Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 34: Kleine Nachtmusik ----------------------------- »Wir sind fertig!«, rief El Silbador mit aller Kraft in den grauen Korridor hinein. »Alle Vvvvv– … ich meine, alle Lockstück-Experten bitte zum Testhören antreten!« Leise die Luft ausstoßend fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Das war mal wieder knapp gut gegangen. Die Vampire kamen bereitwillig aus ihren Zimmern. Alea wurde sofort, als er einen Fuß in den Gang setzte, von Klaus-Peter Schievenhöfel gebremst. »Ich brauche mal schnell deinen fachkundigen Rat«, sagte der kleine, runde Mann mit der dicken Brille so liebenswürdig, dass es schwer war, ihm die Bitte abzuschlagen. Für Alea war es, wie schon so oft, nachteilig, dass er ein gutmütiger Mensch war; diese Eigenschaft machte ihn kontrollierbar. Wenn ihn jemand um einen Gefallen bat, war er problemlos von verdächtigen Situationen fernzuhalten. »Na gut«, lenkte er widerwillig ein. »Aber danach würde ich auch gerne mal das Stück hören.« Einsichtig ging er hinaus, und nur wenige Augenblicke später fiel hinter ihm leise die Tür ins Schloss. Damit war die brenzlige Situation entschärft. Falk, Lasterbalk, Simon, Sugar Ray, Asp und auch Micha versammelten sich im Besprechungsraum, wo Elsi, Dr. Pymonte, Frau Schmitt und Oliver Sa Tyr nebst dem Rest von Faun bis zuletzt eifrig gearbeitet hatten. »Schön, dass ihr da seid«, begrüßte Oliver die Vampire, »aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass wir das Stück an euch testen. Fiona? Bitte sehr.« »Aber gerne.« Die blonde Frau deutete einen Knicks an, schenkte den Vampiren ein Lächeln und setzte das Mundstück ihres Dudelsacks zwischen die Lippen. Zunächst setzte ein langer Ton ein. Die sechs Vampire beobachteten die Spielerin abwartend, während sie selbst gleichermaßen von den übrigen Menschen aufmerksam im Auge behalten wurden. »Merkt ihr schon was?«, fragte Py vorsichtig, als die Melodie allmählich Fahrt aufnahm. Töne stiegen auf und ab und bildeten eine Weise, die bizarr und verwirrend auch in den menschlichen Ohren nachhallte. »Schmittchen, bist du noch da …?« Aber Simon war augenblicklich hypnotisiert worden: Er stand ganz ruhig, der Blick glasig, die Lippen leicht geöffnet. Auf Pymontes Fingerschnippen vor seiner Nase reagierte er nicht. Die Farbe seiner Augen hatte sich verdunkelt, sodass sie nun beinahe menschlich wirkten. »Sieht schon mal gut aus«, bekundete Niel Mitra leise. »Noch nicht«, wisperte Oliver zurück. »Simon ist ein ganz junger Vampir. Kein guter Maßstab.« Kurz nachdem er das gesagt hatte, fielen auch Silvio und dann Falk in den tranceartigen Zustand. Die Menschen tauschten einen uneinigen Blick, während Fiona munter weiterspielte. Lasterbalk war der nächste; er machte einen unsicheren Schritt auf die Musikerin zu, dann entspannte er sich und verharrte ruhig. Alsdann richteten sich alle Augen auf Micha und Asp. Die beiden deutlich älteren Vampire kämpften sichtlich angestrengt um die Kontrolle über ihren Geist. Asp verlor zuerst. »Ha, yay«, frohlockte Elsi leise. »Das Ding ist der Hammer«, stöhnte Micha und kniff die Augen zusammen; dann, als er sie wieder öffnete, wurden sie schwarz und seine Gegenwehr erstarb. Erst jetzt brach unter den Menschen ein triumphierender Jubel aus. »Whooohooo!«, rief André, während Oliver triumphierend lächelte und Fiona mit dem Spielen wieder von vorn begann, mühsam ein Grinsen unterdrückend. »Wenn die Mucke auch bei anderen Vampiren so prima wirkt, werden wir nicht mal Gesang brauchen, sondern nur Gedudel. Geil!« »Das Stück kann jedenfalls noch nicht verbraucht sein«, mutmaßte El Silbador. »Micha ist fast fünfhundert Jahre alt, und es hat nicht mal ’ne Minute gedauert, bis wir ihn hatten.« Grinsend stimmte ihm Py mit einem Nicken zu und trat zu Micha, um die Hand vor seinen starren Augen auf und ab zu bewegen. »Einfach klasse. So tief in Trance hab ich ihn noch nie gesehen.« »Na, dann kann ich wohl aufhören.« Fiona ließ den Sack los und deutete einen flotten Knicks an. Augenblicklich, als der Ton abbrach, erwachten die Vampire aus ihrer Hypnose. Sie blinzelten und sahen sich verwirrt im Zimmer um. »Ich sehe, es hat geklappt«, stellte Lasterbalk fest und rieb sich die Schläfe. »Wie fühlt sich das an?«, erkundigte sich Oliver und sah fragend zu ihm auf. »Als ob man in ’ner langweiligen Vorlesung einschläft und erst danach merkt, dass man kurz weg war.« »Ah.« Er nickte. »Verstehe.« Elsi lenkte mit einem tiefen Atemzug die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. »Ich finde, wir sollten das Heer zusammentrommeln«, befand er. »Wen wollen wir anfordern?« »Auf keinen Fall Anfänger«, mahnte Asp. »Alle müssen wissen, was sie tun.« Micha nickte. »Lex hat Recht. Wenn ein Loser dabei ist und ’nen Ton verkackt, kann der Zauber unterbrochen oder geschwächt werden. Wär scheiße.« »Na gut. Wen haben wir denn schon hier?« André zählte an den Fingern ab: »Ich bin mal so frech und nenne mich zuerst. Dann Boris. Marco. Elsi …« »Und Alea«, sagte El Silbador prompt. »Und Luzi.« »Gut, Luzi soll eure Säcke mitbringen. Wer noch? Fiona, du?« Die blonde Frau nickte. »Ich bin natürlich dabei.« Dr. Pymonte, der die Finger hochhielt, zögerte. »War’s das schon? Wir sind bei … sieben.« »Überraschung«, murmelte Elsi. »Was ist mit Schandmaul?«, fragte Simon. »Birgit spielt Schäferpfeife. Aber sie ist eine von uns.« »Können die Vampire sich nicht was in die Ohren stopfen?«, fragte Rüdiger. »Werden doch sowieso alle machen, die das Stück nicht hören dürfen.« »Dann hören wir aber auch nicht, was wir spielen«, erinnerte ihn Falk. »Ah, okay. Mein Denkfehler.« »Also müssen sieben reichen«, entschied Py. Elsi schüttelte den Kopf. »Müssen nicht. Wir kennen doch noch mehr Bands, die in das Vampirthema eingeweiht sind.« »Genau zwei mit Sackspielern«, knurrte Micha, »nämlich Schelmish … und Corvus Corax.« »Ja, mein Gott, dann müssen wir private Abneigungen eben mal beiseite lassen!« »Stimme ihm zu«, sagte André. »Ich denke, ich kann auch ruhig noch Cultus Ferox anhauen. Offiziell sind die zwar nicht eingeweiht, aber inoffiziell hat Brandan wahrscheinlich längst über ’nem Bier alles ausgeplaudert … und ich hab sowieso noch was gut bei ihm. Ich seh mal, was er sagt. Oder hat jemand was dagegen?« »Nö, mach ma«, ermunterte ihn Micha. »Holt alle her, die’s drauf haben. Hauptsache, wir treten Frais in die Eier. Und zwar so doll, dass er kein zweites Mal wiederkommt!« Oliver, der die unverblümte Ausdrucksweise bekanntermaßen nicht schätzte, rang sich unerwarteter Weise dennoch ein Lächeln ab. »Ich sehe, wir kommen langsam auf einen grünen Zweig, alle miteinander. El Silbador … Ich denke, du kannst die Einladung zum gemeinsamen Musizieren rausschicken. Wenn wir Glück haben, steht das Heer, wenn wir es so nennen können, schon bald.« »Und wenn wir richtig Glück haben«, ergänzte Falk, »greift Frais heute Nacht wieder nicht an – und wir können ihm, wenn wir morgen vor Nachteinbruch zuschlagen, sogar zuvorkommen!« Alle lächelten zurückhaltend. Der Gedanke war zu schön, um wahr zu werden. Fritz war sehr zufrieden mit dem Verlauf seiner Heilung. Er fühlte sich schon beinahe kuriert. Vitamine, Eisen, viel Flüssigkeit und die nahrhafte Kost hatten dazu beigetragen, dass er sich rasch von der Schwächung, die dem Blutverlust zuzuschreiben war, erholt hatte. Auch sein Bein tat jetzt kaum noch weh, obwohl die Wunde tief gewesen war. Nicht mal der Hauch einer Infektion hatte sich eingestellt. Kein Rumoren, kein Pochen, kein Nässen. Es fehlte zwar noch einiges, bis er wieder völlig ungehindert würde laufen können, doch damit konnte er leben. Als die Haken in sein Wadenfleisch eingedrungen waren, hatte er sich im Geiste schon von seinem Bein verabschiedet – fest überzeugt, dass es unterhalb des Knies amputiert werden würde. Und nun, ein paar Tage später, war es fast wieder völlig in Ordnung! Gut, dass er Kitty noch keinen Panikfloh ins Ohr gesetzt, sondern sich zum Abwarten gezwungen hatte. Zum Einbruch der Nacht hin wurde im Universitätsklinikum, auch oberhalb des MIU-Verstecks, eine rege Betriebsamkeit aufrechterhalten. Das Personal und die Verwaltung waren erneut über die Möglichkeit eines Angriffs unterrichtet worden und hatten Schievenhöfel, der seit Buschfelds Abdankung den Einsatz zumindest inoffiziell leitete, in scharfem Ton dazu angehalten, im Falle einer Attacke das Gefecht möglichst fern der Patienten auszutragen. Klaus Buschfeldt selbst befand sich nach vor in einer Art Arrest im Kellerversteck. »Wir beschützen das Krankenhaus«, hatte KP fest versichert, »aber wenn wir weggehen, wird es noch viel gefährlicher. Wir werden alles tun, was wir können, damit Unbeteiligte nicht zu Schaden kommen.« Was nicht leicht werden würde – denn genau das würden Fiacail Fhola zu erreichen versuchen. Das Wetter war nicht schön gewesen, und die Dunkelheit kam rasch herangeflutet. Wer konnte, hatte noch etwas Schlaf nachgeholt. Mittlerweile waren auch die Wachen eingeteilt. Als auch Alea seine warme Kleidung anzog und nach draußen auf das Gelände verschwand, konnten Bock und Frau Schmitt sich daran machen, den MIU-Vampiren eine letzte Mahlzeit aufzuwärmen. »Wir haben ein Attentat auf dich vor, Fritz«, teilte der Arzt seinem Patienten mit unheilsschwangerer Miene mit. Fritz ahnte etwas. »Oh, nein. Bitte sagt nicht, dass ich es ihnen bringen soll!« »Doch, genau das. Deine Toleranz gegen Blut ist doch schon besser geworden, oder? Wir kriegen dich kuriert, Herzchen. Glaub mir. Vermeidungsverhalten führt hier nicht zum Erfolg, nur radikale Konfrontationstherapie!« Mit diesen Worten tunkte Bock den Schöpflöffel in die trübe, weinrote Suppe, welche menschlichen Venen entstammte, und füllte sie in große Metalltassen, die von außen isoliert waren – Thermobecher. »Ich hab Stabilisator zugefügt und Fruchtzucker, damit es mehr Kraft gibt. Hier, geh den Zaubertrank verteilen.« Fritz zögerte. Nicht nur Bock, auch Silke Volland schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Also nahm er drei der Becher, wobei er einen gegen die Brust drücken musste, wo die Wärme durch seinen Pullover drang, und wandte sich vorsichtigen Schrittes der Tür zu. So direkt unter seiner Nase tat Blut keinen guten Dienst, besonders kein warmes. Der starke, metallische Geruch ließ ihn genau drei Schritte weit kommen; dann reichte es nicht mehr, die Nase hochzurecken, er musste würgen und beeilte sich, die Becher wieder hinzustellen. »Igitt! Nein, Leute. Das geht einfach nicht!« »Ja, ich seh schon«, sagte Bock traurig. »Wieso kann man Vampire nicht einfach mit was anderem ernähren als Blut? Wenn es nur um die Nährstoffe geht, kann man es doch bestimmt ersetzen – wie bei Buck-Up, nur eben ganz ohne Blut!« »Nein«, seufzte Bock, »das geht nicht. Man hat es mal versucht. Ein Experiment, das schlimm ausgegangen ist.« »Ach ja?« »Ja … Das war 1973. Das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, das zu dem Zeitpunkt gerade erst zwei Jahre alt war, hat versucht, vollwertige Nahrung für Vampire zu entwickeln, ohne dafür Blutbestandteile zu verwenden. Es gab vier freiwillige Vampire unterschiedlichen Alters, die sich dem Experiment unterzogen haben. Und was ist passiert? Ausgehungert sind sie nicht, es waren ja genug Nährstoffe da … Aber sie sind kalt geworden. Man hat an der Rezeptur gefeilt, um doch noch dahinter zu kommen, wo der Fehler lag, aber ohne Erfolg. Schließlich sind die Vampire alle gestorben. Ein rätselhaftes Kaltwerden ohne Nährstoffentzug.« »Oh …« Fritz überkam ein Gruseln. »Das ist … unheimlich.« »Seither geht man davon aus, dass das menschliche Blut irgendeinen Stoff enthält, etwas, das unsichtbar und wissenschaftlich nicht nachweisbar ist, das aber die Vampire dringend brauchen und mit der Nahrung aufnehmen müssen, um gesund zu bleiben. Man weiß inzwischen, dass es sich in den roten Blutzellen befindet, den Erythrozyten. Alle anderen Blutbestandteile kann man also ersetzen, wie ich es bei Buck-Up gemacht habe, aber die Erythrozyten sind ganz wichtig und unverzichtbar für die vampirische Ernährung.« Der Arzt sah Fritz fest an, und sein Bestreben, für Toleranz gegenüber Vampiren einzutreten, schien in diesem Blick konzentriert zu sein; dann nickte er noch einmal zu den mit warmem Blut gefüllten Bechern. Fritz seufzte und riss sich zusammen. »Ich nehme einen, okay? Einen.« »Fein. Das ist schon mal besser als nichts.« Am Eingang zum Innenhof erkannte Fritz zwei entspannt im Schein der Außenbeleuchtung stehende Gestalten, die ihm den Rücken zugekehrt hatten. Blauer Dunst stieg in feinen Kringeln von ihren Silhouetten auf. Es waren Sebastian und Marco, die in der späten Dämmerung eine letzte Zigarette rauchten. Die beiden Männer unterbrachen ihre leise Unterhaltung, als Fritz durch die Glastür neben sie trat. »Oh, hey, Fritz«, begrüßte ihn Basti. »Wat hast’n du da?« Fritz hielt eine Hand über den Becher, damit die Wärme des Inhaltes nicht so schnell verflog, und spürte das Schwitzwasser auf der Haut. »Naja, Blut. Was sonst?« Er sah sich etwas ratlos um. »Äh … Micha hat doch Wachschicht, oder?« Lange blies den Rauch aus und nickte. »Guck ma da hinten irgendwo.« Er deutete vage in die Ferne. »Wird sich freuen, wenn du ihm was Leckeres bringst.« »Ja, das … dachte ich mir auch.« Unentschlossen blieb Fritz bei den beiden Musikern stehen. Niemand hörte ihnen zu, wie günstig. Wann erwischte man In Extremo schon mal getrennt vom Rest der MIU? »Was Micha betrifft …«, begann er zögernd, und sofort sahen Basti und Flex ihn höchst aufmerksam an. »Die Flucht mit ihm war …« »Verstörend?«, schlug Marco vor. »Traumatisierend?« »Das ja, aber nein. Ich meine Micha. Sein Verhalten.« Die Männer wechselten einen besorgten Blick. »Falls du’s ihm übel nimmst, dass er dich jebissen hat …«, setzte Basti an, aber Fritz unterbrach ihn: »Nein. Das war okay. Das wollte ich. Er hat alles richtig gemacht. Ich hab mich wie ein Idiot benommen, seit ich ihm damals zugeteilt worden bin.« Fritz schürzte die Lippen, ließ einen Seufzer heraus und fuhr fort: »Ich … ich glaub, ich hab ihn unterschätzt. Ich hab nur gesehen, dass er mich schlecht behandelt, und ihn sofort verurteilt. Es war mir, als ich mit Eric geredet habe, sogar fast egal, dass Micha in irgendeiner Zelle liegt und stirbt. Ich wäre nicht freiwillig zurückgekommen, um ihn zu retten. Ich hab nur so getan.« Beschämt über dieses Bekenntnis starrte er in den Becher und übersah sogar das Blut darin. »Dabei hat er das nicht verdient.« Zu seiner Erleichterung lächelten die beiden Musiker nachsichtig. Marco erklärte: »Micha ist ein Held, Fritz. Darauf kannst du dich verlassen. Keiner von diesen strahlenden Aragorn-Typen, sondern ein ganz heimlicher Held. Er kann ein Arsch sein, weiß ich selber. Wenn er was zu sagen hat, reißt er das Maul auf und beschönigt nichts. Aber er ist immer aufrichtig. Und er mag Menschen, obwohl die ihn oft gar nicht mögen. Er tut viel für sie, ohne darüber zu reden, einfach für sich selbst. Dabei hätte er kaum Grund dazu. Alles, was er jetzt hat, musste er sich geradezu unverhältnismäßig hart erarbeiten. Wenn ich bedenke, was er allein in diesem Leben schon alles erlebt hat, was er alles aushalten musste … Dir würde schlecht werden, wenn du hörst, was der alles erlitten hat. Aber Micha kennt eben nur eine Antwort auf herbe Schläge: Aufstehen und weiterkämpfen. Aufgeben ist nicht sein Ding.« Flex nickte in die Richtung, in der sich Michas Posten befand. »Guck ihn dir jetzt an: Er hat gerade so ziemlich das Schlimmste hinter sich, was einem Vampir überhaupt passieren kann. Aushungern. Viele Vampire, die das überleben, erholen sich psychisch nie richtig davon, sind danach zeitlebens angstgestört oder aggressiv. Aber siehst du Micha in eine Ecke kriechen und seine Wunden lecken? Nein. Der steht schon wieder an vorderster Front. Und um ehrlich zu sein habe ich nichts anderes erwartet. Ich kenne es nur so von ihm.« Natürlich, dachte Fritz und presste die Lippen zusammen. Oh Mann. Ich hab Micha einfach nur für einen arroganten Trottel gehalten, der zufällig berühmt ist und sich keinen Deut um andere schert. Voll daneben. Gegen den bin ich echt ein Witz. Kein Wunder, dass er meine Feigheit und meinen egoistischen Selbstschutz zum Kotzen findet … Er holte tief Luft. Der Kerl hat einfach richtig … »Eier.« Es überraschte ihn nicht, dass er das Wort unwillkürlich laut ausgesprochen hatte. Basti kicherte. »Oh jaah. Die hatta. Viel mehr als die meisten dieser Affen, die tagtäglich in den Medien rumspringen und auf der Welt den Ton anjeben. Hätten wir mehr echte Männer, würde die Welt janz anders aussehen.« Vermutlich. Fritz wandte sich ab. »Ich geh ihm das Blut bringen, bevor es kalt wird.« »Mach dit ma«, nickte Sebastian. »Aber nicht verlaufen!« Micha stand an der Südseite des Klinikgeländes, die leuchtenden Augen fest auf die nachtschwarze Umgebung gerichtet. Die nahe Straße sah aus wie ein dünner, schwach beleuchteter Streifen. Als Fritz näher kam, zuckte der glühende Blick des Vampirs sofort hinüber und heftete sich auf ihn. »Was bringst’n du da Feines?« »Jedenfalls keinen Kaffee«, antwortete Fritz. »Nee, dass das kein Kaffee ist, rieche ich bis hier. Hat Sonnenscheinchen auch nichts mitgekriegt?« »Nein. Der ist bei Falk und mault, dass er auch im Dunkeln sehen will.« Micha lachte leise und nahm Fritz den dampfenden Becher ab, um genüsslich daraus zu trinken. Zum Glück war im Dunkeln nicht zu sehen, wie das Blut seine Lippen rot färbte. »Wie geht’s dir?«, fragte Fritz zögerlich. Micha wirkte überrascht über die Frage. »Mir? Gut. Hatte heute keine Blutdurst-Attacke. Ich glaub, ich bin durch mit dem Mist. Normale Temperatur, keine Hungersymptome mehr. Endlich.« Er nahm einen weiteren tiefen Zug und sah dann wieder Fritz an. »Und dir?« »Oh, mir auch. Ich heile nicht so schnell wie du, aber bald wird alles halbwegs okay sein.« »Dann ist ja gut. Ich hoffe, Frais kriegt auch heute Nacht den Arsch nicht hoch, dann machen wir ihn morgen platt. Ein bisschen Glück, wir brauchen nur ein ganz kleines Bisschen davon.« »Können Vampire es verhindern, von anderen Vampiren … gewittert zu werden?«, erkundigte Fritz sich nachdenklich. »Hmm, ja. Zum Teil. Nicht alle. Man muss alt sein und den Dreh raus haben. Ich kann’s nicht. Lex schon, aber der hat ja auch das lautlose Anschleichen perfektioniert. Könnte seine Opfer prima von hinten überfallen … eigentlich schade, dass er das nicht nutzt. Die Fírinne-Vampire – das ist mir aufgefallen, als wir mit denen geredet haben – nebeln sich neuerdings in so komische, menschenartige Gerüche, die ihre eigenen überdecken.« Fritz sah zu Boden. Unter seinen Füßen war das Gras so schwarz wie der Rest der Welt. Gerne hätte er jetzt die vampirische Nachtsicht geteilt – doch ihm graute davor, je wieder unter der Blutfessel zu stehen. Er würde nie, nie wieder um Vampirblut bitten, das wusste er. Plötzlich erstarrte Micha. Eben noch hatte er sichtlich zufrieden den Becher geleert – nun stand er wie eine Salzsäule. Als Fritz den Blick hob, sah er warum. Und er erschrak fürchterlich. Hunderte leuchtender Augenpaare waren auf sie gerichtet. Ein Meer aus starren, glühenden Punkten, zwischen denen die Dunkelheit nur noch undurchdringlicher wirkte. Sie mussten schon die ganze Zeit da gewesen sein, doch auf ein geheimes Zeichen hin hatten sie sich alle geöffnet und starrten die beiden Nachtwächter nun unverwandt an. Fritz hörte seinen Atem mit einem hohen Wimmern entweichen. Seine Hände waren eiskalt, als er sich von einer Seite zur anderen umsah, vorsichtig, als hätten diese glotzenden Irrlichter nicht sowieso schon ihn und Micha im Visier. Nirgends eine leere Fläche zwischen ihnen, kein einziger schwarzer Fleck. Sie waren überall. Michas Hand ergriff seine Schulter. »Fritz, verpiss dich. Sofort!«, zischte er. Diesmal gehorchte Fritz augenblicklich. Er drehte sich um und rannte los. Kalte Panik ergriff sein Herz. Er hörte das Klicken hinter sich. Nicht umdrehen. Es ist alles gut. Sie kommen nicht weit. Es ist alles voller Vampire, aber wir … wir haben Locksänger!!, sagte er sich mit aller Überzeugung. Die singen diese blutleeren Sauger weg! Alle!! Fritz humpelte über das leere Gelände, so schnell, wie der Schmerz und der steife Widerstand in seinem verletzten Unterschenkel es zuließen. Seine Erleichterung war unermesslich, als er sah, dass auch die anderen Vampire längst Alarm geschlagen hatten. Einige Menschen von der Nachtaufsicht des Krankenhauses eilten gerade durch die Eingänge wieder ins Gebäude, um die Nachricht gefasst weiterzuleiten und Türen sowie Fenster zu verschließen. Im Innenhof sah Fritz im blassen Mondlicht die Gestalten der Locksänger, die ruhig, aber ohne Verzögerung ihre Instrumente stimmten. »Fritz!«, rief jemand und packte ihn nachdrücklich am Arm, um ihn aufzuhalten. Fritz fuhr herum und erblickte Asps blasses Gesicht, aus welchem ihm die unnatürlich weißen Augen erregt entgegensahen. »Paul Frais ist höchstpersönlich hier. Siehst du diese kleine Metalltür da hinten?« Fritz nickte, obwohl er die Tür im Dunkeln kaum ausmachen konnte. »Die wird ständig offen bleiben. Wir bewachen sie. Hol die Vampirjäger. Wir brauchen Pfähler, Armbrustschützen – alles, was wir haben.« »Okay«, versprach Fritz und lief los. Gleichzeitig dachte er: Alles, was wir haben? Soll das ein Witz sein? Ingo und Flex? Basti, der daneben schießt? Ich, der mit der Natron-Kanone blindlings in die Gegend ballert? Das kann doch hoffentlich nicht ernst gemeint sein! Kopfschüttelnd stürmte er voran. Eine Flötenmelodie erhob sich, ringelte sich wie eine dünne Rauchfahne durch die kalte Luft; kurz darauf setzten zu sanften Trommelklängen die Stimmen von Fiona und Rairda ein, einander umschlingend wie zwei Kletterranken. Was sie sangen, klang in Fritz’ Ohren vor allem fremd, aber auch hypnotisch. Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa … Was würden sie machen, wenn die Vampire zu alt waren? Wenn sie sich etwas in die Ohren gesteckt hatten – etwa Kaugummi? Ilubatai, ilubatai, ilue iye ilubatai, Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa … Die Trommeln wurden schneller, und noch mehr Klänge kamen hinzu. Oliver hielt hochkonzentriert ein Instrument umfasst, das Fritz noch nie in seinem Leben gesehen hatte. In beschwörendem Ton sangen die beiden Frauen weiter, laut und fordernd. Ilubatai, ilubatai, ilue iye ilubatai, Ilubatai, ilubatai, ilue iyansa! Iyansa! Iyansa! Iyan – iyan – iyansa! Iyansa! Iyansa! Iyan – iyansaaaaa! Endlich riss Fritz die kleine Tür auf und schlug sie hinter sich zu, die unheimliche Lockmusik aussperrend. »Hier«, sagte Hampf, als Fritz ihn im Flur fast umgerannt hatte – wohlgemerkt nur fast, denn um Ingo umzurennen brauchte es mehr als Fritz’ klägliches Gewicht –, und hielt Fritz einen Pflock hin. »Weiß nicht, ob das deiner ist.« »Ich auch nicht, ich hab ihn nicht beschriftet!«, gab Fritz gereizt zurück. »Wie kannst du bloß so ruhig sein? Wo ist meine Natron-Kanone?!« Er wusste, dass er hysterisch klang; sein schriller Tonfall spiegelte sich in der Miene des Pfählers, der ihn verwirrt musterte. »An deinem Gürtel, du Heini. Brauchst keinen Stress zu machen, wir kennen unsere Aufgaben. Das InEx-Team ist schon ausgerüstet. Py ist gut mit der Kanone. Boris hat zur Armbrust gegriffen, Elsi bewacht den Zugang. Und du, hmmm …« Ingo musterte Fritz abschätzend. »Hätte zwar nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber such am besten Alea und klammer dich an seinen Rockzipfel. Ich weiß, er hat gerade eine zickige Phase, aber ich verlasse mich mal drauf, dass er im Notfall killen wird, was das Zeug hält.« Damit nickte er Fritz noch einmal ermunternd zu – sein Mund war eine gerade, schmale Linie – und stapfte in großen Schritten zum einzigen verbliebenen Ausgang. Fritz blieb wortlos stehen. Was war denn das für ein Lösungsvorschlag? Alea suchen? Mitten in der Schlacht? War das wirklich das sicherste? Wahrscheinlich nicht. Aber er hatte keine Wahl. Mit zusammengebissenen Zähnen hinkte er los. Scharf wehte der Wind über das Flachdach des Hauptkomplexes. Marco, Sebastian und Boris hatten dort mit den Armbrüsten Stellung bezogen und kauerten dicht an der Dachkante, um von unten nicht gleich gesehen zu werden. Noch waren die Lichtverhältnisse gut, das völlig buschlose Parkgelände rund um das Klinikum bot Gegnern keine Gelegenheit zum Abtauchen. Jeder, der die Sicherheit des umliegenden Gebüschs verließ, würde von ihnen rechtzeitig gesehen und niedergestreckt werden. »Kalt hier«, murrte Van Lange und ließ sich auf ein Knie nieder, um das andere Bein enger an den Bauch zu ziehen. Gerade prüfte er, ob der kleine Schalter am Griffstück der Armbrust, der einen hellen, gebündelten Lichtstrahl auf das Ziel werfen würde, seine Arbeit tat. »Noch nicht anmachen, Basti. Wir müssen so lange unentdeckt bleiben wie möglich.« »Ist mir klar.« Pfeiffer reckte den Hals, um sein Ohr besser der Musik zuzuwenden, welche verzerrt von unten heraufdrang. Gerade spielten Faun ein Lied, das den Dudelsack einbezog. »Meint ihr, sie setzen das neue Lockstück ein?« »Nicht, wenn sie es vermeiden können«, vermutete Flex. »Sie dürfen das Stück nicht dem Abnutzungseffekt aussetzen, bevor es unter optimalen Bedingungen zum Einsatz kommen kann.« »Richtig, dit ist wie mit Penicillin. ’ne dicke Keule, aber einmal überdosiert, und dit war’s.« Boris unterdrückte ein Frösteln, als die nächste Bö kam. »Ich hoffe, die Musik wirkt. Ich hoffe, Frais traut sich nicht näher ran. Und ich hoffe verdammt noch mal, dass wir’s bald überstanden haben!« Faun hüllten das ganze Gelände in ihren betäubenden Gesang. Derartig kontrolliert hatten sich einige der starrenden Augenpaare tatsächlich in Bewegung gesetzt, waren hervorgetreten und aus der Distanz mit einem Armbrustbolzen abgeschossen worden. Keiner der Übrigen hatte sie aufgehalten. Das war beunruhigend: Frais hatte diesen Verlust nicht nur in Kauf genommen – er hatte ihn regelrecht eingeplant. »Zu wenige«, murmelte Sugar Ray leise in Simons Richtung, während sie den gegenüber liegenden Straßenrand nicht aus den Augen ließen. »Iyansa und Rhiannon waren bisher immer viel wirksamer. Abnutzungseffekt kann nur minimal sein. Irgendwas stimmt da nicht.« Der schwarzhaarige Vampir drehte sich zu Ingo um, der als einziger Mensch bei den beiden stand und sich für den drohenden Nahkampf bereithielt. »Faun sollen was anderes versuchen. Eins vom neuen Album.« »Ich sag’s ihnen. Bin gleich wieder da.« Ingo machte kehrt. Kaum war er außer Hörweite, als sich etwas veränderte. Jäh kam Leben in die unzähligen Vampire, die aus der Entfernung auf das Klinikum gestarrt hatten. Die Augen kamen plötzlich in rasantem Tempo näher, schneller, als ein Mensch laufen konnte. Silvio keuchte auf. »Die überrennen uns!« Vor Schreck ließ Simon Schmitt unwillkürlich die Fangzähne herausspringen. »Ach du Scheiße, was machen wir jetzt?« Schon zischten drei Pfeilbolzen aus dem schwarzen Himmel herab. Einer traf präzise die Brust einer Frau, der zweite durchschlug einen Hals, aus dem eine Blutfontäne schoss wie aus einem Vulkan; der dritte blieb lediglich in einem Bein stecken, brachte dessen Besitzer aber zuverlässig zu Fall. Die nächste Salve würde in Kürze folgen. Schließlich waren In Extremo rasant im Nachladen. Simon und Sugar Ray zogen ihre Natron-Kanonen und nahmen die vordersten Vampire ins Visier. Einer war ein langhaariger Mann, dessen Fangzähne ausgefahren und gebleckt waren, der zweite eine schlanke Frau mit wildem Blick. Sie stürmten voran, ungeachtet der fallenden Opfer neben ihnen, über die weite, ungeschützte Wiesenfläche auf das Gebäude zu. Die Sterbenden schienen sie nicht zu interessieren. Sie schienen die Bedrohung noch nicht einmal wahrzunehmen. Ihre Augen waren glanzlos, starr und gehetzt. »Irgendwie komme ich mir vor wie in ›300‹«, murmelte Simon so leise, dass nur er selbst es hören konnte. Schon die schiere Masse an Angreifern jagte ihm Respekt ein. Mit einem tiefen Atemzug legte er auf den vordersten Angreifer an. Doch in dem Moment, als er den Mann gut in der Kimme hatte, überfielen ihn plötzlich starke Zweifel. Trotz Nachtsicht musste er ganz genau hinsehen, um diese Merkwürdigkeit zu bemerken. Konnte es sein, dass diesen Vampiren das Natron völlig egal war? »Silvio!«, zischte er angespannt, ohne die Waffe sinken zu lassen. »Irgendwas stimmt da überhaupt nicht! Die sehen nicht aus wie Vampire! Und riechen nicht so! Die – Die – …!« Doch im gleichen Moment erkannte auch Sugar Ray das Ausmaß der Katastrophe. »Heilige Scheiße!«, stieß er hervor. »Keine Blutsauger! Das sind getarnte Menschen – Fakefangs!« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)