Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 39: Kalte Spuren ------------------------ Am späten Morgen galt es zunächst, sich von den Locksängern zu verabschieden. Faun hatten ihren Teil zur Lösung des Problems beigetragen, wie es von ihnen verlangt worden war, und nun riefen andere Aufgaben sie zurück in den Süden des Landes. Lediglich Fiona Rüggeberg blieb, da sie sich bereiterklärt hatte, Teil der Dudelsack-Formation zu sein, die Fiacail Fhola aus ihrem neuen Versteck locken sollte. Zwar hatte Paul Frais ihr Instrument einfach an sich genommen, doch von diesem Schrecken hatte die Musikerin sich mittlerweile erholt und versprach, sich an dem Experiment zu beteiligen, wenn ihr jemand einen anderen Dudelsack zur Verfügung stellte. »Wär doch gelacht, wenn ich Angst vor jemandem wie dem hätte! So was gibt’s bei mir nicht!«, gab sie unverzagt zu Protokoll. Während Faun gingen, kamen Schandmaul. Das hieß: Eigentlich kam nur der vampirische und im Übrigen zu zweihundert Prozent weibliche Teil der Band. Birgit Muggenthaler-Schmack brachte ihre Schäferpfeife mit; sie selbst würde, da sie für die Wirkung ebenfalls anfällig war, das neue Lockstück nicht mitspielen können, bot ihr Instrument jedoch Fiona an, die es dankend zur Ausleihe annahm. Birgit war ein Gründungsmitglied von Faun gewesen, weshalb die beiden Frauen einander schon seit vielen Jahren vollstes Vertrauen entgegenbrachten. Birgit und ihre Kollegin Anna Katharina Kränzlein taten geheimnisvoll, bis man sich vergewissert hatte, dass zumindest Alea noch schlief; alle anderen wussten natürlich, was die beiden im Gepäck hatten: Hyperborea. Die Ankunft des lang ersehnten Getränks vertrieb zunächst den gewaltigen Überhang von Angst und Sorge, der über dem MIU-Versteck dräute wie eine regenbringende Wolke. »Habt ihr auch wirklich net alles unterwegs ausgetrunken?«, scherzte Lasterbalk, als er – sich diese kleine Freude gestattend – einen Fangzahn in den Korken der ersten Flasche rammte, um sie feierlich zu öffnen und den Inhalt auszuschenken. Zusammen saßen nur die Vampire, weil Simon die Ankunft der Schandmaul-Damen bemerkt und alle möglichst unauffällig geweckt hatte. Den menschlichen Teil des Teams hatte man schlafen lassen. Die durchwachte Nacht war lang und unangenehm gewesen, außerdem sollte es die Menschen nicht behelligen, dass die Vampire ein Nahrungsproblem hatten. Bei ihnen war auch Sugar Ray. Die Verätzungen um seine Augenpartie waren schon recht gut abgeheilt, doch er war blind und würde es voraussichtlich noch mindestens fünf Tage lang bleiben, bis die Hornhäute sich regeneriert hatten. Simon gab ihm das Weinglas behutsam in die Hand. »So, dann mal weg damit!«, brummte der Vampirjüngste, der ob des Wohlgeruchs schon ständig mit dem Speichelfluss zu kämpfen hatte, und schloss die Faust fest um den Glashals, doch Lasterbalk legte ihm mit tadelndem Blick eine Hand auf die Schulter. »Net so schnell, Schmittchen. Das hier ist ein feierlicher Augenblick!« Simon rollte die Augen. »Du hast wohl keinen Hunger, oder was?« »Doch, aber wir reißen uns jetzt zusammen, wie sich des gehört. Hat jeder ein Glas?« Zustimmendes Nicken und erwartungsvolles Murmeln antwortete ihm. Mit dieser ersten Flasche flüssiger Glückseligkeit würden sie alle zusammen anstoßen – danach würden sicherlich noch einige folgen. »Worauf trinken wir denn?«, wollte Birgit wissen. »Auf gutes Gelingen und die Macht der Dudelsäcke?« »Erstens das«, nickte Falk, »und zweitens darauf, dass Asp gesund wird.« Anna sagte vorsichtig: »Er wäre der erste Vampir, der eine Pfählung überlebt.« »Richtig«, antwortete Falk vorsichtig. Dann entstand ein verlegenes Schweigen. Micha räusperte sich: »Wir sollten außerdem darauf trinken, dass das Krankenhaus uns nicht auf die Straße setzt.« »Ich glaub, so viel, wie wir dafür trinken müssten, haben wir net«, gab Lasterbalk düster zurück. Schließlich wurde getrunken – schweigend und konzentriert, als könnten die geäußerten Wünsche durch den Akt des gemeinsamen Speisens tatsächlich Wirklichkeit werden. Als Fritz gegen Mittag aufwachte, hätte er gern noch weitergeschlafen, doch sofort als er die Augen aufschlug, griff Sorge nach ihm. Rücksichtsvoll flüsternde Stimmen im Korridor zeigten an, dass bereits ein Teil der Belegschaft wieder auf den Beinen war, und so verließ Fritz das Kellerversteck, um in den dafür installierten Räumlichkeiten im Erdgeschoss eine Dusche zu nehmen. Als er zurückkehrte – halb über Amboss stolpernd, der ihn wedelnd begrüßte – fing Simon ihn ab. Und zwar mit einer Miene, die Fritz zutiefst erschreckte. »Weißt du es schon?«, fragte ihn der junge Mann trübe. Fritz schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen Augen an. Er hatte Angst vor dem, was er jetzt hören würde. »Alex ist gestorben«, flüsterte Simon bedrückt. »Was?« Etwas in der Art hatte Fritz befürchtet, doch alle Vorbereitung half nichts; er musste hart schlucken. Das konnte unmöglich wahr sein. Sie hatten alles versucht, hatten die ganze Nacht gebangt und gehofft … »Ja. Heute früh, so gegen halb fünf, hat sein Herz den Geist aufgegeben.« Fritz war völlig geplättet. Nach all den aufopferungsvollen Bemühungen der letzten Nacht hatte er damit kaum noch gerechnet. Als er wieder den Kopf hob, um Simon in die Augen zu sehen und irgendetwas zu sagen, durchfuhr ihn jäh eine Welle der Erleichterung: Der blonde Vampir grinste so breit, dass seine Zähne blitzten. »Ha, verarscht! Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Tut mir Leid«, versicherte er schnell, als er Fritz’ angesäuerten Gesichtsausdruck bemerkte, »aber ich freu mich doch so, dass er über den Berg ist! Yeah!« Simons Freude trat nun ganz offensichtlich und unverhüllt zutage. »Wäre aber auch sehr uncool von ihm gewesen, nach all dem doch noch abzukratzen. Nicht so der Abgang, den man von ihm erwartet hätte.« Eine beinahe schmerzhafte Erleichterung durchflutete Fritz, und er lächelte, obwohl er den morbiden Witz alles andere als angebracht fand. »Dann ist jetzt alles wieder gut?« »Naja, nein, noch nicht. Wir haben uns die EKG-Kurve angesehen, toll ist die nicht. Harte Nacht. Zeitweise hatte er eine Pulsfrequenz von weniger als vierzig Schlägen pro Minute, dann wieder fast hundertachtzig. Hundertachtzig Ruhepuls! Das muss sich unter dem Stethoskop angehört haben wie ’ne Nähmaschine!« »Bitte keine Details«, warf Fritz rasch ein und schluckte die Abscheu mühsam hinunter. »Hat Bock das schon gesehen?« »Nein, der pennt wie’n Toter. Wir gönnen es ihm. Aber Alex müsste gut am Heilen sein … wobei ihm wahrscheinlich alles weh tun wird, weil das Aufbiegen der Rippen viele Muskeln abgequetscht hat.« »War denn überhaupt schon irgendjemand bei ihm?« »Bisher nicht. Wir sollen noch warten.« Simons Grinsen wurde etwas weniger, dafür weicher. »Schandmaul sind da … und es ist wieder gutes Essen im Haus.« Er sagte dies in einem liebevollen Ton, als wäre es schon immer Annas und Birgits Aufgabe, die anderen Vampire zu bemuttern. Fritz verstand jedoch die Andeutung. Endlich, dachte er, kein Blut mehr in Suppentöpfen, kein Geruch von warmem Blut oder warmem Buck-Up mehr – hurra! Der Dämpfer kam, sobald die offiziellen Zügelführer des MIU-Einsatzes – Buschfeldt und Schievenhöfel – in die Verwaltungsabteilung der Klinik gebeten wurden. Sie kehrten zurück mit der Botschaft, dass der MIU eine Schonfrist von drei Tagen eingeräumt worden war, dass nach diesem Termin aber keine Geheimdienst-Vampire mehr als Asylanten erwünscht wären. Frustriert zog sich daraufhin ein Großteil des Teams zurück. Ohnehin waren sie wieder einmal zur Untätigkeit verdammt, bis die restlichen Dudelsäcke eintrafen. Marco, der Gott sei Dank seinen Nervenzusammenbruch überwunden hatte – dem allerdings nahegelegt worden war, im Falle des Auftretens von Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung dringend einen Arzt aufzusuchen –, wurde mit liebevoller Aufmerksamkeit von Yellow Pfeiffer betreut; dieser wiederum machte sich erneut via Internet auf die Suche nach Anhaltspunkten für die Lokalisation des neuen Fiacail-Fhola-Unterschlupfs. El Silbador, dessen Wunde über dem Hüftgelenk noch mehrmals täglich in Nachbehandlung war, unterstützte ihn dabei nach Kräften. Auffällig war, dass er immer ein wenig schief auf dem Stuhl saß, damit sein Verband nicht verrutschen konnte. Fírinne standen auf Abruf. In weiser Voraussicht hatten die Iren gar nicht versucht, mit dem Krankenhaus irgendetwas auszuhandeln, sondern waren gleich nach getaner Arbeit möglichst rasch abgerückt – zurück in die Botschaft, wo sie dem nächsten Hilferuf harrten. Außerdem wurde alles Wikingerblut, das sich noch in Reichweite befand, einvernehmlich entsorgt. Im Bockshof gab es ein großes Waschbecken, und in dieses kippte Micha den Inhalt der drei verbliebenen Flaschen, ohne aufkommendem Protest Gehör zu schenken. »Ob dit ’ne jute Idee ist? Ick seh schon Monsterratten durch die Kanalisation flitzen«, äußerte Basti angezeigte Bedenken. »Kannst mich gerne dran erinnern, wenn Dresden von Ratten überfallen wird«, gab Micha zurück. Bock verschwand fast augenblicklich, nachdem er aufgestanden war. Unschwer zu erraten, was er sich ansehen wollte. Kurz nachdem er den Keller wieder betreten hatte, folgte ihm zögerlich ein älterer Krankenpfleger, blieb jedoch noch am Anfang des Korridors stehen, sodass Bock sich zu ihm umdrehen musste. »Was ist denn noch?«, fragte er ungehaltener als beabsichtigt. Der ängstliche Pfleger überbrachte die Anfrage eines Arztes aus einem anderen Fachbereich, ob man von Asp eine Blutprobe nehmen dürfe. »Können die ruhig machen«, antwortete Dr. Saltz unbehelligt, und der Mann ging. Sofort schauten Ingo und Simon mit beunruhigten Gesichtern in den Flur. »Bock, wieso hast du das erlaubt?«, zischte Hampf. »Haben wir nicht genug am Hals?« »Es kann uns völlig egal sein, ob uneingeweihte Ärzte sein Blut screenen«, erwiderte Bock. »Bei normalen medizinischen Tests verhält Vampirblut sich unauffällig, bis auf eine leichte Anämie. Wenn man wissen will, ob man das Blut eines Menschen oder das eines Vampirs vor sich hat, muss man spezifischere molekularbiologische Untersuchungen vornehmen … oder es einfach mit UV-Licht bestrahlen.« »Es färbt sich schwarz, oder?«, fragte Fritz, der sich dunkel erinnerte. »Das hab ich bei Micha gesehen. Wieso macht es das eigentlich?« Bock zögerte und hob dann ratlos die Schultern. »Ich weiß nicht genau, wieso Vampirblut photoreaktiv ist«, gab er zu, »aber aus irgendeinem Grund lässt die Energie im UV-Licht das Hämoglobin zerfallen, sodass Hämatin entsteht, ein schwarzer Farbstoff. Das passiert übrigens auch mit Menschenblut, zum Beispiel wenn es verdaut wird.« Ingo furchte die Stirn. »Ah … Deshalb ist Vampirkotze also schwarz.« »Nicht nur Kotze«, murmelte Simon. »Ahaaa! Schwarz, ganz schwarz!«, sang Hampf mit einem wissenden Grinsen, das Gelächter auslöste, und endlich hatte Fritz das Gefühl, dass alle sich plötzlich … entspannten. Es kehrte so etwas wie Enthusiasmus in die Mitte der MIU-Leute zurück, und das tat unfassbar gut, anders konnte er es nicht erklären. Er selbst war aufgekratzt darüber, dass Asp überlebt hatte, und konnte nicht anders, als seinem Enthusiasmus Luft zu machen – auch wenn er wusste, genau wie auch die anderen, dass dabei noch immer bestehende Probleme in den Hintergrund gerückt wurden. Der Nachmittag näherte sich seinem Ende, als Fritz zum wiederholten Male der Küche – oder dem, was sie hier so nannten – einen Besuch abstattete. Diesmal jedoch war er dort nicht allein. Einsam und in eine Tasse Tee starrend saß Alea auf einem der wackligen Stühle am noch wackligeren Tisch und schien ganz in seine eigene Welt versunken zu sein. Ohne ein überflüssiges Wort zu sagen, holte auch Fritz sich selbst heißes Wasser und warf einen Teebeutel hinein, um sich neben den Vexecutor zu setzen und herauszufinden, was ihn so verbitterte. Ehe er jedoch mit dem Bohren beginnen konnte, sagte Alea ohne jede Einleitung: »Alle sind so fröhlich.« »Äh … Ja, weil Asp noch lebt«, erklärte Fritz, der mit einer solchen Offenheit nicht gerechnet hatte. Er wusste nicht, wie viel man Alea erzählt hatte, aber über den Umstand, dass einer von ihnen sich in Lebensgefahr befunden hatte, war er offenbar informiert. Alea nippte trübe an der Tasse und fuhr fort: »Keiner kann mir sagen, wieso die ihm ’nen Pflock ins Herz gerammt haben. Fiacail Fhola behandeln uns, als wären wir auch Vampire.« Erst war Fritz erstaunt über diese Feststellung, denn er hatte nicht geglaubt, dass man Alea diese Wahrheit mit dem Pflock zugemutet hätte. Doch offenbar ließ sich dieser Umstand schwer geheim halten, womöglich hatte Alea das blutige Werkzeug sogar unbeabsichtigt zu sehen bekommen. Fritz versuchte eine Erklärung: »Sie wollen uns eben spüren lassen, was wir ihnen die ganze Zeit antun.« »Eben, Fritz. Eben. Antun. Also fühlen die Vampire doch irgendwas. Und wenn sie fühlen können, können sie auch leiden. Ich meine, sie würden doch nicht so reagieren, wenn sie gar nichts empfinden würden.« Oh je, dachte Fritz und bemühte sein Gehirn, um weiterzuspinnen: »Es geht hier darum, ob man frisst oder gefressen wird! Vampire sind unsere natürlichen Feinde, unsere Beutegreifer. Und sie sind böse! Sie empfinden nur Wut und Hass und wollen uns deshalb auf so eine böse Art quälen«, begründete er das feindliche Handeln. »Das bedeutet noch lange nicht, dass sie irgendwie … menschlich wären.« Eigentlich dachte er: Die wollen dein Blut! Reicht dir das denn nicht? Alea war wirklich anstrengend … Und plötzlich konnte Fritz vollauf verstehen, wie er selbst auf andere wirken musste, wenn er in so kläglichem Ton über irgendetwas lamentierte. Um nichts Falsches zu sagen, nahm er schnell einen Schluck aus seiner Tasse und verbrannte sich prompt die Zunge. Ruhig bleiben, dachte er, sonst bist du auch nicht besser als Micha … Vielleicht war ein Themenwechsel jetzt das beste. »Ähm, sag mal … Machst du dir immer noch Sorgen wegen Eric?«, fragte er beiläufig. Prompt warf Alea ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Soll das ’n Witz sein? Wenn ich so lange bei Eff Eff festsitzen würde, hätte Eric längst durchgesetzt, dass ich da rausgeholt werde. Er kann ganz schön ungemütlich werden, wenn Sachen auf eine Art angepackt werden, die ihm unproduktiv vorkommt. Als wir gefangen waren, Fritz, war er bei Fírinne und konnte uns nicht helfen, sonst hätte er’s bestimmt im Alleingang gemacht.« Das konnte Fritz sich in der Tat lebhaft vorstellen. Alea tat ihm plötzlich Leid; bestimmt fühlte er sich allein gelassen in einer großen Gruppe von Leuten, die ihn vor allem als mächtige Waffe betrachteten und ihn über wichtige Dinge im Unklaren ließen. Die ihm Lügen auftischten – und dabei in Kauf nahmen, dass die vielen Halb- und Unwahrheiten den einfühlsamen Mann mehr verwirrten und frustrierten als schützten. Und plötzlich passierte es einfach. Ohne dass er es verhindern konnte, platzte es auf einmal aus ihm heraus: »Sie belügen dich.« Sein nächster Gedanke war: Oh. Mein. Gott. Doch zu seiner Überraschung antwortete Alea ruhig: »Ich weiß.« »Wie … Du weißt es?« »Dass sie mich belügen, ja. Nicht warum oder über was, aber dass sie mich anlügen, ist ja wohl völlig unübersehbar.« Diese Botschaft brauchte einen Moment, um das Innere von Fritz’ Gehirn zu erreichen. Er wusste nicht gleich, was er sagen sollte. Zugegeben, auch er hatte Alea für so naiv gehalten, die Ausflüchte einfach zu schlucken und keinen Verdacht zu schöpfen. Schließlich fand er doch noch die Sprache wieder: »Also tust du die ganze Zeit nur so, als würdest du auf das Spiel reinfallen? Wieso machst du das mit? Wieso drängst du sie nicht, dir die Wahrheit zu sagen, nämlich dass sie –!« »Nicht!«, fuhr ihm Alea ins Wort. »Sag’s mir nicht. Ich will’s gar nicht wissen.« »Was? Warum nicht?« »Weil sie ’nen Grund haben, es vor mir geheim zu halten. Keine Ahnung, welcher das sein soll, aber sie versuchen wirklich alles, um mich dumm zu lassen, und … das würden sie nicht, wenn es dabei um gar nichts ginge.« »Oh, mein Gott«, murmelte Fritz ganz perplex, »was bist du nur für ein seltsamer Mensch? Du bist ihnen gar nicht böse, du – …« »Ich vertraue ihnen.« Es klang resigniert. »Für jeden von uns, Fritz, gibt’s Dinge, die wir besser nicht wissen sollten – auch wenn uns dieser Gedanke nicht gefällt. Wenn ich das Geheimnis erfahren würde, nur aus Neugier oder weil ich ein Recht darauf habe, und das hätte schlimme Folgen … was würde ich denn dann mit dem Wissen gewinnen? Nichts, es kann nur schlechter werden.« Er seufzte. »Also lasse ich es, wie es ist. Auch wenn ich dafür so tun muss, als wäre ich völlig unterbelichtet.« Plötzlich lächelte er matt. »Tja, jetzt kennst du die Wahrheit. Aber verrat’s ihnen nicht, okay? Es ist immer so nett anzusehen: Wenn ich irgendwo reinkomme, springen sie sofort auf, suchen den Raum ab und tischen mir irgendeine Story auf. Ich nicke und sage Ja und Amen und alle setzen sich entspannt wieder hin.« Er lachte leise und trank seinen Tee aus. Fritz wusste nicht, was er sagen sollte, und tat es ihm gleich. Erst Minuten später fiel ihm ein, was er unbedingt noch hatte loswerden wollen: »Alea … Es ist wichtig, dass du weitermachst.« Aleas halbseitiges Grinsen verschwand. »Ich glaube, ich kann nicht.« »Aber ohne Vexecutor wird es schwierig, Eric zu befreien. Er ist doch so was wie ein Freund für dich.« »Ja. Er hat viel für mich getan, wie überhaupt Subway viel für Saltatio getan haben. Aber ich … ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« »Denk noch mal darüber nach.« »Hmm … Na schön. Werde ich machen.« Mit diesen Worten stand Alea vom Tisch auf und stellte seine leere Tasse in die Spüle, bevor er mit hängenden Schultern aus dem Raum trottete. Nach dieser unbefriedigenden Unterhaltung schlich Fritz in den Bockshof, um sich klare, aber hoffentlich aufbauende Fakten anzuhören. Er traf den Arzt dabei an, wie er das Krankenlager an der Wand neben dem Heizkörper, in welchem Fritz nach seiner Beinverletzung ein paar Tage zugebracht hatte, bequem herrichtete. »Oh, hallo Fritz. Wie geht’s deinem Bein?« »Ganz gut, ich kann schon ziemlich lange rumlaufen, ohne was zu merken. Ähm … Willst du Alex hier runterholen?« »Ja. So bald wie möglich. Nur ein kleiner Teil des Personals weiß, dass es einen Vampir behandelt, den Rest müssen wir so handhaben wie Alea – Vampire sind böööööse.« Er lächelte freudlos und schüttelte ein Kissen auf. »Außerdem will ich ihn selber im Auge behalten. Dauernd hochzurennen und denen zu diktieren, welche Medikamente auf Vampire wirken und auf welche Art, ist mir zu anstrengend.« Plötzlich näherten sich auf dem Flur schnelle Schritte, dann kam Micha ins Lazarett gesprintet. Hektisch sah er sich um. »Hat jemand Sonnenscheinchen gesehen?« »Ja, ich, vor ’ner Minute«, antwortete Fritz. »Wieso?« »Weil wir ’nen Bestiendetektor brauchen.« »Wieso?«, fragte Bock alarmiert. »Ist eine hier?« »Es war eine hier, letzte Nacht – denke ich jedenfalls. Ich war eben oben, neues Kaffeepulver besorgen … und da hat’s doch ganz verdächtig nach Paul Frais gerochen!« »Frais!«, echoten Bock und Fritz im Chor. »Alleine? Was soll der hier wollen?« »Frag ich mich auch. War Stunden alt, die Spur. Alea soll mir helfen.« Schließlich wurde Alea auf dem waldumschlossenen Parkgelände des Krankenhauses aufgespürt. Obwohl er lediglich erfuhr, dass er eine Vampirpräsenz bestätigen sollte, willigte er klaglos ein, Micha und Fritz zu begleiten. Er hinterfragte nicht, woran Paul Frais’ Besuch aufgefallen war. Ohne jede Bemerkung folgte er Micha durch verwirrende Gänge zu jenem OP im Dresdener Herzzentrum, wo alle Spuren des nächtlichen Einsatzes längst beseitigt worden waren. Von dort aus schien Paul Frais einfach Asps Geruch gefolgt zu sein; vermutlich war es für Vampire nicht allzu schwer, eine einprägsame Note aus Angstschweiß und Herzblut in der Nase zu behalten. In der Herzchirurgischen Intensivstation 2B war der Eindringling ebenso unbemerkt geblieben: Kein Betreuer auf der Station berichtete von einem Besucher, der auf Frais’ Beschreibung passte. Die Schicht hatte natürlich seitdem gewechselt, doch auch eine entsprechende Meldung oder Notiz lag nicht vor, obwohl darüber Buch geführt wurde, wer welchen Patienten wann besuchte – und abgesehen davon war Asp zu diesem Zeitpunkt zum Empfangen von Besuch gar nicht zugelassen gewesen. »Es war hier«, stellte Alea fest und räumte damit alle Zweifel aus dem Weg. »Ein Vampir mit starker Aura. Ich kenne Paul Frais besser, als mir lieb ist, deshalb erkenne ich ihn wieder.« »Hm.« Micha rieb sich das Kinn und ließ seinen Blick von Zimmertür zu Zimmertür wandern, durch welche das Personal heraus und hinein wuselte. »Kapier ich nicht. Frais schleicht sich hier alleine rein … wegen Lex?« Abrupt wandte er sich zum Gehen. »Okay, mehr finden wir hier nicht. Abmarsch.« Fritz und Alea tauschten einen unzufriedenen Blick, während sie ihm nachgingen. Es schien, als hätte der Vampir bereits eine Idee, die er noch nicht preisgeben wollte. Offensichtlich hatte Micha vor, so bald wie möglich zur Station zurückzukehren, denn sein erster Weg, als sie im Keller waren, führte ihn wieder zu Bock. »Und?«, fragte der Arzt. Micha antwortete mit einer Gegenfrage: »Kann ich mit Lex sprechen?« Bock dachte darüber nach. »Ich weiß nicht. Theoretisch ja. Praktisch hängt es von ihm ab. Ich habe ihn vor einer guten Stunde extubiert, also, den Beatmungsschlauch entfernt, aber geredet hat er da noch nicht mit mir.« »In einer Stunde kann sich viel getan haben«, erwiderte Micha. Obwohl er nach außen hin lässig wie immer wirkte, fiel auf, dass er es tunlichst vermied, dem bohrenden Blick vonseiten Aleas zu begegnen. Letzterer fragte sich wahrscheinlich, wie Asp sich so rasch hatte erholen können. Bock ließ die Schultern fallen. »Geh doch einfach zu ihm, Micha. Ich kann dich doch sowieso nicht davon abhalten. Aber erwarte nicht zu viel von ihm, auch wenn er wach ist. Er bekommt starke Medikamente gegen Schmerzen und Aufregung. Vielleicht solltest du ihm keine komplexen Denkaufgaben stellen.« Dieses Zugeständnis war offenbar alles, was Micha hatte hören wollen, und sofort ging er ohne ein weiteres Wort. Fritz’ nachgerufene Frage »Kann ich mit …?« beantwortete er mit einem knappen Kopfschütteln. Unter dem Betreuungspersonal der Herzchirurgischen Intensivstation machte sich Verblüffung breit, als Michael darauf bestand, mit dem gerade erst notfalloperierten Patienten ein Wort zu wechseln. Nach einem sehr kurzen verbalen Gefecht, zu dem ein eisiger Blick des Vampirs seinen Teil beitrug, wurde der Oberarzt hinzugezogen. »Wenn sie von Dr. Saltz das OK haben«, erwiderte dieser achselzuckend, »dann nur zu. Wir mischen uns nicht in Fälle des Geheimdienstes ein. Dr. Saltz hat die medizinische Verantwortung.« »Danke, mehr wollte ich doch gar nicht«, sagte Micha und unternahm keinen Versuch, seine Verdrossenheit zu verbergen. »Schönen Tag noch.« Leise, aber darauf bedacht, dass zumindest ein Pfleger es hören konnte, fügte er murmelnd hinzu: »Mann, was für’n Haufen Kontrollaffen.« Asp hatte ein Zimmer für sich allein, allerdings nur, weil die anderen drei Betten unbelegt waren. Friedlich lag er unter seiner Decke. Eine Notiz am Fußende des Bettes wies daraufhin, dass er so bald wie möglich auf die Herzchirurgische Allgemeinpflegestation 3A verlegt werden sollte. Da habt ihr eure Rechnung aber ohne Bock gemacht, Leute. Garantiert würde Asp schon die kommende Nacht nicht mehr auf der Station verbringen. Auf den Monitoren kletterten Linien auf und ab, Messdaten schwankten, Zahlen veränderten sich und ein nervtötendes Piepsen störte die Ruhe. Asp schien das herzlich egal zu sein. Ebenso die Tatsache, dass unzählige Kabel zu seinem Körper führten. Als Micha an das Bett herantrat, schlug er die Augen auf und blinzelte müde. Offenbar hatte er nur gedöst. »Morgen«, murmelte er. »Sehr witzig. Es ist fast acht Uhr abends.« Micha schob die Hände in die Taschen und versuchte, eine entspannte Haltung einzunehmen. Es gelang ihm nicht gänzlich, da der Anblick seines verletzten Freundes ihm auch jetzt noch zu schaffen machte. Sich auf der Bettkante niederzulassen traute er sich nicht, dabei würde er nur irgendein Kabel herausrupfen. »Lex, bist du einigermaßen munter? Wir müssen nämlich reden.« Asp gab ein träges Stöhnen von sich. »Muss das sein?« »Ja, muss es. Paul Frais war hier.« »Mmmmh.« Asp wirkte nicht überrascht. »Also doch … Er war sicher, dass ich sterbe.« »Jetzt aber mal im Klartext!«, fuhr Michael eindringlich fort. »Spuck’s aus! Du kennst Frais schon viel länger als wir, oder? Warum? Woher? Was hast du mit ihm zu tun?« Insgeheim ahnte er es. Er hatte Simon und Fritz intensiv nach den Vorkommnissen in der Turnhalle befragt, und dieses Verhör hatte wenig Zweifel offen gelassen. Asp bestätigte seine Vermutung mit schwankender Stimme: »Er ist mein Erschaffer.« Scheiße. Voll ins Schwarze. Micha senkte den Blick; er wusste nicht sofort, was er dazu sagen sollte. Als er bemerkte, dass Asp ihn beunruhigt anstarrte, in Erwartung irgendeiner Reaktion, sagte er langsam: »Dann … muss er verflucht alt sein.« »Mmmmh.« »Wieso hast du uns das nie gesagt?« »Weil ich natürlich vorhatte, das zu leugnen … Er ist schließlich die schlimmste Bestie, die wir kennen.« Leiser fügte er hinzu: »Ich schäme mich für ihn. Dafür, dass ausgerechnet er mich verwandelt hat. Aber ich kann es nicht ändern.« »Er hätte dich jederzeit töten können.« Mühsam schluckte Micha den bitteren Geschmack hinunter. In ihm keimte die Sorge darüber, was diese neue Erkenntnis für sie alle bedeuten könnte, allmählich zur Furcht heran. Wenn Frais Asps Erschaffer war, dann konnte er ihn gegen die MIU ausspielen, ihn als Druckmittel missbrauchen. Vorausgesetzt, er gehörte zu jenen Bestien, die bereit waren, ihren Abkömmlingen zu schaden … »Das macht er nicht«, sagte Asp mit fester Stimme, als hätte er Michas düstere Gedanken erraten. »Das hätte er schon an die hundert Mal machen können … In jedem Leben begegnen wir uns, und nie tun wir uns was an … Offensichtlich ist er auch jetzt nur gekommen, um daran Anteil zu nehmen, dass ich draufgehe. Er wird mich nicht töten, Micha, obwohl er es kann … und ich wollte ihn töten und musste jetzt lernen, dass ich der Einzige bin, der es nicht kann …« Er hustete und fing dann kurioserweise auch noch an zu grinsen. »Ist das nicht komisch, Micha … diese Ironie …« »Jaah, sehr witzig. Ich lach mich tot«, grollte Micha. »Vorher habe ich immer dafür gesorgt, dass er davonkommt. Wenn wir ihn fast hatten, hab ich’s irgendwie hingekriegt, dass er nicht getötet wurde. Ich dachte, wenn einer meinen Erschaffer tötet, dann ich. Aber es geht nicht. Ich kann es weder selber machen … noch dabei zusehen. Er ist verdammt noch mal mein Erschaffer!« »Ich weiß!« Michas Stimme war immer noch dasselbe hässliche Knurren, doch daran konnte er gerade nichts ändern. »Mir musst du das nicht sagen. Ich kenne das Band. Ich hab’s auch gehasst … damals, als … du weißt schon.« Er musste hart schlucken. »Hmmm.« Gramerfüllt sah Asp beiseite. »Der Moment, an dem man sich von demjenigen abwenden muss, der einem das zweite Leben geschenkt hat, ist nicht zu beschreiben.« Noch immer vermied er es, Michas Blick zu begegnen, doch sein Gesicht sprach Bände. »Und der, den wir jetzt Paul Frais nennen, war früher … so ganz anders. Ich wünschte, ich könnte es ändern. Aber ich kann’s nicht.« Micha schwieg. Sein Blick ruhte auf der schneeweißen Bettdecke, während ihm alles Mögliche durch den Kopf ging: Der große Kampf gegen Fiacail Fhola vor vielen Jahren, die Nachuntersuchungen über das plötzliche Verschwinden des Anführers … Ja, Plötzlich gab es eine Erklärung für mehrere sonderbare Zwischenfälle, die dafür gesorgt hatten, dass Frais mit dem Leben davonkam. In dem Moment sah Asp ihn eindringlich an und sagte: »Ich bin kein Verräter.« »Das weiß ich doch. Du bist sein Abkömmling. Für die Bindung kann keiner was. Niemand wird dir ’nen Vorwurf machen. Und wenn doch, kriegt er’s mit mir zu tun.« Dies zu erwähnen war unnötig. Niemand würde Asp auch nur einen bösen Blick zuwerfen. Nicht einmal Buschfeldt, denn selbst der tyrannische Direktor wusste, dass jeder Vampir dem Band zu seinem Erschaffer völlig unterworfen war. Micha seufzte und beschloss dann, doch vorsichtig auf der Bettkante Platz zu nehmen. Asp rückte beiseite und zog die Zuleitungen aus dem Weg. »Passt schon, passt schon. Ich bin froh, dass wir schon wieder reden können.« Er deutete auf Asps Brust. »Zeig mal.« Gehorsam schob Asp die Decke von sich. Viel sah Micha nicht; alles war mit flexiblen Verbänden dicht gemacht. Unter den weichen Polsterungen wanden sich dünne Schläuche hervor wie Ringelschlangen. »Was sind’n das für Kabel?« »Alles Drainagen. Frag mich nicht, welche was tut. Wenn du sehen willst, was da rausläuft, guck in die Flaschen unterm Bett. Aber wahrscheinlich willst du das nicht.« »Nee, muss nicht sein.« Micha räusperte sich und deutete wieder auf den Verband: »Wie haben die das durchgesägte Brustbein wieder zusammenge…macht?« »Drahtschlingen.« »Nett. Und … was ist das bitte?« Er deutete auf Asps Hals, wo ebenfalls ein befestigter Dauerzugang lag. »In der Halsseite hast du auch so was.« »Ob du’s glaubst oder nicht, Micha, aber dass in mir überall Schläuche stecken, ist mir aufgefallen. Die stecken auch noch an anderen Stellen, die ich dir jetzt, hm, nicht zeige. Das im Hals ist ein Zentralvenenkatheter, damit haben sie die Luft aus meiner Herzkammer gesaugt. Die durch das Pflockloch reingekommen ist.« Vorsichtig tastete Asp mit der Hand danach. »Ironischerweise liegt er in genau der Vene, aus der Vampire trinken …« Micha nickte. »Witzig hoch drei.« Lust zu lachen hatte er nicht. Schon klar, wie Frais hier reingekommen ist, dachte er dumpf. Mist, das muss ich wohl erklären. Hoffentlich komme ich mit ’nem blauen Auge davon … Aber ich will das Teil wiederhaben! Buschfeldt jedenfalls würde nicht erfreut sein. »Na gut, Lex … Danke für die Antworten. Ruh dich aus.« Asp hielt Micha am Arm fest und sagte nachdrücklich: »Holt mich bloß hier weg. Die Pfleger sind nicht blöd, die merken, dass die Ärzte mich anders behandeln als andere Patienten.« »Ja, ja, ist alles vorbereitet, wir holen dich heute Abend runter.« »Gut. Gut.« Ehe Micha ganz aus der Tür getreten war, hatte Asp sich wieder bequem hingelegt und die Augen zugemacht. Das Piepsen des Kardiotachographen beruhigte sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)