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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Schon immer besonders

Die bizarre Musik erfüllte längst das ganze Erdgeschoss der Klinik – jedenfalls für solche Ärzte, Pfleger und Patienten, die besonders gute Ohren hatten. Der übrige Teil der Beschäftigten fragte sich schlicht, weshalb einige der Kollegen sich immer seltsamer zu verhalten begannen. Sie blieben ohne Aufforderung plötzlich im Gang stehen, bekamen einen träumerischen Blick und reagierten nicht mehr auf Ansprache, bis man sie kräftig ohrfeigte oder in einen geschlossenen Raum bugsierte. Was war das bloß? Grassierte hier irgendeine seltsame Krankheit? Man wusste nie, was frisch eingelieferte Patienten so mitschleppten. Und das betroffene Personal … nun, man wurde sich insgeheim darüber einig, dass diese Wenigen auch vorher schon höchst merkwürdig gewesen waren.
 

Begeistert griff El Silbador nach dem Headset. Boris und er hatten nun seit einiger Zeit nichts mehr von den Suchern gehört; inzwischen war es spät am Abend.

»Wir sind richtig gut!«, teilte er den hoffentlich Zuhörenden freudetrunken mit. »Nicht mehr lange und wir kommen euch nach! He, wie geht’s euch da draußen?«

Es war Ingo, der antwortete. »Wir … machen grad ’ne Pause.« Er klang erschöpft. »Wir sind durch Loschwitz … und haben schon den, ääh … Krötenbruchteich hinter uns. Kaum mehr als ’ne Pfütze ist das. Der Hund ist immer noch ganz aufgekratzt … aber zumindest wir Menschen müssen uns kurz ausruhen.«

»Überanstrengt euch nicht«, empfahl Elsi. »Völlig fertig nützt ihr Eric nichts.«

»Nee … Schon klar.«

»Wie sieht es da aus, wo ihr jetzt seid?«

»Ach, immer gleich. Bäume, Bäume, Bäume. Zweispurige Landstraße, manchmal mit durchgezogener Linie … manchmal dünne Querstraßen. Kurz vor uns kreuzt ’ne Straße namens … Gänsefuß. Da stehen zur Abwechslung sogar mal zwei, drei Häuser.«

El Silbadors Begeisterung hatte sich großteils verabschiedet. »Na gut … Ruht euch aus und macht mal wieder Meldung, falls ihr … was findet.« Allerdings sah es aus, als könnten bis dahin noch Stunden vergehen. »Ich informiere euch, wenn wir uns auf den Weg machen.«
 

»Bluuut, Bluuut … was sich reimt, ist guuut …«, sang Lasterbalk lustlos, während er und sein Team in endloser Geduld Kilometer um Kilometer durch die Nacht wanderten.

Fritz war müde. Er hatte das Gefühl, bald nicht mehr mithalten zu können. Seine schweren Füße bewegten sich nur noch wie mechanisch. Immerhin – und das war wohl ein gutes Zeichen – hatte er keine Schmerzen in seiner heilenden Beinwunde. Momentan ging er relativ weit vorne mit, nachdem er sich, flankiert von Lange und Frau Schmitt, von hinten zur Mitte des Trosses vorgekämpft hatte. Dicht hinter ihm waren Simon und Silvio; das Schlusslicht bildete Micha, der außer Lasterbalk und Ingo als Einziger einen Sender hatte.

»Sollte Eric wirklich bis nach Radeberg geblutet haben«, ließ sich Falk vernehmen, »dann können wir nur hoffen, dass ihn das nicht umgebracht hat. Siebzehn Kilometer lang zu bluten ist bestimmt kein Zuckerschlecken.«

»Er wusste, dass normale Marker nicht lange genug halten würden«, vermutete Silke.

»Trotzdem hat er immer wieder welche angebracht. Wir haben jetzt schon mehrere Bäume gesehen, an denen er Blut und Schweiß abgestrichen hat. Das wäre Amboss entgangen, so hoch über dem Boden.«

»Bringt diese Markersache eigentlich irgendwas?«, wollte Fritz wissen, der von weiter hinten aus den Dialog mühsam verfolgt hatte.

»Selbstredend, siehst du doch«, antwortete Falk. »Wobei Blut ein kräftigerer und länger währender Marker ist als Schweiß. Außerdem gibt es einen noch stärkeren Marker – einen, den jeder Vampir auch nach Tagen noch zweifelsfrei zuordnen kann. Nicht grundlos sehr beliebt im Tierreich. Du weißt, was ich meine, oder?«

Lasterbalk lachte leise. »Ich muss wohl net dran erinnern, dass öffentliches Pinkeln verboten ist, während gegen öffentliches Bluten aber kein Paragraph existiert.«

Amboss an der Spitze wimmerte. Auch er wirkte allmählich entkräftet; sein zuerst forscher Schritt hatte sich im Laufe des Abends merklich verlangsamt, und die Zunge hing ihm aus dem Hals.

Lasterbalk bemerkte Fritz’ Blick. »Wir schaffen es schon«, beruhigte er ihn.

Fritz hob den Kopf. »Was schaffen wir?«, fragte er müde.

»Na, das alles hier. Du weißt schon. Den Weg … Frais … diese ganze Sache. Wir überstehen das.«

Nicht überzeugt ließ Fritz sich wieder zurückfallen. Simon umging ihn, wobei er Sugar Ray vorsichtig dirigierte. Dann kam Fritz ganz hinten bei Micha an, der immer wieder über die Schulter schaute, als behielte er einen unsichtbaren Verfolger im Auge.

»Alles klar?«, fragte Fritz.

»Ja, ja. Kannst noch mithalten?«

Fritz hob die Brauen. » »Äh, ja …« Er zögerte, etwas verwirrt über die Frage. »Früher hättest du mich das nie gefragt. Da hättest du mich ausgelacht. Aber … Es ist tatsächlich schon ziemlich lange her, dass du mich ›Pfeife‹ genannt hast.«

»Macht ja auch irgendwann keinen Spaß mehr«, erwiderte Micha wohlwollend. »Also?«

»Ich wollte dich was fragen.« Fritz schaute um sich, ob auch sonst niemand zuhörte, doch hinter den Subway-To-Sally-Vampiren waren sie bereits deutlich zurückgefallen. »Also … Micha, wie alt bist du eigentlich?«

»Jetzt?«, fragte Micha misstrauisch. »Siebenundvierzig.«

»Nein, ich meine … insgesamt. In allen Leben.«

»Ach, das weiß ich nicht … Hab keinen Taschenrechner im Kopf. Warte mal … ich glaube … fast vierhundert…achtundsiebzig. He, das ist fast die gleiche Zahl, nur mit ’ner Acht dran.«

»Vierhundertachtundziebzig!« Fritz schnappte nach Luft. »Spätmittelalter?«

»Nee, Renaissance. 1534 bin ich geboren, verwandelt wurde ich 1567. Das sind so Daten, die merkt man sich.«

»Wie war dein Erschaffer so?«

»War ’ne Frau.«

»Hattest du eine Affäre mit ihr?«

Micha lachte. »Das hätte sie gerne gehabt … deshalb hat sie mich verwandelt. Glaub ich. Ich erinnere mich kaum an sie … Sie wurde gepfählt, irgendwann achtzehnhundert-bla. Weißt du, je älter man wird – je mehr Verjüngungen man durchmacht, sag ich mal – desto mehr rücken alte, früher gelebte Leben einfach in die Ferne. Alles verblasst langsam. An mein Leben als Mensch kann ich mich fast gar nicht mehr erinnern. Ich weiß noch, dass ich nicht besonders glücklich war … dass ich oft krank war … dass ich eine Familie hatte, die ich nicht ernähren konnte … und dass es sehr oft dunkel gewesen sein muss, denn alle meine Erinnerungsfetzen spielen sich bei Nacht ab. Ob ich nachts gearbeitet habe oder tagsüber nicht auf den Beinen war? Keine Ahnung, vielleicht hat sich da schon eine Erinnerung an mein erstes Vampirleben mit reingemischt. Das kann man später nicht mehr auseinander halten, alles vermengt sich zu einer Suppe … Das ist alles so ewig, ewig lange her.« Er hob die Schultern.

»Schade … aber sonst hätte man bestimmt einfach zu viel im Kopf.«

»Es hat den Vorteil, dass es einem leichtfällt, sich anzupassen, also modern zu sein und mit der Zeit zu gehen. Man wird ja immer in ’ne neue Zeitepoche reingeboren.«

»Ich vermute, du erinnerst dich nicht an deine … Transformation.«

Über Michas glühende Augen huschte ein Schatten. »Doch … So was prägt sich ein.«

»Wie … war es?«

»Grausam. Ich wusste ja, was passieren würde, aber nicht wie. Wenn dein Körper anfängt, sich umzustellen, dann denkst du, du verreckst.« Micha befeuchtete sich die Lippen und fuhr fort: »Ich war zu Hause. Alleine. Meine Familie wusste nicht, was mit mir passiert; die dachten, ich wär von ’nem Dämon besessen. Hat man bei Vampiren oft gedacht. Man ist ja auch kurz vorm Durchdrehen, wenn man sich verwandelt. Schließlich haben sie mich eines Nachts zurückgelassen. Alles mitgenommen … und die Tür von außen verriegelt. Ich war ganz alleine, aber … ich hab’s kaum gemerkt, hatte gar keine Gelegenheit, mich einsam zu fühlen. Ich war zu beschäftigt mit mir selber. Nach ’nem gefühlten halben Tag Schlafen war mir so kalt, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Kein Muskel wollte mehr machen, was er sollte. Also bin ich einfach auf meinem Bett liegen geblieben. Die ganze Zeit. Konnte nicht denken. Konnte nichts essen oder trinken, ist nichts drin geblieben. Kein Tropfen Wasser. Hab alles neben das Bett gekotzt. Bin ausgetrocknet. Lag in so ’ner Art Delirium, vielleicht tagelang, irgendwie zwischen Krämpfen und Wahnvorstellungen. Hatte kein Zeitgefühl mehr. Ich weiß nur noch: Auf dem Nachttisch stand eine Schüssel mit Wasser. Keine Ahnung, ob ich sie dahin gestellt habe oder jemand anders, aber sie hat mir das Leben gerettet. Ich hab immer nur den Finger ins Wasser getaucht – mehr bewegen konnte ich mich ja nicht – und mir einen Tropfen auf die Zunge geschmiert, immer und immer die gleiche Bewegung, bis ich irgendwann in einer Nacht wieder richtig zu mir kam. Dann war ich fertig. Und irre vor Hunger. Ich hab die Tür eingetreten, mich rausgeschleppt … und den ersten Menschen angefallen, den ich sehen konnte. War eine Frau, die hat ein Bündel Holz geschleppt.«

Fritz war fasziniert von der Geschichte. Er konnte das Entsetzen über den eigenen, plötzlich fremden Körper gut nachempfinden. »Aber du … hast sie doch nicht getötet?«

Micha seufzte. »Naja, nee, aber … es war Winter und arschkalt draußen, und die Frau war blass und dünn und nicht gerade warm angezogen. Ich bin nach meiner ersten Blutmahlzeit wieder ins Haus gekrochen. Musste weiterschlafen, war total fertig. Als ich am späten Morgen rausguckte … lag sie erfroren vor meiner Tür. Fast ganz eingeschneit.« Als er einatmete, klang es zittrig. »Weißt du, wenn man zum ersten Mal beißt, hat man noch kein Gift. Das Opfer ist bei vollem Bewusstsein, nur wir sind in so ’ner Art Rausch, nur deshalb haben wir überhaupt die Kraft, einen wild um sich schlagenden Menschen unten zu halten. Die Frau hätte weglaufen können. Hätte ihr Holz liegen lassen und abhauen können. Aber dass ich getrunken hab, hat sie so schwach gemacht … der Blutverlust … und der Schock, bestimmt … dass sie nicht weit gekommen ist. Da lag sie dann … und ich hab gerätselt, wie qualvoll ihr Tod wohl war.«

Fritz schauderte. Kurzzeitig befiel ihn ein jämmerliches Gefühl, das er mit einem Schütteln vertreiben musste. »Hast … du sie begraben?«

»Der Boden war gefroren. Ich hab sie in den F–… Ach, Fritz, können wir das lassen? Ich erinnere mich nicht gerne an meine Zeit als Monster. Ich war doch völlig alle und durcheinander.«

Sofort lenkte Fritz ein: »Wie hast du dich ans Vampirsein gewöhnt?«

»Mit viel Kummer und Frust. Ich musste erst lernen, die scheiß Zähne zu kontrollieren. Manchmal bin ich nachts aufgewacht und hatte den Mund voller Blut, weil ich im Schlaf die Hauer ausgeworfen und mir die Zunge dran aufgeschnitten hab. Außerdem das Tageslicht … Ich musste nachts arbeiten und am Tag pennen. Dabei mag ich die Sonne so … Aber man kann nicht alles haben, c’est la vie.« Es klang wie Sellerie.

»Okay … ähm, ich glaub, meine Neugier ist befriedigt.«

»Na, willst du nicht auch ’n Vampir werden?«, spaßte Micha, wenn auch nur halbherzig. »Deine Abneigung gegen Blut wär jedenfalls Geschichte.«

Fritz schüttelte wild den Kopf. »Nein … danke. Meine Frau würde es toll finden, aber … nein.«

Er lächelte noch kurze Zeit in sich hinein, sich Kitty und ihre mögliche Reaktion ausmalend, da stieß er plötzlich hart gegen seinen Vordermann. Der Trupp war abrupt zum Halten gekommen.

»Wo sind wir?«, hörte man Frau Schmitt rufen.

Lasterbalk gab die Frage sogleich an die Zentrale weiter. »Houston, erbitte Meldung über unsere gegenwärtige Position!« Er wartete die Antwort ab. »Ah ja. Also, die kreuzende Straße heißt … Anker. Ja, wir haben angehalten, weil der Hund offenbar die Spur verloren hat.« Alle Hinteren stöhnten auf. Das war keine gute Nachricht. »Danke, Elsi«, beendete Lasterbalk die Unterredung und drehte sich nach dem Team um. »Also, wir teilen uns auf. Wer möchte – …«

»Wir nehmen die Querstraße«, entschied Ingo sofort und meinte damit sich und Silvio. »Geht das klar?«

»Ja, okay, und wer – …«

»Fritz und ich gehen geradeaus weiter«, erklärte Micha. »Ihr anderen wartet einfach, bis einer von uns ’ne Spur findet.« Nach diesem eigenmächtigen Beschluss sah er jedoch zu Lasterbalk, wie um sich rückzuversichern.

Der große Mann nickte ihm zu. »Viel Erfolg …«

Micha griff sich Fritz und zog ihn an den anderen vorbei. »Es muss geradeaus weitergehen«, murmelte er.

Fritz blickte über die Schulter und sah, wie Ingo Sugar Ray eine Hand auf die Schulter legte und etwas zu ihm sagte; daraufhin biss der Vampir sich in den Handballen und bot seinem menschlichen Freund das Blut an. »Oh … sie teilen!«

»Na klar, die kennen sich doch schon ewig.«

»Für die Nachtsicht?«

»Von wegen. Zuckerschnute ist doch blind, der sieht nur Schwarz in Schwarz. Nein, er will durch Ingos Augen was sehen. Soweit das im Dunkeln geht. Schmittchen zu nehmen wär schlauer gewesen, aber der ist noch zu jung zum Teilen.«

»Also können auch zwei Vampire teilen?«

»Jap, klappt prima. Nur Blutfessel geht natürlich nicht.«

Fritz folgte Micha in der völligen Dunkelheit die Straße hinunter.

»Ah, guck an … Da ist schon das Ortsschild«, stellte der Vampir fest.

»Was steht drauf?«

»Große Kreisstadt Radeberg. Und … aaaah ja.« Micha blieb stehen; Fritz erahnte nur vage, wo er stand. »Blut an der Schildstange.« Ein leises Geräusch deutete darauf hin, dass Micha den trockenen Lebenssaft probierte. »Ja, eindeutig Hechtsuppe. Fritz, ruf die anderen.«

Bei Fritz stellten sich jäh die Nackenhaare auf. »Moment mal! Du weißt, wie er schmeckt? Du … hast ihn gebissen

»Wer hat ihn nicht gebissen?«, gab Micha zynisch zurück. »Bin sicher, dass schon fast die ganze MIU ihre Zähne in Herrn Hechts Hals hatte.«

»Aber …«, stammelte Fritz, »… wieso in aller Welt solltest du ihn beißen? Hasst du ihn so sehr?«

»Ach Quatsch. Ich wette, ich bin der Einzige, der’s nicht freiwillig gemacht hat.« Micha seufzte und erklärte: »Damals hätte ich den Fisch nicht aus eigenem Antrieb beißen können. Der war echt brauchbar, ich mochte den eigentlich. Aber plötzlich hat der Mistkerl mich drum gebeten! Aus heiterem Himmel! Du weißt ja, wenn du einen Vampir bittest, dich zu beißen, dann hat er keine Wahl. Eric wollte mich nämlich zwingen – pass auf! –, ihn auch zu einem Vampir zu machen. Der war so fasziniert davon … und hatte einfach noch gar keine Ahnung. Der war noch voll der Grünschnabel! War vielleicht so alt wie Schmittchen heute, Ende zwanzig. Da wollte der das wirklich. Anscheinend hat er die ganze Zeit gelauert, um diesen Moment abzupassen, in dem er mit mir alleine ist. Da war mir klar, dass man dem nicht trauen kann. Hat sich auch bestätigt, als er mir gezeigt hat, was er so unter Konfliktlösung versteht. Nicht etwa Reden, wenn du weißt, was ich meine. Das war so der Anfang unserer … Kontroversen. Vor allem eben das mit dem Biss. Heute weiß er’s besser … und ich auch.«

Fritz war nun alles klar. »Ah. Er wollte also ein Vampir werden … Und warum solltest gerade du ihn verwandeln?«

»Weil es sonst keiner kann. Seine eigenen Bandvampire – also, damals gab’s ja Schmittchen eh noch nicht – sind zu jung, genau wie diese halbgaren Saltatio-Sauger. Außer mir ist nur Lex reif genug. Aber Lex ist Erics Freund und würde sowieso um nichts in der Welt die Zähne benutzen … also bleibe nur ich. Der Hecht wollte nicht kapieren, dass ich solche Entscheidungen gerne selber treffe. Meinte wohl, mich interessiert nicht, wen ich beiße oder verwandle. Ne, dem Michael ist ja auch sonst alles scheißegal.« Er knirschte mit den Zähnen. »Wenn er mit mir drüber geredet hätte, wär das was ganz anderes gewesen. Hätte man drüber reden können. Dann hätte ich ihm den Gedanken gleich ausgetrieben, weil es völlig bescheuert ist, so ohne jedes Wissen ein Vampir werden zu wollen. Aber mich einfach hinterrücks zum Blutsaugen zwingen und den Rest heimlich durchziehen wollen, das ist ja wohl der Gipfel der Respektlosigkeit! Gut, dass er es vor lauter Schlummifix-Verdummung nicht so schnell hingekriegt hat, unser Blut zu vermischen. Schon aus Prinzip werd ich mir das nie, nie mehr anders überlegen. Selbst wenn wir eines Tages die besten Freunde sein sollten, ich werde nie einen Vampir aus Eric machen. Trau dem nicht über den Weg.«

»… Verstehe …«

»Aber gut, heute hat er’s ja auch gerafft und ist froh, dass es nicht geklappt hat. Der würde sich eh die Karten legen, sobald er seine Familie überlebt hat«, grunzte Micha. »Ich frag mich nur, wieso seine Bandvampire aus ihm trinken. Das raff ich nicht. Beide! Und dieser Simon ist noch ein Baby! Was soll’n das?«

»Naja«, sagte Fritz vorsichtig, »vielleicht ist Eric einfach unfassbar lecker.«

»Aaaaach. Also, der schmeckt schon gut, ich meine, guck dir den an, man sieht ja, dass der nahrhaft ist. Der ist total gesund, steht gut im Futter und nimmt auch keine Medikamente. Aber abgesehen davon? Auch nicht so spektakulär.«

Michas spottender Ton verschwand, als er laut nach dem Rest des Teams rief. Schritte in der fernen Dunkelheit zeigten an, dass die anderen dabei waren, zu ihnen aufzuschließen.
 

Nach einer weiteren ermüdenden Probe setzten die Musikanten ihre Dudelsäcke ab und ließen sich einfach – wenn sie nicht ohnehin schon saßen – auf den staubigen Boden sinken. Glücklicherweise hatte Bock für alle Getränke kalt gestellt. Das Lockstück verlangte den Spielern viel Mühe ab.

»Wir sind gut«, sagte Pfeiffer zuversichtlich, »und ich bin sicher, wir können noch besser werden.«

»Ich hoffe nur, dass wir’s in dieser einen Nacht nicht bis zur Weltklasse schaffen müssen«, stöhnte Martin Ukrasvan. »Hat mal jemand die Uhrzeit?«

»Kurz nach Mitternacht«, beantwortete sein Kollege Castus die Frage.

Dann horchten alle auf. Im Flur ertönten Schritte. Viele Schritte.

»Sind die etwa schon zurück?«, fragte Flex zögerlich. »Ich denke, die sind kurz vor Radeberg …«

Behutsam wurde die Tür geöffnet. Niklas Löhse – den meisten bereits bestens bekannt als die Dresdener Kontaktperson von Fírinne – trat ein. »Ah, ich wusste doch, dass unsere Ohren uns nicht täuschen. Wie viele Spieler seid ihr?«

»Zwanzig«, antwortete Boris und starrte den jungen Dresdener an. »Wieso?«

»Weil ihr jetzt … dreiunddreißig seid«, antwortete Löhse. »Ich fürchte, ihr braucht einen größeren Proberaum.« Er stieß die Tür ganz auf, und hinter ihm kam ein Bündel Frauen und Männer zum Vorschein, sämtlich in der weißen, kleeblattversehenen Fírinne-Uniform. Jeder von ihnen trug Uilleann Pipes unter dem Arm.

»Haben wir überhaupt Lines für irische Säcke?«, fragte Alea.

»Ja, natürlich«, antwortete Boris grinsend.

El Silbador, mit dem Rücken an die kühle Wand gelehnt, musterte den Zuwachs fasziniert. Ein Lächeln stahl sich auf sein jugendliches Gesicht. »Dreiunddreißig«, hauchte er und konnte es kaum fassen. »… Geil.«
 

Hinter dem Eingang zur Stadt Radeberg hatte sich die Radeberger Landstraße in die Dresdener Straße verwandelt. Eine längere Strecke folgten die MIU-Ausgesandten ihr bis hinein in den Ort. Amboss hatte die Fährte wieder aufgenommen und trottete ausgelaugt vorneweg. Kurz nachdem sie das Polizeirevier Radeberg passiert hatten, endete die Spur. Zitternd vor Erschöpfung blieb der Bluthund stehen und legte sich dann quer über den Gehweg, um zu verschnaufen.

Falk sah nach links. »Irgendwie hab ich mir das gedacht.«

»Darf ich raten, wo wir sind?«, fragte Frau Schmitt.

Simon las bereits laut vor, was in goldenen Majuskeln über dem ausladenden, gut beleuchteten Gebäude zu lesen war: »Radeberger Exportbierbrauerei

»Eric hätt’s schlimmer treffen können«, fand Sebastian.

»Schlaue Kerlchen sind sie ja, diese Iren. Wahrscheinlich hocken sie im Keller, genau wie wir in Alfeld.«

»Dann stürmen wir diesen blöden Keller jetzt«, knurrte Ingo. »Los, rein da!«

»Ohne die Säcke?« Basti furchte die Stirn.

»Wir müssen ja nicht in die Vampire reinrennen. Wir gucken doch nur, wo die sind!«

»Langes Labern und Rumstehen macht unsere Feinde nur aufmerksam«, erinnerte Micha. »Also, wenn wir rein wollen, dann machen wir’s am besten gleich.«

Lasterbalk erteilte seine Zustimmung. »Alle bleiben zusammen!«, befahl er. »Wir machen keinen Lärm und greifen nicht an, ist des klar? Gut.«

»Was ist mit dem Hund?«, fragte Fritz und deutete auf den gähnenden Amboss.

»Der wird sich ’n Plätzchen zum Schlafen suchen. Wenn wir nachher in die Ultraschallpfeife pusten, ist er sofort wieder da. Und jetzt los. Aber leise

Dicht beieinander schlichen die zehn Ermittler über den Parkplatz der Radeberger Brauerei. Fritz sah reihenweise Paletten mit Stapeln der typischen Fünf-Liter-Fässer. Sie nahmen nicht den Haupteingang, sondern schlichen um das Gebäude herum – wo, an der Südseite, eine kleine versteckte Treppe tief hinunter und vor eine Tür zum Inneren führte. Natürlich war letztere verschlossen.

Lasterbalk rüttelte einmal vergeblich am Knauf und drehte sich nach hinten um. »Micha?«

»Nee, Fehlanzeige. Paul Frais hat meinen Universalschlüssel.«

»Ach? Ich frag mal besser net, wie das passieren konnte.«

»Schöne Scheiße«, hörte man Hampf grummeln.

»Könnt ihr sie nicht einfach eintreten?«, fragte Fritz.

»Natürlich, aber das würde sicher irgendeinen Alarm auslösen.«

»Ich hatte früher ein Gerät, um Türen schnell und geräuschlos zu öffnen. Ihr seid schon ein komischer Geheimdienst.«

Lasterbalk seufzte. »Na gut … Zähne. Wer will?«

»Immer der, der fragt«, erwiderte Falk höflich.

»Wusst ich’s doch. Aber du musst mir helfen, alleine pack ich das net. Und es wird nicht leise sein, also haltet euch bereit!«

Falk duckte sich unter Lasterbalk. Gemeinsam griffen sie nach dem Türknauf – was zu zweit nicht ganz einfach war – und verlagerten ihr Gewicht, um die schmale Fuge zwischen Tür und Rahmen bestmöglich zu vergrößern. Falk hielt diese Stellung nach bestem Vermögen, während Lasterbalk in die Knie ging und versuchte, mit seinen Fangzähnen den Türriegel auszuhebeln. Dies ging schneller als erwartet: Fast sofort brach der Riegel aus seiner Halterung und fiel klirrend auf den Boden hinter der Tür. Letztere schwang auf und erschlug beinahe Sugar Ray, der als Einziger nicht sofort zurückgesprungen war. Ingo zog ihn beiseite.

Als sich drinnen auch Sekunden später nichts rührte, atmeten alle auf. »War anscheinend halb so wild«, wisperte Silke.

Ein langer, dunkler Gang kam zum Vorschein. Von unten drang ein leises Summen herauf. Die Luft war sehr warm, aber irgendwie bewegt, als drehte sich in der Nähe ein Ventilator.

Vorsichtig holte Ingo seinen Sender hervor. »Boris? Elsi?«, flüsterte er.

»Was ist?«, fragte Yellow Pfeiffer.

»Hast du uns auf dem Schirm?«

»Ja, ihr seid … Heilige Scheiße, IN der Brauerei Radeberg? Sicher, dass ihr richtig seid?«

»Ja. Was ist denn hier drinnen alles?«

»Ähm – Sekunde … ah, ja: Ihr seid im Produktionsgebäude. Da sind die Filtrationsanlage, das Sudhaus, der Gärkeller und der Lagerkeller.«

»Gut. Danke.« Ingo sah sich nach den anderen um. »Fürchte, wir müssen uns aufteilen. Hinter den riesigen Fenstern an der Frontseite wird ja nichts sein, aber hier hinten ist’s bestimmt auch am Tag saudunkel.«

Lasterbalk nickte zustimmend. »Wenn ihr nix dagegen habt, greife ich mir Falk, Micha und Asp. Ihr anderen seid in der Überzahl. Stürzt euch auf den Keller. Vergesst net, auf eventuelle Marker zu achten.«

Damit trennten sie sich. Fritz heftete sich, da seine Bezugspersonen sämtlich die Gruppe verließen, an Simon. Dieser und Silvio waren die einzigen verbliebenen Vampire, und nur Simon konnte jedes Detail im Raum erkennen.

»Die denken echt, wir sind bescheuert«, knurrte Ingo, als er unmittelbar vor einer Tür mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN hohlen Boden unter den Sohlen spürte, sich bückte und unter einer staubigen Fußmatte eine Falltür fand. »Immerhin ist sie verschlossen.«

»Das lösen wir dann wohl«, folgerte Simon und meinte damit sich und Sugar Ray. »Also … Bitte alle Abstand halten.«
 

Kein Problem mit der Dunkelheit hatte jener Teil des Teams, der oberirdisch suchte. Zwar waren auch hier alle Produktionsräume abgedunkelt, doch Micha, Falk, Asp und Lasterbalk waren alle vier nachtsichtig und durchschauten buchstäblich die finstere Fassade, die alles schummrig umgab. Die Geräte arbeiteten auch nachts. Gleichmäßige, betäubende Geräusche irritierten das empfindliche Gehör der Vampire. Schließlich betraten sie den riesigen Raum, der die meisten dieser störenden Laute zu produzieren schien: die Sudwerkanlage. Hier wurde vorwiegend aus Malz und Hopfen jene Würzmischung zubereitet, die dem Radeberger Pilsener seinen charakteristischen Geschmack verlieh. Die Gerüche der diversen in den Sudpfannen kochenden Brühen waren stechend, und die vier Männer zögerten instinktiv.

»Hier sind mit Sicherheit keine Vampire, das würden die nie aushalten«, stellte Falk naserümpfend fest.

»Das zweifle ich net an … Hauen wir ab.«

»Irrtum!«, sagte plötzlich eine Stimme in der grünlichen Dunkelheit. »Hier ist Endstation, Freundchen!«

Zwischen den Kesseln, Bottichen und Tanks traten jäh Menschen hervor. Sie schienen wie aus dem Nichts in allen Raumecken aufzutauchen, erst wenige, dann immer mehr. Die vielen Gerätschaften hatten ihnen Gelegenheit gegeben, sich zu verstecken, und die starken Gerüche hatten ihre eigenen mit Leichtigkeit überdeckt. Die aussichtslose Lage erkennend, wollten die vier sofort den Rückzug antreten, doch auch zwischen sie und die Tür waren inzwischen Widersacher getreten. Selbstverständlich waren sie alle mit Pflöcken bewaffnet.

»Dumm gelaufen für uns«, fand Micha.

»Ich, ääh – ändere spontan meine Anweisung!«, rief Lasterbalk hektisch. »Macht Lärm

Sofort traf Michas Blick den von Asp. Gefasst sagte er: »Da hilft wohl nur eins: Jemand muss schreien.«

»Du oder ich?«, fragte Asp.

»Wir.«

»Du und ich?« Er grinste.

»Wer sonst?«

»Hihi.«

Synchron füllten sie ihre Lungen in einem tiefen Atemzug mit reichlich Luft. Die Mienen der umstehenden Pfähler wurden jäh unsicher. Einer flüsterte: »Sind die etwa alt genug, um –«

Diesen Satz konnte er nicht beenden, da im gleichen Moment Micha und Asp zu einem Schrei ansetzten, der die Gegner sämtlich mit brachialer Gewalt aus dem Weg fegte.



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