tür hin. "Nun ja, die Ratten werde ich Ihnen wohl nicht ersparen können", entgegnete er ehrlich. "Genau das war meine Befürchtung." Rose kam sich unsäglich dämlich vor. Sie hatte in Gesellschaft der unvorstellbarsten Wesen der Erde bei ihren letzten Atemzügen zugesehen, aber Ratten waren nach wie vor einfach ihre absolute Schwachstelle. Ihr Kryptonit sozusagen, gegen dessen Wirkung sie machtlos war. "Dann schlage ich vor, dass Sie draußen warten." Rose versuchte im Gesicht des Doctors abzulesen, ob er nun verärgert war. Doch da war nichts. Noch nicht einmal einer von diesen milden, überheblichen 'Dieses arme, bedauernswerte Mädchen'-Blicken, mit denen sie nach diesem Geständnis gerne bedacht wurde. "Allerdings", begann der Doctor, "allerdings wäre mir wohler, wenn ich wüsste, dass Sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr befänden, so lange ich nicht bei Ihnen bin." Ein kalter Schauer durchfuhr Rose. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Obwohl sie im Moment nirgendwo – außer eventuell in der Wüste – tatsächlich sicher vor dem Ding zu sein schienen, das sich offenbar in diesem Tunnelsystem verborgen hielt und von hier aus seine Opfer in der ganzen Stadt suchte. Hin und hergerissen rang Rose mit ihrer panischen Angst vor Ratten. Zu ihrem eigenen Erstaunen gewann sie selbst. Was konnten die Ratten ihr schon großartig antun; im Gegensatz zu einem Alien, das sich den unauffälligsten und den am weitesten verbreitetsten Weg gesucht hatte, um sich in ihrer Welt zu bewegen und auf die Jagd zu gehen. Dagegen wirkten die Ratten mikroskopisch klein. "Ich komme mit", eröffnete Rose dem Doctor tapfer. "Großartig!" Der Doctor tippte mit seinem Überschall-Schraubendreher gegen das Schloss der Tür. Es klickte und nahezu zeitgleich schwang die Tür nach innen auf, den Blick auf eine Schwärze freigebend, die so undurchdringlich tief war und so modrig roch, dass es Rose einen Wimpernschlag lang den Atem verschlug. "Normalerweise würde ich der Lady den Vortritt lassen, aber ich denke, wir könnten da eine Ausnahme machen, oder?" Ein schiefes Grinsen huschte über Rose' Gesicht. Irgendwann würde sie den Doctor fragen, wie er es schaffte, in Momenten wie diesem, nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Vermutlich wäre die Antwort: alles nur eine Sache der Gewöhnung. Schritt um Schritt folgte Rose dem Doctor ins Innere des unterirdischen Labyrinths. Im gleichen Augenblick, in dem sie die mit Rost und Moos überzogene Schwelle überschritten, wurden sie auch schon von der Dunkelheit verschlungen. Rose fühlte sich, als atme sie mit jedem Zug die schwarze Luft ein, die sich in ihr wie Smog ausbreitete und den Brustkorb eng werden ließ. Es dauerte einige hektische Atemzüge lang, bis ihr bewusst wurde, dass das lediglich eine Panikreaktion auf das Unbekannte war, das in ihrer Fantasie unglaubliche Ausmaße annahm. Sie zwang sich dazu, ruhiger zu atmen und nicht ihre Gedanken über ihren Körper herrschen zu lassen. Rose hob eine Hand und tastete blind in die Dunkelheit. Ihre Finger stießen gegen etwas glattes, kühles und die junge Frau konnte sich einen erschrockenen Aufschrei nicht verkneifen. Blaues Licht glühte auf und noch ehe es gleich wieder erlosch, sah Rose erleichtert, dass es nur die Jacke des vor ihr stehengebliebenen Doctors gewesen war, die sie berührt hatte. Der Doctor schüttelte den Überschallschrauber leicht, der noch einige Male unentschlossen aufflackerte, bis er schließlich eingeschaltet blieb. "Tut mir leid", entschuldigte er sich bei Rose, deren blau erleuchtetes Gesicht vor ihm in dem relativ kleinen Lichtkegel, den der Überschallschrauber warf, in der Schwärze schwebte. "Schon Okay", erwiderte Rose gepresst, obwohl eigentlich eher das Gegenteil der Fall war. Aber so langsam wurde es Okay. Sie sah zu, dass sie mit dem Mann Schritt hielt, der das stiftähnliche Gerät, dessen Spitze blau glühte, wie eine Taschenlampe vor sich hielt und den Weg ausleuchtete. Nach einigen Abzweigungen, die sie aufs Geratewohl genommen hatten, hatte sich Rose soweit an ihre Umgebung gewöhnt, dass sie sich traute, sie näher zu betrachten. Der Tunnel war fast genauso, wie in ihrer Vorstellung. Jedenfalls bisher und ohne die furchtbaren Details, die sie gedanklich hinzugefügt hatte. Für eine Kanalisation war der Ort ziemlich frei von Wasser. Sie hatten sich zwar für den vorhandenen schmalen Fußweg entschieden, der beide Seiten des Kanals säumte, doch genauso gut hätten sie auch in der Senke in der Mitte gehen können, ohne nasse Füße zu bekommen. Es war offensichtlich schon einige Jahre – wenn nicht sogar Jahrzehnte – her, seit dieser Abschnitt des Abwassersystems stillgelegt worden war. Noch nicht einmal die üblichen Grafitti zierten die gemauerten Wände, was zusätzlich annehmen ließ, dass sie die Ersten waren, die seit sehr langer Zeit diese Wege nahmen. Es war demnach der ideale Ausgangspunkt für etwas, das möglichst lange unentdeckt bleiben musste. "Ich habe eine gute und eine weniger gute Nachricht für Sie, Rose." Der Doctor war stehengeblieben und stieß mit seinem Fuß nach etwas, das vor ihm auf dem Boden lag. Es war ein schmutziger, rechteckiger Stein, der an einer Seite hell glänzte. Rose strengte ihre Augen an, um zu erkennen, was es war, doch der Doctor lieferte die Antwort gleich selbst. "Wegen den Ratten müssen Sie sich keine Sorgen machen." Er richtete den Lichtstrahl auf den Stein, der keiner war. Es war ein schmutzverkrusteter Eisblock, in dessen Kern ein länglicher Schatten zu sehen war. Der Doctor ließ das Licht durch den Tunnel gleiten und überall, wo es hin traf, sahen sie diese kleinen Eissärge liegen. "Es scheint, als ernähre es sich auch von den Ratten, wenn-" "Wenn ihm nichts anderes übrig bleibt", beendete Rose den Satz schaudernd. "Und was ist nun die schlechte Nachricht?" Der Doctor setzte sich wieder in Bewegung. Rose folgte ihm widerstrebend. "Die nicht so gute Nachricht ist, dass wir auf der richtigen Spur sind." Die Stimme des Doctors hallte gespenstisch von den Wänden wider, die immer schmäler wurden und immer dichter mit Moosflechten überwuchert waren, je weiter sie in das Tunnelsystem vordrangen. Rose achtete peinlichst darauf, nicht auf die gefrorenen Ratten zu treten. Selbst in dieser Verpackung erzeugten sie noch ein beklemmendes Ekelgefühl in ihr. Als sie an einem etwas größeren Eisblock vorbei kamen, der zu Füßen einer verrosteten Leiter lag, die nach oben führte, beschloss Rose endgültig diese Eisklötze zu ignorieren. Sie meinte, im Letzten einen kleinen Kopf mit zwei spitz zulaufenden Ohren und einen langen Schwanz erkannt zu haben. Die Steine unter Rose' Füßen, die sie mit ihren unsicheren Schritten in Bewegung versetzte, rollten weg und ließen sie straucheln. Sie griff nach dem erstbesten, das sie zu fassen bekam und hielt den Atem an. "Doctor", flüsterte sie erstickt, nachdem der Schock über ihre Entdeckung der Angst wich, dass ihr Begleiter weiterging, ohne ihr Stehenbleiben zu bemerken. "Doctor!" Der Angesprochene drehte sich um und richtete den Lichtstrahl auf die junge Frau, die ihn aus schreckgeweiteten Augen anstarrte. Ihr linker Arm war erhoben, als greife sie nach einer von der Decke baumelnden Zugschnur, mit der man eine Glühbirne einschaltete. Als das Licht Rose' Arm bis zu ihrer verkrampft geschlossenen Hand folgte, sah der Doctor, dass sie tatsächlich so etwas wie eine Schnur hielt. Eine zerfleddert wirkende Schnur, die den Moosflechten glich, die die Wände bedeckten. "Ich bin von meiner Rattenangst geheilt, schätze ich." Rose flüsterte noch immer. Der Doctor näherte sich seiner Begleiterin, die das Seilähnliche Gebilde von der Decke nicht loslassen wollte. Als er nahe genug bei ihr war, packte sie mit ihrer freien Hand nach seiner und drückte sie oberhalb von ihrer eigenen gegen das Seil. Die Finger des Doctors schlossen sich um das Seil und seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Das Seil, das tatsächlich von einer Pflanze stammte, war erstaunlich warm und pulsierte so regelmäßig wie- "Ein Herzschlag." Der Doctor blickte Rose so erfreut an, als hätte sie ein Heilmittel gegen eine eigentlich unheilbare Krankheit gefunden. Rose teilte seine Freude nicht ganz. Wenn diese Flechte nur ein Teil dessen war, das sie noch erwartete, wie groß musste dann erst das sein, was sie am Ende finden würden? "Das wissen wir erst, wenn wir es wirklich gefunden haben", antwortete der Doctor auf Rose' ungestellte Frage, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Ich weiß nicht, ob ich das will." Der Doctor antwortete nicht auf Rose' letzten Satz und suchte die Wand nach weiteren Flechten ab. Er fand sie. Wie grüne Adern zogen sie sich an den Tunnelwänden entlang. Diejenigen der Flechten, unter denen sie unmittelbar standen, waren dabei noch relativ dünn. Doch je weiter sie in den Tunnel vor ihnen reichten, um so dicker wurden diese Pflanzenadern. Rose hatte vielleicht nicht so unrecht mit ihren Bedenken, aber dennoch konnte er sie jetzt nicht mehr einfach so zurückgehen lassen. Die Schlinge unter ihren Händen bewegte sich leicht und entzog sich ihnen. Was immer es auch war, es hatte Witterung aufgenommen. Hatten sie gedacht, etwas weitaus Größeres am Ende der Flechten zu finden, so wurden ihre Vermutungen prompt bestätigt. Die Ranken, denen sie immer tiefer in das Tunnellabyrinth hinein gefolgt waren, führten sie in einen Raum, an dessen Stirnseite ein Tümpel, schwarz wie Onyx, in der Dunkelheit glänzte. Und in eben jenem Tümpel endeten die Pflanzen. Oder begannen. Es herrschte abwartende Stille, die lediglich von dem tröpfelnden Wasser unterbrochen wurde, das die Szenerie vor ihnen noch unheimlicher erscheinen ließ. "Was für eine Art Dünger braucht man, um so etwas heranzuzüchten?" Rose klang ehrfurchtsvoll im Angesicht der riesigen Pflanze, deren baumstammdicke Stängel im Wasser standen. "Menschen", entgegnete der Doctor ruhig. "Oder wahlweise: alles, was lebt." Von der Faszination angetrieben, ein womöglich bisher unentdecktes Wesen vor sich zu haben, näherte sich der Doctor dem Tümpel, dessen Oberfläche starr wie schwarzes Glas vor ihm lag. Beklemmung erfasste Rose, die am Eingang des Raumes stehengeblieben war und von dort aus beobachtete, wie der Doctor an den Rand des Tümpels trat und mit dem Überschallschrauber in das brackige Wasser leuchtete. "Nach was suchen Sie?" Der Doctor sah auf. Der Lichtstrahl des Überschallschraubers wanderte zu Rose und blendete diese kurz. "Nach der Wurzel allen Übels." Rose erkannte das amüsierte Lachen, das in seinem Tonfall mitschwang, und schüttelte darüber den Kopf. Sie wollte ihm antworten, doch der Lichtstrahl, der wieder zum Tümpel glitt, zuckte zuerst, schwirrte dann von einer Seite auf die andere und beschrieb einen Bogen in der Luft, ehe er schließlich ganz erlosch. Augenblicklich fand sich Rose von einer undurchdringlich dichten Dunkelheit umgeben. Alles war so schnell gegangen, dass ihr nicht einmal die Zeit zu schreien geblieben war. Rose spürte, wie ihre Knie weich zu werden begannen. Einen Moment dachte sie daran, sich an der Wand abzustützen, verwarf diesen Gedanken im gleichen Augenblick wieder. "Doctor? Doctor?" Ihre Stimme zitterte panisch. Sie bekam keine Antwort. Womit sie, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, auch nicht gerechnet hatte. Jetzt blieben ihr nur zwei Optionen, von denen eine keine wirkliche Option war. Die andere war, den Überschallschrauber zu suchen, ihn anzuschalten und zu schauen, was sie tun konnte. Rose tappte blind durch die Dunkelheit. Einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen machend, näherte sie sich dem Ort, an dem sie das blaue Licht zuletzt gesehen hatte. Widerstrebend ließ sie sich auf die Knie hinab und streckte die Hände aus. Nach einer scheinbaren Ewigkeit berührten ihre zitternden Finger den Boden. Nicht darüber nachdenkend, was sie alles zu fassen bekommen würde, tastete Rose den Boden vor sich ab. Sie fand eine Menge Steine, etwas Feuchtes, das sie schnell wieder losließ, und schließlich auch etwas längliches, das sich unbestritten nach Metall anfühlte. Rose lachte erleichtert auf. Ihre Finger glitten suchend den Überschallschrauber entlang. Dieses Teil musste doch einen Schalter haben. Irgendetwas, mit dem man es aktivierte. In ihrer Verzweiflung schüttelte Rose das Gerät, das ihr seinen Dienst verweigerte, und plötzlich flammte die Spitze auf. Es war das mit Sicherheit schönste Licht, das Rose je gesehen hatte. Die junge Frau schickte einige Dankgebete zur gewölbten Decke. Dann besann sie sich auf ihre Aufgabe. Den Atem gebannt angehalten blickte sich Rose im Schein des Lichts um und stieß ihre Luft in einem langgezogenen 'Oh' wieder aus. Die Pflanze hatte sich verändert. Die Verdickungen, die sich über die Ranken zogen, waren aufgebrochen und aus ihnen wuchsen nun die unglaublichsten Blüten. Die Kleinsten waren so groß wie Tennisbälle, während die Größten den Umfang von Basketbällen besaßen. Rose musste sich dazu zwingen, die Blicke von der blühenden Pflanze loszureißen. Sie drehte sich zu den dicken Stängeln um, die im Wasser standen und leuchtete sorgfältig jede Windung daran ab. Kurz vor der Wasseroberfläche entdeckte sie ihn. Er war in eine Unmenge aus Flechten gehüllt, dass es aussah, als befände er sich in einem Kokon. "Doctor!" Die Angst vor der Pflanze ignorierend, stürzte Rose zu dem Mann hin, der, einem Schlafenden gleich, in dem grünen Knäuel lag und sich nicht regte. Hektisch riss Rose an den Ranken, die sich um den Körper des Doctors wanden, und unterdrückte schnell die Übelkeit, die in ihr aufstieg. Die Ranken pulsierten heftig und sie hatte Mühe, ihre Finger unter die Flechten zu schieben, die das Gesicht des Doctors bedeckten. Offensichtlich hatten sie sich ihn als Mahlzeit ausgesucht. Noch während Rose kurz davor war, in dem heftigsten Panikanfall zu versinken, den sie je in ihrem Körper empor kriechen verspürt hatte, fiel ihr der letzte Satz des Doctors wieder ein, den er gesagt hatte, bevor er zum Menü des Tages wurde. "Die Wurzel", murmelte Rose mit rauer Stimme. Sie leuchtete, wie kurz zuvor der Doctor schon, in das schwarze Wasser hinein. Viel erkannte sie darin nicht. Unter ihrem eigenen verzerrten Spiegelbild schwammen lediglich einige unscharfe Konturen, die sie nicht näher identifizieren konnte, von denen sie aber vermutete – und hoffte! -, dass es sich dabei um Wurzelstränge handelte. Ohne weiter zu überlegen, was das Beste war, das sie tun konnte, tat Rose einfach das, was ihr als erstes in den Sinn kam. Sie klemmte den Überschallschrauber so zwischen die Ranken, dass sein Licht nach unten in das Wasser fiel. Dann setzte sie sich an den Rand des Tümpels, ließ zuerst ihre Beine in das Wasser gleiten und nach einem schnellen Gebet auch den Rest ihres Körpers. Die Pflanzenstängel zur Orientierung benutzend, tauchte Rose daran immer weiter in die Tiefe hinab. Alles hatte ein Ende, auch diese Pflanze. Einen anderen Gedanken würde sie nicht zulassen! Unter ihren Händen merkte sie, wie die anfangs einzelnen Wurzelstränge sich immer mehr verdichteten und schließlich zu einem einzigen Strang zusammenwuchsen. Und eben unter diesem Strang spürte Rose einen rundlichen Ballen. Rose wurde der Atem knapp. Ihre Lungen schmerzten. Sie tauchte kurz auf und schnappte ein paar Mal hektisch nach Luft, ehe sie nach einem letzten tiefen Atemzug wieder in das schwarze Wasser abtauchte. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Mittlerweile konnte sie den Pulsschlag der Pflanze schon im Wasser hören. Sie nährte sich offensichtlich hervorragend. Rose fühlte den rundlichen Ballen am Fuße der Pflanze und packte fest zu. Sie nahm alle Kraft zusammen und zog, die Füße dabei haltsuchend in den schlammigen Grund gestemmt. Erstaunlich leicht löste sich der Ballen vom Grund. Rose konnte es kaum fassen. Sie klemmte ihn sich unter einen Arm und tastete mit der freien Hand ihren Weg hinauf, dem Licht des Überschallschraubers entgegen, das in gebrochenen Strahlen zu ihr hinab schien. Oben würde sie die Wurzelknolle zerstören und damit hoffentlich auch dieses seltsame Pflanzenalien. Rose' Kopf durchbrach die Wasseroberfläche und ihr erster Blick fiel auf die Ranken. Noch blühten sie, aber sobald sie die Knolle vom Rest gekappt hatte, hätte das ein Ende! Rose strampelte mit den Beinen, bis sie es geschafft hatte, sich mit ihrer freien Hand an den Rand des Tümpels hochzuziehen. Atemlos saß sie da, bis ihr die Knolle wieder einfiel, die sie vom Grund des Wassers mit nach oben gebracht hatte. Sie sah auf das nasse Ding in ihrem Arm hinab und schrie gellend auf. Die vermeintliche Wurzel fiel aus ihrem Arm und landete platschend im Wasser. So schnell sie konnte kroch Rose vom Rand des Tümpels weg, doch das kleine pausbäckige Gesicht, das sie als letztes im Wasser versinken sah, hatte sich bereits tief in ihre Gedanken eingebrannt. Rose' Augen schmerzten. So sehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte, in Tränen auszubrechen, hatte sie eben diese nicht zurückhalten können, während ihre fahrigen Hände mit aller Kraft die Ranken um den Doctor herum zerrissen. Jetzt saß er vor ihr auf dem Boden, die Kleider bis auf die Haut durchweicht, und hielt das Ding in den Armen, das Rose für eine Wurzel gehalten hatte. Der Doctor war selbst danach getaucht, nachdem ihm Rose von ihrem Fund berichtet hatte, und hatte es an die Oberfläche gebracht. Rose hatte einige Zeit gebraucht, bis sie es sich ansehen konnte, ohne immer wieder an die Tode mehrerer Menschen denken zu müssen. Doch nach einigen aufmunternden Worten des Doctors hatte sie sich dazu durchringen können, das winzige, nackte Wesen, das am Fuße der Pflanze geschlummert hatte, zu betrachten. Es hatte die Größe eines neugeborenen Menschenbabys, und auf irgendeine außerirdische Art war es das wohl auch. "Das hat die Pflanze also genährt?", hauchte Rose ehrfurchtsvoll. "Richtig", der Doctor nickte leicht und sah zu der Ranke, die vom Rücken des heranwachsenden Aliens aus ins Wasser führte, "die Pflanze scheint sozusagen die Amme des Kleinen zu sein." Rose konnte sich nicht verkneifen, das schlafende Wesen zu berühren. Es war noch immer nass und im Gegensatz zu einem Menschenbaby fühlte sich seine glatte Haut kühl an, aber man spürte, dass es lebte. "Und was machen wir jetzt mit dem Winzling?" "Lassen wir das doch die TARDIS entscheiden." Ende Hosted by Animexx e.V. 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