Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 43: Schlafende Hunde ---------------------------- Um fast drei Uhr nachts fand Boris Pfeiffer, dass Fírinnes Sackspieler – sämtlich Teil eines Militärmusikkorps – ihren Part ausgezeichnet verinnerlicht hatten. Es hatte lange gedauert, ja, doch das Lockstück saß jetzt. Noch länger zu üben würde nichts bringen, außer dass es die Musikanten weiter ermüden würde und dass die MIU-Sucher noch länger sich selbst überlassen wären. Um die Teilnehmenden als (wenn man es so sehen wollte) unbewaffnete Nicht-Kämpfer zu kennzeichnen, beschrifteten Boris und Elsi bunte Haftnotizen und klebten sie sich selbst und den anderen Musikern einfach über der Brust auf die Kleidung. »Was steht da?«, fragte Luzi, sah an sich herab und legte die Stirn in Falten. »Sackheer«, las Marco. »Ach, Sackheer! Ich lese dauernd Sackhaar.« »Dazu sag ich mal lieber nichts.« Dr. Saltz wandte sich an Niklas Löhse: »Die siebzehn Kilometer bis Radeberg zu Fuß gehen können diese Leute nicht mehr, die sind alle viel zu müde. Wir haben leider nur drei Autos, da passt maximal die Hälfte der Spieler rein.« »Oh, das macht nichts«, antwortete Löhse lächelnd, »wir haben zehn. Wollen wir dann los?« Endlich also machte sich das Ablenkungskommando auf den Weg. Die Fahrt zur Radeberger Brauerei würde etwas länger als eine halbe Stunde dauern; diese Zeit nutzten die müden Männer und Frauen, um dösend auszuruhen. Die Nacht war kurz, und sie mussten unbedingt erfolgreich sein. »Bwäh!« Van Lange fuhr zusammen, als das Geschrei bis in den feuchten Keller hinunter drang. »Wat röhren die denn so? Klingt wie zwei anjeschossene Hirsche. Vor allem Micha, dit alte Nebelhorn.« »Meines Erachtens unverkennbar«, murmelte Ingo. »Das hellere wird Alex sein. Sollten wir uns Sorgen machen?« »Ich glaube, nach so einem Löwengebrüll brauchen die uns nicht mehr«, bemerkte Silke stirnrunzelnd. »Lasst uns lieber weitersuchen.« Fritz fand es seltsam, dass in diesen engen, schummrigen Gängen, deren Seiten auch noch mit unbrauchbar gewordenen technischen Geräten oder sonstigem schlecht erkennbaren Plunder zugestellt waren, niemand auf die sechs lauerte. Es war richtig ruhig in diesem Gewölbe gleich neben den zur Gärung und Lagerung genutzten Kellern der Brauerei. Wahrscheinlich wusste ein Großteil der Beschäftigten gar nicht, dass diese Katakomben überhaupt existierten – und dass Fiacail Fhola in ihnen nisteten. Nach kurzem weiterem Weg hielt Simon die anderen plötzlich auf. »Pssst!« »Was ist?«, zischte Ingo. »Da hinten … vor einer grauen Metalltür … ist ein Wachposten.« »Ein Vampir?« Simon wagte sich, um darauf antworten zu können, vorsichtig ein paar Schritte weiter und reckte schnüffelnd die Nase vor. »Jaah … ein Vampir … und – unglaublich, der pennt …« »Im Ernst?«, hakte Ingo belustigt nach. »Was für’n Trottel.« »Es muss die Nächte über sehr ruhig hier unten sein«, vermutete Frau Schmitt. »Wahrscheinlich … Können wir ihn überwältigen?« »Glaub schon«, antwortete Simon. »Willst du das machen, Ingo? Ich komm mit, falls er doch aufwacht.« Die beiden Männer schlichen vorsichtig los. Simon, eine Hand auf Ingos Schulter, blieb dem menschlichen Kollegen dicht auf den Fersen. Fritz beobachtete, wie die beiden im Dunkeln immer schlechter zu sehen waren, als würden sie nach und nach von schwarzer Gaze verhüllt. Hampf zog geräuschlos seinen Pflock und sammelte sich. Als er direkt vor dem leise schnarchenden Vampir stand, der schlaff an die Wand gelehnt war und aus dessen Mundwinkel ein dünner Speichelfaden hing, hob er langsam den Arm. Der schlecht rasierte Mann erwachte. Schlaftrunken blinzelte er der drohenden Pflockspitze entgegen und schien erst gar nicht zu begreifen, was passierte. »Ihhhhggg …«, machte er und bemühte eine Hand empor, um sich die Augen zu reiben. »Es ist nicht gut, bei der Wache zu pennen«, belehrte Ingo ihn kalt, dann stieß er wohl koordiniert zu. Und zog den Pflock sofort wieder heraus. Der Mann brachte ein paar undeutliche Laute heraus, die Augen kaum weiter geöffnet als zuvor, und sank dann langsam an der Wand zu Boden, wobei er einen breiten, feucht glänzenden Streifen auf ihr hinterließ. Ingo bückte sich, tastete in der Kehlgrube nach dem Puls und fand keinen. Er nickte Simon zu, der daraufhin energisch die anderen heranwinkte. Hinter der Metalltür, die sich nur sehr schwer von der Stelle bewegen ließ, befand sich ein großer, recht hoher Raum, der mit Apparaturen vollgestopft war: Schwarze Monitore, ruhende Messzeiger. Fritz fragte sich, was hier für gewöhnlich so akribisch überwacht und aufgezeichnet wurde – dann sah er die Lautsprecher in den vier Zimmerecken, jeder einen halben Meter hoch und mindestens dreißig Zentimeter breit. »Ein Audiolabor«, wisperte Hampf. »Seht ihr? Lauter Anschlüsse, Kabel und Konnektoren. Wahrscheinlich können sie hier alles messen: Tonfrequenzen, Hirnströme, Herzschläge … Hier haben sie an ihrem Lied geschraubt, um es möglichst tödlich zu machen. Eff Eff und diese armen kleinen Scheißer von Snowine!« Die anderen schwiegen beklommen; unsicher ließen sie ihre Blicke durch den Raum gleiten. Die Wände waren unverzimmert, die karge Einrichtung nebst den Geräten wirkte kalt und steril. Silke betastete einen kleinen Schalter, der samt Kabel säuberlich mit Duct Tape in Handhöhe an die Wand geklebt worden war. »Darf ich ausprobieren, ob das ein Lichtschalter ist?«, fragte sie. »Mach, vielleicht sehen dann alle was«, ermunterte Simon sie. Frau Schmitt betätigte den Schalter; daraufhin sprang flackernd an der Decke eine grelle Glühbirne an, deren Zuleitungen ebenfalls unverkleidet über den rohen Beton liefen. Doch es geschah noch mehr: Ein vielstimmiges Summen setzte ein, wurde lauter und höher, als nähmen mehrere elektrische Geräte den Betrieb auf; die Monitore schalteten sich ein, die Messfühler erwachten zitternd zum Leben, überall gingen kleine Lichter an und blinkten Zahlen auf. Aus den vier Lautsprechern drang ein Ton hervor, so tief, dass er nur als Vibration im Boden wahrzunehmen war. Verunsichert drängten die sechs sich in der Mitte des unheimlichen Raumes zusammen. Selbst Frau Schmitt machte einen Schritt zurück, beließ aber geistesgegenwärtig einen Finger auf der Taste. »Selbstzerstörung in zehn Sekunden!«, kam es von Simon in der Hoffnung, die Situation etwas aufzuheitern, aber niemand kicherte auch nur. »Sieh an, ein Universalschalter«, brummte Hampf. Fritz konnte nun den ganzen Inhalt des Zimmers überschauen, da alles in das weiße, ungedimmte Licht getaucht war. An der Raumseite, die der schweren Eingangstür gegenüber lag, stand ein leerer Stuhl; Sitzfläche und Armlehnen waren mit dunklem Kunstleder bespannt, zudem waren im Bereich der Hand- und Fußgelenke des Sitzenden starke Riemen angebracht, die sich festzurren und verschnallen ließen. Wer auch immer auf diesem Stuhl Platz nahm, würde ihn offensichtlich rasch verlassen wollen – und es nicht können. Auf der Sitzfläche lag ein Paar geschlossener Muschelkopfhörer mit Fixiervorrichtung. »Sie haben das Lied auf jede erdenkliche Art an den Opfern ausprobiert«, flüsterte Simon. »Fritz … war es auch so, als du und Alea … beschallt wurdet?« Ratlos schüttelte Fritz den Kopf. »Bei uns hatten sie nur die Lautsprecher … und gefesselt wurden wir auch nicht. Es wurden einem nur Messelektroden auf die Stirn und die Innenseiten der Handgelenke geklebt, um unsere Reaktionen auf die Musik zu messen. Hirntätigkeit, Pulsfrequenz, Schweißabsonderung, Blutdruck … solche Sachen.« »Hat ein Vampir euch gekostet?« »Nein. Ich glaub, die wissen gar nicht, dass man nach dem Hören des Liedes nach Panik schmeckt.« Die anderen sahen unangenehm berührt beiseite. Nur Sugar Ray hatte die Nase gehoben und zerlegte augenscheinlich den metallischen Geruch des Raumes in seine Einzelnuancen. Plötzlich knirschte er »Hier lang« und setzte sich in Bewegung, wobei er nicht einmal die Hände vorstreckte, um sich zu orientieren. Zielsicher bog er um den großen Klotz an blinkenden Apparaturen herum, der die Sicht blockiert hatte und hinter dem der Raum offenbar nach rechts noch weiterging – und blieb stehen. »Heiliger Scheiß!«, stieß Ingo hervor, sobald er ihn eingeholt hatte. Fritz beeilte sich hinterherzukommen. Als er auf dem Boden Blut sah, wollte er zuerst schnellstmöglich die Augen zusammenkneifen; dann jedoch zwang er sich hinzusehen. Sie hatten Eric gefunden. Er saß zusammengekauert auf dem kalten Boden, den Rücken an die Wand gedrückt und den Blick gesenkt. Seine Schultern zitterten leicht, doch er atmete ruhig. Als Ingo einen Schritt auf ihn zu machte, glitten die Augen des Sängers zu ihm hoch und offenbarten einen zwar nicht panischen, aber dennoch verstörten Blick. Er war im gleichen Moment erstarrt und regte keinen Muskel, als wäre er mit dem Erscheinen seiner Retter ziemlich überfordert. »Die Geräte«, wisperte Simon. »Wahrscheinlich ist er schon drauf konditioniert, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn die Stromversorgung angeht. Geht schnell, so was.« »Guckt euch seine Ohren an!«, zischte Ingo. Damit meinte er den Umstand, dass aus Erics Gehörgängen Blut gesickert und dort getrocknet war; es war auch an Kiefer und Halsseiten entlanggelaufen und geronnen. Was aber fast noch schlimmer war: Sein linker Handrücken war ein Bild der Zerstörung, ebenfalls voller Blutreste, aus denen verkrustete Wundränder ragten. »Ach du Kacke … Um die Spur für uns zu legen, hat er sich die oberen Venen aufgebissen! Wahrscheinlich immer wieder!« »Ich glaub, ich kotz gleich«, murmelte jemand. Für Fritz war das endgültig zu viel. Allein die Vorstellung zwang ihn auf die Knie: Stumpfe Menschenzähne, die minutenlang damit kämpften, feste Blutgefäße aufzureißen, dabei an der Haut rissen und an den Handknochen vorbeischrammten … Fritz kroch auf allen Vieren beiseite, ehe ihm auch schon saurer Magensaft hochkam. Nur gut, dass er so spät nachts nichts mehr im Bauch hatte. Während Sebastian und Silke sich neben ihn knieten, ohne dabei Eric aus den Augen zu lassen, näherten sich Simon und Ingo vorsichtig dem so lange Vermissten. Eric starrte sie an, als überlegte er fieberhaft, ob seine langjährigen Bandkollegen vielleicht nur eine Erscheinung waren. Ingo wandte sich an Simon: »Ich glaube, um wieder runter zu kommen, hat er ’nen Biss bitter nötig. Sei aber vorsichtig, er wird sich bestimmt wehren.« Simon nickte und ging in die Knie. Voll konzentriert pirschte er sich an Eric heran, ganz wie das Raubtier, das er war. Als er ihm so nahe war, dass beide zweifellos schon den Atem des anderen auf der Haut spüren konnten, teilte er die Lippen und fuhr mit leisem Klicken seine Fangzähne aus ihren Taschen. Ganz leise, mehr gehaucht als gesprochen, sagte er in das blutige Ohr: »Eric, du musst mir erlauben, dich zu beißen … Hast du gehört? Nick einfach, wenn ich darf …« Auf diese klare Botschaft hin zuckte Eric zusammen und blinzelte wild. »Nicht«, wisperte er. »Nicht beißen, Simon. Nicht beißen.« Nunmehr schien er das Ringen gegen sein Misstrauen gewonnen zu haben und gab sich der Erkenntnis hin, dass man ihn tatsächlich befreien gekommen war. Seine Mundwinkel bewegten sich schwach nach aufwärts. »Voll gut, euch zu sehen.« Skeptisch wich der junge Vampir zurück. »Erkennst du uns? Weißt du, wo wir sind?« Eric schluckte und nickte mühsam. »Leider ja.« Seine Stimme klang schwach und dünn. »Ich – ich kann euch den Weg zeigen … zu Paul Frais. Deshalb darfst du mich nicht beißen … denn dann kann ich euch nicht hinbringen. Ich muss … noch denken können.« Fahrig tasteten seine Hände an Wand und Boden, um sich abzustützen, doch es ging nicht. Er konnte nicht aufstehen. Frustriert sog er die klamme Luft ein. »Blutfessel«, knirschte er. »Ich hab die Anweisung, mich hier nicht weg zu bewegen.« »Dann tragen wir dich«, bot Simon sofort an. »Silvio?« Ingo führte den sehunfähigen Kollegen heran, damit er und Simon Eric aufheben konnten. Letzterer nahm sichtlich bestürzt die Blindheit des älteren Vampirs zur Kenntnis. »Das … war ich, oder?« »Geht vorbei«, besänftigte ihn Sugar Ray. »Paar Tage, dann ist das weg. Kann schon wieder hell und dunkel unterscheiden.« Erleichtert darüber, Eric lebendig und halbwegs in einem Stück aufgefunden zu haben, machte sich dieser Teil des Teams auf den Weg zum Lager von Paul Frais. Wieder im Kellergang, begann Eric sie zu lotsen. »Eins noch«, fragte Ingo mitten in die konzentrierte Stille hinein, die nur vom feuchten Widerhall ihrer Schritte durchbrochen wurde, »wenn die dich die ganze Zeit mit ihrem tödlichen Lied beschallt und immer wieder die Frequenzen modifiziert haben … Wie kommt es dann, dass du überhaupt noch lebst?« »Kann ich nicht sagen«, seufzte Eric. »Ich fürchte, ich bin einer von den wenigen Menschen, auf die das Stück einfach keine letale Wirkung hat. Genau das hat mich für Fiacail Fhola ja so interessant gemacht. Ich bin … einfach immun. Passiert nun mal. Irgendjemand ist immer gefeit. Frais weiß, dass er nicht ausnahmslos alle Menschen mit der Musik töten kann, und hat an einer … Abhilfe gearbeitet.« »Aber sie haben es bisher nicht geschafft, das Lied so zu verändern, dass es dich tötet«, schloss Ingo. »Mann, da haben wir wohl Glück.« Eric stimmte murrend zu. »Ein, zwei Tage später … dann wären sie vielleicht auf den Trichter gekommen.« Mit einem Seufzen griff Hampf in die Tasche und holte den Sender hervor. »Na gut, ich werde unsere Zentrale mal auf den neusten Stand bringen.« Boris Pfeiffer saß auf dem Beifahrersitz des Dark Knight, den Laptop auf dem Schoß und ganz Ohr. Was ihm da berichtet wurde, war ungemein erleichternd. Außer ihm im Wagen saßen Marco und André, letzterer hinter dem Lenkrad. Boris berichtete, was ihm zugetragen wurde. »Sie haben Eric. Nicht unversehrt, aber lebendig.« »Immerhin«, schnaufte Py. »Dann sind ja jetzt alle wieder vereint.« Flex, der auf dem Rücksitz gedöst hatte, hob schläfrig ein Augenlied. »Wir werden da einschlagen wie ’ne Bombe und dann ist endlich Ruhe im Karton«, brummte er. »Wie weit ist’s denn noch?« »Viertelstunde«, antwortete Pfeiffer mit Blick auf Google Maps. »Hoffentlich klappt alles. Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber ich hatte noch nie so viel Lampenfieber vor ’nem Auftritt.« Zum wiederholten Male schaute er unbehaglich über die Schulter zur Rückscheibe. Py rollte die Augen. »Boris, lass endlich den Verfolgungswahn. Die anderen holen uns nicht so schnell ein. Fírinne haben Erfahrung, die passen schon auf, dass unsere dreizehn Karren da nicht wie ein Konvoi ankommen.« »Das will ich hoffen. Frais hat bestimmt Späher rund um die Brauerei postiert. Wenn wir auffallen, bevor wir drinnen sind, können wir die Aktion vergessen.« »Jaah, jaah. Und wenn sich jeder von uns so ins Hemd macht, dann auch.« Pfeiffer sah zur Seite. Er gefiel sich nicht in der Rolle des Panikschiebers. »Ich hab nur das Gefühl, als Supervisor müsste ich mich auch noch um diesen Scheiß kümmern.« »Njet. Der Scheiß, um den du dich kümmern musst, liegt auf deinem Schoß. Los, mach was Sinnvolles und gib Micha bescheid«, ermunterte ihn André. Boris nickte und ergab sich. »Hast Recht. Bin dabei.« »Micha?« »Boris? Ich hör dich.« »Das andere Team hat Eric gefunden.« »Oh, schön.« »Wo seid ihr?« »Wir sind gerade durch die Filtrationsanlage gewetzt. Hier oben ist nichts. Werden jetzt versuchen, zu den anderen zu stoßen.« »Ja, beeilt euch. Eric führt sie zum Lager von Eff Eff, ihr müsst sie einholen. Haltet nach einer offenen Falltür Ausschau und folgt einfach dem Gang. Ich sage den anderen, dass sie Marker anbringen sollen.« »Okay. Wir melden uns.« »Viel Erfolg.« Etwas angewidert rieb Van Lange die Unterseite seines Armes, über dem er den Ärmel zurückgezogen hatte, in Nasenhöhe an der feuchten Kellerwand. »Nass, kalt und glitschig wie in ’nem Krötenarsch ist dit hier«, beschwerte er sich. »Aber ick seh ein, dass die anderen ’ne Spur brauchen. Ist ja verwirrend hier unten.« »Da hinten«, sagte Eric schwach und versuchte vergeblich, mit dem Finger geradeaus zu zeigen. Dort versank der Gang in undurchdringliche Dunkelheit. »Hinter der Tür …« »Ist die verschlossen?«, wollte Silke schon vorab wissen. »Nein … Die rechnen absolut nicht damit, dass ihr herkommt … Die haben mir höhnisch erzählt, dass ihr euch wie Kaninchen in euren Bauen verstecken würdet.« »Ach? Ich würde sagen, wir sind ziemlich vorwitzige Kaninchen.« »Sie haben allerdings«, fuhr Eric mühsam fort, »Menschen als Wachen abgestellt … oben, in der Brauerei. Nur für den Fall.« Basti kicherte. »Wir haben bis hier unten jehört, wie Micha und die anderen mit denen fertig jeworden sind.« Als die Eindringlinge in die Finsternis abtauchten, verlangsamten sie ihren Schritt. Simon übergab seinen Teil der Last an Ingo und trat an die Spitze. Alle bemühten sich, möglichst geräuschlos zu gehen. Dann, eine gefühlte Ewigkeit später, breitete Simon die Arme aus, um die hinter ihm Gehenden sanft aufzuhalten. »Hier ist die Tür«, wisperte er. »Ich mach sie jetzt auf. Pfähltrupp bitte hinter mich!« Kurzes, schweigendes Gewusel deutete darauf hin, dass das Sturmkommando sich umsortierte: Silvio und Ingo legten Eric behutsam im Gang ab, und Ingo umfasste stumm seinen Pflock; Sebastian löste die Armbrust aus ihrer Tragevorrichtung über seiner Schulter und schaltete das kleine, blendende Licht zur Zielsuche ein; Fritz klammerte sich an seine Natron-Kanone, obwohl er nicht wusste, ob sie ihn im Notfall retten würde. Sugar Ray und Frau Schmitt traten ans Ende des Zuges zurück. Als alle ruhig standen und bereit waren, drückte Simon vorsichtig die rostige Klinke herunter. Die vier Nachzügler-Vampire waren mittlerweile durch die Falltür geklettert. Nun suchten sie nach Spuren; Falk hielt seine Nase beim Gehen dicht an die rechte Wand, Micha seine an die linke. »Hast du schon was?« »Nee.« »So weit können die doch gar net sein!«, zischte Lasterbalk. Keine drei Sekunden später blieb Falk stehen und beroch die Wand. »Hier! Das Schwitzwasser hat den Duft fast abgewaschen, aber das ist Sebastians Marker, wenn mich nicht alles täuscht.« »Lass mich das mal prüfen«, forderte Micha und schob Falk beiseite. Allerdings lieferte auch seine Nase keine neue Erkenntnis: »Okay, Treffer, das ist Basti.« Lasterbalk spitzte die Ohren. »Habt ihr des gehört? Hier ist irgendwas in der Nähe. Da hinten, wo’s so dunkel wird.« »Ich staune«, bemerkte Asp, als er versuchte, am Ende des Tunnels etwas zu erkennen. »Es ist so was von finster, man erkennt rein gar nichts!« »Ja, aber … war da nicht gerade ein Licht … wie von einer Armbrust …?« »Was haltet ihr von Nachgucken statt Blubbern?«, knurrte Micha und ging dann einfach drauf los. Nach anfänglichem Zögern kamen die anderen nach. »Krass!«, hauchte Simon, als vor ihm die Tür – Gott sei Dank völlig lautlos – aufgeschwungen war. »Kommt, das müsst ihr sehen!« Fritz wollte ihm folgen, blieb dann aber erschrocken stehen, als sein Blick ins Innere fiel. Sie standen auf der Schwelle zu einer recht niedrigen, aber überaus großflächigen Halle. Präzise in der Mitte der Decke gähnte ein Lüftungsschacht von mindestens einem Meter Durchmesser, und durch ihn fiel fahles Mondlicht in den großen Raum und beleuchtete silbern das, was sich darunter befand: ein Vampirlager. Wie im Schlafsaal einer Notunterkunft lagen die Körper aufgereiht wie an mehreren Perlenketten, alle im gleichen Abstand zueinander, zum Teil ganz verbuddelt in Massen von bleichem Stroh. Ja, sie hatten das Versteck der Fiacail-Fhola-Vampire gefunden – und selbige gleich dazu, in ihrem verletzlichsten Zustand. »Das raff’ ich nicht«, machte Ingo seiner Verwunderung Luft. »Es ist mitten in der Nacht! Warum pennen die? Eff Eff sind doch nachtaktiv, die vertragen die Sonne nicht!« »Vielleicht haben sie jetzt eine Möglichkeit gefunden«, mutmaßte Frau Schmitt, »und wollten damit uns überraschen, indem sie am hellichten Tage über uns herfallen … wenn wir nicht mit ihnen rechnen.« Angesteckt von diesem Gedanken begann Hampf leise und hysterisch zu lachen. »Na, wie geil ist das denn! Und wir gehen hier bis an die Zähne bewaffnet rein, weil wir denken, die sind alle putzmunter und warten auf uns! Aber genau das Gegenteil ist der Fall! Die wollen uns überfallen, wenn wir nicht damit rechnen – aber jetzt ist es genau umgekehrt, und dabei hatten wir’s nicht mal geplant! Hahaha, das ist echt der Hammer!« »Pssst«, machte Simon ruhig, »wir wollen uns den Vorteil nicht versauen, indem wir jemanden wecken! Die Frage ist: Was fangen wir jetzt an mit der Situation? Gibt es eine Möglichkeit, viele Vampire auf einmal im Schlaf zu töten?« »Jaah«, murrte Lange, »’nen Vexecutor! Aber nööö …« »Ich würde sagen, wir schleichen uns rein und pfählen drauf los«, schlug Ingo vor. »Klar werden die dann wach werden, aber bis die richtig zu sich kommen, haben wir vielleicht schon ein Viertel oder sogar mehr erledigt.« »Klingt noch am sinnvollsten«, stimmte Simon zu. »Dann machen wir das jetzt … Also … Alle ganz leise! Auf drei: Eins … zwei … dr–« »Halt!«, wisperte Frau Schmitt. Simon hielt bereits von selbst an, denn er hatte es längst gesehen: Auf einen leisen, aber penetrant brummenden Vibrationsalarm hin hatte sich eine dünne, blasse Vampirin wackelig auf ihrem Strohlager aufgesetzt und rieb sich nun erst einmal ausgiebig die Augen, bevor sie sämtliche knochigen Glieder der Reihe nach von sich streckte. »Auch das noch … Das ist bestimmt die Wachablösung – für den Vampir, den ihr vor der Labortür gekillt habt!«, jammerte Fritz. Er wusste schon gar nicht mehr wohin mit seiner Angst. Grummelnd bekundete der Rest seine Zustimmung zu dieser Theorie. »Noch hat sie uns nicht gesehen … Zieh vorsichtig die Tür ran, Schmittchen, dann lauern wir ihr auf.« Simon tat, wozu Ingo ihm geraten hatte, und alle traten von der Tür zurück. Silvio und Silke knieten sich zu Eric, um ihn notfalls aus der Schusslinie zu halten. Dann wurde von innen die Tür geöffnet, und schlaftrunken schlurfte das magere Mädchen in den Flur hinaus. An dieser Stelle hätten sich viele Möglichkeiten für Pannen eröffnet. Doch Simon und Ingo agierten schon so lange im Team, dass sie auch jetzt wie lange geplant die Gedanken des anderen zu lesen schienen. Simon packte die Erschrockene und presste eine Hand auf ihren Mund, sodass der Schrei, den sie ausstoßen wollte, als Ingos Pflock zustieß, ihr im Hals stecken blieb. Das Geräusch war unschön. Simon ließ den Kopf der Frau vorsichtig los, sodass ihr Körper beinahe lautlos zu Boden glitt. »Sauber!«, lobte Basti. Erneut versammelten sich alle – über die Leiche steigend und versuchend, nicht auf ihrem Blut auszurutschen – und warteten darauf, dass Simon die Tür ein zweites Mal öffnen würde. Dann jedoch erlebten sie eine Überraschung: Als Simon die Finger um den Türgriff gelegt hatte, stieß sie bereits jemand auf und stürzte dem überraschten Pfählkommando entgegen. Es war ein kräftiger Vampir mit kurzen schwarzen Haaren. »Sarah!«, klagte er. »Whate’er I said last night, I swear I – … Whadd’e fuck?!« Sofort fing er sich, weit eher als die MIU. Er sah die vielen Angreifer, die Pflöcke in ihren Händen und natürlich Eric auf dem Boden, den befreiten Gefangenen. Und er reagierte. Warf die Zähne aus, schlug sie in das erste, was er erwischen konnte – es war ausgerechnet Frau Schmitts Hals – und sprang dann tobend an den Übrigen vorbei. Diese reagierten um ein Haar zu lahm. Ingo griff ins Leere, Silvio fing Frau Schmitt auf. Als der Vampir panisch davon stürmte, legte Basti noch hoffnungsvoll mit der Armbrust an, drückte ab – und hatte das Gefühl, etwas getroffen zu haben. »Basti, das Fluchen klang ein bisschen zu deutsch!«, grollte Ingo und rannte los. Silke Volland war, durch das Vampirgift außer Gefecht gesetzt, neben Eric zu Boden gesunken; Simon und Sugar Ray umsorgten sie sofort und kümmerten sich um die Bisswunde. Fritz folgte Ingo und Sebastian und sah in der Ferne deutlich mehr als nur eine Gestalt auftauchen. Soeben ließ Falk den zusammengesackten flüchtigen Vampir zu Boden sinken, den er offenbar erwischt und gepfählt hatte – auch hier triumphierte das Überraschungsmoment. Lasterbalk indes versuchte gerade mit zusammengebissenen Zähnen, durch gleichzeitiges Drehen und Ziehen Van Langes Armbrustbolzen aus seinem linken Oberarm zu entfernen. »Mann, ihr Deppen, könnt ihr net ordentlich zielen?«, schnaufte der große Mann. »Boah, Scheiße, tut das weh!« Asp und Micha hatten an seiner Rückseite die Pfeilspitze abgebrochen und zogen nun gemeinsam den blutigen Schaft vorsichtig heraus. »Balken, der war nicht für dich!«, versicherte Lange sofort »Jaja, ist mir klar! Tut trotzdem weh!« Lasterbalk leckte die Wunde hektisch, denn sie blutete nun ziemlich stark. Fritz machte wieder kehrt. Egal in welche Richtung er nun schaute: Blut war überall. Seufzend lauschte er, wie beide Teile des Spurenteams wieder zusammenkamen und sich gegenseitig über die Sachlage informierten. Dann fanden sich alle erneut vor der Tür zum Vampirnest ein. »Okay«, flüsterte Lasterbalk, der seine Verletzung nunmehr so optimal versorgt hatte, wie ein Vampir es eben konnte, und vorerst nicht mehr von Schmerzen oder Blutungen behindert wurde. »Silvio, Eric und Silke bleiben draußen, und wir versuchen, die Sache drinnen zu erledigen. Wir sind jetzt so viele Pfähler, dass wir’s packen könnten. Auf geht’s!« Ein drittes Mal wurde also zum Angriff geblasen. Die Bestienjäger umfassten ihre Waffen. Doch auch diese Attacke gelang nicht. Kaum war der Entschluss gefasst und Simons Hand nach der Tür ausgestreckt, als wie aus dem Nichts plötzlich ein lächelnder Paul Frais erschien. Er trat der Gruppe einfach entgegen – durch die geschlossene Tür hindurch. Augenblicklich packte alle der Schrecken. Die Männer taumelten zurück. »Ich hab doch gesagt, er geht durch Wände!«, rief Simon schrill. Der Pflock zitterte in seiner Hand. Diesmal widersprach ihm niemand. Frais lächelte höflich. »Guten Morgen. Na, da habe ich ja noch mal Glück gehabt! Ihr seid ganz schön vorwitzig, mit einer Handvoll Mann gegen einen ganzen Keller voll in den Krieg zu ziehen. Ich habe wirklich gedacht, ich hätte euch genug eingeschüchtert.« Ein MIU-Vampir nach dem anderen wurde von Frais’ kritischem, herablassendem Blick abgetastet. »Unglaublich, wie alt ihr geworden seid!«, stellte er nicht ohne Faszination fest. »Ich hätte nie gedacht, dass ihr es zulassen würdet, so verdammt alt zu werden! Umso eher sollte ich diese Chance nutzen. Wenn ihr erst mal eure Kapellen überlebt habt, werdet ihr so schnell wie möglich wieder jung werden und woanders weitermachen – glaubt ihr, das wüsste ich nicht?« Er schürzte die Lippen. »Wie habt ihr überhaupt hierher gefunden, wenn ich fragen darf?« »Das spielt für dich jetzt keine Rolle mehr«, verwies Ingo ihn mutig. »Wir haben dich sozusagen mitten in deiner Operationsbasis umzingelt!« Frais, durch diese Antwort nicht gerade befriedigt, musterte weiterhin einen nach dem anderen mit seinen intensiv strahlenden Augen. Schließlich entdeckte er auf dem Boden Eric, der hasserfüllt zu ihm aufsah. Und Frais ging ein Licht auf. »Ah! Ich verstehe – deine aufgebissene Hand! Ich habe das für eine stressbedingte Autoaggressionshandlung gehalten, wie man sie oft bei Menschen in psychisch belastenden Situationen beobachten kann. Ein eingesperrter Vogel, der sich die Federn rupft. Wäre ja verständlich gewesen, nachdem du deine eigenen Leute angreifen musstest. Aber gut, ich habe dich wohl unterschätzt.« Gleichgültig hob er die Schultern. »Ist ja jetzt auch egal. Ich habe schon zwei meiner Abkömmlinge losgeschickt, um von der anderen Seite diesen Gang fangzahnsicher zu verriegeln. Wir brauchen diesen Teil des Kellers nicht unbedingt, es gibt andere Wege. Also mache ich dasselbe jetzt mit dieser Tür hier. Für mich ist sie kein Hindernis. Nun denn, MIU-Leute: Willkommen in eurem Gefängnis! Es wird euer letztes sein. Nach einer guten Woche ist keiner von euch mehr am Leben. Ich werde hin und wieder vorbeischauen, um die Show zu genießen – etwa, wie ihr das Schwitzwasser von den Wänden leckt. Später dann natürlich, wie sechs hungernde Vampire sich in der Wahnphase auf fünf Menschen stürzen und sie in ihrer Not bis auf den letzten Tropfen leertrinken, nach und nach. Vielleicht werdet ihr euch ohnehin so sehr in die Haare kriegen, dass die Beißhemmung schon vorher ausfällt. Das wird wunderschön. Ich liebe den Kampf sogenannter kultivierter Vampire gegen ihre animalische Natur – besonders die Stelle, wenn sie endlich verlieren.« Mit entschuldigendem Lächeln machte Frais einen großen Schritt rückwärts, der ihn wieder durch die Tür beförderte. Direkt nach seiner Passage klickte die Tür mit lautem, schwerem Ton; ein Schlüssel drehte sich mehrfach, dann wurden knirschend fünf Riegel von oben bis unten vorgeschoben. »Bis bald!«, flötete Frais von außerhalb. Was folgte, war Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)