STUMME SCHREIE - Cum tacent clamant von Noveen (Indem sie schweigen, reden sie...) ================================================================================ Kapitel 15: ...- zu feige um zu sterben! ---------------------------------------- Als Kris seine Augen wieder aufschlug, lag er auf der Couch und war allein. Er brauchte einige Augenblicke um zu realisieren was passiert war. Entsetzt fuhr er auf. Wo waren die Beiden? Waren sie doch gegangen und hatten ihn hier allein gelassen? Hatten sie es sich einfach anders überlegt? In ihm baute sich erneut unnennbare Angst auf… Was sollte er denn jetzt tun? Der Dunkelhaarige sah sich im Raum um. Ihre Sachen lagen noch so da wie vorher,… aber wo waren David und Luca? Zitternd stand er auf, zog sein Shirt an und tapste unsicher Richtung Küche. Sein Magen drehte sich um. Sie konnten ihn doch nicht einfach so allein lassen… hier… Was … Er zuckte zusammen, als er ein Dröhnen hörte. Was war das? Panik kämpfte sich durch seine Eingeweide und fraß sich fest. Kris wich an die Wand zurück und schaute sich wieder gehetzt um. »Luca…?« flüsterte er in den Raum. Es war nur ein Hauchen und ihm war klar, dass der Andere ihn so nicht hören konnte. Doch dieses Wort gab ihm die Kraft noch einmal seine Stimme zu erheben. »Luca! LUCA!« Der letzte Schrei hallte in seinen Ohren wieder und er kam sich jämmerlich verlassen vor. Bis die Tür aufging und der Gothic hereintrat. Er hatte ein Handy am Ohr und sah den Jüngeren verblüfft an. »Hey, du bist ja wach!« Kris trat die Flucht nach vorne an und lief zu den Anderen um ihn zu umarmen. »Ja, … Kris ist jetzt wach. Bitte versuch so schnell wie möglich hier zu sein, ja? Okay. Bis dann und danke.« telefonierte er zu Ende, ehe er das Handy zurück in die Tasche sinken ließ und auch den zweiten Arm um den Dunkelhaarigen legte. »Hast du dich erschreckt?... tut mir Leid, wir wollten dich bloß nicht wecken.« Der Angesprochene nickte und rieb sein Gesicht an dem kühlen Stoff des Shirts. Es war ihm alles egal, solange der Rothaarige wieder bei ihm war. Dieses schöne, warme Gefühl breitete sich in seinem Inneren auf. Sehnsüchtig streckte er sich nach den Lippen des Größeren aus und bekam einen zärtlichen Kuss geschenkt. »Komm mit, wir werden erwartet?« Fragend sah Kris zu seinem Freund auf. »Wer ist denn da?« »Ich hab dir doch vorhin gesagt, dass ich dafür kämpfen werde, dass diese…- das die Männer die dir das angetan haben hinter Gitter kommen.« sagte Luca ernst und sah ihn dann sanft an. »Dazu habe ich ein paar Freunde eingeladen. Bist du immer noch bereit dafür?« Kris dachte ernsthaft darüber nach, doch eigentlich gab es da nicht zu überleben… Er wollte nicht in dieses Haus zurück… Nie. Jetzt wo er ein anderes Leben kannte, wusste er, dass es anders ging. »Ich…- Hauptsache du bist bei mir.« nuschelte er und blickte auf seine Füße. Luca zog ihn wieder an sich und küsste ihn noch einmal intensiv. »Ich bleibe bei dir, egal was passiert.« Diese Worte trieben den Dunkelhaarigen die Tränen in die Augen und er klammerte sich an ihn. Wenn er bei ihm war, war alles nur halb so schlimm… Auch wenn er wusste, dass das was sie als nächstes vorhatten nicht einfach werden würde. »Lass uns rüber gehen.« meinte der Rothaarige nach wenigen Augenblicken des Kusses und nahm ihn bei der Hand. Gemeinsam gingen sie durchs Wohnzimmer, dann über den Flur und in einen Raum, den er noch nie betreten hatte. Dort stand ein riesiger Tisch in der Mitte des Zimmers, rechts in der Ecke eine Glasvitrine und hinten an der Wand neben den Fenster ein wunderschöner, altmodischer Kamin. Es sah ein bisschen aus wie ein Esszimmer. Um den Tisch saßen David, Ben, die Tante von Luca und noch ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. Unwohl blickte er sich um und drückte die Hand seines Freundes fester. »Das ist Kris…- Kris, das ist Markus Thele. Der Anwalt unserer Familie.« Der Dunkelhaarige nuschelte eine Begrüßung und setzte sich auf einen der freien Stühle. »Hallo Kris.« sagte besagter Anwalt ruhig und sah den verschüchterten Jungen an. »Wir wollen dir helfen dich gegen die Leute zu wehren, die dir das angetan haben. Dazu ist es aber wichtig, dass du mir noch einmal alle wichtigen Details erzählst. Vor allem brauche ich die Namen der Schuldigen um diese anzuzeigen. Bist du bereit dazu?« »Ja…« sagte er leise. »Okay. Dann fangen wir an.« Der hochgewachsene Mann holte wichtig aussehende Dokumente aus seiner Tasche und setzte sich eine Lesebrille auf die Nase. »Sag mir dein vollen Namen. Dein Alter und die Verhältnisse in denen du lebst.« Schüchtern sah Kris den für ihn fremden Mann an und blickte dann zu Luca, der ihn aufmunternd anlächelte und über seinen Handrücken streichelte. »Ich… heiße Kris Büssing, bin 17 Jahre alt und lebe bei meinen Vater. Er ist alleinerziehend… weil… weil…« Ich meine Mutter getötet habe! »Meine Mutter Tod ist…« »War sie krank…?« »Nein…- sie ist… bei… bei meiner Geburt gestorben… weil sie zu lange in den Wehen lag…« würgte er hervor und spürte deutlich den festen Knoten in seinen Hals. »Okay. Seit damals lebst du also mit deinem Vater allein?« »Ja.« »Bist du hier geboren?« »Ja.« »Erzähl mir wie das Verhältnis zu deinem Vater war.« »Ganz gut…« »Hat er die jemals wehgetan?« Der Dunkelhaarige stockte. »Nie mit Absicht…« »Was heißt das?« »Er… er hat mich be – straft wenn ich was falsch gemacht habe und, und… wenn er getrunken hat, war er nicht er selbst…« Er spürte wie sich Luca neben ihm versteifte. »Wie hat er dich bestraft?« »Ich…- er…« stotterte Kris, brach aber ab, weil er nicht wusste ob er das wirklich sagen wollte. »Ja?« »Also er hat mich zum Nachdenken manchmal eingeschlossen und… und mich eben bestimmte Dinge tun lassen.« Als er aufschaute und die entsetzten Gesichter sah, bemerkte er, dass man seine Worte auch anders auslegen konnte, als sie gemeint waren. »Hat er dich jemals angefasst oder dich zu Sachen gezwungen. Solltest du ihn berühren?« Kris schüttelte den Kopf und knetete seine Finger im Schoß. Nein, sein Vater hatte seine Prostituierten. Er hatte ihn nie gebraucht aber…- Hm… schaut euch dieses kleine Juwel an! Ah, los zieh dich aus und lass dich ansehen! Ich kann es gar nicht erwarten dich ranzunehmen… du wirst sicher geil eng sein! Ein Zittern durchlief seinen Körper, als die Schatten wieder in seinen Kopf zurückkehrten, wie Alpträume, die sich in den Schlaf schlichen. Konnte es wirklich bald vorbei sein? Gab es eine reelle Chance für ihn zu entkommen? Sein Kinn wurde sanft genommen und er sah ihn die dunkelgeschminkten Augen des wichtigsten Menschen seines Lebens… »Hey, alles klar Kleiner?« Kris lächelte schief und nickte. »Also dein Vater hat dich niemals sexuell belästigt?« »Nein… nie…« »Aber seine Freunde.« »Ja…« »Wann hast du sie das erste Mal kennengelernt?« Wieder durchlief ein zittern seinen Körper. »Mit zehn.« krächzte er und mied es weiter jemanden anzusehen. Es war ihm so peinlich. »Haben sie dich da das erste Mal so angefasst?« »Nein…« »Wann war das…?« »Mit zwölf…« Seine Stimme war nur noch ein Hauchen und immer mehr Erinnerungen drangen in sein Bewusstsein vor. Schwarze Erinnerungen die seinen Verstand tränkten und seine Gefühle vergifteten. Ihn wieder unter der dunklen Käseglocke gefangen hielten und ihm immer weiter zu Gedanken trieben, die er niemals haben wollte. Komm mach deine Beine auseinander… hahahaha… schau mal einer an, was haben wir denn da! Seine eigenen Schreie hallten in seinen Ohren wieder und machten ihn taub für seine Außenwelt. Instinktiv schlug er seine Hände über die Ohren und krümmte sich zusammen. Er wollte nichts mehr hören! Irgendwann drangen die sanften Hände zu ihm durch, die über seinen Rücken strichen und das regelmäßige Zittern seiner Muskeln vertrieben. Der Geruch sagte ihm, dass er wieder bei Luca auf dem Schoß sagt. Sein Gesicht war in der Halsbeuge des anderen verborgen. Tief sog er den Duft seines Parfüms ein und konnte so seine flatternden Nerven wieder einigermaßen beruhigen. Anscheinend befanden sie sich immer noch in diesem komischen Esszimmer. »Ich habe ja nur gesagt, dass es so schwierig wird ihnen irgendetwas zu beweisen. Es steht Aussage gegen Aussage… außer der Vater bestätigt den Tatbestand. Aber das bezweifle ich. Wir brauchen Beweise. Nur das sichert und die Bestrafung zu hundert Prozent zu.« »Aber Kris muss nicht zu seinem Vater zurück, oder? Er kann doch hierbleiben?« fragte Luca und drückte den Dunkelhaarigen noch etwas mehr an sich. »Ich denke die Umstände sprechen durchaus dafür, aber ich muss das noch mit dem Jugendamt abklären… das müssen wir übrigens auch noch informieren, Renate.« »Ist schon passiert.« meldete sich die Stimme von Lucas Tante. »Ich habe eine alte Freundin von mir angerufen. Sie wird sich dem Fall annehmen… im Moment spricht nichts dagegen das Kris hier bleibt, aber natürlich muss das noch amtlich anerkannt werden.« »Okay. Jeder weiß was er zu tun hat?« »Ja…« »Dann würde ich sagen beginnen wir mit der Arbeit.« »Luca…-« »Ja, ich sprech noch einmal mit ihm. Versprochen.« »Gut. Bis zum nächsten Mal.« Kris spürte wie er hochgehoben wurde, stellte sich aber weiterhin schlafend. Noch mehr Fragen konnte er einfach nicht ertragen. Er ließ sich willenlos auf die Couch zurücklegen und zudecken, dann fühlte er einen kleinen Kuss auf seiner Stirn und schlug die Augen auf, als Luca aus dem Zimmer gegangen war. Er würde bestimmt David und die Anderen verabschieden… Schade war es schon das er nicht Tschüss zu David sagen konnte, doch er wollte einfach nur hier liegen und nichts tun oder denken. Blicklos starrte er an die Decke und wartete. »Du bist ja wach, Hübscher…« stellte Luca fest, als er nach wenigen Minuten wieder das Wohnzimmer betrat. Kris sah ihn scheu an. »Hm…« Luca hob seine Beine an und setzte sich dann zu ihm auf die Couch. »Du warst heute unfassbar tapfer, Kris. Ich bin stolz auf dich.« Er lächelte. »Danke.« Er drehte sich und krabbelte auf den Rothaarigen zu um sich rittlings auf seinen Schoß zu setzen und ihm einen Kuss zu rauben. »Lass uns jetzt schlafen gehen, okay?« sagte Luca leise gegen seine Lippen. »Morgen geht es weiter und ich denke wir brauchen alle Ruhe die wir kriegen können.« »D – darf ich bei dir schlafen?« »Sicher.« »Danke.« nuschelte der Dunkelhaarige und küsste ihn erneut. Er schlang seine Arme um den Hals des Älteren und intensivierte ihren Kuss wieder. Es war ein so schönes Gefühl… Es kribbelte überall. »Ich liebe dich.« »Ich dich auch, Kleiner.« Der nächste Tag brach vor sie schon früh an, doch das war Kris egal. Er hatte neben Luca besser geschlafen als den ganzen letzten Monat. Schon merkwürdig irgendwie, wie sehr der Gothic sein Leben beeinflusste, seit er es betreten hatte. Doch das war gut so. Nach den Frühstück schrieb Kris die Namen der Männer auf, die sein Leben einmal im Monat in eine Hölle verwandelt hatten. Er versuchte keinen auszulassen, aber das war gar nicht so einfach. Vor allem weil die Erinnerungen grau und fest ineinander verwoben waren… Doch bis zum Mittagessen hatten sie aber die Liste zusammen und Markus Thele holte sie sich persönlich ab. In seiner Begleitung war die Frau vom Jungendamt. Diese stellte ihm auch ein paar Fragen, ging aber bei weitem nicht so offensiv vor wie der Anwalt. Es war erträglich… All das ganze hatte etwas Gutes. Sie nahm sich seinem Fall an und erlaubte ihm erst einmal bei Luca und seiner Familie bleiben. Auch wenn das hieß, dass er bald nachhause fahren und ein paar Sachen packen musste. Doch das würde schon gehen… irgendwie… Dachte er zumindest, bis er mit Luca, David und Ben tatsächlich vor seinem Haus stand. Es fühlt sich so an als hätte er seine Sprache verloren. Der Wunsch auf der Stelle tot umzufallen und einfach nichts mehr spüren zu müssen, war so stark wie nie zuvor. Seine Kehle zog sich zusammen und sein Herz begann zu rasen. Er spürte starke Arme, die sich um seinen Körper schlangen. »Kris, alles okay?« fragte Luca leise und küsste seine Schläfe. »Ich… ich weiß nicht…« »Wir schaffen das. Wir sind doch bei dir…« Kris schmiegte sich an ihm. »Ich weiß.« Einmal atmete er noch tief durch, ehe er den Schlüssel zitternd ins Schloss schob und die Tür öffnete. Seine Hände zittern so heftig, dass er kaum den Schlüssel ins Schloss bekam und wenn seine Begleiter es sahen, dann sagsagten die nichts dazu. Und dafür war er sehr dankbar. Der Geruch nach Terror und Leid hieß ihm im Flur willkommen und ließ die Erinnerungen wieder in Wallung geraten. Es gab in diesem Haus kein Zimmer mit dem er keine schlechten Erfahrungen gemacht hatte. Dieses Haus war seine persönliche Hölle… und sein Vater war der Höllenfürst. Umso erleichterter war er, als er bemerkte, dass die Ausgehschuhe seines Vaters weg waren. Er war nicht da! Dem Himmel sei Dank! Kommentarlos führte er die kleine Gruppe bis zu seinem Zimmer, doch vor der Tür zögerte er. Einerseits war er froh über die Gesellschaft, andererseits würde er sich wünschen, dass all das nicht nötig wäre. Kris fühlte sich vor diesen jungen Männern winzig, es war ihm so peinlich das sie das alles sehen mussten… und wenn es etwas schlimmeres in diesem Haus gab als sein Zimmer, dann war es höchstens der Keller… Schon alleine die Tür zeugte davon wie es in dem Raum dahinter aussah. In der Mitte war ein Loch im Sperrholz, wo einst eine Faust die obere Schicht zerschmettert hatte. Die Klinke hing nur noch an einem Nagel und wirkte an sich sehr instabil. Zögernd stieß er die Tür auf und ging schnurstracks zu seiner Matratze, wo er begann seine Sachen, die er benötigte in seinen Rucksack zu werfen. Hinter sich hörte er das entsetzte Keuchen seiner Begleiter. Irgendwie konnte er es ja verstehen, schließlich hatte er nicht einmal David je in sein Privatreich gelassen… kein Wunder also das sie geschockt waren. »Ach du…« »…Scheiße.« Dasselbe hatte er auch gedacht, als er das erste Mal sein Zimmer mit dem von David verglichen hatte. Hier war nichts eingeräumt. Der Raum war kahl und leer. Die graue, fahle Tapete blätterte von den Wänden und sah eher abschreckend als einladend aus. Es befand sich nur ein Regal im Zimmer. Dieses war mit Büchern und Heftern für die Schule vollgestopft. Auf dem Boden, an der Wand unter dem Fenster lag die Matratze, auf der Kris seine Nächte verbracht hatte. Ihr gegenüber war ein Gestell für Kleiderhaken zu sehen, auf dem die Klamotten des Dunkelhaarigen hangen. Mehr war nicht vorhanden. Es war mehr eine Abstellkammer, als ein Zimmer. Während er seine Sachen von den Bügeln zerrte, grob zusammenlegte und in die Tasche und seinen Rucksack schmiss, räumte David sein Regal aus. Es war nicht viel, deswegen waren sie auch relativ schnell fertig. Etwas was Kris sehr erleichterte… Doch bevor sie gingen, hielt er die Anderen noch einmal kurz auf; drückte Luca seinen Rucksack in die Hand und ging schnell ins Wohnzimmer. Er zog ein Fotoalbum aus dem Regal über dem Fernsehen suchte die Seite und trennte das Bild seiner Mutter von der Seite ab. Es war sein Lieblingsbild von seiner Mutter… Er wollte es haben. Kris ließ alles so wie es war und ging mit den Anderen aus dem Haus… Aus der Hölle und er hoffte, dass er niemals wieder hierher zurück musste. Die nächsten Tage ging der Schulalltag einfach weiter, so als hätte sich nichts weiter geändert. Kris ging zu Schule, verbrachte viel Zeit bei Luca und machte seine Hausaufgaben. Er schlief in letzter Zeit besser als in den letzten Jahren und hatte sich schnell an seine neue Umgebung gewöhnt. Die Familie Linton hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen und half ihm über diese schwierige Zeit so selbstverständlich hinweg, als würde er dazu gehören. Dieses Gefühl war es, dass ihm die Kraft gab weiterzumachen. Herr Thele meldete sich zwischendurch immer um sie über die neusten Ereignisse auf dem Laufenden zu halten. Er hatte ein gutes Gefühl bei ihm… Er wirkte kompetent und sehr engagiert. Wenn ihn jemand da rausholen konnten, dann wohl er. Und so begann die Hoffnung des Dunkelhaarigen zu wachsen… Die kleine Hoffnung, dass er trotz allem noch entkommen konnte… aus diesem Haus… diesem Leben und vor allem vor dieser Dunkelheit, die ihm solche Angst machte. »Wir brauchen Beweise, sonst sieht es für uns echt schlecht aus.« sagte er Thele. Sie befanden sich gerade bei den Übungen zum Prozess, der bald stattfinden sollte. Der Anwalt hatte es für eine gute Idee gehalten Kris auf alle Fragen der Gegenseite vorzubereiten, deswegen hatten sie sich jeden zweiten Tag getroffen und waren alle möglichen Gesprächsvarianten durchgegangen. Es waren dabei schon so einige Tränen geflossen. »Denkst du das wissen wir nicht?« sagte Renate brüsk. »Aber welche Beweise sollen wir uns denn aus den Rippen schneiden?« »Ich weiß, ich weiß…« Kris saß zusammengesunken auf seinen Stuhl und knetete seine Hände im Schoß. Heute hatte Luca nicht bei ihm sein können, das hieß, dass er alleine war. Er fühlte sich immer noch leicht unwohl, wenn er mit den für ihn fremden Personen allein in einem Raum war, aber diese war bei weitem nicht so schlimm wie am Anfang. »Wir haben nur sein Körper und sein Wort… das muss reichen, deswegen sind wir ja hier.« meinte die Frau ungehalten. »Wir müssen das einfach hinbekommen!« Sollte er wirklich? Wenn er die ganze Wahrheit sagte, musste er nicht mehr zurück… das bedeutete aber auch, dass jeder sehen konnte, was diese Männer mit ihm getan hatten! Auch Luca, wenn er Pech hatte… Was das passierte, würde sein Freund sich wahrscheinlich noch mehr vor ihm ekeln als er es sowieso schon tat. Also was war ihm seine Freiheit wert? Aber konnte er Luca überhaupt wiedersehen, wenn er zurückgehen und-? »Kris? Hast du uns überhaupt zugehört?« »Sie haben es gefilmt!« platzte es aus ihm heraus. »Was?!« »Sie… sie haben…- alles immer ge – gefilmt… ich – er…« Er sah nicht auf, doch er konnte förmlich spüren, wie die anderen Beiden ihn entgeistert ansahen. »Warum sagst du das denn erst jetzt?! Wenn - « »Ist doch egal! Hol dir diese Videos!« Zwei Wochen später war die erste Verhandlung. Kris spürte nichts mehr. Schon den ganzen Tag bekam er keinen Bissen herunter und konnte es nicht erwarten es hinter sich zu haben, doch Luca war bei ihm… Er hielt ihn fest und zeigte ihm, wie er atmen musste, wenn er es vergaß. Luca war alles was er hatte und alles was er brauchte… Luca und David. Der Blonde war auch bei ihm und stand ihm tapfer bei. Er war so froh, diese Menschen kennengelernt zu haben. Was konnte man sich besseres wünschen? »RUHE IN MEINEM GERICHTSSAAL!« riss die harte Stimme von Phillip Brausen die Anwesenden zur Vernunft. Der Richter hatte ein scharf geschnittenes strenges Gesicht und war noch relativ jung für sein Amt. Kris zuckte bei der Zurechtweisung erschrocken zusammen und sank noch mehr auf seinen Stuhl nach unten. Er wollte einfach nicht hier sein. Der Stuhl neben dem Staatsanwalt wies ihn als Nebenkläger aus und das wollte er nicht, doch er saß nun einmal hier. Unsicher suchten seine Augen wieder die hinteren Reihen des Gerichtssaals ab. Dort wo Luca, Renate, Ben, Herr Thele und David saßen. Es hatte ihn einiges an Nerven gekostet, ehe der Richter und alle Anwesenden sich damit einverstanden erklärten, die Zuschauer zuzulassen. Denn eigentlich war die Verhandlung nicht für die Öffentlichkeit zugelassen. Zu delikat waren die Tatsachen… So kam es das Kris alle Register hatte ziehen müssen und sich einfach solange an Luca geklammert hatte und sich geweigert hatte mitzugehen, bis sich die Männer entschieden hatten die Anwesenden einfach mit in den Gerichtssaal zu nehmen. Er begegnete den liebvollen Augen und konnte dem ein bisschen Kraft abgewinnen. Was würde er dafür geben, wenn es jetzt endlich vorbei wäre?! »Fahren sie fort…« sagte der Richter an den Angeklagten gewandt und sein Vater ergriff wieder das Wort. Er vollendete seinen Bericht recht anschaulich und die ganze Zeit spürte Kris seine Blicke auf seinen Körper, wie Säure, dass sich durch Glas ätzte. »Ich weiß nicht, was mein Sohn da erzählt… wahrscheinlich ein Schrei um Aufmerksamkeit. Wer weiß. Ich habe ihn nur nach meinen Mitteln erzogen.« Phillips Augen verengten sich. »Ach? Und diese Mittel bestanden daraus ihren einzigen Sohn zu demütigen und zu misshandeln?« war seine kalte Frage der Staatsanwaltschaft. »Wie kommen sie darauf, dass ich so etwas gemacht habe?« »Das war nur eine Frage. Wollen sie sich rechtfertigen?« »Nein! Ich habe nie etwas getan, was meinem Kind schaden könnte!« »WEN WOLLEN SIE HIER EIGENTLICH VERARSCHEN?!« Kris wand seinen Blick erschrocken zu David. Der Blonde war aufgesprungen und sah so aus, als würde er gleich auf seinen Vater losgehen. Lediglich die Hand von Ben hielt ihn auf. »SIE HABEN IHREN SOHN IN EIN VERROTTETES ZIMMER GESTECKT UND IHN WAHRSCHEINLICH AUCH MISSHANDELT! UND SIE WAGEN ES ZU SAGEN DAS SIE IHM NIE GESCHADET HABEN!??!!« Er schien fuchsteufelswild zu sein und auch Luca sah aus, als würde er sich nur schwer beherrschen können… »Beruhigen sie sich oder ich muss sie aus dem Saal entfernen lassen.« unterbrach der Richter David streng und maß ihm mit einem Blick. Dieser zitterte vor Wut und ließ sich von Ben zurück auf seinen Stuhl ziehen. Er schnaubte abfällig, sagte aber nichts mehr. »Okay.« sagte der Staatsanwalt nun, dessen Namen sich der Dunkelhaarige einfach nicht merken konnte. »Haben sie noch etwas hinzuzufügen?« »Nein.« sagte Ronald Büssing und sah zu seinem Verteidiger, der nickte. »Dann möchte ich dem Richter jetzt Frau Kirsten vorstellen. Sie hat Herrn Büssing untersucht. Und sich ein Urteil über ihn gebildet.« »Rufen sie sie herein.« Die Tür öffnete sich und eine kleine, zierliche Frau stöckelte herein. Sie setzte sich an den U – förmigen Tisch und gab auf die Fragen ihre Personalien an. Ihre Stimme war klar und wohltuend und sie sah Kris irgendwie mitleidig an. »Erzählen sie dem Gericht, was sie aus den Sitzungen mit Herrn Büssing erfahren haben.« wies der Staatsanwalt an und die Frau nickte leicht. »Ich habe auf Anordnung des Gerichts fünf Sitzungen mit Ronald Büssing gehabt und bin mir sicher, dass er für diese er zwar verhandlungsfähig ist und auch in der Lage sich zu reflektieren, jedoch denke ich auch, dass er eine chronifizierte Psychose hat.« Was für ein Teil? Kris sah erstaunt zu der Frau hin, die ganz monoton redete, so als wäre das hier ein Lehrbuch Fall und keiner mit echt existierenden Menschen. »Das bedeutete, dass er nach dem Tod seiner Frau Lydia, mit der er laut eigener Aussage und festgehaltenem Skript eine SM Beziehung führte und sie sehr stark dominierte, dieses Verhalten auf seinen Sohn Kris Büssing übertrug, weil dieser seiner Mutter in vielen Dingen ähnlich war. Ich denke, dass es nicht direkter Missbrauch war. Eher das, was viele Paare unter einer normalen SM Beziehung und starken Dominierung verstehen. Es passierte sicher unbewusst, aber ich denke das Herr Büssing voll schuldfähig und sich seiner Taten durchaus bewusst ist.« »Wir äußert sich diese Beziehung zum Beispiel?« »In seinen Skripten, die er führte, war zum Beispiel ein ständiges nackt sein im Haus als Demütigung zu finden, oder ein stetiges unterwürfiges Verhalten, außer es wurde das Codewort gesagt, dann waren sie gleichberechtigte Partner.« Den Rest der Befragung bekam Kris nur noch am Rande mit, viel zu sehr war er mit den neuen Informationen beschäftigt, die ihn trafen wie ein Schlag. Konnte das wahr sein? Hatte seine Mutter wirklich all das freiwillig gemacht?! Hatte sie Spaß daran gefunden so behandelt zu werden??? Ein Gedanke der für den Dunkelhaarigen eigentlich völlig widersinnig war. Wie konnte man es genießen dominiert und gedemütigt zu werden? Seit er Luca kennengelernt hatte, wusste er wie wundervoll es sein konnte wenn einem zugehört wurde. Wenn man seine Meinung sagen konnte und diese geschätzt wurde. Gab es wirklich Menschen die auf so etwas freiwillig verzichteten? »Ha, krank. Das ich nicht lache!« durchbrach die Stimme seines Vaters seine Gedanken. »Was wollen sie denn bitte für eine Psychologin sein wenn - « »Bitte reden sie nur, wenn sie etwas gefragt werden, Herr Büssing.« wurde er von Phillip Brausen zurechtgewiesen. »Herr Büssing äußerte in jeder dieser Sitzungen, dass er keine Ahnung hatte, was Kris passiert ist und ich glaube ihm. Menschen die auf SM stehen sind noch lange keine Vergewaltiger und der Junge hat es ja in seiner Aussage bei der Polizei auch bestätigt und wird es sicher wieder tun.« fuhr die Psychologin fort, ohne auf die Worte des Angeklagten einzugehen. »Danke, Frau Kristen. Ich habe keine weiteren Fragen.« »Ich auch nicht.« erwiderte der Pflichtverteidiger seines Vaters. Die Verhandlung ging weiter und wurde nur durch eine Pause unterbrochen. Kris musste seine Sicht der Dinge darlegen… Man braucht nicht zu erwähnen das es für den Jungen die reinste Tortur war, all das was ihm passiert war nun zum dritten Mal stockend zu wiederholen. Ihm wurde immer wieder schwarz vor Augen, wenn er anfing darüber zu berichten, weil es ihm einfach die Luft abschnürte. Sein Herz raste und die Erinnerungen schwappten immer wieder hin und her; wie schwarze Wellen um eine Boje. Doch nach der Pause und der Anwesenheit von Luca und David, die wie Beruhigungsmittel auf ihn wirkte, schaffte er es seine Aussage zu beenden. Der Rest verlief eher wie ein Film… Grau und verschwommen. Kris wusste im Nachhinein nicht mehr, wie er es geschafft hatte sich weiter auf diesen unbequemen Holzstuhl zu halten, bis die Verhandlung zu Ende war. Eines der Videos, was her Thele aus ihrem Haus gesichert hatte (die beauftragten Beamten hatten es im Keller, unter tausend weiteren solcher Videos gefunden… diese waren gut versteckt hinter einem alten, vermoderten Schrank deponiert worden), wurde in Einverständnis aller Anwesenden noch gesichtet und trieb allen unbeteiligten den Schrecken und die Schamesröte in die Gesichter. Schon alleine die Geräusche reichten aus um dem Dunkelhaarigen die genaue Situation ins Gedächtnis zurückzurufen. Denn er konnte und wollte nicht hinsehen. Er saß zusammengesunken da und hatte das Gesicht in seinen Händen verborgen, während er sein Schreien, Flehen und Stöhnen lauschte, dass von Obszönitäten und Lustschreien der Männer begleitet wurde. Es war so peinlich! Wie sollte er den Anderen jemals wieder unter die Augen treten? Warum hatte er sie hier überhaupt mit rein genommen?! Nach nicht einmal dem Viertel des Videos, brach der Richter das Schauspiel ab und verkündete sein Urteil. Das alles bekam Kris nur noch am Rande mit. Erst als Luca bei ihm war und ihn fest und beschützend in die Arme schloss konnte er sich wieder regen und begann gepeinigt von neuem zu weinen. Warum tat das alles nur so weh? Die Verhandlung lief zugunsten des Dunkelhaarigen. Seinem Vater wurde das Sorgerecht entzogen und dem Jungendamt überantwortet… außerdem würde er eine lange Zeit in einer Klinik eine Therapie machen müssen. Was jetzt folgte waren die Verhandlungen aller Männer, die auf den Videos zu sehen waren. Doch davon bekam Kris nicht mehr viel mit. Frau Kirsten, die inzwischen seine Psychologin war, hatte resolut dagegen gekämpft, dass er weiterhin an diesen Verhandlungen teilnehmen musste. So kam es, dass ein neues Leben für ihn begann. Inzwischen lebte er im betreuten Wohnen einer Einrichtung die über den sozialen Träger der Caritas lief und hatte zwei Mal in der Woche eine Therapiestunde. Luca, Davis und Ben (der sich inzwischen zu einem genauso treuen Freund geoworden war) standen ihm immer zur Seite. Mit Ben trainierte Kris regelmäßig Selbstverteidigung und wurde Stück für Stück selbstsicherer im Umgang mit Fremden. Und so baute er sich langsam ein neues Leben aus den Scherben auf, die sein altes Dasein hinterlassen hatten. Es war ein Mosaik aus vielen bunten, schillernden Scherben – Doch irgendwann würden sie ein Ganzes ergeben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)