Wikingerblut von CaroZ (MIU-Trilogie 1) ================================================================================ Kapitel 6: Versalzen -------------------- Der vorerst letzte Morgen mit seiner Frau fiel Fritz unerwartet schwer. Er war es nicht gewohnt, lange von ihr getrennt zu sein; normalerweise waren seine Einsätze immer so lange im Voraus geplant gewesen, dass sie ihn begleitet hatte. Da Kitty ihre Praxis allein führte, konnte sie sie schließen, wann immer sie wollte; nun jedoch nicht, da sie für die ganze folgende Woche Operations- und Besuchstermine angenommen hatte. »Du rufst jeden Abend an!«, verlangte sie. »Und jetzt gib mir einen Kuss!« Er tat, was sie wollte, und nicht unfreiwillig. »Friiitz … eins noch.« »Ja?« »Wenn du wieder da bist«, flüsterte sie ihm ins Ohr, »wünsche ich mir, dass du was für mich tust. Du kannst, während du weg bist, schon mal darüber nachdenken.« Das klang nach etwas Größerem. Am liebsten wollte er sofort widersprechen, ohne zu wissen, worum es überhaupt ging; dann besann er sich. Schließlich liebte er sie wirklich, und auch wenn ihre Wünsche oft absurd waren, so wollte er sie sich zumindest anhören. »Hmm, sehen wir mal.« »Aaaalso … Ich wünsche mir, dass wir zwei, du und ich, immer einen Teil des anderen ganz dicht bei uns haben können, auch wenn wir getrennt sind. Es gibt solche kleinen Hohlperlen, die man um den Hals tragen kann, und in die man … Blut reintut.« »Blut!«, ächzte er. Davon hatte er in jüngster Zeit wahrlich genug gehört. »Dann kannst du mein Blut bei dir tragen und ich deins!«, fuhr Kitty fort und versuchte, ihn mit Begeisterung anzustecken. »Fritz, das ist viel intimer als jeder andere Schmuck! So persönlich!« »Vor allem so eklig.« »Och, Fritz! Das ist so romantisch!« Rasch umfasste sie seine beiden Hände und drückte sie. »Fritz!« »Christine, du weißt genau, dass ich Angst vor Blut habe! Warum verlangst du so was von mir?« Im Grunde wollte er nicht ärgerlich sein, doch warum konnte sie seine Eigenheiten nicht akzeptieren? Schon immer hatte sie versucht, ihm einzureden, Blut sei romantisch. Und sogar erotisch. War das zu glauben? »Ich muss jetzt los.« »Denk wenigstens drüber nach!«, flehte sie. »Es wäre sooo schön!« »Mal sehen.« Nein! Blut um den Hals tragen war nun wirklich das letzte, was er wollte. Hoffentlich kapierte sie das, bis er wieder zurück war. Er winkte ihr zum Abschied – natürlich, denn sie trennten sich nie im Streit, man wusste nie, was passierte – und stieg in den Ford. Dass alles schiefgehen würde, stand ja ohnehin bereits fest. Am Abend zuvor hatte Fritz noch das Gefühl gehabt, es könnte doch etwas noch gut werden – aber bei der Feststellung, dass er sich mit der Wahl seines Partners auf unglaubliche Weise selbst ins Knie gesägt hatte, war ihm klar geworden, dass das Schicksal gerade Rugby mit ihm spielte. Dagegen konnte er nichts tun. Nun musste er es hinnehmen. Komme, was wolle. Der Sonnenschein war wunderschön und ließ das Herbstlaub entlang der Straßen rot-golden schimmern. Kurz vor Alfeld passierte Fritz einige Kilometer Bodennebel, doch die wabernde Wand löste sich auf, sobald er in die Stadt hinein fuhr. Auf dem Hof vor der Papierfabrik standen heute zwei weitere Fahrzeuge: der Opel Astra, mit dem Buschfeldt ihn Tage zuvor besucht hatte, und ein roter Ford Cabrio. Bei beiden Autos stand der Kofferraum offen. Fritz stellte seinen Fiesta daneben. Dann wanderte er zur Hintertür, wo der Handscan fällig war, und traf dort auf Micha, bei dessen Anblick er unwillkürlich zusammenzuckte. Der Musiker rauchte in aller Ruhe eine Zigarette und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Für einen Vampir ist das einfach komisch, dachte Fritz argwöhnisch. Vampire sollten weder Bier trinken noch Zigaretten rauchen. Außerdem steht er mitten in der Sonne! Micha sah ihn. »Morgen.« So! Morgen sagte der einfach, als wäre gar nichts gewesen! Fritz dachte gar nicht daran, den Gruß zu erwidern; Unmut ergriff ihn. Einen großzügigen Abstand wahrend, rief er anklagend: »Du bist also ein Vampir!« Micha, überrascht von der Feindseligkeit, schaute ihn fragend an. »Schon.« »Und wieso hast du das mit keinem Wort erwähnt? Hieltest du das nicht für nötig? Wollen mich hier eigentlich alle nur verarschen?!« Ja, das wollten wohl alle. In ohnmächtiger Wut stampfte Fritz mit dem Fuß auf, da ihm nichts Besseres einfiel. Micha beobachtete ihn noch gelassen. »Erstens: Du hast nicht danach gefragt.« »Ich habe gefragt, wer alles ein –!« »Zweitens: Woher soll ich wissen, dass du mit mir in ein Team willst? Du hast mich nur nach den anderen gefragt: Boris, Lex, Ingo, Simon. Ich kann keine Gedanken lesen. Du hättest ja mal was sagen können, ich hab das heute früh von Buschfeldt erfahren, danke auch.« Er ließ die Kippe fallen und trat sie aus. »Und jetzt komm … Wir haben zu tun.« Falk, einen Karton im Arm, ging an ihnen vorbei, als sie dem unterirdischen Gang folgten. »Den Weg in die Küche könnt ihr euch sparen, die Kaffeemaschine ist mal wieder verschwunden. Wir hoffen, dass sie einfach nur jemand eingepackt und ins Auto geräumt hat.« »Boah, Scheiße!«, knurrte Micha und schlug im Vorbeigehen gegen eine Tür. »Wie soll ich ohne Kaffee Auto fahren!« »Ich kann fahren«, sagte Fritz steif. »Ich brauche keinen Kaffee.« Das stimmte nicht ganz, aber einem Vampir traute er nicht. Sie erreichten den Aufenthaltsraum, wo Asp und Lasterbalk einige der grünen Weinflaschen, in denen sich die Vampirnahrung befand, in gepolsterte Kisten stapelten. Pfeiffer saß daneben und warf ein paar kleine Tablettenpäckchen, die auf dem Tisch verstreut lagen, in eine Baumwolltasche. Er nickte Micha zu. »Brauchst du Azathioprin? Es bleibt schönes Wetter heute.« »Hab schon.« Da Micha zu Pfeiffer ging, um ihm zu helfen, gesellte sich Fritz zu den beiden anderen. »Soll ich auch was tragen?« »Das schaffst du Hänfling net«, behauptete Lasterbalk, der gerade eine der befüllten Kisten aufhob. Fritz schnitt eine Grimasse und sah ihm nach. Dann nahm er eine der herumliegenden Flaschen in die Hand. Rein äußerlich unterschied sie nichts von einer gewöhnlichen Weinflasche; er kannte auch den Typ, in ihnen wurde traditionell Bordeaux abgefüllt. Der Inhalt sah durch das dunkelgrüne Glas fast schwarz aus. Das authentische Etikett trug in verschnörkelten Buchstaben die Aufschrift HYPERBOREA. Spätlese 2010. »Du weißt, was das ist, oder?«, fragte Asp über seine Schulter. »Ja, Ingo hat’s mir gesagt. Was ist da noch drin außer Blut?« »Vor allem Rotwein, aber auch Gerinnungshemmer, damit das Blut flüssig bleibt. EDTA eignet sich am besten. Lecithine verhindern, dass das Blut sich in seine festen und flüssigen Bestandteile auftrennt. Um die Akzeptanz zu erhöhen – also, damit das Getränk trotz der ganzen Verwässerei besser schmeckt und auch getrunken wird –, werden Gewürze und Zuckerarten reingemischt. Je nach Jahrgang hat man einen anderen Geschmack, das ist die Tarnung.« Emsig fuhr er fort, die Flaschen zu stapeln. »Und das Az– … dieses Medikament kriegt ihr aus Treuenbrietzen.« »Ja, aus dem Johanniter-Krankenhaus. Wir müssen bald neues haben, du siehst ja, viel ist nicht mehr da.« Fritz begnügte sich damit, einzelne Flaschen zu den Autos zu tragen. Offensichtlich waren die Vampire ihm an Körperkraft weit überlegen. Inzwischen waren alle eingetroffen, die er aus seinen ersten Tagen bei der MIU kannte, und zuletzt machten sich alle gemeinsam daran, für Dr. Saltz einen Teil seiner medizinischen Ausrüstung zu verladen. »Ich weiß, dass Elsi behauptet, ich hätte in der Wuppertal-Basis genug Kram!«, rechtfertigte sich der Arzt, der selber nichts trug – vielleicht aus Angst, sich einen Nagel abzubrechen –, »aber manche Sachen kann man nicht überall gleichzeitig haben, und die Medikamente müssen gekühlt werden! Also tragt schon, husch husch!« Es war fast elf Uhr, als sie alles in die drei Autos geräumt hatten. Buschfeldt erschien überhaupt nicht. »Er nimmt den Zug, aber wir haben sein Auto, also beschweren wir uns nicht«, erklärte Pfeiffer achselzuckend. »Ist auch gut so, ich hätte keine Lust, mir die ganze Fahrt über das Gemaule anzuhören.« Am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Fritz setzte sich hinter das Lenkrad und griff nach seiner Sonnenbrille, ehe er den Motor startete. Im Rückspiegel sah er, dass Pfeiffer belustigt aus dem Fenster sah. »Simon fährt den Dark Knight.« »Wie, hat er keinen Führerschein?« »Doch doch, aber wie viele von uns hat er noch nie einen Automatikwagen gefahren.« »Wenn der Hampf dabei ist, passiert schon nix.« Micha machte es sich Fritz’ Meinung nach viel zu gemütlich neben ihm; es sah aus, als ob er lieber schlafen wollte, anstatt als pflichtbewusster Beifahrer die Straßenkarte zu studieren. Buschfeldts Ford Cabrio, bemannt mit Falk, Lasterbalk und Asp, rollte als erstes vom Gelände der Fabrik. »Fahr ihm einfach nach«, sagte Micha und machte dann tatsächlich die Augen zu. Das schöne Wetter hielt sich leider nur bis zum Autobahnkreuz Dortmund/Unna, wo sie auf die A1 Richtung Köln und Düsseldorf wechselten. Am Horizont türmten sich schwarze Gewitterwolken, und die ersten Tropfen fielen bereits auf die Windschutzscheibe. Fritz nahm die Sonnenbrille endgültig ab, der Hoffnung beraubt, dass es wieder besser wurde. »In Wuppertal regnet es schon den ganzen Tag, sagt der Wetterbericht.« Pfeiffer steckte das iPhone wieder ein. »Soll bis morgen so bleiben. Tja, Micha, keine Sonne mehr.« »Wenn du ein Vampir bist, Micha«, sagte Fritz unwirscher, als er wollte, »wieso zerfällst du in der Sonne eigentlich nicht zu Staub?« »Medis«, war die knappe Antwort. »Aber auch ohne würde ich nicht zu Staub zerfallen.« »Sondern?« »Glitzern.« Fritz dachte, er hörte nicht recht, und fand diesen Verdacht bestätigt, als er im Rückspiegel Pfeiffers Bemühung, nicht laut loszulachen, gewahr wurde. »Haa haa! Was würde wirklich passieren?« Endlich wurde Micha ernst. »Weißt du, das ist so was wie ein Defekt im Immunsystem. Wenn unser Körper UV-Strahlen registriert, macht er einen Riesenalarm. Unsere Haut wird starr, unser Kreislauf kackt ab, und wir kriegen ’ne Scheißangst zu sterben. Das geht alles wieder weg … aber es ist nicht auszuhalten, wenn man am Tage draußen irgendwas machen will. Die Pillen, die wir nehmen müssen, unterdrücken das. Ein … Immunsuppressivum, das Azathioprin heißt.« Er furchte die Stirn. »Ich hab Jahre gebraucht, um mir den Namen zu merken.« Fritz wusste schon, dass er ihn sich nie würde merken können. Eigentlich wollte er noch mehr fragen, doch es dauerte ein paar Minuten schweigenden Fahrens, bis er sich dazu durchrang. »Findest du … es eigentlich okay … Menschen zu beißen?« »Ja«, antwortete Micha ohne zu zögern. »Na großartig.« »Tja, wenn du mich hättest wissen lassen, was du vorhast … Deshalb wollte ich ja, dass du mit Lex gehst. Ich meine Asp. Der beißt nämlich überhaupt nicht. Aber ich beiße, und zwar wann immer es mir passt. Damit du’s weißt, Fritz.« Er sah wieder aus dem Fenster, wo Tropfen um Tropfen abperlte. Leicht schaudernd versuchte Fritz, stattdessen aus Pfeiffers Blick zu lesen, doch der hinten Sitzende schaute unbeteiligt aus dem Fenster. »Ich hab gehofft, dass gar kein MIU-Vampir beißt, weil ihr diesen Wein habt. Wieso ist es dann überhaupt noch nötig?« »Das ist schwer zu erklären«, wich Micha aus, »total schwer.« »Und wieso beißt Asp dann überhaupt nicht?« »Der trinkt gar kein pures Blut. Er traut sich nicht mehr, seit … Ach, er hat ’ne schwierige Vergangenheit, weißt du. Er wollte kein Vampir werden. Hat es gehasst. Kam mit dem Blutdurst nicht klar. Konnte sich nicht kontrollieren. Armer Kerl. Wurde Opfer von so ’ner Hetzjagd … und die Leute haben ihn … völlig zerhackstückelt, nach allem, was ich weiß, und ihn irgendwo verscharrt. Er hat ewig in Starre gelegen, und dann … ist irgendwas mit ihm passiert …« Es war unschwer zu erkennen, dass Micha die Formulierungen für Asps Tragödie ausgingen. »… Ich kann dir das nicht gut erklären, aber Lex hält den Teil von sich, der Blut trinkt, für böse und unterdrückt ihn. So richtig radikal. Er glaubt, dass er, wenn er was anderes als Hyperborea säuft, unberechenbar und gefährlich wird.« »Und glaubst du das?«, fragte Fritz unbehaglich. »Ich kenn seine dunkle Seite nicht«, antwortete Micha, »ich hab ihn noch nie was Blutrünstiges oder Brutales machen sehen. Aber er setzt sich in seiner Musik oft damit auseinander. Die gibt ihm viel Kraft, glaub ich. Soll ja auch so sein. Ähm … Dir wird auffallen, dass er Spiegel meidet.« »Fritz, aufpassen!«, rief Pfeiffer plötzlich. »Kreuz Wuppertal-Nord, da müssen wir runter, Falk ist da auch gerade abgefahren!« »Oh.« Fritz setzte den Blinker. »Ich muss besser hingucken. Wir reden später weiter.« Über Wuppertal hingen die Wolken ganz besonders tief. Es war fast drei Uhr am Nachmittag, als die drei Autos in der Innenstadt auf einem kostenpflichtigen Parkplatz hielten. Fritz war auch jetzt einfach dem Ford Cabrio gefolgt. Falk stieg aus; ihn störte der Regen offenbar nicht, denn er unternahm nichts, um sich davor zu schützen. Als Fritz das Fenster herunterkurbelte, um mit ihm zu reden, pfiff ein schneidender Wind herein. »Also, Extremo-Team, Planänderung: Elsi hat sich grad gemeldet, wir sollen noch nicht zum provisorischen HQ in Elberfeld, sondern zur Polizeizentrale. Die ist in der Friedrich-Engels-Allee. Ach, fahrt mir einfach weiter nach, ja?« »Was haben die denn für uns?«, wollte Micha wissen. »Eine frische Leiche«, antwortete Falk, der schon wieder zum Auto ging. »Also nichts wie hin.« Auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums parkten nur Streifenwagen, doch die drei zivilen Fahrzeuge wurden trotzdem von einem Polizisten heraufgewinkt. Der Mann trug der Kühle zum Trotz seine kurze Uniform und schien nicht zu frieren. »Guten Tag, die Herren. Bitte gleich mir folgen.« Er winkte kurz in die Runde und ging voraus. Die MIU folgte. Fritz versuchte, sich in Lasterbalks Windschatten zu halten, dessen flatternder Mantel ihn gut abschirmte. Ich hätte mich wärmer anziehen sollen. War ja klar. »Wieso haben Sie hier eine Leiche?«, erkundigte sich Falk eher beiläufig, als sie das Gebäude betraten. »Ich dachte, hier gäb’s keine Forensik.« »Stimmt, aber wir haben die Leiche noch nicht überführt, weil wir wussten, dass Sie ja quasi am Anrücken sind. Sie brauchen ja keinen Vorbefund, hab ich gehört. Wer von Ihnen ist denn der Arzt?« »Ich«, sagte Bock, der die Fahrt mit Simon und Ingo gut überstanden zu haben schien. Der Polizist bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick, den er jedoch sofort zu verbergen suchte. »Gut, na dann … Bitteschön.« In einem kleinen Nebenraum lag der Leichnam auf einem notdürftig mit Handtüchern bedeckten Tisch. Es war ein junges Mädchen, etwa siebzehn. Fritz’ Meinung nach sah sie gar nicht unbedingt tot aus. Ihre Kleidung war der, die Kitty gerne trug, ganz ähnlich; vielleicht ein wenig mehr Nieten, außerdem ein Nasen- und ein Lippenpiercing. »Opfer Nummer vier ohne erkennbare Todesursache«, erläuterte eine soeben hinzugetretene Polizistin mit strengem Dutt. »Noch nicht obduziert, aber wir vermuten, dass sie auch zu dieser … Serie gehört.« »Stöpsel in den Ohren?«, fragte Ingo. »Ja.« »Können wir das Gerät haben?« »Das bekommen Sie, nachdem wir die Daten überspielt haben.« Damit schien Ingo nicht ganz zufrieden zu sein, nickte aber einsichtig. Vorsichtig trat Lasterbalk an den Tisch heran und berührte mit der Fingerspitze die Wange des Mädchens. »Die ist noch net ganz kalt«, stellte er fest. »Nein, sie ist vor etwa zwei Stunden auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben, nachdem sie in einem Künstlerbedarfsladen zusammengebrochen ist. Eine Freundin hat den Notruf abgesetzt.« Inzwischen hatte Bock seinen kleinen Koffer ausgeklappt, der, wie Fritz bemerkte, die nötigsten medizinischen Gerätschaften enthielt, die platzsparend genug verstaut werden konnten. »Würden Sie uns einen Moment allein lassen?«, fragte er die Beamten. Diese tauschten einen Blick. »Wir haben von den Methoden der MIU gehört. Die X-Akten des BfV.« Der Mann hob die Hand an die Mütze, und beide gingen hinaus. Fritz wandte sich ebenfalls zum Gehen und erwartete, dass die anderen außer Dr. Saltz ihm auch folgen würden, aber Falk erwischte ihn am Kragen und zog ihn sanft, aber bestimmt zurück. »Du bleibst hier, Fritz.« Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, holte Bock ein Gläschen aus dem Koffer. »Zwei Stunden, also … das klingt doch noch ziemlich frisch.« »Ich beiß da bestimmt nicht rein«, erklärte Falk kategorisch. »Das können wir uns auch nicht erlauben, weil die Leiche leider noch nicht obduziert ist.« Bocks Unterlippe verschwand zwischen seinen Zähnen. »Hmmm … Na, ich denke aber schon, dass ihr probieren solltet. Vielleicht finden wir ja was.« Er nahm eine Nadel zur Hand und punktierte damit die Vene auf dem linken Handrücken des Mädchens. Nur langsam quoll ein zäher, sehr dunkler Tropfen hervor, von dem Fritz sich mit weichen Knien abwenden musste. »Vampire können anhand des Blutes schneller Anomalien feststellen als Labore, Fritz«, sagte Bock an ihn gewandt. Wie immer, wenn er konzentriert arbeitete, wirkte er weder kokettierend noch aufgesetzt. »Aber sie können das Blut von Toten nur so lange trinken, bis die Verwesung fortschreitet. Danach zerfällt es, wird ungenießbar und sogar giftig für sie.« Inzwischen hatte sich das Gläschen etwa zur Hälfte mit Blut gefüllt. Bock drückte die kleine Wunde ab und reichte das Behältnis an Falk weiter. »Bitte, mein Lieber.« »Immer ich. Na ja, wohl bekomm’s.« Falk kippte das Blut in einem Zug hinunter. Und verzog angewidert das Gesicht. »Ooooh, neeee! Ääärch!« »Haltbarkeitsdatum wohl doch schon abgelaufen?«, witzelte Lasterbalk. »Nein, das nicht … aber es schmeckt extrem nach Stress! Pfui, das ist wirklich non comestible.« Micha erläuterte für Fritz: »Wenn der Mensch, den man beißt, Angst hat oder aufgeregt ist, gibt das eine … leicht herbe Note. Nicht unangenehm, eigentlich.« »Aber so was Ekelhaftes hatte ich noch nie im Mund!«, beharrte Falk grimassierend. »So was … Überwürztes!« »Tja.« Micha grinste Fritz schief an. »Stell dir vor, dir fällt der Salzstreuer in die Suppe.« Fritz fand den Vergleich mehr als unappetitlich. Brummend fuhr Falk fort: »Ich bin jedenfalls sicher: Herzversagen durch Stress.« »Dann sind wir nicht viel weiter als vorher«, folgerte Doc Saltz sichtlich bekümmert. »Hab gehofft, wir könnten das Rätsel gleich lösen … Nicht nachweisbare Drogen, oder so.« »Dann müssen wir wohl zurückverfolgen, was die Dame zuletzt gemacht hat. Ich meine, die Musik können wir zwar überprüfen, aber an der liegt’s sicherlich nicht. Wie auch? Da muss irgendeine Exposition vorgelegen haben. Musik, das sind ja nur … Schallwellen.« Bock schien ihm nur teilweise zuzustimmen, jedenfalls ließ seine ernste Miene Zweifel erahnen. »Abwarten«, sagte er. »Ich denke, hier sind wir erst mal fertig. Lasst uns zum HQ fahren und uns einrichten, dann könnt ihr morgen früh die Spurensuche aufnehmen.« Der provisorische Unterschlupf – für den ›HQ‹ eher ein Euphemismus war – befand sich unweit einer öffentlichen Badeanstalt namens Stadtbad, die allerdings gängig als Schwimmoper bezeichnet wurde. Fritz war froh, dass sie diesmal nicht in einem Keller hausten, dafür aber in einem leeren, recht baufälligen Haus, in dem es zwar die nötigsten Möbel, darüber hinaus aber nur weiße Wände und Linoleumboden gab. Außerdem war es ein großes Haus. Schon auf dem Weg aufs Klo verirrte er sich. Asp fand ihn und brachte ihn zurück in das, was als Seminarraum betitelt war: Tische und Stühle nahmen ein großes, hallenartiges Zimmer ein, an dessen Front ein Flipchart stand. Die Übrigen hatten inzwischen Schlafräume und Kochnische in Augenschein genommen und sämtliche Schränke inspiziert. »Also, eigentlich haben wir hier alles«, stellte Ingo, ausnahmsweise zufrieden, fest. »Müssen ja nicht das ganze Gebäude nutzen.« Zuallererst beschlagnahmte Bock ein größeres Zimmer, das er als provisorische Praxis einrichtete. Genug Schränke hatte er dort nicht, weshalb er seine Utensilien einigermaßen sortiert auf vier ausladenden Sideboards verteilte. Fritz vermutete, dass nichts weiter unternommen werden würde, als den Abend ausklingen zu lassen. »Wo bleibt eigentlich Buschfeldt?«, wollte er wissen. »Der ist unterwegs, wird aber erst morgen hier sein«, übernahm Pfeiffer die Antwort. Längst hatte er seinen Laptop wieder angeschlossen und Kontakt zu dem Mann namens Elsi hergestellt. »Hat sehr, sehr schlechte Laune. Sein Anschlusszug ist ausgefallen, er hat zweieinhalb Stunden auf einen anderen gewartet.« »Sänk ju for träwelling wis Deutsche Bahn!«, äffte Lasterbalk. »Zelte am Info-Point!« Alle lachten. Witze auf Buschfeldts Kosten würden morgen ein Ende haben, also galt es, den Abend noch auszukosten. Fritz hatte sich ein Zimmer ausgesucht und schlenderte gerade den Flur wieder hinunter, um nachzusehen, ob die Vampire weit genug von ihm entfernt nächtigen würden, als er eine Art Versammlung in Bocks Untersuchungszimmer bemerkte. Was besprachen die da ohne ihn? »Hey«, sagte er möglichst laut, um seinen Unmut zu demonstrieren, »was gibt es denn so Wichtiges, dass ihr alle hier seid?« »Du hast absolut nichts verpasst«, antwortete Hampf und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, in den Türrahmen. »Simon hat nur in den Flur gekotzt.« Fritz schaute verblüfft; Lasterbalk lachte: »Eine schöne Einweihung, da wir kaum ’ne Stunde hier sind, haha!« »Mein Gott, ich hab’s doch aufgewischt, also lasst mich«, beklagte sich Simon, der auf Bocks Liege saß und stur beiseite blickte. »Erschreckend ist ja nicht, dass du uns in den Flur gespuckt hast«, erwiderte Bock murrig, »sondern was.« Lasterbalk grinste immer noch. »Lass mich raten, was es diesmal war: Kekse, Cola, Erdnüsse? Lauter unverdaulicher Mist, wie immer?« Anders als der Arzt wirkte der große Mann gut amüsiert. Simon protestierte schwach: »Aber ihr macht es doch auch!« Es war klar, dass er die anderen Vampire meinte. »Ihr esst den ganzen Tag Kuchen und trinkt Bier!« »Den ganzen Tag? Stimmt doch gar nicht«, wehrte Micha die Behauptung ab. »Und ihr kocht euch sogar Pasta mit Knoblauch!« Falk und Lasterbalk tauschten einen vielsagenden Blick. »Schmittchen, wir sind viel älter als du.« Asp unterstrich diese Aussage durch gewichtiges Nicken. »Du weißt, man kann dem Magen angewöhnen, auch Füllmaterial zu akzeptieren, mit dem er nichts anfangen kann … Aber das geht nun mal nicht so schnell.« Als er Simons leidvollen Blick sah, fügte er aufmunternd hinzu: »Hilfreich ist es, zwischendurch immer wieder Blut zu trinken. Wenn man als Mensch viel Alkohol trinken will, geht das ja auch besser, wenn man was Richtiges im Magen hat.« Der junge Mann schnitt eine Grimasse. »Das versuch ich ja. Schon seit Wochen.« »Man muss sich einfach Zeit geben. Hyperborea macht dir doch auch keine Probleme mehr. Einfach erst mal mehr Flüssigkeit, langsam von Wasser auf Tee umsteigen, dann mal Milch versuchen, später hier und da ein Stückchen Schokolade … ja, Schokolade macht erstaunlich wenig Probleme … und dazwischen immer ein paar Schluck Blut.« »Ich bin eigentlich gar nicht dafür, dass ihr so viel Süßes esst«, sagte Bock verdrießlich. »Es gibt euch fast keine Energie, reine Ressourcenverschwendung. Haltet euch an Hyperborea, dafür haben wir das doch.« »Nur weil wir Vampire sind, wollen wir eben nicht auf alle menschlichen Annehmlichkeiten verzichten. Du darfst ja auch Hyperborea trinken, wenn du magst«, bot Falk ihm halb scherzhaft an. »Nee, danke, Schätzchen.« Saltz wandte sich an Simon. »Möchtest du beißen, oder …?« Der Patient schüttelte den Kopf. »Nein, ich … mag das immer noch nicht.« »Kommt noch«, sagte Micha zuversichtlich. »Bist ja noch klein.« »Nur altmodische Vampire beißen gerne«, sagte Asp. »Ich beiße auch gerne«, meinte Falk anmerken zu müssen. Lasterbalk klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist ein altmodischer Vampir.« Inzwischen holte Bock aus dem Sideboard, dessen Inneres sich für Fritz erst jetzt als ein großer Kühlschrank entpuppte, etwas heraus, das ihn aufgrund der roten Farbe zwang, beiseite zu sehen. »Entspann dich, Fritz, das ist nur eine Blutkonserve. A positiv.« Er winkte grinsend mit dem Beutel. Fritz hielt sich die Augen zu. »Das hab ich befürchtet.« Ergeben streckte Simon die Hand nach dem Metallbecher aus, in den der Arzt die dunkelrote Flüssigkeit goss. »Gib es mir so, es muss nicht warm sein.« Immer noch vermied er es, den Blicken der Umstehenden zu begegnen. Er schaute in den Becher nippte fast schüchtern daran. »Tut mir Leid, Leute.« »Du brauchst dich nicht zu schämen«, sagte Falk gutmütig. »Wir haben uns alle schon den Magen verdorben. Mehr als einmal. Das passiert so plötzlich, man schafft es nie bis zur Toilette.« Als die Männer sich schließlich zerstreuten, wandte Fritz sich an Falk. »Wie lange ist Simon schon ein Vampir?« »Weniger als zwei Monate. Er ist noch ein Baby, wie wir sagen, also ein ganz frischer.« Der andere seufzte. »Er hat noch nicht alles im Griff, macht sich aber ganz gut. Er hat eine harte Zeit hinter sich. Es war ziemlich verantwortungslos, ihn nach der Verwandlung einfach sich selbst zu überlassen. Eigentlich braucht er ihn noch.« »Brauchen? Wen?« »Na, seinen Erschaffer. Dessen Abkömmling er ist. Fritz, du brauchst noch ein paar mehr Vampirlektionen.« Dessen war Fritz sich voll bewusst. »Aber nicht mehr heute.« »Nein. Morgen, wenn wir den letzten Spuren der Opfer nachlaufen.« Falk wandte sich ab. »Gute Nacht.« Als er im Bett lag, lauschte Fritz auf unheimliche Geräusche, doch es war nichts zu hören. Er hatte seine Zimmertür abgeschlossen. Sicher war sicher. Jedoch stellte er zuletzt beruhigt fest, dass auch die Vampire zu schlafen schienen, und tat es ihnen gleich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)