Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 8: Alles halb so wild ----------------------------- »Der und ein Crashkurs im Töten von Vampiren? Ihr habt sie echt nicht alle.« Ingo tippte sich an die Stirn. »Glaubt ihr echt, Fritz geht mit ’ner Kanone auf die Bestie los? Der nimmt die Beine in die Hand und rennt!« Fritz senkte den Blick; er wusste, dass auch Micha ihn kritisch betrachtete und diesmal mit Hampf annähernd einer Meinung war. »Fritz braucht bestimmt nur ein krasses Abhärtungstraining«, ließ Simon zuversichtlich verlauten. »Wenn er weniger Angst hat, wird das schon.« Wohl kaum, dachte Fritz traurig. Ihr werdet schon noch sehen. Ihr macht euch keine Vorstellung, wie feige ich wirklich bin … »Also, Fritz«, begann Falk und bemühte einmal mehr das Flipchart, indem er die von Micha bekritzelte Seite umklappte und die Fettkreide zur Hand nahm. »Was wir dir jetzt beibringen, setzt Vertrauen voraus, weil du mit diesem Wissen auch uns schaden kannst. Ist das verstanden? Du darfst keine der Waffen, die wir dir geben, jemals gegen einen deiner Kollegen einsetzen!« »Okay«, würgte Fritz hervor. Schnell zog er einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken. Vor seinem geistigen Auge sah er schon wieder Blut spritzen. »Na gut. Was kennst du für Mittel, um Vampire zu töten?« »S-Sonnenlicht?« »Falsch.« Fritz fiel wieder ein, was Micha ihm über ultraviolettes Licht erzählt hatte. »Ach nein, nein, es macht euch nur … sehr krank und …« »Na gut, na gut«, nahm Lasterbalk diesen Faden auf, während Falk auf dem Papier mitschrieb, »reden wir zuerst über nicht tödliche Waffen. Also, Sonnenlicht. Wir von der MIU haben Azathioprin, aber außer uns – denn erst Bock hat das für uns rausgefunden – weiß keiner, dass Immunsuppressiva und speziell Azathioprin, das mit Sonnenlicht wechselwirkt, ein Schutz sind. Alle anderen Vampire sind also gezwungen, sich an die Nacht, die Dämmerung oder sehr bewölkte Tage zu halten. Gut. Außerdem für Vampire ganz, ganz schrecklich ist Natron … also Natriumhydrogencarbonat.« »Ich hoffe, Fritz hat in Chemie nicht so gepennt wie ich«, lachte Simon. »Natron ist zum Beispiel in Backpulver. Es verätzt die Haut von Vampiren, aber net die Schleimhäute. Also im Mund passiert nix, im Auge wird man vorübergehend geblendet. So, jetzt die fiesen Sachen. Wichtig zu wissen: Vampire sterben nicht von alleine. Sie sterben auch net durch unbedingt Wunden, denn die heilen innerhalb von Stunden oder Tagen, je nach Schwere der Verletzung. Blutverluste kann ein Vampir gut kompensieren, auch schwerwiegende, wenn die Blutung rechtzeitig gestillt wird. Will man einen sicher töten, muss man das Herz durchbohren, also so weit zerstören, dass es einfach net mehr schlagen kann.« »Aha«, murmelte Fritz. »Was auch funktioniert: Enthaupten. Die Trennung des Hirns vom Rest des Nervensystems ist mit dem Leben natürlich net zu vereinbaren. Außerdem wirkt noch Verbrennen … aber es ist schwierig, sicherzustellen, dass ein Vampir vollständig verbrennt, deshalb … naja. Wir halten uns an sichere Tötungsmethoden.« »Und es macht euch dabei nichts aus, dass ihr … euresgleichen …« Fritz wusste nicht, wie er dieses ethische Problem in Worte kleiden sollte. »Das war schon immer Gegenstand vieler Diskussionen«, übernahm Asp die Antwort, »und es ist schwierig, die Grenze zwischen bösen und guten Vampiren festzulegen. Oft ist es nicht so einfach wie mit Grün und Rot.« »In der Regel haben wir keine Zeit, uns über so was den Kopf zu zerbrechen«, sagte Lasterbalk schlicht. »Also lassen wir es. Hm, hab ich eine Tötungsart vergessen? Ach ja, Aushungern.« »Ah … also einfach kein Blut geben«, folgerte Fritz. »Wie lange dauert das?« Den Vampiren schien schon der Gedanke daran zuwider zu sein. »In der Regel fünf Tage.« Falk kreuzte die Arme vor der Brust und sah zu Boden. »Am zweiten Tag geht es noch, nur sehr unangenehmes Hungergefühl. Am dritten fangen die Krämpfe an, der Bauch tut weh und irgendwann alles. Am vierten kommt dann eine Phase, in der man … wahnsinnig vor Hunger wird. Der Körper rafft noch mal alle Kräfte zusammen, um irgendwie an Blut ranzukommen. In dieser Phase fällt sogar die Beißhemmung aus. Wenn das wieder abklingt, ist man erst mal geistig wieder da, aber völlig erledigt … und stirbt schließlich langsam an Erschöpfung, bis alle Energie verbraucht ist und das Herz einfach stehenbleibt. Ich will mir das nicht ausmalen. Es soll grässlich sein.« »Wir töten niemals durch Aushungern, musst du wissen«, ergänzte Dr. Saltz, »eben weil es so grausam ist. Es geht uns darum, Vampire schnell und effektiv zu beseitigen, nicht zu quälen.« Diese Bemerkung weckte in Fritz eine Erinnerung. »Der Vampirtöter!«, quietschte er, als ihm wieder einfiel, dass die MIU ja noch eine ganz besondere Waffe in petto hatte. »Können wir ihn holen? Sollten wir das nicht machen?« Ein Stöhnen schwappte durch den Raum. »Ach, Fritz, das wäre wirklich übertrieben«, seufzte Falk. »Wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.« »Tja, vielleicht solltet ihr aufhören, ihn anzulügen. Dann müsstet ihr euch nicht so anstrengen, eure Identität geheim zu halten.« Fritz funkelte ihn erhobenen Hauptes an, genau wissend, dass er Recht hatte. »Oder ist es euch egal? Ist dieser … Elias? … für euch nichts weiter als eine Waffe?« »Alea ist sein Code. Aber sonst hast du Recht«, bestätigte Falk, »so ist es. Alea ist ein mächtiges Zerstörungswerkzeug, deshalb müssen wir ihn vorsichtig anfassen. Verstehst du? Bei jeder Waffe muss man dafür sorgen, dass sie ständig fehlerlos einsetzbar ist. Und ein Vexecutor ist nun mal das Wertvollste, was man als Anti-Vampir-Organisation haben kann.« Lasterbalk kam ihm, erstmals um Worte bemüht, zur Hilfe: »Wir mögen es net, ihn zu belügen, aber es geht net anders!« Er holte tief Luft. »Es ist net schön, aber unbedingt nötig.« »Also habt ihr Angst, dass er euch tötet, wenn er es weiß?«, bohrte Fritz. »Nein, ganz im Gegenteil. Wir haben Angst, dass er dann keinen mehr tötet. Hör zu: Alea muss ein Motiv haben, Vampire zu töten. Für ihn darf es nur böse Vampire geben. Blutrünstige, menschenverachtende Bestien … wie unsere Feinde. Wenn er rauskriegt, dass es auch nette, harmlose Vampire gibt, wird er sofort anfangen, seine Aufgabe als Vampirhenker moralisch zu hinterfragen. Das können wir einfach net zulassen. Alea ist ungemein wichtig für die MIU. Verstehst du das, Fritz?« Unter seinem durchdringenden Blick hatte Fritz plötzlich das Bedürfnis, sich klein zu machen. Er war nicht einverstanden, war aber auch etwas verwirrt über diese Rechtfertigung. Jemand, dessen Beruf es war, Vampire allein durch Konzentration hinzuschlachten, würde ethische Bedenken haben? Das war schwer vorstellbar. »Na gut«, gab Fritz sich vorerst geschlagen. »Aber vielleicht seht ihr ja noch ein, dass wir ihn brauchen.« »Erst mal räumen wir jetzt die ganzen Tische aus dem Weg«, entschied Hampf und machte eine Geste über das Zimmer hinweg, »und bringen dir bei, wie du dich verteidigen kannst.« »Ich muss wohl dein Lehrer sein, weil du ja ausgerechnet mein Partner bist«, stöhnte Micha, »also bringen wir’s hinter uns. Hier.« Im Rund der beiseite geschobenen Tische stellte er sich Fritz gegenüber und hielt ihm eine kleine Lampe hin. »Mach die mal an.« Fritz nahm das kleine Gerät in die Hand und entdeckte schließlich den Schalter. Ein dunkles, blauviolettes Licht sprang an, eine Strahlung, vor der Micha entsetzt zurücksprang. »Hey, hey, nicht in meine Augen, du Idiot! Bah, zum Glück hab ich die Linsen drin! Wäre jetzt glatt für ’ne Woche blind geworden! Fuchtel damit nicht vor meinem Gesicht rum!« Schnell lenkte Fritz den Lichtstrahl ab. »’Tschuldige.« »Oh, Mann. Also, das ist ’ne UV-Lampe. Gibt nur UV-A bis UV-B ab, ist für Menschen also ungefährlich. Am besten gewöhnst du dir an, die Lampe immer griffbereit in der Tasche zu haben und gleich anzuschalten, wenn dich ein Vampir anspringt.« »Kriege ich auch noch was, das wirklich … verletzt?«, fragte Fritz vorsichtig. Er wollte kein Vertrauen missbrauchen, doch eine Schwarzlicht-Funzel führte nicht unbedingt dazu, dass er sich sicherer fühlte. »Wenn du versprichst, nicht aus Versehen auf mich zu schießen, kriegst du ’ne Natron-Kanone«, bot Micha an. »Oh ja!« Vom Rand trat El Silbador zu ihnen und sagte entschuldigend zu Fritz: »Eigentlich benutzen wir Glock-18C-Pistolen, wahlweise mit Brückenmontage, Reflexvisier und Tactical Light, aber im Moment haben wir leider nur das zu vergeben, was die ganz Verwegenen von uns bevorzugen.« Er hielt Fritz mit dem Griffstück voran einen Revolver hin. Fritz staunte nicht schlecht. »Ist das eine … Peacemaker …?« »Das gleiche Modell, aber für Menschen ungefährlich«, versicherte Elsi. »Das Geschoss ist ein weiches Reiskorn, das Schießpulver ist mit Natron versetzt. Wirkt gut.« Fritz wog den Revolver in der Hand. »Mit so was hab ich noch nie geschossen.« »Üben«, sagte Falk. »Eine Schießausbildung hast du ja, und man gewöhnt sich schnell dran.« Fritz nickte unschlüssig. »So, das reicht.« Diesmal war es Micha, der die Lektion für beendet erklärte. »Pflock und Hammer würde ich ihm echt nicht in die Hand drücken. Er kann sich jetzt verteidigen. Suchen wir das elende Versteck.« »Hee, hee, warte!«, hielt Ingo Hampf dagegen. »Wir alle müssen auf den Scheißer aufpassen, und ich sage, der kriegt ’nen Pflock-und-Hammer-Knigge!« »Nein, kriegt er nicht!«, knurrte Micha. »Ich wäre der erste, den er abmurkst, wenn er Schiss hat!« »Ah? Und das sollen wir dir glauben, dass du dir einfach nur Sorgen machst?« Ingo versuchte, Micha nieder zu starren, doch der Vampir blinzelte nicht mal. »Rhein, du blöder Idiot, raffst du nicht, dass unser Neuer nur deshalb in Erwägung ziehen würde, dich zu killen, weil er ständig denkt, dass du ihn frisst? Und checkst du nicht«, wandte er sich giftig an Fritz, »dass dein neuer Freund Michael dich an der kurzen Strippe hält, damit er keine Beißhemmung bei dir kriegt und dein Blut saufen kann, wenn Hyperborea mal knapp wird? Ey, ihr seid doch alle bescheuert! Keiner vertraut dem anderen, das ist so sonnenklar, und sobald Vampire in der Nähe wären, würdet ihr euch zuerst gegenseitig fertig machen! Sogar ein Vollpfosten merkt, dass ihr euch nicht grün seid!« Fritz war bestürzt von den Vorwürfen, aber Micha schien vor allem wütend zu sein, denn er funkelte Ingo an, als würde er jeden Moment explodieren. Falk trat entschlossen in ihre Mitte. »Jetzt ist mal bitte Ruhe im Karton, verstanden? Ingo, komm wieder runter. Wir regeln das, hier und jetzt.« Er atmete tief durch. »Fritz? Versprich, dass du Micha nicht pfählst. Micha? Versprich, dass du Fritz nicht beißt.« »Das ist totaler Schwachsinn, dass ich Fritz beißen will!«, spuckte Micha. »Wie kommt der überhaupt darauf!« »Versprich es.« Falk klang geduldig, aber auch irgendwie müde. »Pffff, von mir aus. Fällt mir nicht schwer, was zu versprechen, wenn ich’s nicht mal im Traum machen würde!« Missmutig hob Micha den Blick und sah Fritz ins Gesicht. »Haben wir das jetzt geklärt?« »Ich pfähle bestimmt keinen von euch«, versicherte Fritz, wenn auch steif. Im Moment wusste er gar nicht, was er tun wollte und was nicht. Er hätte gerade jeden Vampir pfählen können und fragte sich, ob es – wenn so etwas wie eine Beißhemmung existierte – auch eine Pfähl-Hemmung gab. Falk seufzte erleichtert. »Halleluja. Können wir uns jetzt vertragen? Ja? Ich bin dafür, dass wir unseren Locksängern bescheid sagen. Oh, und Micha … Wir brauchen unsere Armbrustschützen. Sind die informiert worden?« »Alle wissen bescheid«, sagte Micha knapp. »Wenn sie sich losmachen können, kommen die schon her. Was ist mit euren Leuten? Außer Sonnenscheinchen natürlich.« »Eher Wackelkandidaten, wie immer.« »Wir haben unseren auch bescheid gesagt«, meldete sich Simon zu Wort, »schon bevor wir losgefahren sind.« »Dann können wir ja hoffen, dass Eric und Silvio sich auch mal her bequemen. Die müssten doch in Treuenbrietzen langsam fertig sein, außerdem brauchen wir die Tabletten.« Fritz fragte nicht nach. Inzwischen musste er bei jedem Teammitglied, das hinzu stieß, fürchten, dass neue Unruhe in die leise eingeschlichene Hierarchie Einzug hielt. El Silbador hatte keine Probleme gemacht, aber Micha zuvor umso mehr. Während Hampf und Falk die Suche nach den bissigen Vampiren – die erst bei einbrechender Dunkelheit Erfolg versprechen würde – vorbereiteten, schlossen Pfeiffer und El Silbador den MP3-Player des verstorbenen Mädchens an den Laptop an und öffneten die PlayList. »Oha«, sagte Lasterbalk, der sich von hinten über die Schultern der beiden beugte. »Da ist ja ein InEx-Track drauf.« »Welcher denn?«, wollte Bock wissen, der am Tisch daneben saß und bereits eine neue Dosis Azathioprin für jeden abzählte, da die Sonne inzwischen hoch am Himmel stand. »Einer von den neuen?« »Küss mich«, antwortete Lasterbalk. »Ooooh, wie schön du das gesagt hast!« »Ach, Bock, halt die Klappe und zähl die Pillen.« Fritz beobachtete stumm, wie die beiden Techniker auf den Bildschirm starrten. »Kennt einer hier die Band Snowine?«, fragte Pfeiffer in die Runde. »Weil von denen hier ein ganzes Album drauf ist.« »Mach ’nen Song an«, schlug Simon vor. Was zwei Klicks später zu hören war und in Fritz’ Ohren einem musikalischen Inferno glich, entlockte den professionellen Musikern, von denen er umgeben war, nicht mehr als müde Blicke. »Schlechter Black Metal?«, sagte Simon versuchsweise. »Klingt schon ’n bisschen lahm.« El Silbador beugte sich tiefer über den Bildschirm. »Hab’s grad gegoogelt … Das ist eine lokale Nachwuchsband. Alles Studenten.« »Na gut, da kann ja nicht viel rauskommen.« »Ansonsten sind da noch … Gorgoroth, Satyricon … und noch andere, die ich nicht kenne. Wir müssen wohl weiter Google bemühen.« Während er und Pfeiffer die Dateien durchgingen und nach Informationen suchten, kam auch Falk wieder dazu. Seine gute Laune hatte er offensichtlich wiedergefunden: Er blieb hinter El Silbador stehen, der ihn nicht beachtete, und tat so, als würde er an seinem Hals schnuppern. Halb scherzhaft bat er: »Elsi, darf ich dich beißen?« Der Angesprochene sah nicht mal auf. »Mach doch, wenn du kannst.« »Eben nicht. Ich muss dich fragen, du musst es erlauben.« »Ach ja. Wenn das so ist … Nö. Verhunger doch.« »Herzloser Sterblicher.« Kopfschüttelnd wandte Falk sich ab und holte eine Flasche Hyperborea aus dem Schrank über dem Flipchart. »Wer trinkt alles einen mit?« »Ihr solltet alle trinken, es ist Zeit für die Tabletten«, sagte Bock. Seine Rolle als medizinischer Wachposten gefiel ihm mindestens genauso gut wie die als Vampirexperte. Also setzten sich die Vampire zusammen und schenkten sich den tiefroten Trank ein, dessen Anblick und Geruch sie mit Wohlbehagen zu erfüllen schien. Fritz, der bis eben am Tisch gesessen hatte, rückte ein wenig ab. »Ist … ist das wirklich Menschenblut?«, fragte er zaghaft, obwohl er die Antwort kannte. »Na klar«, sagte Micha, ihn unverwandt ansehend. »Wie grausam!« »Ach Quatsch. Das Rote Kreuz muss total viel Spenderblut aussortieren, weil es den hohen Qualitätsanforderungen nicht entspricht. Das Blut können wir haben, unseren Mägen sind Reaktionen auf so unspezifische Tests scheißegal.« Sie stießen an und tranken gemeinsam, als handelte es sich wirklich nur um Wein, der auf einer Feier ausgeschenkt wurde. Wieder musste Fritz beiseite sehen und war bemüht, sich abzulenken. »Wieso ein griechischer Name?«, fragte er hastig. Falk stellte sein leeres Glas hin. »Kennst du nicht diesen ollen Schlager? Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde … und so weiter. Ich glaube, generell hat das Lied dazu angeregt, Blut als Wein zu tarnen. Bizarr, aber es hat sich als gute Idee erwiesen.« Micha, der als Einziger noch nichts getrunken hatte, warf Fritz einen forschenden Blick zu, den dieser nicht erwiderte; dann griff der Blonde entschlossen nach der Flasche, füllte sein Glas nur einen Fingerbreit hoch und schob es zu Fritz’ Entsetzen zu ihm hinüber. »Wir müssen dich mal ein bisschen abhärten. Trink.« »Was?« Fritz hielt sich bibbernd die Augen zu. »D-Da ist Blut drin!« »Na und? Viele Naturvölker trinken Blut.« »Aber das ist Blut von Menschen!« »Das kommt alles von glücklichen Spendern, also hör auf zu flennen und trink.« »Wenn man als Mensch Blut trinkt, muss man sich übergeben!«, bockte Fritz. Ausgerechnet Dr. Saltz hielt dagegen: »Aber doch nicht nach ein paar Schlucken, Fritz. Du kannst es wirklich bedenkenlos trinken. Wir haben es alle schon probiert, aus Neugier, und es ist nicht schlimm.« Fritz traute seinen Ohren nicht. »Ich weigere mich, Blut zu trinken! Ich bin doch nicht pervers!« Micha schüttelte seufzend den Kopf, nahm das Glas und trank den kleinen Schluck, um zugleich die Pille einzuwerfen; dann sagte er in verächtlichem Ton: »Und du willst Vampire töten, ja? Du hast doch gar keine Eier.« Die anderen sagten nichts dazu; Fritz fragte sich, ob sie ihm zustimmten oder einfach keine Lust hatten, mit ihm zu streiten. »Sortierst du immer alles nach ›hat Eier‹ und ›hat keine Eier‹?«, schmollte er. »Ja. War bisher immer ein sinnvolles Kriterium. Und du hast keine, Fritz, ’tschuldige, aber du hast nicht mal ’n halbes Ei.« Immer noch kopfschüttelnd stand Micha vom Tisch auf und ging. Noch eine ganze Weile lang sah Fritz Pfeiffer und El Silbador dabei zu, wie sie, sich leise unterhaltend, die Musik auf dem MP3-Player untersuchten. Dann trat Micha hinter ihn und ließ Fritz’ Jacke auf dessen Stuhllehne fallen. »Komm mit«, sagte er. Seine eigene Jacke hatte er bereits an. »Los, du Pfeife, wir machen ’nen Spaziergang.« Fritz war nicht sicher, was er davon halten sollte. Einerseits beunruhigte es ihn, dass Micha nur einen sehr kleinen Schluck Hyperborea getrunken hatte, gerade genug, um die Tablette zu schlucken, und deshalb sicherlich alles andere als satt war; andererseits hatte er mehrfach versprochen, Fritz nichts zu tun. »O…kay … Aber wohin denn?« »Wir laufen ein bisschen durch Elberfeld. Es dämmert bald, dann gehen wir auf Vampirjagd. Aber vorher können wir noch was klären. Also los, beweg dich.« Pfeiffer und Elsi sahen nur kurz auf, als Fritz sich umständlich erhob; dann beugten sie sich, offenbar ohne jede Sorge um sein Wohl, wieder über die Geräte. Schweigend folgten Micha und Fritz der leeren Straße bergab, wo die Bebauung dichter wurde. Die Luft war schon schneidend kühl für Oktober. Nachdem sie eine lange Zeit nichts gesagt hatten und Fritz immer noch nicht wusste, was Micha eigentlich wollte, versuchte er, die ihm unangenehme Stille mit einem belanglosen Gespräch zu füllen. »Wann werden denn die … Locksänger hier sein?«, fragte er beiläufig. »Wie hießen die noch?« »Faun. Oh, das kann dauern, die sind viel unterwegs. Wir werden ja sehen, ob wir sie überhaupt brauchen, oder ob wir alleine klar kommen.« »Wenn ihr … also du und deine Band … auch als Locksänger angefangen habt … Wie ging das denn, wenn du selber schon ein Vampir warst?« Micha hob die Schultern. »Ich bin alt, die meisten mittelalterlichen Sachen haben auf mich nicht mehr so viel Wirkung, aber auf die jungen Vampire schon. Naja, jetzt nicht mehr, weil so viele Bands das Zeug rauf und runter spielen. Auf dem letzten Album hatten wir gar kein Lockstück mehr drauf. Wirkt eh nicht. Und anderen Kram, hast Recht, kann ich nicht singen, sonst würde ich mich dauernd selber hypnotisieren.« Fritz unterdrückte ein Schmunzeln; diese Vorstellung war irgendwie kurios. »Ist das schon mal passiert?« »Na klar, ich bin ja nicht zu hundert Prozent gegen alles immun, was wir mal live spielen wollten. Da hilft nichts anderes, man muss sich das immer und immer wieder anhören. Bei manchen Stücken war’s aber so beschissen, dass wir die nie live spielen konnten.« »Bringt es denn irgendwas, sich als Vampir selber in Trance zu singen?« »Nee. Gar nix. Man steht blöd in der Gegend rum und kriegt nichts hin.« Jetzt musste Fritz doch lachen. Hektisch versuchte er, sein Amüsement unter Kontrolle zu bringen. »Ahaha, ha, tut mir Leid, aber das ist so, ihihi …« »Ach, lach doch, du Pfeife. Du wirst dich noch wundern, was Rattenfänger für ’ne Macht über Vampire haben.« Micha löste seinen durchdringenden Blick von Fritz, sah wieder geradeaus und fing leise an zu singen: »Greif ich ein’ Akkord, Geh’n sie mit mir fort. Mit dem ganzen Pack Verlasse ich die Stadt. In der Nacht, in der Nacht, In der Nacht, in der Nacht. In der Nacht, in der Nacht, In der Nacht, auf der Jagd … Oh Mann, alter Song. Ewig nicht gesungen.« In Fritz’ empfindlichen Ohren hatte das Lied in der Einsamkeit des schwindenden Tageslichts etwas Bedrohliches, und Michas harte, raue Stimme tat ihr Übriges. Er zog sich den Reißverschluss der Jacke höher. »Äh, ich glaube, ich verstehe schon …« »Trotzdem wird’s dir nicht gefallen. Bezirzte Vampire verhalten sich oft – …« Micha unterbrach sich und blieb jäh wie angewurzelt stehen. »Fritz, hörst du das?« Er lauschte. Fritz tat es ihm gleich. Bis auf den eher fernen Verkehrslärm war zunächst nichts zu hören; dann jedoch drangen auch an seine Ohren hektische Kampfgeräusche. Ganz in der Nähe stieß ein Mann einen hellen Schrei aus. »Schnell, Fritz, komm.« Micha packte ihn am Arm und zog ihn mit, um die erste Ecke, durch eine Häuserschlucht, dann um eine zweite Biegung. Er schien genau zu wissen, wo der Lärm herkam. Fritz hatte Mühe, nicht zu stolpern. Zwischen einem baufälligen Haus und einem Supermarkt namens Akzenta verlief eine schmale Straße, auf der sie anhielten; an der Rückseite des vernachlässigten Gebäudes bewegten sich Schatten. »Keine Vampire«, raunte Micha, »aber dafür genau das, was wir brauchen.« Er nahm die Hände aus den Taschen und schlich sich ein paar Schritte an, während Fritz sich nicht von der Stelle rührte, was – zum Glück! – offenbar auch nicht von ihm erwartet wurde. Das Wimmern des jungen Mannes wurde nun wieder lauter. Mit einem kleinen Satz verschwand Micha im Schatten der Hausrückwand. Dann, ehe Fritz richtig gucken konnte, flüchtete ein magerer, ärmlich aussehender Kerl mit einer Sporttasche im Arm in langen Sprüngen ins Licht der befahrenen Straße. »Danke!«, rief er schrill über die Schulter, während er so schnell wie möglich das Weite suchte, und drehte sich kein zweites Mal um. »Lass mich los, du Wichser!«, fauchte ein anderer Mann, der eine schwarze Mütze und eine goldene Kette trug und den Micha nun an einem Arm ins Licht zerrte, voll überschäumendem Zorn. »Du kriegst gleich auf die Fresse, Alter! Lass loooos!« Micha schleppte ihn nicht zur Straße, sondern blieb mit ihm hinter dem Haus, gerade genug im Licht, dass Fritz ihn und seinen Gefangenen sehen konnte. »Steh nicht rum, Fritz, komm her!« Fritz war mehr als nur flau im Magen, als er sich in Bewegung setzte. In ihm machte sich ein sehr, sehr unangenehmes Gefühl breit. »Was hast du vor, Micha?«, fragte er ängstlich. »Du – du wirst doch nicht …« »Oh doch«, gab Micha schonungslos zurück, »jetzt gibt’s Abendbrot. Und du guckst gefälligst hin!« Der Kleinganove in seinem Griff rollte wild die Augen und rotzte auf den Asphalt; er schlotterte am ganzen Leib, wie Fritz sehen konnte, denn er war es nicht gewohnt, jemandem körperlich unterlegen zu sein. »Lass mich los!«, schrie er, und seine Stimme brach hysterisch. »Oh Gott, Micha, hättest du nicht Hyperborea trinken können?!«, kreischte Fritz und warf die Hände hoch. In ihm kämpfte der Drang, sich einfach umzudrehen und wegzulaufen, siegessicher um die Vorherrschaft. »Ich kann lange Zeit drauf verzichten, Leute zu beißen, aber ich will, dass du’s dir anguckst. Damit du siehst, dass ein Vampirbiss überhaupt nichts Schlimmes ist.« »Vampir?«, wiederholte der Gefangene in Michas Griff und zappelte wie ein Fisch am Haken, jedoch ohne Erfolg. »Nichts Schlimmes?!«, echote Fritz. »Du willst sein Blut trinken!« »Mein Blut will der?!« »Ja, aber du musst keins sehen, Fritz, weil ich keins verschütte!« Micha versuchte es immer noch über die Vernunftsschiene. Gab der sich denn nie geschlagen? »Guck, ich schmeiß den Typen hin …« Er packte den Mann im Nacken und trat ihm einfach die Beine weg, sodass dieser lang hinfiel, und beschwerte mit dem Ellenbogen seine Brust. »… wie wir Vampire das so machen …« »Hör auf!«, kreischte Fritz. »Jaah, genau!«, stimmte das Opfer im Sopran mit ein. »Hör auf deinen Freund!!« Niemand beachtete ihn. »Du willst ihn beißen wie ein Tier!«, fuhr Fritz hilflos fort. Auch er zitterte am ganzen Körper. »Ich muss kein Blut sehen, Micha, ich habe Fantasie!« Micha, halb auf dem Mann liegend und ihn mühelos am Boden haltend, verdrehte die Augen. »Mann, du Nervensäge! Ich bin ein verdammter Vampir, ich muss Blut trinken, sonst krepiere ich!« Wütend darüber, nicht verstanden zu werden, funkelte er Fritz an. »Was bitte wäre dir denn recht? Wenn ich die ganze Zeit so tun würde, als wäre ich wie du? Ich kann sauberer beißen, als du ein Hähnchen zerteilen kannst! Vampire sauen wenigstens nicht rum beim Essen! Wir haben bessere Tischmanieren als ihr alle zusammen! Was willst du überhaupt?!« »Werde ich mal gefragt, was ich will?«, quiekte das Opfer. »Halt die Fresse!!«, schrien Fritz und Micha unisono, woraufhin der Mann still war und sich wimmernd zusammenrollte. Fritz waren die Argumente ausgegangen; er fuhr fort, Micha anzustarren, mit aller Inbrunst, die man in einen Blick nur legen kann. Micha starrte zurück, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Dann, nach einer schieren Ewigkeit, löste er den Blick, ließ seufzend den Mann los und stand auf. Wie ein Gepard schnellte seine Beute aus der Seitenlage hoch und sprintete quer über die Straße, bis sie zwischen zwei Reihenhäusern verschwand. Fritz drückte sich unwillkürlich mit dem Rücken an die Hauswand. Es war naheliegend, dass Micha ersatzweise ihn anfallen würde, der ihn um seine Mahlzeit gebracht hatte. Doch hier unterstellte er ihm zu Unrecht das scheinbar typische, unberechenbare Verhalten eines hungrigen Vampirs, denn Micha schob einfach nur resigniert die Hände wieder in die Taschen und murmelte im Vorbeigehen: »Lass uns mal zurückgehen. Es wird schon dunkel.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)