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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Könnte kalt werden

Innerhalb der zweiten Hälfte des Tages brachte Dr. Saltz es fertig, einen Schlachtplan gegen den Nahrungsengpass der Vampire zu entwickeln. Sobald Buschfeldt durch wiederholtes Druckausüben auf die Klinikverwaltung die Erlaubnis erhalten hatte, Blutprodukte zu beanspruchen, machte der Mediziner sich an die Arbeit. Als Universitätsklinikum unterhielt das Carl-Gustav-Carus-Krankenhaus eine umfangreichere Blutbank als andere Krankenhäuser, und man teilte der MIU einige Konserven mit Erythrozyten-Konzentrat und sogar eine kleine Menge wertvolles, tiefgefrorenes Blutplasma zu. Bocks eigener Vorrat an aufbereitetem Vollblut war aufgrund der geringen Haltbarkeit verbraucht, und daher war er dankbar für das Plasma, das als Nährlösung der Blutzellen und Transportmedium des menschlichen Körpers natürlich auch alle Nährstoffe enthielt, die im Erythrozyten-Konzentrat fehlten. Da jedoch weit weniger Plasma als Erythrozyten-Konzentrat zur Verfügung stand und zudem proteinreiche Thrombozyten fehlten, musste die Mischung kalorisch aufgewertet werden. Hierfür bekam der Arzt CDD überlassen, industriell gefertigte Flüssignahrung, die normalerweise über eine Magensonde jenen Patienten verabreicht wurde, deren Verdauungsorgane sich möglichst wenig bemühen sollten; aus diesem Grund war die Nahrung niedermolekular und vom Magen-Darm-Trakt direkt ohne vorherige enzymatische Aufspaltung resorbierbar. Für den wenig leistungsfähigen Verdauungsapparat eines Vampirs eine gute Alternative, wenn man den Mangel an Eisen unbeachtet ließ, den jedoch die Erythrozyten decken würden. Zuletzt musste das entstandene Gemisch mit etwas Wasser verdünnt werden. Alles in allem stellten diese sämtlich nur suboptimalen Möglichkeiten Bock vor die Herausforderung, akribisch genau zu berechnen, zu welchen Teilen er diese vier Zutaten mischen musste, um eine für die vampirische Ernährung optimale Zusammensetzung zu erreichen. Das Ergebnis seiner Experimente nannte er Buck-Up. Am späten Abend hatte er vier Liter davon angerührt.

»Damit«, sagte er müde, aber enthusiastisch, »reihe ich mich in die kurze Liste der Hersteller vollwertiger Vampirnahrung ein, die kein Vollblut, sondern nur Teile davon enthält. Wobei, ich dürfte der Einzige auf der Liste sein …«

Die Vampire beäugten neugierig, was er zusammengemischt hatte, aber ihre Begeisterung hielt sich verständlicherweise in Grenzen.

»Sieht ein bisschen aus wie … Bio-Erdbeer-Milchshake«, sagte Lasterbalk und griff damit eindeutig auf einen Euphemismus zurück. »Ich meine, wieso isses net rot?«

»Guck dir die Zutaten an«, verwies Bock und zeigte auf das kleine Sideboard, an dem er gewerkelt hatte. In einer Glasschüssel lag auf Eiswürfeln ein angebrochener Beutel mit rotem, zähem Saft – Erythrozyten-Konzentrat –, daneben ein kleiner Messkolben mit klarer, orangegelber Flüssigkeit – aufgetautes Plasma –, daneben eine Flasche mit milchig-bräunlichem Inhalt – Sondennahrung – und fast auf der Kante ein gewöhnlicher Messbecher mit Wasser. »Liegt auf der Hand, dass es nicht rot ist, oder?«

»Sieht komisch aus«, sagte Falk vorsichtig.

Simon beugte sich über die Schüssel mit der Mischung und stellte weit weniger beschönigend fest: »Riecht wie Kotze.«

»Hmm. An der Stabilisatorlösung kann’s eigentlich nicht liegen«, grübelte Bock. »Die ist in Vollblut-Konserven ja auch drin. Ich vermute, dass es die Sondennahrung ist, die den Geschmack verfälscht. Die ist ja auch nicht für den Mund gedacht.« Er kratzte sich am Kopf. »Tja, Geschmack … Also, rein physiologisch sind alle Ansprüche erfüllt, aber … ich hab nicht daran gedacht, dass die Akzeptanz vielleicht dabei zu kurz kommt.«

Die fünf Vampire sahen einander an. Dann entschied Falk: »Wir probieren es. Alles ist besser als Blutdurst, und du hast dir so viel Mühe gegeben.«

»Das hab ich allerdings«, nickte Bock, auch wenn er etwas enttäuscht wirkte, und griff nach einer Schöpfkelle. »Sollte euch wirklich schlecht werden … unter dem Tisch ist ein Eimer.«

Das kurze Gelächter lockerte die unangenehme Situation etwas auf.

»Stellen wir uns einfach vor, es wäre Diät«, sagte Falk.

»Das ist es auch«, belehrte ihn Lasterbalk.

»Na gut, dann sagen wir, es ist ein Energy-Drink. Oder Sportlernahrung. Genau, so ein Protein-Shake für die Muskeln, wie Alea manchmal trinkt.«

»Macht’s nicht appetitlicher«, meinte Sugar Ray und blickte stirnrunzelnd in seinen Becher.

»Ach, seid doch nicht alle so verwöhnt! Harte Zeiten verlangen harte Maßnahmen. Und nur die Harten kommen in den Garten, und so. Augen zu und durch!«

Während Bock mit gekreuzten Armen abwartend an der Wand lehnte, stießen die Fünf an und tranken tapfer. Es war allerdings abzusehen, dass sie dabei nicht weit kamen. Schon nach dem ersten Schluck setzten alle den Becher wieder ab und senkten den Blick. Eine Zeitlang schien keiner von ihnen die rechten Worte zu finden. Dann sagte Falk leise: »Nee.«

»Ich hab’s befürchtet«, seufzte Bock.

»Entschuldige, aber das geht einfach nicht. Das schmeckt, als hätte da jemand reingeww– … ihr wisst schon.«

Simon nickte. »Stimmt leider.«

Sugar Ray und Lasterbalk bekundeten nur nickend ihre Zustimmung, und Asp enthielt sich eines Kommentars, sah aber auch nicht glücklich aus.

»Also, Bock«, lenkte Falk kurz darauf ein, »das, was du angerührt hast, das trinken wir schon. Spätestens mit Krämpfen wird uns das egal sein. Aber längerfristig … ich glaube, ich müsste mich anstrengen, das Zeug unten zu behalten.«

Der Arzt zuckte die Schultern. »Naja, es war einen Versuch wert.«

Fast noch unangenehmer als die Kostprobe war die unvermeidliche Überlegung, wie dem Versorgungsengpass denn nun tatsächlich begegnet werden sollte.
 

Nicht nur in Dresden stellte man sich diese Frage, wie kurz danach herauskam. Noch spät am Tag erhielt El Silbador, an Pfeiffers Laptop sitzend, einen Anruf aus München, den er mit dem Headset entgegen nahm.

»Oh, guten Abend!«, grüßte er und lächelte charmant, als könnte sein Gesprächspartner ihn sehen.

Yellow Pfeiffer, der sich gerade auf einem Block ein paar Notizen zu seinen Nachforschungsergebnissen gemacht hatte, blickte auf. »Elsi, wer ist es?«

»Anna und Birgit«, antwortete der Junge. »Sie fragen sich, ob das Wikingerblut trinkbar ist, und wollten unsere Meinung dazu einholen.« Er konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. »Nein, Anna, lasst die Finger davon. Das Zeug ist gefährlich und Fiacail Fhola stecken dahinter. Holt euch was anderes. Ja. Gibt es denn bei euch irgendwas Neues? Nein? … Das Übliche? Ach, ich wünschte echt, ich könnte das gleiche sagen …«

Boris beugte sich wieder über seinen Notizblock. Natürlich, dieses falsche Wikingerblut würde jetzt bundesweit an alle Geheimdienst-Vampire ausgegeben werden. Wieso, fragte Pfeiffer sich mit jäher Gänsehaut, wussten die beiden Schandmaul-Vampirinnen eigentlich nichts davon? Es wäre Buschfeldts Aufgabe gewesen, die Gefahr sofort zu melden. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn die vielen anderen Vampire, die beim BfV oder anderen Diensten tätig waren, zu Amokläufern mutierten! Was war denn bloß mit dem Chef los? Konnte der denn gar nichts mehr außer maulen? Pfeiffer beschloss, als letzte Tat des Tages den Präsidenten des BfV persönlich zu informieren.

Auf seinem Notizblock unterdessen waren bisher nur wenige Stichpunkte zu lesen. Er hatte skizziert, wo in Dresden die MIU bisher Fiacail Fhola begegnet war. Offensichtlich waren die Menschen und Vampire dieser Organisationen sehr mobil – und konnten sowohl aus dem Nichts auftauchen als auch im Nichts verschwinden. Pfeiffer hatte die unangenehme Ahnung, dass ihr Versteck, das sich unter der Erde befand, mehrere Eingänge hatte und ausgedehnter war als bisher angenommen.
 

»Ihr wisst, was ihr jetzt machen müsst«, sagte Bock, als er vom Duschen zurückkam, zu den Vampiren, die noch immer versammelt waren und offensichtlich nicht vorhatten, ins Bett zu gehen.

»Was meinst du?«, fragte Falk dumpf, obwohl er das wahrscheinlich genau wusste.

»Was wohl. Ihr müsst die Nacht nutzen und euch außerhalb versorgen.«

»Sprich es doch aus: Wildern. Das ist Mist, und du weißt es.«

»Ihr habt keine Wahl. Seht es nicht so dramatisch. Wenn ihr auf Tour im Ausland seid, müsst ihr es doch auch manchmal tun.«

»Das ist was anderes. Hier in der Stadt sind im Moment echte Mörder unterwegs, und alle haben Angst vor Vampiren. Wir werden überall Panik verursachen, auch wenn unsere Bisse nicht wirklich schaden. Es zählt immer noch als …« Er lächelte schief. »… Körperverletzung.«

Die Übrigen gaben Falk durch missmutiges Nicken Recht.

Bock versprach: »Ich werde zusehen, dass mir was Besseres einfällt. Wenn es zum Beispiel eine Blutspendeaktion in der Mensa gibt, können wir versuchen, wenigstens das Blut zu kriegen, das durch den anonymen Selbstausschluss nicht verwendet werden kann. Ich erkundige mich morgen danach.« Sich zum Gehen wendend, tätschelte er einem nach dem anderen noch einmal die Schulter. »Und jetzt macht, dass ihr wegkommt. Ihr wart jetzt schon so lange nicht richtig satt, ihr seht allmählich richtig untot aus. Gute Nacht, meine Schätzchen.«

»Gute Nacht, Bock«, murmelten sie beinahe gleichzeitig und machten sich auf den Weg zum Ausgang.

Jedenfalls taten das vier von ihnen.

Bock merkte, dass ihm jemand folgte, und drehte sich um. »Ich weiß, Alex, für dich ist das keine Alternative.«

»Ich möchte dich um was bitten«, sagte Asp, »auch wenn du schon viel für uns getan hast. Könntest du … mich im Auge behalten?«

Der Arzt verstand. »Du willst das Wikingerblut trinken.«

»So wenig wie möglich, aber mir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich biete dir an, die Wirkung an mir zu dokumentieren.«

»Das könnte in der Tat wichtig für uns sein«, willigte Bock vorsichtig ein. »Nach allem, was ich gehörte habe, bist du bei der Befreiungsaktion nicht blutrünstig geworden.«

Asp sah unwillig beiseite. »Bei mir wird es anders wirken. Und diese Aussicht beunruhigt mich.«

»Verständlich. Keine Sorge, ich werde das genau überwachen. Eine Probe von dem Gesöff wird gerade im Labor chemisch analysiert, wir haben morgen die Ergebnisse.«

Daraufhin sah Asp immerhin erleichtert aus. »Gut. Dann geh schlafen, Bock. Bis morgen.«

»Hmmm.« Insgeheim hatte der Arzt schon ein wenig Angst vor dem, was er im Wikingerblut finden würde.
 

Kälte ist etwas Schreckliches.

Man sagt, körperliche und seelische Kälte seien sich sehr ähnlich: Ab einem bestimmten Tiefpunkt sei einfach kein Leben mehr möglich. Hitze von annähernd hundert Grad Celsius werde dagegen von einigen Lebewesen gut toleriert.

Die Kälte in diesem Raum unter der Erde ging aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Paul Frais aus, auch wenn es angesichts seiner leblosen, eisblauen Augen den Anschein hatte. Sogar sein Atem schien kalt zu sein, obwohl er zweifellos gesättigt war, als er sich über Micha beugte und fast zärtlich sagte: »Na, alter Freund, wollen wir uns ein bisschen unterhalten?«

»Fick dich«, sagte Micha. Er hatte einen sauren Geschmack auf der Zunge. Es war so anstrengend zu sprechen; zu anstrengend, um dabei cool und lässig zu wirken.

Frais wandte sich von ihm ab und schlenderte, sein Amüsement nicht verbergend, durch den reizentleerten Raum. Vergnügtes Kichern begleitete seine langen Schritte. Ganz sicher war er satt. Ja, dieser uralte Vampir in dem langen teuren Hirschledermantel und den hohen Stiefeln war sicherlich niemals hungrig: Er musste nur mit den Fingern schnippen, und einer seiner menschlichen Anhänger würde ihn an sich nuckeln lassen. Er musste sicher nie konserviertes Blut trinken. Seine Safttütchen waren ja für ihn da. Giftgeile Schlampen. Versager ohne eigenes Leben, denen nur noch ein Vampirbiss einen echten Kick geben konnte und ihnen bewusst machte, dass sie lebendig waren. Andere – nicht wenige – standen wahrscheinlich unter Blutfessel. Diese Art von Zwang aufrecht zu erhalten war nicht schwierig, wenn man dafür sorgte, dass der Betroffene rund um die Uhr ein wenig Vampirblut im Körper hatte. Man konnte ihm einfach befehlen, weiteres zu trinken … Michael hatte beim ersten Kampf gegen Fiacail Fhola keinen Gedanken daran verschwendet, wie viele der Menschen, die sie getötet hatten, wohl gegen ihren eigenen Willen die grausamen Taten begangen hatten, für die man sie verurteilt hatte. Auch jetzt war es wieder so: Die Schurken würden die Guten zwingen, massenhaft Unschuldige ins Grab zu befördern. Wenn sie schon abtreten mussten, dann nicht allein. So waren Schurken nun mal. Genau das machte Schurken aus.

Frais drehte sich wieder zu Micha um. Damals hatte er lange Haare und einen Oberlippenbart gehabt, nun war er glatt rasiert und sein Haar modisch kurz. Unter dem hellbraunen Mantel trug er ein lavendelblaues Hemd. »Du lieferst mir eine gute Vorlage«, sagte er lächelnd, »besser als in meinen schönsten Träumen, die ich von diesem Tag gehabt habe. Ich kann den Blutdurst an dir riechen, und das versetzt mich in Entzücken, kann ich dir sagen. Honigsüß in meiner Nase. Es ist traumhaft, dich so völlig am Ende zu sehen.«

»Ich bin noch nicht am Ende, du Hurensohn.« Micha versuchte, sich auch gefesselt aufrecht zu halten, obwohl die Schwäche es sehr schwer machte.

Frais musterte ihn skeptisch. »Bist du sicher? Du möchtest also nicht mit mir darüber reden, wie viel ihr wisst und was ihr vorhabt?«

»Nein, du Arsch. Kein verficktes Wort.«

»Weißt du, Michael, ich bin wirklich sauer, dass ihr Lámh Dé aus meinem Labor entwendet habt. Ihr hattet ihn schließlich lange genug, um seine Gabe zu erforschen, oder? Jetzt bin ich an der Reihe. Was kann ich dafür, dass ihr die Zeit nicht genutzt habt, um zu tun, was erforderlich ist? Ich war nicht so pingelig wie du und deine zahnlosen Kollegen. Ich habe sein Blut getrunken.«

Michael sagte nichts dazu. Es könnte ein Bluff sein. Seine Auffassungsgabe war stark beeinträchtigt. Es war nicht sinnvoll, irgendwas zu riskieren.

»Erst mal«, fuhr Frais fort, da er sichtlich die Geduld verlor, »stelle ich fest, dass dir unsere Unterhaltung nicht zusagt. Aber das macht überhaupt nichts. Der Zufall hat es perfekt eingerichtet: Ich kann dich zu Tode foltern, ohne dafür auch nur einen Finger krumm machen zu müssen. Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis du das verstehst.« Sich seelenruhig die Finger knetend, schritt er ausgreifend zur Tür. Frais konnte lautlos gehen, wenn er wollte, wie Lex. Manche Vampire setzten gern auf den einschüchternden Effekt. »Erst mal lassen wir dich einen weiteren Tag ohne Blut. Ich bin gespannt, wie gesprächig du dann bist.«

In Michas Hirn begann sich allmählich alles zu drehen. Er musste den Kopf schief halten, um nicht umzufallen. Er stand kurz vor der Wahnphase, das wusste er, jener Phase der Aushungerung, die gemeinhin als die Hölle auf Erden galt und von der sich viele, die sie erlebt hatten, nie mehr ricthtig erholten. Seine Schonzeit lief ab. »Fick dich, du Hurensohn«, nuschelte er.

»Jaja, das hast du ja schon gesagt. Ich sehe, dein Vokabular ist erschöpft und du solltest dich ausruhen. Wir sehen uns morgen.«

Als zum wiederholten Male die Tür ins Schloss fiel und Micha ganz allein in dem völlig leeren, quadratischen Zimmer zurückblieb, wusste er, dass es eine harte Nacht werden würde, eine Nacht, die nahezu alles, was er bisher erlebt hatte, in den Schatten stellte.

Er irrte sich nicht.
 

Am nächsten Tag ging es den MIU-Vampiren wesentlich besser. Sie hatten ihren erhöhten Energiebedarf gedeckt und beteuerten den Menschen – allen außer Buschfeldt –, dass sie ganz vorsichtig gewesen wären.

»Wir haben nichts anderes erwartet«, sagte Schievenhöfel gelassen. »Ihr wisst ja, wie ihr es anzustellen habt.«

Yellow Pfeiffer erklärte, dass er über Snowine nichts herausgefunden hatte. »Die haben keine Homepage und auch sonst nichts, nur den kleinen Eintrag auf der Fachschaftsseite der Uni Wuppertal, den wir schon gesichtet haben. Ich weiß nicht, auf welche Art die ihr Album vertreiben.«

»Du meinst, wie Eff Eff es vertreiben«, merkte Flex an.

»Das ist eben die Frage. Die Todesfälle wandern mit Fiacail Fhola von Stadt zu Stadt, waren von Anfang an nicht auf Wuppertal beschränkt. Man muss es irgendwie direkt von ihnen beziehen können. Aber wie? Und wer bekommt es?«

»Wie viele Snowine-Leichen haben wir denn inzwischen?«, fragte Simon.

»Über zwanzig«, beantwortete Elsi die Frage.

Alle zogen scharf die Luft ein. Mangels Kontakt mit der Polizei hatten sie die steigende Anzahl der Todesfälle völlig aus den Augen verloren.

»Dit ist heftig«, murmelte Basti. »Allet junge Leute?«

»Ja. Hier natürlich vorwiegend Studenten. Aber die Universitäten haben wir uns ja alle vorgenommen … Bis auf die Tatsache, dass Eff Eff sich auf deren Partys satt trinken, haben wir ja nichts Auffälliges festgestellt.«

»Apropos nichts Auffälliges«, meldete sich Bock zu Wort. »Ich hatte ja an Alea ein Langzeit-EEG vorgenommen. Das Ergebnis ist auch hier: nichts Auffälliges. Warum er nicht aufwacht, ist mir ein Rätsel.« Er rieb sich das Kinn und ergänzte zögernd: »Allerdings – aber das ist allenfalls minimal auffällig – gibt es sehr regelmäßig leichte Veränderungen in den Hirnstromkurven, die sich nach kurzer Zeit wieder glätten. Was ich auch nicht verstehe, ist Aleas ungewöhnlich starke Kreislaufaktivität mit erhöhtem Blutdruck und beschleunigtem Puls. Das ist eigentlich typisch für die Wirkung von Vampirgift.«

Sobald er dieses Wort ausgesprochen hatte, zuckten alle Blicke alarmiert zu ihm.

»Du willst doch net sagen, dass ihn jemand beißt!«, quietschte Lasterbalk entsetzt.

»Nein, ich glaube –«

»Hast du geguckt, ob er Löcher hat? Ja? Ja

»Ich hab keine gesehen! Beruhigt euch. Es wäre auch eigentlich seltsam, denn nicht mal die höchste Dosis Vampirgift würde eine so hartnäckige Bewusstlosigkeit erklären. Es sediert zwar stark, narkotisiert aber nicht dauerhaft.«

Zumindest Falk beruhigte das nicht. »Vielleicht haben ihn viele gebissen! So wie die Putzfrau in Hamm, wisst ihr noch? Bock, in den Hals müssten sie ihn nur zum Trinken beißen, aber um Gift reinzudrücken, langt auch jede andere Körperstelle! Vielleicht haben sie ihn da gebissen, wo man es nicht gleich sieht!«

»Richtig.« Der Arzt sah ihn beeindruckt an. »Interessanter Gedanke. Wäre eine Untersuchung wert. Ich werde mal jeden Teil seines Körpers genau unter die Lupe nehmen. Zugegeben, das wollte ich schon immer mal machen …«

»Bock, wer betreut Alea denn auf der Station? Weißt du das?«

»Ja, es ist diese vorwitzige, rigorose Schwester mit dem schlechten Parfumgeschmack, die euch empfangen hat, als ihr ihn zurückgebracht habt. Ich hab mit ihr zusammen das EEG gemacht. Sie ist immer nachts für ihn zuständig, macht ihn sauber, deckt ihn um und all das.«

»Dann sag ihr, sie darf ihn nicht aus den Augen lassen.« Falk fixierte Bock mit zusammengekniffenen Augen. »Ich weiß, es klingt nach Overkill, aber wir müssen in Betracht ziehen, dass vielleicht jemand … nachts hier reinkommt.«

»Das ist bei dem vielen Nachtpersonal recht unwahrscheinlich, Falk.«

»Trotzdem.«

Bock nickte. »Ist gut, ich kümmere mich drum. Erst mal gehe ich ihn mir jetzt ansehen.«
 

Bock fand Alea unverändert in traumlosem Schlaf vor. Die zwölf Eingangskanäle der Elektroden malten überwiegend langsame Wellen auf den Elektroencephalographie-Monitor, sämtlich Delta-Wellen mit einer Frequenz zwischen 0,5 und 3,2 Hertz. Bock schloss die Tür, damit keine Schwester ihn stören konnte, und untersuchte Alea vom Scheitel bis zur Zehenspitze. Er fand nichts. Keinen einzigen Biss, ganz zu schweigen von mehreren. Auch sonst keine Verletzung. Nichts.

»Ist doch nicht zu fassen«, murmelte der Arzt. »Ich glaube, langsam werden wir alle paranoid.« Kopfschüttelnd überließ er den komatösen Sänger wieder sich selbst.
 

Fritz war nicht entgangen, dass das unheimliche Wikingerblut nicht aus dem HQ verschwunden war. »Wieso behalten wir das böse Zeug?«, fragte er El Silbador, der gerade Laptop-Dienst hatte und dabei war, Falk Adressen von Weinhändlern zu diktieren, die ihr Hyperborea in Landau nicht abgeholt hatten.

»Weil Alex das trinken muss«, antwortete Elsi. »Weißt du das nicht? Er beißt nicht.«

»Oh, doch, ich weiß … Aber ist das nicht verdammt gefährlich?«

»Nein«, sagte Falk, ohne aufzusehen. »Alex tut nichts. Der würde sich die Hauer ziehen lassen, wenn die Mistdinger nicht nachwachsen würden.« Er wandte sich wieder an Elsi. »Wie war die Postleitzahl noch mal …?«

El Silbador wiederholte sie und fügte hinzu: »Wen sollen wir überhaupt dahinschicken? Wer wird das für uns machen?«

»Schandmaul?«, sagte Falk versuchsweise. »Das sind doch unsere Detektive. Nicht gerade toll im Vampire Töten, aber Rumschnüffeln können die richtig gut.«

»Meine Frau mag die Band«, sagte Fritz. »Sind denn alle Kapellen aus dem Genre bei der MIU?«

»Nein. Manche arbeiten uns auch einfach nur zu, wenn es sich ergibt, Letzte Instanz zum Beispiel. Es gibt viel mehr Eingeweihte als Mitarbeiter, aber du wirst bestimmt nie alle kennen lernen.«

»Haben die auch alle so …« Fritz senkte die Stimme, weil er nicht wusste, ob er den beiden Musikern damit zu nahe trat. »… dumme Namen wie ihr?«

»Dumme Namen?«, fragte Elsi verständnislos lächelnd. »Wieso dumm?«

»Naja, ihr seid die Einzigen, die immer die Codes benutzen. Ich meine, Falk, wie heißt du richtig

»Die Vollversion Falk Irmenfried von Hasenmümmelstein«, gab Falk augenzwinkernd zurück.

»Haa haa«, erwiderte Fritz gekränkt.

»Falk war wirklich ein Aristokrat, bevor er zum Vampir wurde!«, erklärte El Silbador stolz, als wäre das sein persönlicher Verdienst.

Falk nickte gewichtig. »Lieber ein schöner, langer Name als so was Komisches wie … Asp

»Ja, das ist auch komisch«, musste Fritz einräumen.

»Naja. Asp war im jetzigen Leben Alex’ Autorenkürzel in der Schülerzeitung, aber wir glauben, dass es gleichzeitig die ersten drei Buchstaben seines Wahrnamens sind. Oder ein Akronym. Wir haben schon ganze Abende damit zugebracht, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Irgendwie fangen nur blöde Wörter mit Asp an: Asphalt … Aspiration … Asphyxie … Asperger-Syndrom … Aspartam … Aspirin …«

»Ich google das mal.« Elsi tippte etwas in den Laptop. »Hmm … Also, ASP ist kurz für: Abenteuerspielplatz … Afrikanische Schweinepest … den Flughafen Alice Springs … Amnesic Shellfish Poisoning, die toxische Wirkung essbarer Meerestiere … Antisoziale Persönlichkeitsstörung … den Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik der CSU … Aufbauseminar für punkteauffällige Kraftfahrer …«

»Und für Astralpunkte bei DSA«, ergänzte Falk.

»Wie auch immer, alles Blödsinn. Wir werden es nie rauskriegen. Schade, ein ewiges Rätsel der Menschheit.«

Falk zuckte die Schultern. »Also wenden wir uns lieber wieder der Arbeit zu. Elsi, sag Anna und Birgit bescheid, damit sie rauskriegen, wo das echte Hyperborea landet. Ist ja bestimmt auch in ihrem Interesse, wenn sie das falsche nicht mehr trinken müssen.«

»Vielleicht sollten wir ihnen was von dem Bockmist schicken«, grinste El Silbador. »Frauen stehen doch auf Diät-Shakes.«

»Psssst … Lass Bock nicht hören, dass wir so über sein Essen meckern.«

Fritz ließ die beiden Saltatio-Mortis-Musikanten allein. Seiner Meinung nach waren die beiden für die Situation unangemessen guter Dinge. Eigentlich gab es rein gar nichts zu lachen: Falsche Vampirnahrung mit schlimmen Nebenwirkungen, keine Alternativen, über zwanzig Tote, ohne dass man die Serie unterbrechen konnte, zu wenig Verbündete, zu wenig Antworten, zu wenig Hinweise, Hetzaktionen gegen Vampire, Alea war grundlos ausgeschaltet, Eric und Micha waren schlicht verschwunden, Buschfeldt war dauergereizt, es fehlte an wirksamen Waffen, es fehlte eigentlich an allem

Fritz merkte, dass sich diese Liste schier endlos fortsetzen ließ. Vielleicht lachten Falk und Elsi deshalb so viel: Sie wussten, dass sie schon bald gar nichts mehr zu lachen haben würden.
 

Im labyrinthartigen, unterirdischen Versteck von Fiacail Fhola, wo es weder Tag noch Nacht gab, erwachte Eric wiederholt aus einem flachen, unruhigen Schlaf. Es war schwierig zu schlafen, wenn man rund um die Uhr von grellem, künstlichem Licht beleuchtet wurde, aber ebenso schwierig, nicht zu schlafen, wenn man Stunde um Stunde ohne jede Abwechslung in einer kleinen, nur mit Stroh vollgestopften Gitterzelle sich selbst überlassen wurde. In unmittelbarer Reichweite stand eine Tasse mit schwarzem Tee, der inzwischen kalt war. Eric überlegte, ob er die Hand danach ausstrecken sollte; der Tee war bisher das Einzige, das man ihm gegeben hatte, aber er sah nicht ein, mehr davon zu trinken als nötig. Vielleicht wollten sie ihn an das Getränk gewöhnen und es später nach und nach mit irgendwelchen Drogen versetzen, um ihn gesprächig zu machen. Als Geheimdienstler kannte Eric viele Tricks, die von Kriminellen gerne angewandt wurden.

Kurz nachdem er sich entschieden hatte, den Tee weiterhin stehen zu lassen, wusste er wieder, was ihn diesmal geweckt hatte. Es waren Schritte im Raum nebenan gewesen, Schritte, die er inzwischen kannte: die watschelnden der dicklichen Frau und die des dünnen, rotnäsigen jungen Mannes, der ihn und Micha ausgeknockt hatte. Sie schienen zu Frais’ engsten Vertrauten zu gehören. Wenn sie sich im Zimmer nebenan aufhielten, wusste Eric immer, was das bedeutete: Sie versuchten, an Informationen zu gelangen.

Auch diesmal hatten sie damit keinen Erfolg.

Eric hörte Micha heiser schreien: »Eher beiße ich mir die Zunge ab, ihr Wichser!!«

Danach war es wieder gespenstisch still.

Wenn sie mit ihm durch sind, dachte Eric, bin ich dran. Wenn er nicht redet, hat er keinen Wert für sie, also werden sie ihn einfach verhungern lassen und sich dann mich vornehmen. Ob ich irgendwas tun kann? Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Ob sie ihm Blut geben, wenn ich rede? Aber was sollte er ihnen erzählen? Die Wahrheit verbot sich von selbst. Wie viel wussten sie überhaupt? Ohne das zu wissen, konnte man ihnen nichts vorspinnen. Und außerdem: Wenn Eric jetzt nachgab, untergrub er damit den heldenhaften Widerstand, den Micha Frais und seiner Bande entgegensetzte, und machte ihn sinnlos. Dann wäre das Leid umsonst gewesen …

Einmal mehr hatte Eric das Gefühl, in Hoffnungslosigkeit zu ertrinken. Es gab keine Chance, hier herauszukommen – nicht als Mensch. Würden die anderen ihn und Micha überhaupt vermissen? Würden sie sie suchen? Konnten sie das überhaupt, wenn kein Hyperborea verfügbar war?

Plötzlich musste er mit aller Kraft eine ihn überwältigende Verzweiflung niederringen. Sie schlang sich um seine Brust wie eine Drahtschlinge, ein eisernes Band, aus dem es kein Entkommen gab. Er musste heftig durch den Mund atmen, weil er plötzlich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen.

Dann trat plötzlich ganz leise jemand in den Raum. »Eric?«

Der Augenblick gefror.

Eric starrte die schlanke, dunkelhaarige Frau an. Er wollte seinen Augen nicht trauen. »Silke?« Er konnte das Wort selbst kaum verstehen. Sein Hals war ganz trocken, weil er so lange nicht gesprochen hatte.

Frau Schmitt hob ihren langen Zeigefinger an die Lippen. »Bleib ruhig, Eric. Ich sorge dafür, dass du hier rauskommst.« Dann zog sie sich wieder auf Zehenspitzen zurück.

»Silke, warte – …«, krächzte er, doch sie warf ihm einen warnenden Blick zu, der sofort wieder weich wurde.

»Pssst. Alles wird gut«, versprach sie flüsternd. Und verschwand.



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