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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Wein aus Schnee ist auch falscher Wein

Der jüngst angebrochene Tag versprach, ein Tag der Untätigkeit, Ergebnislosigkeit und quälender Unwissenheit zu werden. Die MIU-Leute gaben sich nicht der Illusion hin, dass von der Dresdener Polizei oder den sächsischen Verfassungsschutz-Kollegen viel Hilfe kommen würde. Ein jeder hielt die Finger still, wenn die MIU am Zug war. Niemand wollte in eine ›X-Akte des BfV‹ mehr als nötig involviert sein.

Fritz übte mit Flex und Lange ein wenig Vampirverhalten, bis Bock an Alea sämtliche Weckmaßnahmen erfolglos durchprobiert hatte.

»Also, Bock hat ein Auge auf euch, dann spiele ich euch jetzt das Snowine-Album ab«, kündigte Yellow Pfeiffer an und koppelte einen der beschlagnahmten MP3-Player mit seinem Laptop.

»Ich hoffe mal, dass du kein Kaugummi mehr in den Ohren hast«, sagte Asp zu Fritz.

»Kaugummi … Moment mal! Bock?«

Der Arzt, der grübelnd vor sich hinstarrte, sah auf. »Hmmm?«

»Könnte es sein, dass Alea nicht aufwacht, weil …« Fritz senkte die Stimme. »… Kaugummi in sein Gehirn eingedrungen ist?«

Bock warf ihm einen halb-enttäuschten, halb-verblüfften Blick zu. »So eine dumme Frage kannst auch nur du stellen, Schätzchen.«

Kurz darauf setzte das musikalische Inferno ein, das Snowine ihr Debüt nannten. Aus dem Rest des grauen Flurs drangen angewiderte Geräusche, und jemand rief: »Macht den Scheiß gefälligst leiser!«

Pfeiffer korrigierte die Lautstärke nur minimal. »Bei allen Geräten war die Musik ziemlich laut eingestellt. Wir müssen die Bedingungen also bestmöglich imitieren.« Er wirkte gelangweilt.

Während Bock sich die Ohren zuhielt, schien Asp der brachialen Musik aufmerksam zuzuhören. »Ungewöhnlich ist jedenfalls nichts daran. Fritz, kommt dir irgendwas davon bekannt vor?«

Das musste Fritz verneinen. »Ich kann mich nur an den Rhythmus erinnern, und der war anders. Jesus und Maria, müssen wir uns das ganze Album von vorne bis hinten anhören?«

»Ich fürchte ja.«

»Naja, ich lass euch mal euren Spaß mit Snowine haben«, sagte Boris und stand auf. »Muss mir das nicht noch mal antun, einmal reicht.« Damit verließ er den kleinen unterirdischen Raum und schloss, vermutlich zur Erleichterung der anderen jenseits des Flurs, die Tür hinter sich.
 

Als Lasterbalk endlich die Leiterin der Weinkelterei in Landau erreichte, war sein Geduldsfaden bereits arg überspannt. In diesem Laden schien gerade so einiges schief zu laufen. Offensichtlich wusste dort keiner, was der andere tat. Bis die Chefin das Gespräch entgegen nehmen konnte, war fast eine Dreiviertelstunde vergangen.

Lasterbalk verlor daher keine Zeit und erklärte ihr sachlich, was er eigentlich wollte. Über das Projekt Hyperborea wusste in dem Unternehmen längst nicht jeder bescheid. Zum Glück gab die gute Frau sich demütig, weil sie ihn so lange hatte warten lassen, und beantwortete dann prompt seine Frage, warum angeblich kein Hyperborea mehr hergestellt wurde.

»Selbstredend wird es hergestellt!«, belehrte sie ihn entrüstet. »Wir haben keine anderen Anweisungen erhalten, also produzieren wir wie gewohnt. Das Vinzentius-Krankenhaus schickt uns das aufbereitete Blut, und wir mischen es mit unserem Qualitätswein und erlesenen Zutaten – wie schon seit Jahrzehnten.«

Diese Antwort verwirrte Lasterbalk, stand sie doch im kompletten Gegensatz zu der Erklärung, die ihm in absolut allen besuchten Getränkeläden aufgetischt worden war. »Und Sie liefern es auch aus?«, hakte er nach.

»Ja, natürlich!« Dann machte die Frau eine kurze Pause. »Allerdings haben wir auch ein paar Selbstabholer, und die … naja, die haben ihre Bestellung jetzt seit ein paar Wochen nicht abgeholt. Deshalb geht hier alles drunter und drüber, wissen Sie. Wegen des Überschusses müssen wir andere Produkte umlagern. Leider erreichen wir diese Händler nicht, sehr ärgerlich. Solche Kommunikationsfehler stören den ganzen Betrieb.«

»Hm … Merkwürdig.« Lasterbalk fing an, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln – mal langsam, mal schnell. Der Wein wurde also ausgeliefert und die Annahme bestätigt, doch die Selbstabholer ließen ihn links liegen … »Erreichen Sie gar keinen von den Selbstabholern?«

»Nein, keinen«, gab die Dame zögerlich zu. »Es ist … schon etwas seltsam.«

»Wären Sie bereit, der MIU die Kontaktdaten zu übermitteln?«

»Oh, das dürfen wir nicht … aus Datenschutzgründen unserer Kunden …«

»Dann geben Sie mir so viele allgemeine Informationen wie möglich, ohne gegen die Vertragsbedingungen zu verstoßen. Das BfV kann den Rest auch selber rausfinden.« Eine Diskussion mit der Tante würde nur Zeit kosten. Besser, sie kooperierte fügsam und durfte ihr reines Gewissen behalten.

»In Ordnung, das kann ich machen«, willigte sie ein. »Und es wäre mir lieb, wenn Sie mich informieren würden, sollten Sie die Sache aufklären.«

»Ja, natürlich.« Lasterbalk beendete das Gespräch, legte das Handy hin und ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken. »Oh, was für ein blöder Mist.«

Falk musterte ihn dumpf. »Lass mich raten: Mysteriöse Umstände.«

»Jap … Scheint, als hätte jemand von außerhalb das mit dem Wikingerblut im Griff. Unser Zeug geht zwar raus, wird aber wahrscheinlich abgefangen. Ach, Scheiße.« Er rieb sich die Schläfen. Der Tag fing nicht gerade positiv an.

»Und was soll sie uns jetzt schicken?«

»Hoffentlich vage Hinweise auf die Abnehmer, die ihre Bestellungen normalerweise selber abholen und es jetzt net machen. Nur bei denen können wir ansetzen, denn denen muss irgendwie in den Kopf gesetzt worden sein, dass sie kein Hyperborea mehr einkaufen sollen.«

Falk wirkte nur mäßig begeistert über diesen Erfolg. »Das zu verfolgen wird uns viel Zeit kosten. Und uns von Fiacail Fhola ablenken.«

»Ja.« Lasterbalk sah zur Tür. »Bin ich eigentlich der Einzige, der da einen Zusammenhang vermutet?«

»Nein … Aber ich hoffe für uns alle, dass wir uns täuschen.«
 

Fritz war es mehr als zuwider, Snowines Musik zuzuhören. Er konnte verstehen, dass außer ihm, Asp und Bock alle das Weite gesucht hatten. Alle paar Minuten erkundigte der Arzt sich pflichtbewusst, ob es den beiden noch gut ging, und nahm sogar, um die Antwort zu hören, kurzzeitig die Hände von den Ohren.

Ich kann verstehen, dass an der Musik Leute sterben, dachte Fritz voller Abscheu. Sie fühlte sich an, als würden einem der Gehörgänge mit einer Laubsäge in feine Scheibchen geschnitten.

Als endlich nach dreiundvierzig Minuten und sechzehn Sekunden – Fritz’ Empfinden nach war es ein halber Tag gewesen – das letzte Lied verklungen war und kein weiteres einsetzte, atmeten alle erleichtert auf.

»Argnz«, grunzte Bock, der Schweißflecken unter den Achseln hatte, nahm seine verkrampften Hände vom Kopf und schüttelte sie. »Was lange währt, wird endlich gut. Wieder ist keiner gestorben. Wir müssen wohl einsehen, dass diese Wuppertaler Studenten nicht die Übeltäter sind.« In hohen Tönen seufzend verließ er den Raum, vermutlich nur, um sich einen Tee zu holen.

»Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen«, gestand Asp. »Warum wollen Fiacail Fhola tödliche Musik entwickeln? Soll das eine Waffe sein? Gegen wen? Uns? Alea? Jemand ganz anderen?« Ratlos schüttelte er den Kopf und rieb sich die Finger.

Fritz hatte es lange aufgegeben, darüber nachzudenken. »Ich stelle mir im Moment noch ein halbes Dutzend anderer Fragen, ehrlich gesagt. Außerdem, wieso helfen uns diese Leute von Fírinne nicht? Eric und Micha haben sich gar nicht mehr gemeldet.« In leisem Trotz fügte er hinzu: »Micha scheint völlig egal zu sein, was mit mir passiert. Von wegen, es wäre seine Natur, mich zu verteidigen.«

Asp sah zu ihm herüber und erwiderte seinen Blick, sagte jedoch nichts dazu. Vermutlich wusste er auf diese Frage ebenfalls keine Antwort.

»Alex«, begann Fritz, als ihm ein Gedanke kam. »Wenn du nie jemanden beißt … bedeutet das, dass du den Beißzwang unterdrücken kannst? Kann man das als Vampir, wenn man sich genug Mühe gibt?«

»Hm.« Asp sah beiseite. »Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Theoretisch nein. Niemand kann das. Wenn man dazu aufgefordert wird, muss man beißen. Und immer, wenn ich unter Menschen bin, hoffe ich, dass das nicht passiert.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich glaube aber … oder sagen wir, ich bin eigentlich sicher, dass es sich mit dem Beißzwang so ähnlich verhält wie mit den Lockstücken. Dass es einen gewissen … Abnutzungseffekt gibt. Wenn einen immer wieder dieselbe Person zum Biss einlädt, dann kann man, denke ich, irgendwann dem Impuls widerstehen. Früher oder später … je nachdem, wie stark und alt man ist. Tja, aber so ist das Leben nun mal nicht: Es sind immer andere Leute, die einen Biss wollen.« Er zuckte die Schultern.

Fritz wollte gerade über diese Antwort nachdenken, als unerwartet wieder Musik aus den Lautsprechern des Laptops drang. Bedrohlich anschwellend kroch ein von Geigenklängen untermaltes Intro in Fritz’ Ohr, und er wurde vor Schreck ganz starr.

»Ein Hidden Track«, kommentierte Asp und wirkte überrascht. »Das ist interessant.«

Fritz fand das alles andere als interessant, mehr noch, er fand es geradezu erschreckend, denn der Rhythmus war ihm vertraut, hatte er doch selbst eine klebrige Schicht durchgekauten Kaugummis durchdrungen. »Lex, ich glaube –«, begann er zögernd, da bemerkte er schon die erste Wirkung: Sein Puls beschleunigte sich, und er hatte das Gefühl, dass sein Blut anfing zu kochen. Angst stieg wie aus dem Nichts in ihm auf, eine unvergleichliche Panik, die seinen ganzen Körper in so heftiges Schlottern versetzte, dass er vom Stuhl rutschte wie ein Epileptiker.

Asp reagierte äußerst schnell und überlegt. Er ging geradewegs zum Laptop und beendete die Wiedergabe, ehe er sich zu Fritz bückte und ihn aufhob.

Hinter Fritz’ Stirn explodierten immer noch Feuerwerke. Sein Puls raste, und er hatte keine Ahnung, wo er war oder was überhaupt passierte. Es fühlte sich an, als hätte jemand saures Brausepulver in sein Blut geschüttet.

Asp trug ihn direkt zum Bockshof, legte ihn auf den Tisch und rief energisch nach dem Arzt, der auch sofort angelaufen kam und glücklicherweise sofort erfasste, was los war.

»Da haben wir also die Wirkung, die wir sehen wollten! Schnell, beiß ihn!«

Asp wich zurück. »Bitte? Du weißt genau, dass ich das nicht machen werde.«

»Nicht mal zu medizinischen Zwecken?« Bock fühlte Fritz den Puls und legte die Stirn in Falten.

»Nein. Ich habe meine Prinzipien. Gib ihm einfach eine Beruhigungsspritze.«

»Neineinein, es geht doch gar nicht um die Sedierung – du sollst sein Blut kosten, bevor die verräterischen kleinen Stresshormone alle wieder abgebaut sind!«

»Achso, sag das doch gleich.« Wieder zückte Asp sein kleines Messer und ritzte Fritz’ Daumenkuppe, um einen Tropfen Blut herauszudrücken und sich diesen von der Fingerspitze zu lecken. »Ah ja … Allerdings ungenießbar.«

»Danke, mein Lieber. Mission accomplished

Fritz sah nur noch durch einen roten, pulsierenden Schleier, wie der Arzt eine Spritze aufzog und sie ihm zwischen Schulter und Nacken verabreichte. Eigentlich hatte Fritz große Angst vor Nadeln, doch jetzt war er unendlich dankbar, als nur Sekunden später eine himmlische Ruhe über ihn hereinschwappte. Er seufzte tief und entspannte sich. »Aaahh … danke …«

»Dank dem Entdecker des Valiums.« Bock zerlegte die Spritze und entsorgte sie. »So, ihr habt das böse Lied also gefunden?«

»Es ist ein Ghost Track, der nach einer langen Pause einsetzt«, bestätigte Asp. »Ich werde ihn mir mal genauer anhören. Mir geht’s gut, also wirkt er vielleicht nur bei Menschen. Kommt am besten nicht rein, ohne anzuklopfen.«
 

Eric Fish hob mühsam ein Augenlid, danach das andere. Nur langsam nahm seine Umgebung schemenhaft Gestalt an. Es war ein fensterloser, weiß gekachelter Raum, und er sah zwei Tische voller ihm unbekannter Apparaturen; kurz danach setzten auch seine übrigen Sinne wieder ein, und er merkte, dass er auf einer Holzpalette saß, vermutlich als Schutz gegen die Bodenkälte, den Rücken an der Wand. Die Haltung war unbequem und schmerzte ihm in den Gliedern, doch als er versuchte, durch vorsichtiges Bewegen wieder Leben in seine Arme und Beine zu bringen, stellte er fest, dass er sich nicht großartig rühren konnte.

Natürlich nicht. Er war gefesselt. Und zwar Seite an Seite mit Michael Rhein, der zerzaust und mit hängendem Kopf neben ihm saß und offenbar weit langsamer zu Bewusstsein kam. Sie waren mit kratzenden, starren Hanfstricken aneinander gebunden, sowohl an Handgelenken als auch Füßen. Da die Faser so unflexibel war, ließ sich das Seil um keinen Millimeter lösen. Wer es angelegt hatte, verstand sein Handwerk: Eric ertastete den professionellen Fesselknoten mit zwei leeren Schlingen und einem Überhandknoten, sorgfältig platziert, sodass er keine Blutgefäße abdrückte.

Eric versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Er und Michael hatten Fírinne nach Coschütz begleitet. Aber die hatten sie doch nicht gefesselt, oder? War danach nicht noch etwas anderes passiert? Ja, sie waren auf dem Rückweg gewesen … und plötzlich … Nein, hier endete seine Erinnerung.

Mit leisem Quietschen öffnete sich die Tür an der rechten Wand, und Eric hob alarmiert den Kopf. Eine aufgeschwemmte Frau mit weißer, poriger Haut und kleiner runder Nase kam herein. »Na endlich«, kommentierte sie mit unerwartet hoher Stimme, die ein bisschen an eine Cartoon-Ente erinnerte. »Wir haben schon gedacht, die Dosis wäre zu hoch gewesen.«

Chloroform, dachte Eric, und ganz kurz durchlief ihn ein Schaudern. Schlagartig erinnerte er sich an den süßlichen Geruch. Das erklärte, warum ihm noch immer schwindelig war und sein Herzschlag in seinen Ohren dröhnte. »Was wollt ihr?«, fragte er schwach.

»Das weißt du genau, Herzchen«, grinste die Pummelige. Vom linken der Tische hob sie etwas auf und wedelte damit; es war Sonnenauge, unverkennbar an dem goldenen Griff. »Vor ’ner Weile sind vier von euch hier eingebrochen und haben unsere Gefangenen mal eben mitgenommen«, keckerte die Frau. »Das wird nicht noch mal passieren. Wir wissen, wo ihr euch versteckt, und eure Freunde sitzen jetzt schön auf dem Präsentierteller!«

Eric bemühte sein Hirn und setzte angestrengt die hingeworfenen Teile des Puzzles zusammen. Also waren seine Kollegen in das Versteck vorgedrungen – aus irgendeinem Grund hatten sie erfahren, wo es sich befand –, und Alea befreit. Das zumindest war gut. Dass die Frau gerade von Gefangenen in der Mehrzahl gesprochen hatte, ergab erst mal keinen Sinn, würde aber jetzt ohnehin nicht zu klären sein. Wichtiger war jetzt, dass sie wieder ging und ihn mit Michael allein ließ. Denn dann

»Bei deinem Freund haben wir das hier gefunden«, fuhr die Dicke fort und hielt einen Gegenstand hoch, den Eric erst gar nicht erkennen konnte; dann jedoch glaubte er, einen kleinen Schlüssel zu sehen. »Wir werden schon noch rausfinden, was man damit aufschließt! Willst du es mir nicht lieber gleich sagen? Ist es der Hauptschlüssel für das Krankenhaus, in dem ihr hockt?« Sie winkte mit dem kleinen Gegenstand.

»Ich weiß es nicht«, gab Eric verdrossen zurück. »Mich interessiert nicht, was dieser Mann mit seinen Schlüsseln macht.« Er nickte zu Michael. »Vielleicht passt der Schlüssel zu einer Schublade, in die er Sachen einschließt, die seine Frau nicht sehen soll – was weiß ich?«

Die Dicke lachte. »Ich glaube, wir werden deinen Freund einfach selber danach fragen. Es ist ja nicht so, als hätten wir es eilig.« Kichernd legte sie die Sachen, die den beiden Gefangenen abgenommen worden waren, wieder ordentlich auf den Tisch. »So, dann werde ich mal den Chef benachrichtigen, damit er, sobald er Zeit hat, einen Blick auf euch werfen kann. Er wird sich freuen, dich wiederzusehen. Hat nicht vergessen, dass du ihn damals blind geschossen hast. Die ganze Woche, bis er wieder sehen konnte, hat er dich andauernd verflucht, ihihi. Bis bald.«

Eric sah ihr nach, wie sie zur Tür watschelte und erhobenen Hauptes hinausging. Jetzt fühlte er sich erst recht erschöpft. Der Gedanke, ein Gefangener von Fiacail Fhola zu sein, gefiel ihm überhaupt nicht – doch noch gab es Hoffnung.

Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wandte Eric sich an Michael und stieß ihn energisch mit der Schulter an. »Hey! Rhein! Wach auf, los!«, zischte er ihm ins Ohr.

Michael öffnete träge die Augen. Er sah furchtbar aus, viel furchtbarer als Eric sich fühlte. »Mmmmm … Scheiße, wir sind bei Eff Eff …«

»Gut erkannt. Aber sie wissen noch nicht, dass du ein Vampir bist. Mich haben sie erkannt, an meiner Waffe … aber du hattest nur einen Schlüssel bei dir, und die Tussi und ihre Leute sind dir wohl damals nicht begegnet oder erinnern sich nicht an dich. Du musst uns hier rausholen!«

Michael stöhnte leise. »Ja, ich hab’s extra drauf angelegt, dass die mich nicht als Vampir erkennen … Haben uns wohl einem Team aus Menschen überlassen …«

»Hol uns hier raus!«, wiederholte Eric in scharfem Ton. »Los, reiß die Fesseln durch!«

»Ich kann nicht«, murmelte Michael. »Ich hab keine Kraft. Sorry.«

Eric biss wütend die Zähne zusammen. »Sorry? Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Mit stechendem Blick über die Schulter fixierte er seinen Kollegen, nur um festzustellen, dass dieser wirklich – bei genauerem Hinsehen – furchtbar kraftlos wirkte. Und der Ton, mit dem er sich soeben freiwillig entschuldigt hatte, passte auch nicht; Michael war gewöhnlich viel zu stolz, um sich Eric gegenüber schwach zu zeigen, doch jetzt tat er genau das. Er klang jämmerlich. Und Eric dachte: Jammerphase. Dies war die einzige denkbare Situation, in der jeder Vampir schlagartig allen Stolz verlor. Außerdem, und das fiel dem blondierten Sänger jetzt ebenfalls auf, ging von dem Körper neben ihm erschreckend wenig Wärme aus. »Michael!«, sagte er alarmiert, als er begriff, was das alles bedeutete. »Verdammter Dreck, kann es sein, dass du kalt wirst? Du – du bist doch erst einen Tag ohne Blut, oder …?«

»Nee«, gab Micha die Antwort, von der Eric gehofft hatte, sie würde ausbleiben. »Fast drei … Hyperborea ist alle, und es gibt kein neues …« Er fing an zu zittern und zu schlucken. »Es tut beschissen weh«, sagte er unglücklich.

Für Eric bestand nun kein Zweifel mehr: Ja, Michael jammerte. Und wenn noch ein Beweis dafür nötig gewesen war, dass es ihm so richtig schlecht ging, dann lag er jetzt vor. Sie steckten tief im Dreck.

Eric knirschte mit den Zähnen. Auch wenn er zornig war, hatte er jetzt vor allem Mitleid. Er hatte bereits Vampire aushungern sehen und konnte sich farbenfroh ausmalen, wie schlimm der Blutdurst sich anfühlten musste.

Allerdings fiel ihm die Lösung des Problems nur eine Sekunde später ein. Sie war völlig offensichtlich und so naheliegend, dass nur sein benebeltes Hirn daran Schuld sein konnte, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Er und der Vampir waren zwar im Sitzen gefesselt, aber dafür unmittelbar nebeneinander, und Micha würde sich immerhin nicht großartig verrenken müssen. »Also gut«, zischte er in das mit Silber behängte Ohr, »wir wissen wohl beide, was das bedeutet. Verlieren wir keine Zeit. Du darfst mich beißen.«

Er hatte erwartet, dass Michael dieses Angebot sofort annehmen würde, hungrig wie er war. Umso verblüffter war er, als der Vampir nur ein gequältes Stöhnen ausstieß. »Ja, das hättest du wohl gern … du Gift-Junkie.«

Eric sah ihn verständnislos an. »Michael, was soll das? Ich will uns befreien und du fängst an mit solcher Kinderkacke? Hat der Blutdurst dir schon das Hirn vernebelt?«

»Als ob ich dich nicht jederzeit beißen könnte, Hecht … Ich hab doch für dich keine Beißhemmung …«

Unglaublich, dass Micha jetzt für so etwas Zeit hatte. Eric fühlte langsam Panik in sich aufsteigen. »Du bist ein selten dämlicher Spacken, weißt du das?«, schnappte er. »Na schön, wenn’s nicht anders geht: Michael Robert Rhein, ich bitte dich hiermit, mich zu beißen und mein Blut zu trinken!« Ordentlicher konnte man es nicht formulieren. Jetzt musste dieser Blödmann tun, was nötig war!

Doch wieder kam es anders. Mit heiserem Aufstöhnen wandte Micha sich ab und schlug stattdessen die hervorschnappenden Fangzähne in seine eigene rechte Schulter. Dort ließ er sie mit dumpfem Murren, heftig atmend und bebend, aber so beherrscht wie nur irgendwie möglich. »Neing!«, presste er hervor. »Neing, vergisch esch, Fisch!«

Eric verstand die Welt nicht mehr. »Warum zum Teufel kannst du eine Einladung zum Beißen ablehnen?«, fragte er ungläubig. Dieses neue Phänomen verwirrte ihn vollends.

Mit immenser Beherrschung löste Micha die Zähne aus seinem Fleisch und ignorierte, dass die Wunde blutete. »Abneigung«, erklärte er keuchend. »Abneigung gegen dich, seit damals. Du kannst mich nicht mehr zwingen, dich zu beißen, Fisch. Nie wieder

»Was? Das kann nicht dein Ernst sein!« Eric fühlte seine Pulsfrequenz weiter steigen. »Michael, deine Halsstarrigkeit wird uns das Leben kosten!«

»Das kann ich nich’ ändern … Abneigung ist Abneigung …«

»Wir werden sterben, du elender Bastard!«, schrie Eric ihm ins Ohr.

Micha presste nur die Kiefer zusammen.

»Na schön!« Eric war noch nie in seinem Leben so wütend und verzweifelt zugleich gewesen. »Wie du willst! Hoffentlich bleiben wir noch so lange zusammengebunden, bis du in die Phase kommst, in der du vor Hunger wahnsinnig wirst und solche Schmerzen hast, dass du sogar deine Mutter beißen würdest! Vielleicht holst du uns dann hier raus!« Schon während er das sagte, wusste er, dass es dazu nicht kommen würde. Dieses Spiel hier war gespielt, und sie hatten verloren. Weil Micha die Regeln brach. Wieder einmal.

Nur wenige Minuten nach der lautstarken Auseinandersetzung kam die wabbelige Frau wieder herein, und sie hatte einen muskelbepackten, vollbärtigen Mann im Schlepptau. »Guck dir das an, Conall. Deine Leute haben einen Vampir an einen Menschen gefesselt! Ist dir klar, was hätte passieren können? Die können längst über alle Berge sein!«

»Meine Leute werden ihre Strafe kriegen«, knurrte der Koloss. »Ich werde die beiden sofort trennen.« Als er näher kam und sah, dass Micha sich selbst in die Schulter gebissen hatte, grinste er höhnisch. »Na, wollte dein Mensch dich nicht ranlassen? Ist schon scheiße, wenn Fresspakete so aufmüpfig sind, was?« Mit brüllendem Lachen zerriss er mühelos die Stricke, die Michael an Eric knüpften, und hob den Vampir vom Boden auf, der nach all der Anstrengung erst recht keine Gegenwehr mehr leisten konnte.

»Du hast uns zum Tode verurteilt«, zischte Eric und wusste, dass Micha ihn sehr wohl hören konnte. »Ich hoffe, das ist dir klar. Denk daran, wenn es unerträglich wird!«

Laut lachend verließ der Vampir namens Conall den Raum, und die schlaffe Frau folgte ihm mit süffisantem Grinsen. »Mit dir, Blender, befassen wir uns später«, säuselte sie an Eric gewandt und riss die Tür hinter sich zu.
 

»Also«, erklärte Asp den anderen, als der Nachmittag anbrach. »Das Lied, mit dem Snowine – beziehungsweise Fiacail Fhola – töten können, ist ein relatives einfaches Stück im Vier- und Sechsviertel-Takt, dem die Bluestonleiter zugrunde liegt. Ich weiß nicht, was daran tödlich ist, aber ich hab gesehen, wie es bei Fritz gewirkt hat.«

Fritz duckte sich ein wenig.

»Der Text«, fuhr Asp fort, »ist schwer zu verstehen, weil der Gesang verzerrt ist, was wir ja aus dem Genre nicht anders erwarten. Ich denke, ich hab ihn entschlüsselt. Das Lied handelt von Vampiren, die das Blut von Wikingern trinken wollen, genau genommen von Berserkern – das sollen Menschen sein, die sich beim Kampf in eine Art Blutrausch versetzen und es problemlos mit Vampiren aufnehmen. Da diese Berserker im Liedtext als hervorragende Vampirtöter dargestellt werden, haben wir hier wieder mal ein Motiv, das wir kennen: Man will sich das, was man fürchtet, einverleiben und es somit entschärfen, vielleicht sogar für sich selbst nutzen. Die Vampire wollen das Blut dieser Wikingerkrieger trinken und schaffen es auch, sodass sie in der letzten Strophe, genau wie die Berserker vorher, in einen rücksichtslosen Blutrausch fallen. Sie schlachten blind drauf los … und töten sich gegenseitig, bis keiner übrig ist.«

Alle Umsitzenden starrten ihn an.

»Oh, nein«, sagte Falk, und dann noch einmal lauter: »Oh, nein! Das Wikingerblut!«

»Ja«, nickte Ingo Hampf düster, »genau das habe ich gerade auch gedacht. Als wir im Versteck von Eff Eff waren, und ihr hattet kurz vorher dieses Zeug getrunken … da seid ihr abgegangen wie die Bestien.«

Lasterbalk stöhnte auf und warf den Kopf in den Nacken. »Heilige Scheiße! Alles hängt zusammen! Dieses falsche Wikingerblut soll uns in Monster verwandeln! Die wollen, dass wir uns alle gegenseitig umbringen … und dass wir das grausame Bild, das sie durch ihre Leichenfledderei verbreitet haben, vor aller Augen bestätigen! Die wollen, dass man uns aus dem Verkehr zieht!«

»Falls wir es nicht vorher selber tun«, ergänzte Asp, »indem wir zum Beispiel unsere menschlichen Kollegen oder andere Verbündete auf unappetitliche Weise in Stücke reißen.«

Falk wandte sich an Dr. Saltz. »Du musst das Zeug untersuchen, Bock, und rauskriegen, was da drin ist. Es gibt bestimmt ein Labor hier in der Klinik.«

»Mache ich«, nickte der Arzt.

»Und wie, bitte schön, wollt ihr satt werden, wenn ihr das Getränk verschmäht?«, fragte Buschfeldt drohend.

Die Vampire erwiderten seinen Blick schuldbewusst. »Boss«, sagte Simon zaghaft, »du darfst uns nicht zwingen, das zu trinken.«

»Davon war nie die Rede. Ich bin lediglich der Auffassung, dass ihr euch ein wenig in Enthaltsamkeit üben solltet, bis die Krise überstanden ist. Da mir die körperliche Gesundheit meiner Mitarbeiter am Herzen liegt«, verkündete der Direktor, und sein eisiger Blick strafte das Gesagte Lügen, »werde ich wohl erreichen können, dass die Klinik uns Blutkonserven überlässt … was sie nicht gerne tun wird. Unser eigener Vorrat ist beschränkt, nehme ich an.«

»Arg beschränkt«, nickte Bock. »Aber ich glaube nicht, dass die Klinik Vollblut lagert. Das wäre unzweckmäßig, weil es nicht lange haltbar ist. Falls man uns Erythrozyten-Konzentrate zur Verfügung stellt, müssen wir sie mit Nährstofflösung mischen, sonst werden die Vampire nicht richtig satt.«

Buschfeldts Miene wurde noch finsterer. »Ist das teuer?«, brummte er.

»Ähm … ja.«

»Dann halten wir unsere Blutsauger besser kurz.«

Wieder senkten alle Vampire gleichzeitig den Blick, als würde ein dunkler Vorhang fallen. Fritz sah, wie unglücklich sie darüber waren, dass ihre Ernährung Probleme bereitete. Allerdings verstand er nicht, weshalb Buschfeldt jede Gelegenheit nutzte, seinen Daumen in die Wunde zu drücken. Hatte er denn noch nicht begriffen, dass Fiacail Fhola genau das wollten – die MIU entzweien?

»Gut, gehen wir uns kümmern«, sagte Bock, stand auf und entfloh damit als Erster der bedrückenden Atmosphäre.



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