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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Dudelschlacht

Yellow Pfeiffer, der auf dem Beifahrersitz ein bisschen gedöst hatte, erwachte schlagartig, als ihm jemand durch das Sprechgerät ins Ohr brüllte.

»Heeey, Zentrale! Alarmstufe rot!«, dröhnte Ingo. »Bringt irgendwas zum Aufbrechen von Türen mit! Und rechnet mit Widerstand! Paul Frais hat uns gefunden – und das ganze verfickte Nest geweckt! Er hat uns in dem Zugang, den wir genommen haben, eingesperrt und wartet darauf, dass wir uns gegenseitig umbringen. Den Gefallen wollen wir ihm nicht tun, egal wie lange er wartet. Also macht euch nützlich!«

»Ach, Scheiße!«, knurrte Boris. »Okay, wir sehen mal, was wir da machen können.« Er warf das Headset ab, schnallte sich los und krabbelte halb über die Rückenlehne.

»Hey, hey, ich fahre noch!«, erinnerte Dr. Pymonte ihn alarmiert. »Da vorne ist doch schon die Brauerei! Warte noch ’ne Minute!«

»Nein, ich will jetzt aber nicht warten!«, widersprach Boris vehement und rüttelte an Flex, der während der letzten Minuten tief eingeschlafen war und nur langsam wieder zu sich kam. »Marco, wach auf! Versuch an den Kofferraum ranzukommen! Los, los, Augen auf!«

Marco blinzelte ihn verständnislos an. »Wo sind wwww… Was ist denn passiert …?«

»Häng dich über die Rückenlehne und angel dir den Trennschleifer! Der muss in den Baumwollkittel gewickelt sein, zusammen mit der Schutzbrille!«

»Ich vergesse immer, wie viel nützliches Zeug wir im Auto haben … Hm, okay, mal gucken …« Marco tat, wie ihm geheißen, auch wenn ihm der Sinn nicht ganz klar war. »Das Ding haben wir doch seit zehn Jahren oder so nicht mehr gebraucht … Ich weiß gar nicht, ob da noch Sprit drin ist …«

»Doch, doch, bestimmt. Und wenn nicht, ist da ja noch irgendwo ein Benzinkanister.«

»Ja, aber halb leer.« Mühsam kroch Flex über den mittleren Rücksitz und fischte das schwere Handgerät samt Schutzausrüstung aus dem allgemeinen Chaos, das den Kofferraum des Dark Knight ausfüllte. Der Trennschleifer war schmierig und seine Hülle eingestaubt, was keine gute Kombination abgab. Angewidert wischte Marco sich die Finger an dem fleckigen Schutzkittel ab. »Okay, hab ihn …«

»Gut, dann mach ihn mal startklar.«

»Wehe, ihr probiert das Ding hier drinnen aus!«, drohte André, während er den Opel schwungvoll auf den Parkplatz lenkte. »Übrigens, lieber Boris: Jetzt wäre es mal Zeit für eine Erklärung! Was bitte ist passiert?«
 

Vor der Brauerei versammelte sich die dreiunddreißig Mann starke Dudelsackkapelle. Noch immer war der Himmel schwarz, obwohl schon die ersten Autos vorüber fuhren. Wenn demnächst die Frühschicht im Radeberger-Produktionsgebäude mit der Arbeit beginnen würde, hätte die MIU ein Problem; die Musikanten mussten das Blatt rasch wenden. Aufgeregt bereitete ein jeder sein Instrument vor.

El Silbador übernahm von Boris Laptop und Headset, nachdem er über die Sachlage unterrichtet worden war. Sofort beruhigte er die Eingesperrten: »Macht euch nicht nass, wir kommen jetzt rein. Haben Werkzeug, um euch zu befreien.«

»Gut«, schnaufte Ingo zur Antwort. Er klang alles andere als geduldig. »Wir haben schon gerüttelt wie die Bekloppten, das muss eine richtig harte Sperre sein!«

»Ja, ja. Bleibt cool.«

Über den Weg, der ihnen beschrieben worden war, drangen die Musikanten gesammelt in das Gebäude ein. Die rückseitige Tür stand noch offen, doch es dauerte, ehe alle sie passiert hatten. Die Falltür war nun fest verschlossen: Insgesamt vier eiserne Riegel hielten sie an ihrem Platz.

»Kleinigkeit«, brummte Py, der von allen den Trennschleifer am besten handhaben konnte. Rasch warf er sich den Körperschutz über. »Bitte alle zurücktreten!«

Mit nervötendem Lärm begann die Maschine zu arbeiten. Funken stoben in alle Richtungen. Etwa zwei Minuten später waren alle Riegel durchtrennt und die Luft erfüllt von undurchsichtigen Abgasen.

»So, na bitte.«

»Leute!«, rief Wim, der ganz hinten Wache stand, alarmiert nach vorn. »Wir sollten uns ’n bisschen sputen! Da sind überall Schritte um uns rum!«

Sofort sahen alle Alea an, der Entwarnung gab: »Keine Vampire.«

»Menschen können wir nicht bezirzen!«, stöhnte Marco. »Wir müssen da runter, sofort!«

Gemeinsam packten er und seine beiden Kollegen von In Extremo die Falltür, um sie aufzuziehen.

Erst jetzt bemerkte Elsi, dass aus dem Headset, das er lose in der Hand hielt, Rufe drangen. Schnell setzte er es auf und hörte Lasterbalk panisch brüllen: »… –usik anmachen! Elsi, Boris, hört ihr endlich? Haltet euch VERDAMMT NOCH MAL die Ohren zu!!«

»Verstanden!«, schrie Elsi zurück. Dann wandte er sich an die Umstehenden: »Im Keller läuft das böse Lied, wir können so nicht runter! Wir müssen uns entscheiden – entweder schaffen wir es, uns beim Klettern die Ohren zuzuhalten, oder wir kämpfen hier oben!«

»Was?«, ächzte Boris.

»Ich bin raus«, murrte Py, »ich bin so raus … Mann, das Versteck ist da unten?«

»Ja«, bestätigte Elsi.

»Und die Bösen hocken da unten?«

»Ja

»Also müssen wir runter, oder nicht?«

»Wenn wir jemandem in den Arsch treten wollen, ja

»Und warum erklärt mir das nicht gleich jemand? Case closed, ich gehe vor.«

»Halthalthalt!«, erklang eine Stimme von weiter hinten, und dann kämpfte sich Alea zu ihnen nach vorn, die anderen etwas unsanft beiseite schiebend. »Wartet mal! Ich kenne das Lied, und ich hab’s schon geschafft, mich davor zu schützen! Also …« Er fuhr mit beiden Händen in seine Jackentaschen. »…Ich glaube sogar, ich hab noch genug Schutz für alle dabei …«
 

Das unmelodische Intro hatte mehr als nur üble Erinnerungen in Fritz’ Gedächtnis hinterlassen. Auch Erics Augen wurden sofort weit, ebenso erkannte Asp den Track binnen Sekundenbruchteilen – und die seltsame nonverbale Kommunikation zwischen den Vampiren überraschte Fritz ein weiteres Mal: Ehe er oder irgendein anderer Mensch auf die Bedrohung reagieren konnte, packte Simon Ingo und hielt ihm sofort die Ohren zu, und genauso verfuhr Sugar Ray mit Silke, Micha mit Sebastian, Falk mit Fritz und Asp mit Eric. Für mehrere Sekunden trat eine merkwürdige Stille ein.

Fritz, Ingo, Basti und Eric – jeder mit einem Vampir im Rücken, der ihm die Ohren zuhielt – tauschten Blicke, die von unsicher bis verdrossen jede Nuance widerspiegelten.

»Ähm«, begann Lange schließlich zögernd, »ähm, wat macht’n ihr da grade?«

Fritz konnte kaum etwas hören, dafür war Falks Druck zu fest, aber er sah, dass auch die Vampire ihre Lippen bewegten und nicht losließen; das war der Information genug.

»Die Hände auf die Ohren drücken können wir uns auch selber«, erinnerte Fritz vorsichtig, wobei seine eigene Stimme in seinem Kopf nachhallte. »Und Eric …«

»… riskiert nur wieder blutende Ohren!«, begründete Asp seine Reaktion. »Und sobald wir jetzt loslassen, seid ihr für einen kurzen Moment der Musik ausgesetzt, und das kann schon genug Schaden anrichten!«

»Dit habta ja jetzt jeschickt jemacht«, kommentierte Basti, so erstaunt, dass die Ironie fast unterging. »Alle seita jetzt handlungsunfähig … bis uff den Balken.«

Das hatte er richtig erkannt: Lediglich Lasterbalk hatte keine menschlichen Ohren in den Händen. Sobald diesem das bewusst wurde, warf er ein paar Blicke in die Runde und spurtete dann los in Richtung der musikalischen Folterkammer, aus der sie Eric befreit hatten.
 

Während des Rennens machte Lasterbalk mit dem Sender Meldung an das Sackheer und hoffte, dass es den Keller noch nicht betreten hatte. Elsi bestätigte ihm diese Hoffnung, nachdem er endlich auf die Warnrufe geantwortet hatte.

Im Musiklabor – und genau das hatte Lasterbalk schon befürchtet – traf er auf Paul Frais, der mit vergnügtem Grinsen an den Apparaturen herumspielte, Hebel hoch und runter zog und damit Frequenzströme empfindlich veränderte. Das Lied The Viking’s Blood von Snowine dröhnte hier so laut, dass Lasterbalk das Gefühl hatte, seine Trommelfelle müssten platzen; eigentlich wollte er Frais, der aufgrund des Lärmes sein Kommen nicht bemerkt hatte, von hinten pfählen, doch seine Ohren hielten dem Druck nicht stand, sodass er beide Hände brauchte, um sie zu bedecken. Er verfluchte den alten Vampir dafür, dass er so viel weniger empfindlich war.

Ich muss es trotzdem packen, dachte er. Ich muss dicht an ihn ran, schnell zustoßen – und dann sofort diesem Folterinstrument den Saft abdrehen!

Der Plan schlug fehl; Frais drehte sich nach ihm um – und wirkte, zu Lasterbalks Entsetzen, keineswegs überrascht. »Na, Großer?«, lachte er. »Wenn ihr meine Leute mit Musik angreift, dann mache ich das auch. Wobei die Zielgruppen ja etwas unterschiedlich sind.« Damit wandte er sich wieder seiner augenblicklichen Passion zu und manipulierte beschwingt weiter den todbringenden Song.

Lasterbalk sah, dass er an Frais nicht herankam, und änderte spontan sein Ziel: Mit einem schnellen Blick erfasste er die vier Lautsprecher, von denen zumindest zwei dicht beieinander standen, peilte den ersten an und preschte los, um dem verzweifelten Zorn auf diesen Mörder, der in ihm tobte, freien Lauf zu lassen. Dieser Bastard konnte hier nicht stehen und unbehelligt mit tödlichen Frequenzen spielen! Dabei würde er nicht zusehen! Zähnefletschend riss Lasterbalk die Soundbox mitten entzwei. Rrrrrrrratsch!, flogen die Teile zu beiden Seiten.

Frais merkte sofort, dass der Musikdruck rapide abnahm, doch mit einer solchen Maßnahme hatte er wohl nicht gerechnet. Ehe er von seinem hochkomplizierten Mischpult ablassen konnte, hatte Lasterbalk sich schon auf den zweiten Lautsprecher gestürzt und bei diesem mit einem Fußtritt die empfindliche Membran zerstört. Endlich wurde der Sound dreckig und schnarrend.

Frais fuhr herum. »Lass das!«, fauchte er und stürzte sich auf ihn.
 

»Okay, habt ihr gut gekaut?«, fragte Alea die Umstehenden im Flüsterton. Die Zeit drängte, und alle waren hochnervös. »Dann nehmt jetzt das Kaugummi aus dem Mund und macht zwei Kugeln draus. Die sollten mindestens so groß sein wie der Daumennagel.«

Etwas skeptisch tat die ganze Gruppe, was von ihnen verlangt wurde. Die Iren von Fírinne machten ihren deutschen Mitspielern einfach alles nach.

»Kann nicht fassen, dass wir so viel Kaugummi zusammengekriegt haben«, murmelte Boris, wobei ihn kaum jemand hörte, und drückte das klebrige Zeug in seinen Gehörgängen fest.

»Und ich nicht, dass wir das wirklich machen.« André vergewisserte sich mit einem Blick an alle, dass jeder der Spieler so weit war, und riss die Falltür auf.

In genau diesem herrlich passenden Moment bogen Fiacail Fholas menschliche Wächter um die Ecke, mindestens zwanzig Mann, mit grimmigen Gesichtern und gezückten Waffen. Über den Einsatz des Liedes hatte man sie offenkundig nicht informiert.

Sobald die Angreifer die Töne hörten, die von unten herauf drangen, wurden ihre Mienen panisch. Entsetzt warfen sie die Waffen von sich, machten auf dem Absatz Kehrt und pressten sich fluchend die Hände auf die Ohren. Die meisten fanden ihr Heil in der Flucht, doch für einige wenige war es bereits zu spät.
 

Dass Frais selbst keine Pflöcke verwendete, war für Lasterbalk ein lebensrettender Umstand. Außerdem – trotz der extrem schlechten Siegesaussichten – entzückte es ihn irgendwie, dass er sogar diesen so alten, viel Wert auf Form legenden Vampir dazu gebracht hatte, blind mit den Zähnen zu kämpfen. Nie zuvor, soweit der Große sich erinnerte, hatte Frais das nötig gehabt. Jetzt jedoch hingen seine rasiermesserscharfen Hauer in Lasterbalks Kehle und drangen wie wild in Sehnen und Muskeln ein, um die große Halsschlagader zu erreichen. Die innere Jugularvene, die genau daneben verlief und das Ziel gewöhnlicher Vampirbisse war, hatten sie bereits durchdrungen; Lasterbalk glaubte bereits zu spüren, wie das Leben langsam, aber stetig aus ihm herauslief.

Nein, aller Widerstand nützte nichts: Frais lag auf ihm wie ein Felsblock und hielt Lasterbalks Arme in einem Griff, der den Fixationsriemen am Folterstuhl, keinen Meter entfernt, in nichts nachstehen konnte. Der viel größere und eigentlich auch kräftiger aussehende Lasterbalk rang vergeblich mit Frais’ Stärke und Gewicht. Er konnte seinen Pflock nicht ziehen und erst recht nicht einsetzen. Immer noch kaute die Bestie mit eisenharten Zähnen das weiche Fleisch seines Halses durch. Wäre Lasterbalk ein Mensch, hätte Frais ihm ohne Zweifel binnen Sekunden die Kehle herausgerissen; so jedoch hielten die harten Sehnen im Hals des Jüngeren hartnäckig Stand, auch wenn es sich nur noch um Minuten handeln konnte, bis Frais’ Fänge dieses letzte Hindernis überwunden hatten.

Er könnte mich enthaupten, indem er mir den Hals durchbeißt!, dachte Lasterbalk schwindelig.

Zähneknirschend spannte er alle Muskeln im Leib und schob mit aller Kraft gegen das peinigende Gewicht des Gegners an.

Eine Ewigkeit später, so kam es Lasterbalk vor, stürzten endlich Leute herein. Jemand schaltete die grässliche Musik ab. Er konnte den Kopf nicht drehen und hoffte inständig, dass es sich um seine Leute handelte und nicht um Fiacail-Fhola-Verstärkung. Die Hoffnung erfüllte sich: Mindestens drei paar Hände griffen plötzlich mutig nach Frais und zogen ihn von Lasterbalk herunter. Leider waren es Hände ohne Pflöcke. Keine Vampirjäger. Verdammt! Vor Lasterbalks Augen verschwammen die kleinen Schildchen auf der Kleidung der Menschen, aber irgendetwas stand dort geschrieben. Die drei, die Frais gepackt hatten, mussten postwendend dafür bezahlen, denn er biss sie alle. Spritzte Gift in ihre Körper und riss ihre Halsvenen auf. Durch den Schleier erkannte Lasterbalk erst kurz danach, wer sie waren, die da so beherzt hinzugestürzt waren: Boris, Fiona und – Luzi! Auf dem Boden vermischte sich Vampirblut mit menschlichem. Lasterbalk kam taumelnd auf die Füße, gestützt von noch mehr Menschen, und zog den Pflock, um Frais zu pfählen. Denn nichts anderes galt jetzt mehr. Zu seinen Füßen lagen seine Leute, ein Teil seiner Dudelsackarmee, und Frais würde einen nach dem anderen töten, wenn er ihn nicht sofort aufhielt. Die Menschen, die sich der Bestie entgegen warfen, waren ohne Chance.

Frais, der einen Spielmann nach dem anderen lässig abwehrte, bemerkte die Bemühungen des anderen Vampirs und bleckte wütend die Zähne. »Vergiss es, du armseliger Kettenhund. Ich bin dir und deinen leckeren Freunden weit überlegen!« Zorn ging nahtlos über in Triumph, als sein Grinsen breiter wurde – doch kurz darauf verzerrte sich sein Gesicht zu einer undeutbaren Grimasse. »Lámh Dé

Aus dem Augenwinkel sah Lasterbalk im Türrahmen Alea stehen; der jedoch starrte die Szenerie nur schockstarr an, ohne etwas zu unternehmen. Beide Hände ließ er schlaff hängen, unfähig zur Reaktion.

Dies entging auch Frais nicht. »Du Feigling!«, höhnte er. »Meine Zeit ist noch nicht abgelaufen!« Und er stürzte, blutbesudelt wie er war, lachend durch die nächste Wand davon.

Sein Ziel entkommen sehend, fiel Lasterbalk zitternd vor ohnmächtiger Wut auf die Knie. Viele Hände tätschelten seine Schultern. Welche, das war ihm jetzt egal. Irgendwann merkte er, dass ihm jemand ein Taschentuch an den Mund hielt und ihn eindringlich bat: »Bitte, spuck drauf!« Träge versuchte er zu gehorchen. Das war gar nicht so einfach. Lasterbalks Mund war trocken wie Wüstensand. Es dauerte, ehe er genug dicke, schleimige Spucke auf der Zunge angesammelt hatte. Nie würde man damit alle Verletzten versorgen können. »Okay, neuer Versuch: Beiß hier rein.« Diesmal hielt man ihm ein Stück Leder hin. Egal woher, vielleicht einer der Riemen. Das Zubeißen brachte den Quell zum Sprudeln. Begeistert fingen mindestens fünf Taschentücher den wässrigen, heilenden Speichel auf. Sekunden später fiel ihm Alea wieder ein, und sein Kopf ruckte hoch, der Blick nun glasklar – doch der Vexecutor war nirgends zu sehen. Höchstvermutlich, dachte Lasterbalk erleichtert, hatte jemand Aleas offensichtliches Entsetzen als Vorwand genutzt, ihn von der Szenerie wegzuführen.

»Wo sind die anderen?«, wollte Elsi wissen.

Lasterbalk sagte es ihm. Jetzt sah er auch, dass jeder der Hinzugekommenen eine Sackpfeife behütend an die Brust drückte. Das Sonderkommando war also einsatzbereit – oder wäre es zumindest, wenn endlich die Blutungen gestillt waren und das Gift seine Wirkung verloren hatte. Er hoffte, dass Boris, Fiona und Luzi noch stark genug waren, sich mit versorgten Verletzungen wieder in die Reihen der Spieler einzugliedern. Jeder wurde gebraucht.
 

Endlich, einige Zeit später, war ein halbwegs an Ordnung erinnernder Zustand wiederhergestellt worden – jedenfalls soweit Fritz die Lage von seinem Platz weiter hinten aus überblicken konnte. Alle einundvierzig Männer und Frauen hatten wieder zueinander gefunden und drängten sich in ihrem langgezogenen Gefängnis. Lasterbalk hatte Frau Schmitts Platz neben Eric eingenommen. Er war blass und sah aus, als drehte sich alles hinter seiner Stirn; die Wunde an seinem Hals war tief, und Fritz konnte sie gar nicht ansehen. Das war zum Glück auch nicht nötig, denn etwas anderes erregte soeben seine Aufmerksamkeit, als eines der vielen ihm unbekannten Mitglieder der Sackkapelle etwas Verdächtiges aus seinem Ohr zog, es in Form knetete und wieder hinein stopfte. »Oh Gott, ihr habt euch wirklich Kaugummi in die Ohren gesteckt«, stöhnte Fritz mit dämmernder Erkenntnis.

»Ja, es klebt schon eklig«, räumte Dr. Pymonte ein, »aber wir hatten einfach nichts anderes. Was ist, wollen wir diese Sache jetzt ein für alle mal beenden?« Er hielt den speckigen Trennschleifer hoch. »Das hier hat uns befreit.«

»Das Sackheer ist einsatzbereit!«, tat Boris, wenn auch noch immer mit leicht blutverschmiertem Hals, kund. »Von unserer Seite aus kann’s losgehen.«

Lasterbalk murmelte: »Ich bin leider völlig am Ende … und übertrage hiermit das Kommando feierlich auf … den Kerl da neben mir …« Er nahm sich zusammen und tat Falk den Gefallen, ihn bei vollem Namen und Titel zu nennen: »… Herrn Irmenfried von Hasenmümmelstein, erster Offizier und Stellvertreter des Kapitäns …«

Falk salutierte zackig. Dann trat er auf die erhabene Türschwelle und kommandierte: »Pfählerteam antreten. Los jetzt! André, mach die Tür auf. Spielleute, spielt
 

Auf ein lautloses Kommando hin erfüllte laute, rohe Dudelsackmusik den ganzen Keller. Die Töne drangen in jede Ritze, stürmten sowohl die Ohren der bereits vom Tumult aufgeweckten als auch die der wenigen noch schlafenden Vampire wie ein angreifendes Heer und malträtierten sie mit einer Gewalt, welche die Blutsauger bis in ihre Träume hinein rettungslos in unsichtbare Ketten legte. Stöhnend rafften sie sich auf, allesamt, und stürzten mit starren, dunklen Augen auf die Musiker zu, welche wie eine Flutwelle in den Raum strömten und sich in ihm verteilten, ihn ganz und gar einnahmen, das Lager einkreisten, über dreißig Spieler auf einen Schlag. Und sie spielten, als hinge ihr Leben davon ab. Der Klang war nicht schön, sondern nur noch derb und zerstörerisch. Einige der hypnotisierten Vampire begannen aus den Ohren zu bluten. Die Sackspieler hatten gut daran getan, ihre Ohrstöpsel aus Kaugummi in den Ohren zu behalten; die Akustik der Halle verstärkte den enormen Impact, der sich bereits während der Proben angedeutet hatte.

Außerdem einen Gehörschutz trugen die MIU-Vampire. Jetzt, da genug Zeit gewesen war, die mitgebrachten Pfropfen aus Schaumgummi richtig zu platzieren, war die magische Melodie kein Problem mehr. Sie lauerten nur auf jenen Moment, in dem alle feindlichen Vampire nutzlos in der Gegend herumstehen würden. Das Beste war: Frais würde nichts dagegen tun können. Er hatte verloren.

Dann kam endlich der Moment des Einsatzes.

Und mit ihm kam eine neue Erkenntnis, auf die jeder gern verzichtet hätte. Denn trotz allem Erfolg war der Kampf keine Befriedigung: Das hier war keine glorreiche Schlacht, wie die Pfähler sie erhofft hatten, es war tatsächlich noch nicht einmal ein Kampf – sondern ein stumpfes Abschlachten fern jeder Fairness. Keiner der Feinde wehrte sich. Es war allzu leicht, sie hinzumetzeln, ihr Blut wie Waschwasser zu verschütten, ihre Körper liegen zu lassen, wo sie fielen. Eine kineastische letzte Bataille, Gut gegen Böse, hätte eine gewisse Befriedigung mit sich gebracht; stattdessen aber starben Frais’ Schergen wie Schafe auf der Schlachtbank.

Dieses Töten war zugleich das leichteste und das schwierigste, das die MIU-Pfähler bisher bewältigt hatten. Töten musste einen Sinn haben, um erträglich zu sein, und in einem Fall wie diesem, wenn der Gegner sich nicht zur Wehr setzen konnte, geriet der Sinn schnell aus dem Fokus. Mit jedem gefallenen Gegner lag der Pflock schwerer in der Hand, ließ sich der Arm mühsamer heben. Schließlich wurde gepfählt, ohne hinzusehen. Keiner wollte dem verträumten Blick einer Bestie begegnen, wenn er brach. Innerhalb weniger Minuten waren alle Feinde gefallen. Und diejenigen, die die Helden hätten sein sollen, standen, körperlich wie geistig ausgelaugt, bis zu den Knöcheln in Blut.

Dann war es endlich vorbei.

»Oh, Scheiße«, murmelte Ingo, sobald er den ganzen Raum, angefüllt mit Leichen und Blut, komplett überblicken konnte. »Lasst uns bloß hier abhauen.«

»Hat denn jemand Frais erwischt?«, fragte Silke vorsichtig. In ihren Augen stand noch immer die Abscheu vor dem Massaker.

»Weiß ich nicht … Aber er hat jedenfalls keine Streitkräfte mehr, weder menschliche noch vampirische, und wir müssen hier raus.«

Die übrigen Pfähler stimmten ihm zu; auch sie waren vom Töten völlig ausgelaugt, ihre Gesichter blass und elend. Genauso mitgenommen waren die Sackpfeifer, die das Blutbad mitangesehen hatten; nach und nach hatten alle das Spielen abgebrochen, einige hatten mit dem Brechreiz gekämpft, den der Anblick und der stechende Geruch des Blutes auslösten, andere hatten sich rücklings gegen die Wände gedrückt, wenige hatten sich gar in die Ecken gekauert und das Gesicht mit den Händen bedeckt, als könnten sie das grauenhafte Schauspiel einfach ausblenden. Ihnen widmeten diejenigen mit einem stärkeren Nervenkostüm nun besondere Aufmerksamkeit, als es daran ging, die ganze Gruppe binnen kürzester Zeit zum Aufbruch zu bewegen.

Gesammelt und mehr oder weniger intakt verließen die MIU und ihre Verstärkung den Geheimkeller auf demselben Weg, der sie hineingeführt hatte. Sobald alle die Falltür passiert hatten, wurde diese fest zugemacht.

»Wir sollten in die Wege leiten, dass der Keller nach der Säuberung verschlossen und versiegelt wird«, sagte Falk. »Aber vorher sollten wir fürs erste ein paar Spuren verwischen. So wie der Zugang jetzt aussieht, nach der Behandlung mit dem Trennschleifer, wird ihn jeder, der hier arbeitet, sofort finden.«

Boris sah sich um. »Lass uns erst mal den Abtreter wieder drüber legen. Über so was wundert sich vor einer Tür niemand. Wenn die Polizei anrückt, dann … naja, dann kümmern die sich um den Geheimhaltungskram.«

Fritz sah höchst ungeduldig zu, wie sich um – seiner Meinung nach – solche Lappalien gekümmert wurde. Ihm persönlich war inzwischen alles egal. Mehr Blut würde er nicht ertragen. Er musste nach Hause. Ins Bett … und schlafen. Er wusste, dass es den meisten anderen ganz genauso ging.
 

Doch noch immer war der Feind nicht völlig besiegt – dies zeigte sich, als der geschwitzte und ausgelaugte Trupp sich schleppend zum Ausgang im Erdgeschoss hinbewegte.

Kurz vor der ersehnten Freiheit trat ihnen Paul Frais in den Weg. Flankiert wurde er von dem schniefenden Ned und Conall Cernach, den beiden letzten wirklich gefährlichen Handlangern, die ihm noch zur Verfügung standen. Die zwei boten den bekannten Anblick relativ kalkulierbaren Zorns; Frais jedoch war gar nicht wiederzuerkennen: Er war ein Abbild des Wahnsinns. Seine Augen waren blutunterlaufen und weit aufgerissen, seine Mundwinkel voller blutigem Schaum wie die Lefzen eines tollwütigen Hundes. Als er die Überraschung auf den Gesichtern seiner erstarrten Widersacher gewahr wurde, stieß er ein so hässliches, irres Lachen aus, wie man es nie zuvor von ihm gehört hatte.

»Jetzt ist Schluss, ihr kleinen Menschen und Kaltbluttrinker«, sagte er gefährlich ruhig, so leise, dass es Mensch und Vampir kalt durchs Mark ging. »Jetzt ist Schluss. Ihr müsst bezahlen. Ich zähle bis zehn – bis dahin können die von euch weglaufen, die es noch schaffen. Alle anderen reißen wir in Stücke. Eins

Niemand rührte sich. Jeder hatte Angst – doch keinem fiel es ein, die Seite der anderen zu verlassen.

Conall ließ seine Muskeln spielen; Ned grinste angriffslustig. Er hatte einen Tisch im Arm, die Platte an den Bauch gepresst. Die vier Tischbeine waren angespitzt. Eine schwerfällige, aber zweifellos wirksame Waffe. Und als Vampir besaß er genug Kraft, sie effektiv einzusetzen.

»Zwei«, zählte Frais ruhig.
 

Lasterbalk, der sich noch immer wie ein ausgewrungenes Handtuch fühlte, wandte sich den zusammengedrängten Musikern zu. »Leute«, sagte er schlapp, »lauft weg. Wir bringen das alleine zu Ende. Es soll keiner unnötig verletzt werden. Nur wer bewaffnet ist, kann bleiben.«

»Wir sind bewaffnet!«, erinnerte ihn Conny Fuchs und hielt ihre Sackpfeife hoch. Obgleich sie aussah, als wäre sie einer Ohnmacht nahe, forderte sie mit ungebrochenem Kampfeswillen ihre Mitstreiter auf: »Los, noch mal, alle zusammen!«

Frais quittierte ihren Mut mit einem bösartigen Lachen. Er winkte ab, als mehr als die Hälfte der Musiker sich grimmig daran machte, ihre Instrumente vorzubereiten. »Das könnt ihr getrost sein lassen«, ließ er sie wissen. »Ich habe es gerade schon gehört, und es hat mir gut gefallen. Dudelsäcke … immer wieder schön.« Und dann, zu jedermanns Entsetzen, summte er die transsylvanische Lockmelodie. Einfach so.

Augenblicklich wurde den MIU-Vampiren schwindelig. Auch Conall und Ned an Frais’ Seite bekamen einen glasigen Blick und begannen zu schwanken.

»Aber, aber«, brach Frais seine Darbietung ab, »wer bin ich, dass ich zu solch unlauteren Mitteln greife? Nein, ich bevorzuge den direkten Kampf. Trotzdem habt ihr immer noch eine faire Chance. Drei

»Nun lauft schon!«, spornte Ingo geistesgegenwärtig die Spielleute an. »Was steht ihr noch hier rum! Ihr könnt nicht helfen

Diese Ansage wirkte. Die ersten drehten ab und rannten zurück ins Innere der Brauerei. Frais und seine Handlanger hielten sie nicht auf. Dem alten Vampir ging es nicht um diese paar eingeschüchterten Menschen; er würde sie in aller Ruhe schlachten, nachdem er das Leid der MIU-Vampire genossen hatte. So ließ er zu, dass der langgezogene Raum sich langsam leerte, während immer mehr Dudelsackspieler zu der Einsicht gelangten, dass sie nichts mehr ausrichten konnten. Zuallerletzt wichen, auf die eindringlichen Blicke ihrer Freunde hin, auch Elsi, Boris und die übrigen unbewaffneten MIU-Leute in den Tunnel zurück. Es gab nichts, das sie tun konnten.

Übrig blieben nur die wirklich Wehrhaften: Micha, Asp, Falk, Lasterbalk, Sebastian, Ingo, Simon … und Fritz, der nun mit glühendem Blick seinen Pflock aus dem Gürtel zog.

»Da, bitte! Ich hoffe, du erkennst ihn noch, Frais!« Fest umfasste er den mit Schaumstoff verkleideten Holzstift, der ab der Mitte in dunklem Rotbraun verfärbt war. Obwohl man ihn gründlich gewaschen hatte, haftete diese neue Farbe dem Pflock an wie eine Lasur.

Unbeeindruckt fuhr Frais fort: »Vier

»Boss, das ist langweilig!«, nölte Ned.

»Ich weiß, ich weiß. Fünf
 

Fieberhaft überlegte Ingo, wen es zuerst zu attackieren galt. Abzuwarten, bis Frais bei zehn angekommen war und selbst in die Offensive ging, war keine Option. Sie mussten die drei letzten Feinde vorher erledigen. Aber in welcher Reihenfolge? Welche Vorgehensweise wäre am klügsten?

»Ihr Hänflinge seid ja immer noch da!«, verhöhnte Conall die MIU.

»Die werden auch nicht weglaufen«, seufzte Frais, »weil sie nicht wissen, was gut für sie ist. Also gut, kürzen wir das Ganze ein wenig ab: Sechs, acht, zehn

Damit hatte sich die Frage für die MIU erledigt. Fangzähne klickten, und es ging los. Conall stürzte sich auf den geschwächten Lasterbalk und warf ihn um wie einen gefällten Baum. Sofort griff Falk ihn an. Ned nahm Anlauf, johlte und wollte ihm eines der Tischbeine von hinten durch den Körper treiben. Simon, der nicht schnell genug am Ort war, holte verzweifelt mit dem Pflock aus und warf ihn – wie einen Drumstick, der irgendwo im Publikum landen sollte. Das Holz drehte sich in der Luft mehrmals um sich selbst und traf mit der Spitze voran. Allerdings nicht Ned, sondern Conall Cernach, der mehr vor Überraschung als vor Schmerz einen dröhnenden Schrei ausstieß. Ned mit dem Tisch guckte dumm und Falk gewann Zeit. Rasch vollendete er Simons Werk und rammte den Pflock tiefer in die Brust des bulligen Gegners, der ihm daraufhin mit einem leisen Stöhnen fast in die Arme fiel und seinen letzten Atemzug tat.

Basti und Ingo griffen sich den verblüfften Ned, der den Pflockwurf offenbar hoch beeindruckend fand, rissen ihm den Tisch aus den Händen, sodass dieser – Beine in die Luft – polternd zu Boden fiel, dann packten sie Ned an jeweils einer Schulter und warfen ihn mit Schwung rückwärts auf eines der Tischbeine, das seine Brust durchdrang wie Kuchenteig und zwischen den Rippen wieder hervorstieß.

»Whaaa, wie in From Dusk Till Dawn!«, johlte Lange.
 

Frais, noch immer in kein richtiges Gefecht verwickelt, hatte diesen kurzen Kampf mit Erstaunen verfolgt. Die verzweifelte Entschlossenheit der MIU hatte er unterschätzt, dies wurde ihm nun klar. Mit der Kraft der Hoffnung hatten sie mit seinen besten Kämpfern kurzen Prozess gemacht – obwohl er sie so massiv geschwächt und demoralisiert hatte! Unverständnis stieg in ihm auf, verwandelte sich mehr und mehr in Verwirrung angesichts dieser neuen Stärke seiner Feinde. Einzeln waren sie so leicht außer Gefecht zu setzen. Doch als Gruppe … warum …?
 

»Jetzt kommst du!«, brüllte Fritz. Der Erfolg seiner Kollegen hatte seinem Mut Flügel verliehen. Mit dem Pflock in der Hand stürzte er auf Frais zu.

»Fritz, nicht!«, hörte er Asp noch rufen, dann packte ihn Frais’ Hand am Kragen und bremste seinen Sturmlauf.

»Du weißt auch gar nicht, wann es genug ist!«, fauchte Frais, maßlos wütend über so viel Dreistigkeit, warf Fritz mit dem Bissgriff um und schlug die Zähne in seinen Hals.

Fritz schrie auf, doch sein Schrei verebbte rasch, als er vor Ekel und Angst in Ohnmacht fiel.
 

Frais kommentierte das prompte Erschlaffen seines Opfers mit einem hämischen Kichern und trank ein paar große Schlucke Blut. Neue Kraft! Nie würde er sich von diesen Feiglingen bezwingen lassen, nie!

Postwendend griff Michael ihn an. Fritz war sein Partner, Frais provozierte ihn mit dem Angriff aufs Schlimmste. Als Ältester der MIU hatte Micha wohlmöglich die besten Chancen – doch dass Paul Frais von dem hart erkämpften Lockstück völlig unbeeindruckt geblieben war, hatte gezeigt, dass er unfassbar alt sein musste. Entsetzliche Angst hätten sie haben müssen, sie alle, angesichts solcher Macht – doch niemand ließ es zu. Ohne zu zögern eilten Falk, Ingo und Simon Micha zur Hilfe.

Für Frais war dies jedoch weder ein Problem noch eine Überraschung. Er wehrte jeden von ihnen mit einem derben Faustschlag ab. Allein Micha schaffte es mit all seiner Hartnäckigkeit, Frais in ein fruchtloses Gerangel zu verwickeln, das einige Minuten in Anspruch nahm; doch nach längerem Zerren und Stoßen schickte der Alte schließlich auch ihn auf die Bretter. Er traf Micha derart hart, dass es den MIU-Ältesten gegen die Wand schmetterte, wo er blutend liegen blieb.

Frais klopfte sich den Staub ab und lachte. »Ein paar Jahre früher hättest du eher eine Chance gegen mich gehabt, Michael Rhein. In diesem Leben bist du leider schon zu alt – aber vielleicht kriegst du mich ja im nächsten.«
 

Van Lange, Asp und Lasterbalk, die in sicherer Entfernung geduckt verharrt waren, tauschten erschrockene, hilflose Blicke. Frais war wirklich unbesiegbar. Sie hatten keine noch so irrwitzige Aussicht auf den Sieg.

»Gebt auf«, forderte Frais sie auf. Aus seiner blutbeschmierten Fratze sprach der blanke Wahn. »Oder ich lasse keinen am Leben. Nicht mal dich, meinen Abkömmling, würde ich jetzt noch verschonen. Und eure Menschen werde ich alle austrinken. Alle!«

Lasterbalk schüttelte den Kopf. »Nein.« Er schleppte sich sichtbar hinkend vor den Gang, durch den das Sackheer geflohen war, und die anderen beiden schlossen sich ihm sofort an, so schnell sie konnten. »Du wirst hier nicht vorbeikommen.« Ihnen allen war klar, dass jetzt nur noch wenige Sekunden sie und die anderen vom Tode trennten.

»Oh, wie heldenhaft!« Frais musterte sie mit einem Ausdruck zwischen Spott und Bewunderung. »Ist dieses Verhalten das, was eure Menschen von euch erwarten? Nun gut. Ihr habt es so gewollt.« Grinsend machte er den ersten Schritt auf sie zu. »Dann sterbt jetzt.« Und er trat voran.

Zwei Schritte schaffte er.

Die Finger seiner vorgestreckten Linken strichen über Lasterbalks Brust, ehe er mitten im Lauf plötzlich einknickte und auf die Knie fiel. Seiner Kehle entwich ein Röcheln. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen griff er sich an das Herz. Krämpfe durchzuckten ihn. Dann fiel er auf die abgestützten Hände, rang nach Atem. Konnte nicht begreifen, was geschah. Schließlich sank er ganz auf den Bauch. Seine Augen rollten wild in den Höhlen, seine Nasenflügel blähten sich und stießen kurz und abgehackt den Atem aus, während seine Finger sich immer wieder verkrampften und wieder streckten, wie eine Spinne, die sich allmählich sterbend zusammenrollt. Nach langen Minuten, in denen seine Muskeln immer schwächer zuckten, wurden seine Augen endlich starr, der ganze gestreckte Körper kam zur Ruhe.

Paul Frais war tot.
 

Sekunden später wandte sich Lasterbalk als Erster ab und ließ zischend den angehaltenen Atem entweichen. Kurz traf sein Blick den seiner erschöpften Mitstreiter; dann sah er suchend über seine Schulter, wo im Halbdunkel jemand stand und die ausgestreckte Hand langsam sinken ließ.

»Du hast dir Zeit gelassen, Alea … Wolltest du’s so spannend machen?«

Alea atmete kräftig durch und senkte den Kopf. Er sah furchtbar erschöpft aus. Wie in Trance fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht, wo dünne Rinnsäle von Blut ihm aus der Nase und den Ohren gesickert waren, Zeichen seiner Anstrengung.

Lasterbalk sah ihn nur an wie ein großes Rätsel. In seinem Kopf war zu viel, das er sagen wollte, allem voran: Warum bist du überhaupt noch hier, verdammt?

Alea bemerkte seinen unverwandten Blick. Er legte den Kopf schief und erklärte: »Du hast gesagt, wer bewaffnet ist, kann bleiben.«



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