Anders von Alaiya (Shibumi X Megumi) ================================================================================ Teil II - Anomalie ------------------ Zwei Tage nach ihrem weniger angenehmen Heiligabend, saß Megumi auf dem Sofa in ihrem sehr kleinen Wohnzimmer und starrte auf die flimmernde Mattscheibe des Fernsehers. Sie trug einen Jogginganzug, löffelte lustlos einen Joghurt und sah sich eine Comedyshow an, die ihr allerdings nur selten mehr als ein müdes Lächeln entlockte. Aufgrund des eher bescheidenen Wetters, hatte sie beschlossen, das ihr erster freier Tag seit einer Woche ein Tag zum Faulenzen sein würde. So hatte sie, während draußen ein beständiger, eisig wirkender Nieselregen vom grauen Himmel gefallen war, ein langes gemütliches Bad genommen, ein wenig gelesen und sich am Nachmittag schließlich in aller Ruhe vor den Fernseher gesetzt. Wie die meisten Leute, die aus purer Langeweile und Faulheit fernsehen, schaute auch Megumi nichts besonderes, an dem sie wirklich Interesse hatte, sondern war beim Durchschalten einfach bei dem Programm stehen geblieben, das im Moment am wenigsten langweilig war. Ihre Laune war noch immer weit davon entfernt „gut“ zu sein, aber im Moment zumindest erträglich, auch wenn sie sich irgendwie einsam in ihrem kleinen Wohnzimmer fühlte. Insgeheim nahm sie sich vor, nächstes Jahr auch einfach mal über die vermeintlichen Feiertage zu verreisen, und wenn sie es allein tat. Das wäre wenigstens nicht so deprimierend, wie zu arbeiten und den Rest der Tage entweder in der Kälte draußen oder allein zu hause zu verbringen. Wobei es ja auch ganz anders sein konnte, nächstes Jahr... Denn in einem Jahr konnte sich eine Menge ändern. Sie hoffte es nur. Auf jeden Fall war sie nächstes Jahr wieder ein Jahr älter, dachte sie und seufzte. Dann stand sie auf, um in die Küche zu gehen und den leeren Joghurtbecher weg zu schmeißen. Und während sie überlegte, ob sie sich einen neuen Becher aus dem Kühlschrank nehmen sollte, klingelte ihr Telefon. Schnell lief sie zurück ins Wohnzimmer, wenn auch nicht ganz ohne sich zu wundern, wer sie überhaupt anrief, um rechtzeitig abheben zu können. Sie erreichte das Telefon beim dritten Klingeln und drückte auf die „Abheben“-Taste. „Ja, hallo? Onodera hier“, meldete sie sich. Kurz herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Hallo. Hier ist Mizuno Gorou.“ Erneut brauchte sie etwas, um den Namen zuordnen zu können. „Shibumi-san?“ „Ja“, erwiderte der Mann nach kurzem Zögern. Nun, auf der Liste potentieller Anrufer, auf jeden Fall jemand, der sich ganz unten fand. Woher hatte er überhaupt ihre Telefonnummer? „Haben Sie Zeit, Onodera-san?“, fragte er nach einer kurzen Pause. „Ich habe ein paar Fragen, die Sie mir vielleicht beantworten können.“ Megumi verkniff sich ein Seufzen. Natürlich hatte sie Zeit, doch ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sie wenig Lust hatte, ins kalte Nass hinaus zu gehen. Da empfand sie die Möglichkeit sich weiter vor dem Fernseher zu langweilen wesentlich ansprechender. Sie überlegte, sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Entschied sich aber dann jedoch dagegen, zum einen aus Respekt, zu dem sie ihre Mutter in früher Jugend mehr als einmal ermahnt hatte, zum anderen jedoch auch aus Neugierde. „Ja, an sich schon“, antwortete sie daher nach einigem Zögern. „Gut, danke“, erwiderte Shibumi mit einer Spur von Erleichterung in der Stimme. „Wo können wir uns treffen?“ „Hmm.“ Erneut zögerte Megumi. „Wo sind Sie im Moment untergebracht, Shibumi-san?“ Er nannte ein Hotel und dessen Adresse, woraufhin sie etwas überlegte, um diese zuordnen zu können. „Ich kenne eine Bar in der Nähe“, stellte sie dann fest, was nahezu selbstredend war, da das Hotel in der Nähe von Golden Gai lag. „Wenn Sie an der Station von Gai auf mich warten.“ „Sehr gern.“ Etwa zwanzig, vielleicht auch dreißig Minuten später verließ Megumi das Apartementhaus in dem sie lebte. Sie hatte sich nur wenig zurecht gemacht, nicht mehr, als dass sie es für die Arbeit tat, da sie sich sicher war, dass seine Fragen ohnehin mit dieser zu tun hatten. Ein roter Regenschirm bewahrte sie vor dem Nieselregen, konnte sie aber nicht vor dem kühlen Wind schützen, der auch immer wieder einzelne der kleinen Tropfen gegen ihren beeschen Mantel wehte. Sie fröstelte leicht und war dankbar dafür, dass der Winter in Tokyo relativ mild war, verglich man ihn mit den nördlicheren Städten oder gar Hokkaido. Dank der Lage direkt am Pazifik war es meist sogar milder, als im etwas weiter südlich gelegenen Kyoto. Kurz sah sie zum Himmel auf, wo durch die Wolken ein Großteil der Strukturen der digitalen Welt verdeckt war. Nur einzelne der Datenströme waren leuchtend am dunklen Himmel zu erkennen. Manchmal konnte sie die Frage nicht abweisen, wie es sein konnte, dass jene andere, digitale Welt fast mit der ihren verschmolzen war. Wie konnte so etwas möglich sein. Doch dann dachte sie sich immer, dass dies Fragen waren, die für intelligentere Menschen zu beantworten blieben. Auf dem Weg zum Bahnhof erschreckte sie sich fast, als ein großes Digimon über sie hinwegflog, das jedoch offenbar keine feindlichen Absichten hatte. Wie erwartet war es voll an der Station und nicht minder voll in der einfahrenden U-Bahn. Zwar war es Sonntag und ein nicht offizieller Feiertag, doch das machte in einer belebten Gegend wie Shinjuku keinen Unterschied. Erleichtert seufzte sie auf, als sie den vollen, wenn auch nicht überfüllten Wagon drei Stationen später wieder verließ. Sie folgte der Menschenmenge nach draußen und sah im Gedränge einen Jungen, von vielleicht gerade sechzehn oder siebzehn Jahren, der ein kleines, aber eindeutig echtes Digimon an sich gedrückt hatte. Offenbar einer der fünfzig Tamer der Stadt. Dann entdeckte sie Shibumi, dessen Blick ebenfalls dem Jungen mit dem Digimon folgten, und sie bemerkte einen seltsamen Ausdruck in seinen Augen, war sich jedoch nicht ganz sicher, ob sie diesen richtig zuordnen konnte. „Shibumi-san!“, rief sie nach kurzem Zögern dann aus, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er sah zu ihr hinüber und nickte ihr zu Begrüßung zu, bis sie ihn erreicht hatte. „Ich fürchte, ich habe mich etwas verspätet“, entschuldigte sie sich, unsicher, was sie überhaupt sagen sollte. Darauf schüttelte er den Kopf. „Kein Problem“, erwiderte er. „Ich bin froh, dass Sie überhaupt kommen konnten. Danke noch ein Mal.“ Sie winkte ab. „Nein, keine Ursache.“ Wieder einmal zögerte sie. „Was wollten Sie überhaupt fragen?“ Für einen Moment schwieg er. „Lassen Sie uns darüber reden, wenn wir aus dem Regen sind“, meinte er dann. „Sie sagten, Sie kennen hier eine Bar.“ „Nun, ja...“ Verlegen lächelte sie. „Allerdings gibt es hier genug Auswahl.“ Darauf ging Shibumi nicht ein. „Ich folge Ihnen.“ Leise seufzend ging sie also voran. Die Bar, an die sie als erstes dachte, wenn es zu Golden Gai ging, war eine kleine Café-Bar, die es schon gegeben hatte, als sie in Tokyo studiert hatte. Damals war sie oft mit Kommilitoninnen, seltener auch Kommilitonen hergekommen. Später war sie öfter mit Reika hingegangen und auch jetzt traf sie sich ab und an mit Freundinnen dort. Das sie den Laden selten bis gar nicht in mit männlicher Begleitung aufgesucht hatte, hatte übrigens weniger damit zu tun, dass dieser auf irgendeine Art und Weise „weibisch“ gewesen wäre, sondern viel mehr damit, dass sie in den 32 Jahren ihres Lebens nur selten Zeit mit Männern verbracht hatte. Von ihrem Vater, ihren Exfreunden und natürlich diversen zum jeweiligen Zeitpunkt mit einer ihrer Freundinnen ausgehenden Kerlen einmal abgesehen. Vielleicht auch ein Faktor der zur jetzigen Situation des Singledaseins mit 32 beigetragen hatte. Aber was brachte es jetzt darüber zu philosophieren? Als sie die kleine Bar betraten, musste Megumi feststellen, dass sie seit mindestens einem Jahr nicht mehr hier gewesen war. Viel verändert hatte es sich allerdings nicht. Es war noch immer eine etwas seltsam wirkende Mischung eines amerikanischen Cafés und einer klassischen japanischen Bar. „Willkommen“, rief ihnen eine Bedienstete von der Bar aus zu, als sie eintraten. Etwas unsicher sah Megumi sich um. Es saß eine Gruppe Jugendlicher, wahrscheinlich Studenten, an der Bar und schien sich so wunderbar zu unterhalten, dass sie ihnen keine Beachtung schenkten. Ein Pärchen, sie schätzte die beiden auf Mitte Zwanzig, saß an einem der Tische, und ein Mann etwa in ihrem Alter, an einem weiteren und las Zeitung. Sobald sie sich selbst an einen der wenigen Tische platz genommen hatten, kam auch schon die Bedienung, ein Junges Ding, vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig, die offenbar sehr eifrig bei ihrer Arbeit war. Nachdem sie bestellt hatten, sah Megumi zu ihrem Begleiter herüber, der schon wieder irgendwie abwesend wirkte. „Shibumi-san“, begann sie erneut und sein Blick glitt wieder zu ihr hinüber. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass der Name ihn verärgerte, verstand aber nicht wieso. Als er noch in Japan gearbeitet hatte, hatte ihn nahezu jeder so gerufen. „Was wollten Sie nun fragen?“, wiederholte sie und hoffte, nicht all zu ungeduldig oder unhöflich zu wirken. „Ah, ja“, begann er murmelnd. „Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass ich eigentlich mit Yamaki-san oder Tao sprechen wollte, aber da er im Moment nicht zu erreichen ist, dachte ich, dass Sie mir vielleicht helfen können.“ Na wunderbar, grummelte ein innerer Teil von ihr. Sie war der Ersatz für den Ersatz. Zwar konnte sie es ihm nicht ganz verdanken, zumal sie ihn und er sie ja kaum kannte, doch gehörte sie, auch wenn sie sicher nicht dieselbe Übersicht hatte wie Yamaki, immerhin zu den Mitarbeitern, die von Anfang an bei Hypnos gearbeitet hatten, und hatte dementsprechend einen hohen Rang. Sie versuchte allerdings, sich nichts anmerken zu lassen. „Aber wieso haben Sie mich nicht vorgestern darauf angesprochen?“ Nun zögerte er. „Weil es nicht der richtige Ort war.“ Sie verstand nicht. „Wenn es sensibel ist, gibt es dann nicht hier zu viele Leute, die zu hören?“ „Nein“, erwiderte er entschlossen. „Hier sind vielleicht mehr Leute, aber weder jemand, der etwas davon versteht, noch jemand, den es interessieren würde.“ Kurz sah sie sich noch mal um und musste ihn recht geben. Die Bedienung wirkte nicht, als würde sie von diesen Dingen etwas verstehen, selbst wenn die Studenten es täten, so waren diese viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Bier beschäftigt, um ihnen irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Auch das Pärchen in der Ecke der Bar, hatte sicher besseres zu tun, und der Herr mit der Zeitung, hatte ganz offenbar mehr Interesse am aktuellen Finanzmarkt, als an digitalen Monstern. Da kam die Bedienung auf sie zu und brachte ihnen Kaffee und Cola. „Bitte sehr“, meinte sie überschwänglich, woraufhin beide nur einen kurzen Dank murmelten. Erst nachdem die junge Dame wieder hinter den Tresen verschwunden war, fuhr Shibumi fort. „Ich arbeite seit einigen Monaten für die Amerikanische Regierung.“ „Was?!“, rief Megumi, etwas zu laut aus, und zog damit zumindest die Aufmerksamkeit des Pärchens und des Mannes mit der Zeitung auf sich, was sie verschämt auf den Tisch sehen ließ. Shibumi sagte nichts, sondern wartete nur. „Entschuldigen Sie“, brachte sie schließlich hervor. „Ich war nur...“ Sie suchte nach dem richtigen Wort. „Überrascht“, schloss sie dann, auch wenn das richtige Wort wohl eher „schockiert“ gewesen wäre. Daraufhin erwiderte er nichts, nur in seinen Augen spiegelte sich etwas wieder, was sie als Schuldbewusstsein interpretierte. Natürlich war die aktuelle amerikanische Regierung, nachdem die letzte, wenn man so wollte, für die aktuelle Situation verantwortlich war, sehr offener gegenüber den Digimon und Tamers. Doch änderte es nichts daran, dass die Regierung unter Dean Maille zuvor, nicht nur Daisy und Dolphin mehr oder minder entführt hatte, sondern auch mit D-Reaper die Digiwelt beinahe zerstört hatte, was dazu geführt hatte, dass die Grenze zwischen den Welten gänzlich zusammen gebrochen war. Und so wenig Megumi sich auch für Politik in anderen Ländern interessierte, so konnte sie nicht umher, die Regierung in Amerika als noch manipulierbarer als die eigene anzusehen. Sie musterte Shibumi. Sie war sich ziemlich sicher, dass sich Präsident und US-Senat wieder gegen die Digimon wenden würden, wenn es noch einmal eine Katastrophe, wie vor beinahe schon drei Jahren mit den Demon Lords geben würde. Auf welcher Seite würde Shibumi stehen, hätte er eine Wahl? Immerhin wusste er sicher auch so, dass man ihn dann ohnehin keine Wahl lassen würde. Nun bereute sie es, ihm Zugriff auf die Daten Hypnos gegeben zu haben, ohne Yamaki vorher um seine Meinung zu fragen, und wusste, dass es eine dumme Idee gewesen war. Doch wie... Sie schüttelte ihre Gedanken ab, um nicht zu abgelenkt zu wirken. An ihrer Entscheidung von Vorgestern konnte sie nun ohnehin nichts mehr ändern. „Ich habe bei meiner Arbeit etwas seltsames entdeckt“, fuhr Shibumi schließlich fort. „Nun, eigentlich mehrere seltsame Dinge.“ Für einen Moment schwieg er bedächtig. „Und auch wenn ich einige Vermutungen habe, so wollte ich diese erst bestätigen. Zumal ich nicht möchte, dass bestimmte Informationen in falsche Hände geraten.“ Also traute er der Regierung, für die er arbeitete doch nicht. Doch wieso tat er es dann? Für einen Informatiker und Programmierer von seinem Rang und Namen, sollte es nicht schwer sein eine Anstellung zu finden. Also: Wieso? Jedoch fragte sie nicht. Er holte einige zusammengeheftete Unterlagen aus der Aktentasche, die er bei sich hatte und zeigte sie ihr. „Die habe ich vor einer Woche ausgedruckt“, sagte er. Megumi schwieg, während sie versuchte die Daten zu verstehen, die dort standen. Sie konnte so viel erkennen, dass es sich um Programmfragmente, der unteren Ebenen der digitalen Welt handelte, doch verstand sie davon nur wenig. Zwar hatte sie Informatik und Netzwerktechnik studiert, aber ihre Kenntnis bezüglich der Programme jener Welt, war trotz ihrer langen Arbeit in Hypnos nicht sonderlich vertieft. Trotzdem erkannte sie, nachdem sie die Unterlagen für einige Minuten studiert hatte, das es Teile gab, die nicht zum Rest des Programmes passte. „Ein Teil der Ebenen hat in den letzten Wochen begonnen, sich zu verändern“, erklärte er nun. „Ich hatte gehofft, dass Sie hier bereits davon wüssten, vielleicht sogar die Ursache kannten.“ Für einige Sekunden überlegte Megumi, schüttelte dann aber den Kopf. „Mir ist nichts dergleichen bekannt“, erwiderte sie dann bestimmt und in einem Tonfall, der – so hoffte sie – auch sagte, dass sie es für unwahrscheinlich hielt, dass jemand anderes dergleichen wusste. Erneut schwieg Shibumi, seufzte dann aber. „Zu Schade“, murmelte er. „Ich wüsste zu gern, ob es einfach eine natürliche Entwicklung ist, die aus der aktuellen Situation wurzelt.“ Darauf konnte sie nichts erwidern, verstand sie doch die Wissenschaft hinter der Situation als solcher kaum. „Aber es gibt noch etwas anderes“, fuhr Shibumi fort. „Ich habe vor nur wenigen Tagen eine Anomalie gefunden, bei der ich mir nicht sicher bin, ob es einfach nur ein Digimon ist.“ Nun breitete sich Erkenntnis auf Megumis Gesicht aus. „Ich glaube, ich weiß, wovon Sie reden“, antwortete sie. „Eine sehr große Programmstruktur im Netz?“ Sie suchte nach einem Anzeichen im Gesicht des Mannes, dass sie richtig lag, und er nickte. „Wir beobachten diese schon seit letztem Dienstag. Aber es verhält sich, wie ein Digimon.“ Kurz zögerte sie, weil es im Verlauf der Woche mehrere Diskussionen darüber gegeben hatte. „Akiyama-kun meinte, dass es vielleicht ein Digimon sei, dass viele andere absorbiert hat. Das würde die Datenmasse erklären.“ Yamaki war anderer Meinung gewesen, aber da sie bisher keine erfolgreiche Analyse des Programmes hatten durchführen können, es sich jedoch auch nicht auffällig destruktiv verhielt, schien Akiyama Ryous Idee ihr noch immer am wahrscheinlichsten. Und solange es keine Anzeichen gab, dass jenes Programm auf irgendeine Weise feindlich oder gefährlich war, lag ihr Hauptinteresse bei den Digimon, deren Überwachung wichtiger war, den Digimon in der realen Welt, speziell in Tokyo. Shibumi schien über die Theorie nachzudenken. „Es könnte sein“, erwiderte er schließlich. „Ja, es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Junge Recht hat.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ich frage mich nur ob es Zufall ist...“ Er brach ab und schüttelte dann den Kopf. „Wahrscheinlich ist es nichts, was besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Entschuldigen Sie, dass ich Sie deswegen extra hergebeten habe.“ Höflich schüttelte sie den Kopf. „Es ist in Ordnung“, erwiderte sie und überlegte kurz, ehe sie hinzufügte. „Ich hatte ohnehin nichts anderes zu tun. Entschuldigen Sie bitte, dass ich ihnen nicht weiterhelfen konnte.“ Er winkte ab. „Wahrscheinlich ist es wirklich nichts. Wahrscheinlich...“ Für einen Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck, doch er sprach nicht weiter. „Darf ich Sie worauf einladen, damit Sie nicht gänzlich umsonst hergekommen sind?“ Megumi überlegte kurz. „Natürlich, vielen Dank.“ Für die nächsten eineinhalb Stunden redeten sie über Nichtigkeiten oder schwiegen teilweise für Minuten. Megumi konnte nicht umher Shibumi genauer zu beobachten. Sie kannte ihn kaum – natürlich kannte sie ihn kaum – doch trotzdem konnte sie nicht umher, sich zu fragen, was den Mann im letzten Jahr so sehr verändert hatte. So sehr, dass sie, obwohl sie ihn kaum kannte, es deutlich merkte. Denn es war nicht nur sein Äußeres, das er verändert hatte. Seine ganze Art, seine Ausstrahlung wirkte anders. Zuvor war er, auf eine seltsame Art, faszinierend gewesen. Er hatte viel geschwiegen, und wenn er etwas gesagt hatte, war man sich selten sicher gewesen, ob er mit seinem Gegenüber oder nur mit sich selbst redete. Er hatte oft verträumt gewirkt, abwesend, aber freundlich. Abwesend wirkte er jetzt immer noch, jedoch weniger auf eine verträumte Art. Viel eher wirkten seine Augen kalt und irgendwie hoffnungslos. Doch wieso? Jedoch fragte sie nicht. Immerhin kannte sie ihn wirklich nicht. Was hatte sie für ein Recht zu fragen? Was wusste sie, über ihn, außer, dass er ein genialer Informatiker war und damals, zusammen mit Janyuu, Dolphin und den anderen damals in Sao Alto die Grundlagen von dem programmiert hatten, aus dem sich später hatten die Digimon und die digitale Welt entwickeln sollen? Nein, das ging sie nichts an, weswegen sie schwieg, bis sie, nachdem er gezahlt hatte, die Bar verließen. Es war eigentlich nur eine Kleinigkeit. Ein Digimon, das auf sie zugelaufen kam und sie auf einmal anknurrte. Es war stämmig, hatte dunkles, gestreiftes Fell und ein spitzes, silbernes Horn auf der Stirn, während die nicht minder spitzen Zähne gebläckt waren. Megumi schreckte zurück. Sie erkannte es zwar als Child-Digimon und immerhin ging es ihr nicht einmal bis zur Hüfte, doch das änderte nichts daran, dass es ihr gefährlich werden konnte. Ihre stille Begleitung jedoch reagierte gar nicht, sondern sah das kleine Monster einfach nur an. Da kam ein Junge, Megumi schätzte ihn nicht älter als 16, um die Straßenecke gelaufen. „Black Gabumon!“, rief er aufgebracht, worauf sich das Digimon umwandte und aufhörte zu knurren. Der Junge wirkte kleiner als er war und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, unter der hervor jedoch einige dunkle Haare in sein Gesicht fielen. Er wirkte verunsichert und schreckte seinerseits ein Stück zurück, als er bemerkte, was sein Partner, dessen Pupillen noch immer zu kleinen Punkten zusammengezogen waren, getan hatte. Er verbeugte sich. „Es tut mir leid“, presste er verzweifelt hervor. „Es... Mein Partner hat sich nicht immer ganz unter Kontrolle. Es tut mir so leid.“ Megumi seufzte und hätte den Jungen wohl sogar auf die Schulter geklopft, hätte dessen Partner sie nicht noch immer so feindselig zu ihr herüber gesehen. „Ist schon in Ordnung“, meinte sie und lächelte ihn aufmunternd an. „Es ist ja nichts passiert. Mach dir keine Sorgen, sondern versuch einfach das nächste Mal besser aufzupassen.“ Für einen Moment musterte der Junge sie, mit einem noch immer furchtbar unsicheren Blick, fast, als erwartete er eine direkte Strafe. „Danke“, stammelte er dann. „Das werde ich. Vielen Dank. Es tut mir leid.“ Und ehe sie noch etwas erwidern konnte, griff der Junge nach dem Kopf des Digimon, worauf es ihn ansah, drehte sich um und lief, von seinem Black Gabumon gefolgt, in die Richtung von dannen, aus der er gekommen war. Megumi sah ihnen hinterher und hatte schon fast Mitleid mit den Jungen, der so verängstigt gewirkt hatte. Dann jedoch drehte sie sich zu Shibumi um, der die ganze Zeit nichts gesagt hatte, und erschreckte beinahe erneut, als sie denselben Blick in seinem Gesicht sah, wie schon früher am Abend, als der andere Junge mit einem Digimon am Bahnhof an ihnen vorbei gegangen war. Und jetzt meinte sie die Emotionen dahinter zu erkennen. Es waren Verbitterung und Einsamkeit. „Shibumi-san?“, begann sie auf einmal, bevor sie darüber nachdenken konnte. „Was ist mit Ihnen passiert?“ Sie zögerte, als sich sein Blick wieder fokussierte und er sie ansah. „Sie sind so... anders.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)