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Look up at the sky

von

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~Blue~

Der Himmel war blau.

Das war keineswegs ungewöhnlich, er war tagsüber schon immer azurfarben gewesen und das würde sich auch nie ändern. Ein tröstlicher Gedanke in einer Welt, deren Antlitz jeden Tag mehr vom Krieg entstellt wurde.

Noch verstand er es nicht so richtig, er war noch zu jung, um zu begreifen, dass die Menschen starben und nicht einfach nur in den Himmel gingen; dass die Überlebenden sich vor Furcht in Gräben kauerten und nicht nur spielten.

In seinem kindlichen Gemüt war sein Vater ein Held, der in seinem Flugzeug durch die Luft flog und Menschen half – irgendwie mussten sie ja in den Himmel hinaufkommen – statt sie zu töten, wie es in Wahrheit geschah.

Er saß auf den Überresten seines Hauses, jenes, das er bis vor kurzem noch mit seinen Eltern bewohnt hatte, bevor es durch einen nächtlichen Luftangriff zerstört worden war. Er erinnerte sich noch an die Sirenen, die sie alle geweckt hatten, die angsterfüllten Augen seiner Mutter, nachdem sie ihn angewiesen hatte, sich im Keller zu verstecken... Aber in seinem Inneren wurde das alles zu einem Spiel, einer Verabschiedungszeremonie, bevor alle Erwachsenen, die nun nicht mehr da waren, mit den Flugzeugen in den Himmel gegangen waren. Seine Mutter gehörte ebenfalls dazu. Sie war einfach fort gewesen, als er wieder aus seinem Versteck herausgekommen war, mit Sicherheit hatte sie Angst vor dem Fliegen gehabt und ihn deswegen so angesehen. Aber zumindest verabschieden hätte sie sich können, wie er fand.

Sein Blick war unablässig in den Himmel gerichtet, das azurfarbene Firmament war so unerreichbar für einen Jungen in seinem Alter und doch schien es so nah als könnte man danach greifen, wenn man nur groß genug dafür wäre – oder hoch genug hinaufkäme.

Rings um ihn herum hatten bereits die Aufräumarbeiten angefangen, Menschen trugen Trümmer umher und unterhielten sich mit gesenkten Stimmen darüber, wie man den Wiederaufbau angehen sollte. Aber er kümmerte sich nicht darum, sondern starrte weiter in den Himmel hinauf.

So wie er die ihn umhergehenden Erwachsenen ignorierte, so taten sie das auch bei ihm, fühlte sich doch keiner von ihnen für ihn in irgendeiner Art und Weise verantwortlich, aber das störte ihn nicht weiter, so wurde er immerhin auch nicht in seiner Beobachtung unterbrochen.

Erst als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, fand jemand Beachtung für ihn. Zuerst waren aufgeregte Schritte zu hören, die sich im hastig näherten, dann schloss jemand ihn ohne Vorwarnung in die Arme und stieß ein erleichtertes Seufzen aus. „Arnaud!“

Der Junge wehrte sich nicht gegen die Umarmung, nicht nur, weil er die Stimme natürlich sofort erkannte, sondern auch weil er das unaufdringliche Rasierwasser direkt wiedererkannte. „Du bist zurück, Papa.“

Sein Vater lockerte die Umarmung ein wenig. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, nachdem ich es gehört habe.“

Er hob den Kopf, um sich umzusehen und die anderen Erwachsenen zu mustern. „Wo ist deine Mutter? Warum ist sie nicht bei dir?“

Fragend sah er seinen Sohn an, doch dessen Gesicht trübte sich kein bisschen. Er deutete direkt nach oben und verkündete mit fröhlicher Stimme: „Mama ist in den Himmel gegangen.“
 

Arnaud verstand es nicht so recht. Seine Mutter war in den Himmel gegangen, einer der Piloten musste sie dort hinaufgebracht haben, warum also standen er und sein Vater nun vor einem frischen Erdhaufen als würde sie darin liegen? Das machte doch gar keinen Sinn, warum sollte sie sich in der Erde verstecken, statt in den Himmel zu gehen?

Und warum trauerten sie, statt einfach in das Flugzeug seines Vaters zu steigen und sie besuchen zu gehen? War es vielleicht zu klein für zwei Personen? War es kaputt?

Doch er traute sich nicht, seinen Vater danach zu fragen, denn der traurige Blick des Mannes verriet, dass ihn allein der Gedanke daran zu sehr schmerzte.

Dabei war der Weg, seinen Kummer zu beenden, doch so einfach.

Arnaud zupfte vorsichtig an dem Hemd seines Vaters, bis dieser ihm die gewünschte Aufmerksamkeit schenkte und ihm den Blick zuwandte. Seine Augen waren rot, er hatte die ganze letzte Nacht geweint, so viel war Arnaud bewusst, auch wenn er immer noch nicht verstand, weswegen. „Papa, kannst du mir beibringen, wie man fliegt?“

Mit dieser Bitte hatte er offenbar nicht gerechnet. Er runzelte verwirrt die Stirn. „Warum?“

Das musste es sein! Sein Vater war bislang einfach nur nicht auf die Idee gekommen, dass er seine Mutter im Himmel besuchen gehen könnte, wenn Arnaud es ihm erklärte, würde er bestimmt erleichtert lachen und ihm versprechen, dass sie das bald nachholen würden.

„Na, Mama ist doch im Himmel. Ich will hochfliegen und sie besuchen.“

Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Sein Vater kniete sich vor ihn, das Gesicht eine grauenvolle Grimasse aus Schmerz, Trauer und Ernsthaftigkeit. „Arnaud...“

Er setzte an, um ihm etwas zu erklären, etwas sehr Wichtiges, wie man am Klang seiner Stimme heraushören konnte – aber dann besann er sich offenbar anders und nickte stattdessen. „Gut, ich bringe dir bei, wie man fliegt.“

Arnauds Gesicht begann regelrecht zu strahlen, als er das hörte. „Wirklich? Versprochen?“

Sein Vater lächelte – wenngleich immer noch mit einem traurigen Glitzern in den Augen, aber er lächelte, das war nicht zu leugnen – und nickte noch einmal. „Versprochen.“
 

Lange konnte er dieses Versprechen allerdings nicht einhalten.

Der Krieg endete wenige Tage nach diesem Ereignis. Nicht, weil es einer Seite gelungen war, den Sieg zu erringen, sondern weil die Verluste aller derart niederschmetternd gewesen waren, dass es nichts mehr gab, das man angreifen könnte und die letzten verbliebenen Soldaten es vorzogen, heimzukehren.

Während Arnaud ein Bilderbuch über Flugzeuge las, war sein Vater gemeinsam mit den anderen Stadtbewohnern dabei, Trümmer zu verräumen und Häuser wieder neu aufzubauen. Er hatte seinem Sohn versprochen, dass das neue Zuhause schöner als das alte sein würde und Arnaud hatte daraufhin sanft lächelnd genickt und sich wieder in das Betrachten eines Bildes vertieft, im festen Glauben, eines Tages mit einem solchen Flugzeug seine Mutter im Himmel besuchen zu können und sie zu fragen, warum sie ohne ihn gegangen war.

Zwei Männer, die Arnaud noch nie zuvor begegnet waren, lenkten plötzlich seine Aufmerksamkeit auf sich. Schon auf den ersten Blick konnte er sagen, dass sie gemein aussahen, sie blickten ernst, fast schon bösartig, die Mienen derart verschlossen, dass man instinktiv den Kopf zwischen die Schultern ziehen und hoffen wollte, dass sie achtlos an einem vorübergingen.

Aber das taten sie nicht, stattdessen erhob einer von ihnen sogar seine Stimme. „Mr. Vasquez?“

Obwohl Arnaud sich innerlich wünschte, dass er nicht darauf hören würde, hielt sein Vater bei der Arbeit inne und blickte die beiden Männer fragend an. „Ja?“

Einer der Fremden griff in seine Tasche und zog ein Dokument hervor, das er Arnauds Vater entgegenstreckte. Allerdings hielt er es ihm so dicht vor das Gesicht, dass es ihm unmöglich sein dürfte, zu erkennen, was darauf stand, so kam es Arnaud jedenfalls vor.

„Das ist Ihre Unterschrift, nicht wahr?“, fragte der andere Fremde.

Arnauds Vater neigte den Kopf ein wenig. „Ich denke schon, aber-“

Die beiden Besucher unterbrachen ihn sofort: „Das bedeutet, Sie schulden uns eine halbe Millionen Gella.“

Sein Vater blinzelte verdutzt. „Bitte was?“

Die Männer wiederholten ihre Forderung, worauf sein Vater sacht den Kopf schüttelte. „Nein, das ist nicht...“

Doch sein kraftloser Widerspruch blieb ungehört, einer der Männer fuhr bereits fort: „Wir erwarten nicht, dass Sie das Geld heute bezahlen, aber in einer Woche kommen wir wieder und dann sollten Sie es besser parat haben.“

Mit diesen Worten zogen die Männer wieder ab und ließen einen verzweifelten Mr. Vasquez zurück, der seufzend die Schultern hängen ließ. „Auch das noch.“
 

Die Männer kamen tatsächlich wieder und egal wie sehr Arnauds Vater ihnen zu erklären versuchte, dass er sich kein Geld geliehen habe, das er nun zurückzahlen sollte, keiner außer seinem Sohn hörte ihm zu.

Arnaud kauerte nicht weit entfernt unter einer Zeltplane, die ihr provisorisches Zuhause darstellte und beobachtete die drei Männer bei ihren Diskussionen. Sie warfen sich Wörter entgegen, erst recht gesittet, dann rasch immer wilder werdend, ohne dass eine Einigung in Sicht kam.

Am Liebsten wäre er irgendwie dazwischengegangen, aber seine Furcht vor diesen Männern war zu groß und außerdem hatte sein Vater ihn angewiesen, unter der Plane zu bleiben und nicht herauszukommen, egal was geschehen würde.

Wie gebannt beobachtete er die Diskutierenden, nicht einmal sein Buch über Flugzeuge konnte ihn davon abbringen – und so wurde er Zeuge einer für ihn überaus erschreckenden Szene.

Offensichtlich müde von dem Diskutieren mit dem Schuldner, holte einer der beiden Männer plötzlich aus und verpasste Arnauds Vater einen heftigen Fausthieb. Mit einem Keuchen ging der Getroffene zu Boden, ein weiteres Keuchen folgte, als einer der Männer ihm noch einen Tritt versetzte.

„Nächstes Mal hast du das Geld besser“, sagte er, spuckte verächtlich aus und ging dann mit seinem Kumpanen davon.

Arnaud wartete, bis die Männer nicht mehr zu sehen waren, ehe er sich vorsichtig aufrichtete und sein Versteck verließ. Außerhalb der Plane konnte er sehen, dass mehrere Erwachsene innegehalten hatten und seinen Vater nun mit mitleidigen Blicken musterten – aber keiner half ihm.

Sie alle sahen ihn nur an, vermutlich insgeheim froh darum, dass es nicht sie erwischt hatte und wandten sich schließlich wieder ab, als Arnaud sich neben seinen Vater kniete und ihn leise fragte, ob es ihm gutging.

Im ersten Moment gab er keine Antwort, Arnaud fürchtete schon, dass sein Vater schwer verletzt wäre, doch dann wandte er seinem Sohn das Gesicht zu und stellte eine Gegenfrage: „Was hältst du davon, wenn wir hier weggehen?“
 

Als sein Vater ihm diese Frage gestellt hatte, war Arnaud natürlich davon ausgegangen, dass sie nun in den Himmel gehen würden, um seine Mutter zu besuchen. Wie groß war seine Enttäuschung gewesen, als er schließlich zu der Erkenntnis gelangt war, dass sein Vater nur versuchte, den Schuldeneintreibern zu entgehen, indem er einfach in eine andere Stadt zog.

Aber sein Plan ging nicht auf.

Egal, wohin sie in den nächsten Jahren gingen, die Männer fanden sie stets wieder. Es waren nicht immer dieselben, manchmal waren es andere, aber sie gehörten alle zweifelsohne derselben Organisation an, so viel konnte Arnaud sagen. Und er lernte durch sie auch rasch, dass nicht jeder Konflikt mit Worten geklärt werden konnte, denn sie ließen sich nie beschwichtigen, ließen sich nie überzeugen, dass die Schulden nicht von seinem Vater getätigt worden waren. Die Männer blieben stur und beharrten auf ihre Forderungen, notfalls auch mit Gewalt.

Und während die Forderungen durch Zinsen und Spesen wuchsen, schien Arnauds Vater immer kleiner, sein Rücken immer stärker gedrückt zu werden, sein Haar immer grauer. Er war ein gebrochener Mann, das schien Arnaud ganz eindeutig und je öfter er Zeuge von diesen Begegnungen mit den Schuldeneintreibern wurde und je mehr er seinem Vater betrachtete, desto klarer wurde ihm eines: Er wollte auf keinen Fall so enden.

Niemals, so schwor er sich, würde er zulassen, dass irgendjemand ihn so hereinlegen würde, niemals sollte jemand aus seiner Naivität einen Vorteil schlagen.

Und so begann er zu lernen, Bücher zu lesen, die so kompliziert waren, dass er manche Sätze mehr als einmal lesen musste, um sie zu verstehen. Jede Faser seines Seins verschrieb er der Aufgabe, Wissen aufzusaugen, um es ihm geeigneten Moment anwenden zu können.

Geschichte, Biologie, Geografie, eine Art von Magie, die Formula genannt wurde – es gab nichts, was er nicht wie ein Schwamm in sich aufsaugte.

Er würde einen Verstand aufbauen, der so scharf wie eine Rasierklinge war, das schwor er sich. Egal, was er dafür tun müsste.
 

Als sein Vater starb, glaubte Arnaud schon lange nicht mehr an den Himmel oder dass er seine Mutter dort eines Tages besuchen würde.

Dennoch war er fernab jeder Trauer, als er am Grab seines Vaters stand und dort einige Blumen niederlag. Für den geschundenen Mann, der jeden Tag gefürchtet hatte, wieder den Schuldeneintreibern zu begegnen, musste der Tod einer Erlösung gleichgekommen sein.

Zumindest für Arnaud war es eine gewesen. Mit dem Tod seines Vaters war er frei. Frei, das zu tun, was er wollte, ohne sich stets bedeckt halten zu müssen, ohne fürchten zu müssen, gerade zu laut gesprochen und damit jemanden auf sich und seinen Vater aufmerksam gemacht zu haben.

Nun könnte er losziehen, ein Drifter werden, wie so viele andere auch. Er könnte das Land bereisen, Aufträge annehmen, möglicherweise sogar selbst andere Leute über den Tisch ziehen – die Intelligenz dafür besaß er inzwischen allemal.

Wie so oft im seinen Leben, blickte Arnaud in den Himmel, der ihm nun unendliche Freiheit versprach und ihn dazu locken wollte, das Abenteuer, das vor ihm lag, direkt zu beginnen und nicht länger zu zögern. Etwas, was er sich nicht zweimal sagen ließ.

Mit einem Lächeln wandte er sich von dem Grab seines Vaters ab und tat den ersten Schritt in sein neues Leben, den Blick noch immer in den Himmel gerichtet.

Der Himmel war blau.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  LeanaCole
2014-12-24T07:23:38+00:00 24.12.2014 08:23
Es geht hier um Arnaud... da muss ich dabei sein :D

Die Stimmung dieser kurzen Geschichte über Arnauds Vergangenheit hat mich beim Lesen richtig gepackt. Es war düster und traurig, aber stets mit einer gewissen Portion Hoffnung seiten Arnauds gefüllt. Die Naivität des kleinen Jungen fand ich hier besonders gut in Szene gesetzt. Sie hat gezeigt, dass er einfach zu jung war, um die ganze Situation zu begreifen und er sich lieber seine eigenen Erklärungen gesucht hat.
Am Besten fand ich aber, dass du Arnauds besten Spruch reingebracht hast. Denn der darf einfach nicht fehlen *grins*
Zu schade, dass es schon so schnell vorbei war. Trotzdem fand ich es klasse :D


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