Eine Weihnachtsgeschichte von abgemeldet (Nach Charles Dickens) ================================================================================ Kapitel 1: Der erste Geist – Berthold Hawkeye --------------------------------------------- Roy konnte nicht einschlafen, weil er zu nervös war, um seine Ruhe zu finden. Eine Stunde lang ging er nervös in seinem Wohnzimmer auf und ab, während er immer wieder zur Uhr sah. Er stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch und wünschte sich fast, dass er es hinter sich hätte. Endlich schlug es Mitternacht und mit einem Husten erschien ein Mann in seinem Sessel. Fahlblondes Haar fiel bis auf die Schultern des Mannes, doch auch wenn er gesünder aussah, als Roy ihn jemals lebend gesehen hatte, erkannte er ihn sofort. „Master Hawkeye!“, sagte er überrascht, nein, schockiert. „Ein Hund der Armee ist aus dir geworden, Roy…“ Master Hawkeye schüttelte den Kopf und sah ihn missbilligend an, „und du hast meine Tochter mit in diesen Höllensumpf hineingezogen … wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nie und nimmer als Lehrling angenommen…“ „Wir haben ihr Leben beide verpfuscht, Master Hawkeye“, erwiderte Roy trocken. „Da hast du wohl bedauerlicherweise Recht, Roy…“ Berthold seufzte schwer. „Nun, wir sollten den alten Zeiten nicht hinterher trauern. Es ist vorbei … und wir müssen sehen, wie wir damit zurechtkommen. Nun … besser gesagt … du musst sehen, wie du damit zurechtkommst, weil ich ja offensichtlich schon mausetot bin.“ „Hughes hat gesagt, dass Sie, er und noch jemand mir etwas zeigen wollen“, sagte Roy leise und sah seinen eigentlich toten Lehrmeister an. „Um was handelt es sich dabei?“ Berthold seufzte schwer. „Ich bin der Geist der vergangenen Jahre“, sagte er ruhig, „und ich bin hier, um dir zu zeigen, was du all die Jahre über nie zu schätzen wusstest … was du wieder und wieder zurückgewiesen hast, weil du zu blind warst, es zu sehen.“ Ein kalter Wind fuhr durch das Zimmer und Roy schloss für einen kurzen Moment die Augen, weil sein Haar in seine Augen geweht wurde. Als er sie wieder öffnete, war er zurück in Lanchester, zurück im Haus seines Lehrmeisters. Aber es musste vor seiner Ankunft sein, denn als er dort gelebt hatte, hatten längst keine Familienporträts von früheren Generationen der Hawkeyes in der Diele gehangen. „Es ist inzwischen zwanzig Jahre her“, sagte Berthold leise. „Meine Frau war gerade erst tot … und ich musste zu einem wichtigen Kongress. Ich … ich konnte Riza nicht mitnehmen.“ Roy folgte seinem Blick und sah das blonde Mädchen, das zusammengekauert am Fuß der Treppe saß, und bitterlich weinte. Es war unverkennbar eine deutlich jüngere Riza und er machte unbewusst einen Schritt auf sie zu, um einen Arm um sie zu legen, um sie zu trösten, aber Berthold hielt ihn zurück. „Sie kann uns weder sehen noch hören“, sagte er leise. „Du willst sie vielleicht trösten, aber für diese Riza kommt jeder Trost Dekaden zu spät. Die Chance, sie zu trösten und ihr ein neues Morgen zu zeigen, sind lange an dir vorbeigegangen.“ „Es … es tut mir leid…“, murmelte Roy. „Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals weinen gesehen zu haben. Sie erschien immer so stark … fast so, als würde sie nichts und niemanden auf dieser Welt brauchen. Wie kann sie da tief in ihrem Inneren so … verletzt sein?“ Berthold zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise weißt du es, kannst es aber zurzeit nicht in den Kreis der Hochverdächtigen aufnehmen“, sagte er trocken. „Fakt ist nur, dass sie schon lange zerbrochen war, bevor du auch nur einen Fuß in unser Haus gesetzt hast. Dein Selbsthass darüber, sie zerstört zu haben, den du seit Jahren kultivierst, ist daher nicht mehr als ein dummer Einfall, mit dem du sie mehr verletzt als dich selbst. Du solltest hin und wieder darüber nachdenken, welche Folgen dein Handeln auf andere hat.“ „Ist das alles, was ich lernen sollte? Wenn ja, dann würde ich jetzt gerne wieder nach Hause“, sagte Roy. „Okay, ich hab’s kapiert: ich treffe jeden Tag etliche Entscheidungen, die Miss Riza schaden. Ich werde mich ändern. Ich kann das … aber bitte … ich will sie nicht mehr weinen sehen. Das ist schmerzhaft…“ Berthold sah ihn grimmig an. „Nein … es ist nicht alles, was ich dir gerne zeigen würde“, sagte er. „Wie kommen Sie eigentlich damit klar, dass Riza ausgerechnet mir ihr Tattoo gezeigt hat?“ „Sie ist ein kluger Kopf, aber … ich wünschte, ich hätte eine Alternative dazu gehabt, ihren Rücken auf immer und ewig zu ruinieren“, sagte Berthold und biss sich auf die Zunge. „Ich war ein Idiot, was das anging, vielleicht der größte Idiot überhaupt.“ Ein erneuter Windstoß brachte sie an einen anderen Ort, zu einer anderen Szene. Riza war älter, diesmal, aber noch immer jung. Roy sah ihren Gesichtsausdruck und er wusste, dass es irgendwann nach seinem Weggang gewesen sein musste, denn er hatte sie selten so bitter gesehen. Die Sorgenfalten waren tief in ihre Stirn eingegraben und sie sah müde und völlig erschöpft aus. Berthold seufzte schwer. „Damals war ich schon krank“, sagte er, „aber wir hatten nicht das Geld, um eine Haushälterin oder so einzustellen. Riza hat alles machen müssen…“ Roy ging immer weiter, bis er direkt neben Riza war. Er ging neben ihr her und starrte ihr Gesicht an. Er war nicht überrascht, als eine Träne über ihre Wange lief. Er hatte nie gewusst, wie viel es ihr angetan hatte, dass er gegangen war, aber wenn er damals nicht weggegangen wäre, hätte er ihr helfen können. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, aber er griff durch sie hindurch. „Es tut mir leid, Riza“, murmelte er. „Ich hätte nicht gehen dürfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)