Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Prolog: Im Mondlicht -------------------- Für sich selbst ist jeder unsterblich; er mag wissen, dass er sterben muss, aber er kann nie wissen, dass er tot ist. Samuel Butler Die Gestalt war kaum zu erkennen. Selbst wenn jemand auf der Straße sich die Mühe gemacht hätte, den Kopf in den Nacken zu legen und den Blick nach oben zu wenden, wäre ihm wohl lediglich der hell schimmernde Vollmond und das kaum zu sehende Leuchten der Sterne am wolkenlosen Himmel aufgefallen. Die grellen Lichter der Großstadt verdrängten das natürliche Glühen der Himmelskörper und ersetzten es durch eine künstliche Pracht, die vielen Menschen inzwischen wesentlich vertrauter war als jenes Licht der Natur. Dies sorgte dafür, dass niemand der vorbeikommenden Passanten die Gestalt entdecken konnte, die auf einem der Hochhäuser stand und dort aufmerksam die Umgebung sondierte. Durch die schwarze Ganzkörperkleidung, die sie trug und die einen Kopfschutz und einen Umhang beinhaltete, war nicht auszumachen, welchem Geschlecht die Person zuzuordnen war, auch das Schwert an ihrer Hüfte, das einerseits elegant genug für eine Frau und doch so wuchtig war als wäre es für einen Mann geschaffen worden. Nichts ließ auf das Geschlecht schließen und das empfand die Person auch als gut so. Noch dazu empfand sie es als passend, niemand kannte ihren Namen, niemand ihr Geschlecht, sie existierte so nicht einmal, für niemanden und deswegen war es egal, wie gefährlich ihre Mission war. Wenn sie starb – und diese Gefahr bestand jede Nacht – würde niemand um sie trauern, das erleichterte das Gewissen der Person und ließ sie stets bis ans Äußerste gehen und auch jederzeit ihren Einsatzort zu wechseln. Dies war ihre erste Nacht in Lanchest, zuvor war sie nur in kleineren Städten unterwegs gewesen, doch nun versammelten sich die Wesen, die von der Person gejagt wurden, in dieser Stadt. Noch dazu hatte sich etwas an ihnen geändert, sie waren rastlos, als ob sie auf etwas warten würden... oder als ob sie etwas suchen würden... oder jemanden. Die Person war sich nicht sicher und sie wollte es auch nicht herausfinden, stattdessen wollte sie die Wesen zerstören ehe sie größeren Schaden anrichten könnten. Wie üblich waren die Wesen in einer Vollmondnacht nicht sonderlich aktiv, weswegen die Person sich irgendwann auf den Dachrand des Hauses setzte und weiter ziellos umhersah. Auf der Brille, die den Blick auf ihre Augen verhinderte, spiegelten sich die umgebenden Häuser und deren Lichter. Aber auch von dieser neuen Position und dem Nachlassen ihres aggressiven Levels, waren keinerlei Aktivitäten außer denen anderer Menschen feststellbar. Eine Viertelstunde saß sie so da, dann erhob die Person sich wieder, um dasselbe Spiel noch einmal von einem anderen Dach zu wiederholen, obwohl sie sich ohnehin sicher war, dass auch dort nichts zu sehen sein würde, immerhin spürte sie absolut nichts, trotz ihres sensiblen Gespürs, das sonst jegliche Regung dieser Wesen auffing. Zwar waren die Monster bei Vollmond nie sehr aktiv, aber so ausgestorben wie in dieser Nacht waren sie noch nie gewesen. Kurzzeitig fürchtete die Person sogar, dass diese Ungetüme ohne ihr Wissen in eine andere Stadt weitergewandert waren. So sehr wie sie in Gedanken versunken war, dachte sie nicht daran, dass die Möglichkeit bestand, dass jemand sie beobachten könnte, während sie sich auf der Suche befand – so bemerkte sie auch nicht die Gestalt jenseits des erleuchteten Fensters, die gerade hinaussah, als die Person vorbeikam. Es war ein junger Mann, der leicht verschlafen in seiner Küche stand, um etwas nach seinem Albtraum von eben zu trinken und der nur durch Zufall genau in jenem Moment einen Blick hinauswarf, als die Person auf dem Gebäude gegenüber vorbeihuschte. Doch zu ihrem Glück machte sich der junge Mann keine weiteren Gedanken mehr darüber, sondern schob es auf die Müdigkeit und verbannte es in die Tiefen seines Unterbewusstseins. Als die Person bereits weit weg war und er das Licht löschte, um wieder in sein Bett zurückzukehren, hatte er das Gesehene bereits längst vergessen. Kapitel 1: Verschlafen ---------------------- „Dir ist hoffentlich bewusst, dass das alles deine Schuld ist.“ „Hm?“ Ein wenig irritiert über diesen plötzlichen Satz, der das bis dahin angehaltene Schweigen zwischen ihnen beiden beendete, wandte Raymond seinem Begleiter den Blick zu. Er war versucht, die Brille abzunehmen, um herauszufinden, ob Joel wirklich wütend war, entschied sich aber dagegen. Selbst wenn er es war und Raymond davon wüsste, könnte er diesen Zustand nicht beenden. Stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Ich habe dir nicht gesagt, dass du auf mich warten sollst.“ Joel, der bislang stur nach vorne gesehen hatte, erwiderte nun seinen Blick. Die braunen Augen wirkten glücklicherweise eher belustigt als wirklich wütend. „Ich dachte, dir wäre etwas passiert! Soll ich dich einfach sterbend auf deinem Küchenboden zurücklassen?“ Für einen kurzen Moment fühlte Raymond sich gerührt, besonders da es sogar wirklich so aussah als würde Joel jeden Augenblick in Tränen ausbrechen – doch dann fiel ihm ein entscheidender Fehler in der Logik auf: „Und wie, bitte sehr, wolltest du mir helfen, indem du einfach stundenlang vor meiner Haustür herumsitzst?“ Immerhin hatte Joel weder geklingelt, noch angerufen oder sonst irgendwelche Anstalten gemacht, nachzusehen, ob Raymond wach war – oder sterbend auf dem Küchenfußboden lag. In einer Geste der Empörung stemmte Joel die Hände in die Hüften. „Bezichtigst du mich etwa der Lüge? Aber fein, dann mache ich mir nie wieder Sorgen um dich.“ „Wenn Ignoranz deine Art ist, deine Sorgen auszudrücken, ist es ohnehin egal.“ Einen kurzen Augenblick lang starrten sie sich wütend an, ehe die Spannung von beiden gleichzeitig abfiel und sie lachend wieder geradeaus sahen. „Aber mal ernsthaft“, fing Joel wieder an, „wie kommt es, dass du verschlafen hast?“ Raymond zuckte nur mit den Schultern. „Ich bin mitten in der Nacht mal wach gewesen, vielleicht hat das meinen Schlafrhythmus gestört.“ Auf die anschließende Frage, warum er denn wach gewesen war, antwortete er lediglich damit, dass er durstig gewesen sei. Die Wahrheit sah anders aus, aber er wollte seinen besten Freund nicht mit so etwas Lapidarem wie einem Albtraum nerven, besonders nicht am frühen Morgen. Noch dazu war er ja nicht die einzige Person auf der Welt, die nachts manchmal Albträume durchlebte, es war etwas vollkommen Normales im Leben eines Menschen und wurde oft durch Stress verursacht. Und diesen hatte er seit einigen Wochen mehr als genug. Vor ihrem Ziel angekommen, hielten beide noch einmal inne. Raymonds Blick glitt desinteressiert an dem Gebäude hinauf, das einstmals eine Burg gewesen sein musste, ehe sie zu einer Schule umfunktioniert worden war. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war er fasziniert gewesen, aber das war nun schon sechs oder sieben Jahre – so früh am Morgen fiel ihm das Denken noch ein wenig schwer – her, inzwischen war der Zauber verflogen, da er dieses Gebäude jeden Tag sah; und bis zum Ende seines Lebens würde sich daran wohl auch nichts ändern. Er runzelte die Stirn, als er das dachte. Das Ende meines Lebens lässt noch sehr lange auf sich warten, will ich doch hoffen. Damit schob er den Gedanken an den eigenen Tod auch schon wieder beiseite, in eine dunkle, schattige Ecke seines Verstandes, wo er darauf warten könnte, zu einem passenden Zeitpunkt wieder hervorzutreten – der hoffentlich wirklich erst kurz vor seinem Tod eintreten würde. Normalerweise war der Hof vor den Toren der Schule immer mit unzähligen Schülern gefüllt, die sich vor oder nach dem Unterricht noch mit Freunden trafen oder sich einfach nur die Zeit im Freien vertreiben wollten. An diesem Morgen aber war er wie leergefegt, was kein Wunder war, wenn man bedachte, dass sie beide bereits fünfzehn Minuten zu spät dran waren. „Hätten wir auf dem Weg nicht getrödelt, wären wir fünf Minuten früher gekommen“, murmelte Raymond, doch Joel winkte sofort ab. „Wenn wir schon zu spät kommen, können wir uns auch Zeit lassen, meinst du nicht?“ Die beiden überquerten den Hof und betraten die Eingangshalle, die ebenfalls schrecklich leer und still war. Niemand war zu sehen, weswegen Joel bereits ein siegessicheres Grinsen aufsetzte. „Ha, ihm ist nicht aufgefallen, dass wir zu spät gekommen sind! Wir sind aus dem Schneider!“ Ihre erste Stunde an diesem Morgen wurde von einem Lehrer gehalten, der so locker war, dass er es keinem Schüler nachsah, wenn dieser zu spät kam oder gar im Unterricht schlief. Er sagte darauf, dass er vor kurzem selbst noch Schüler gewesen wäre und daher genau wüsste, wie man als solcher behandelt werden wollte. Die eigentliche Gefahr ging also nicht von ihm aus, sondern von einem anderen Lehrer, einem, der noch neu an der Schule war und sich immer überall gleichzeitig aufzuhalten schien. Einem Lehrer, der gleichermaßen von allen Schülern gefürchtet wurde und der jegliche Verfehlungen hart bestrafte. Einem Lehrer, der genau in diesem Moment hinter ihnen stand. „Mr. Lionheart, Mr. Chandler, gibt es eine Erklärung für Ihr Zuspätkommen?“ Beide fuhren sofort herum und salutierten fast ebenso automatisch, obwohl das vor einem Lehrer eigentlich nicht üblich war. Aber die kühle, beinahe schon eiskalte, Ausstrahlung und der Hauch von Autorität, die diesen Mann umgab, ließen jeden Schüler schon unbewusst so reagieren. Raymond konnte nicht anders als sich zu fragen, woher der Mann gekommen war. Kurz zuvor war noch niemand in der Halle gewesen und hinter ihnen hatte sie auch niemand betreten, das wäre ihnen aufgefallen. Und nun stand er dennoch da, blickte sie beide mit grauen Augen und einem äußerst ernstem Gesichtsausdruck an und wartete auf eine Erklärung. Eine, die Raymond ihm nicht geben konnte. Wann immer er sich diesem Mann gegenüber sah, brachte er kaum ein Wort hervor. Das lag nicht nur daran, dass man sein Alter schwer einschätzen konnte – vom Aussehen her wirkte er als sei er noch nicht einmal vierzig, doch sein eigentlich schwarzes Haar war bereits fast gänzlich ergraut – sondern auch an seiner einschüchternden Aura. Raymond hatte es einmal gewagt, sie zu betrachten und danach beschlossen, es nie wieder zu tun. Zwar konnte er sagen, dass der Lehrer nicht böse war, aber die Aura trug ein derart dunkles Blau, das sie fast gänzlich schwarz war und das war nie ein gutes Zeichen. Da Raymond nichts sagte, übernahm Joel das. „Es tut uns Leid, Professor Liam. Wir kommen zu spät, weil Raymond verschlafen hat.“ Erschrocken sah dieser seinen Freund an, doch der hielt seinen Blick weiterhin stur auf den Lehrer gerichtet – der diesen sogar erwiderte, ohne sich weiter um Raymond zu kümmern. „Das erklärt Mr. Lionhearts Verspätung, aber nicht Ihre.“ Joel ließ sich nicht im Mindesten aus der Ruhe bringen. „Ich habe mir Sorgen um ihn gemacht und versucht, herauszufinden, was los ist. Es hätte sich auch immerhin um einen Notfall handeln können.“ Liam blickte ihn streng an, er blinzelte nicht einmal, als hoffte er, dass Joel einbrechen und ihm sagen würde, dass sie nie vorgehabt hatten, pünktlich zu erscheinen. Doch da dies nicht geschah, seufzte der Lehrer schließlich. „Fein. Für heute lasse ich das durchgehen. Aber sorgen Sie dafür, dass das nie wieder vorkommt.“ Mit einer Handbewegung gab er ihnen zu verstehen, dass sie verschwinden sollten, was beide auch nur allzugern taten. Sie wirbelten herum und liefen eilig in Richtung ihrer Spinde davon. „Was sollte das?“, fragte Raymond, als sie außerhalb von Liams Hörweite waren. „Warum lieferst du mich ans Messer?“ „Hab ich doch gar nicht. Ich wusste, dass es ihm eher darum gehen würde, warum ich zu spät dran bin – aber dass er mich bei dieser Ausrede auch nicht bestrafen darf. Soziales Engagement bei seinen Mitschülern sollte immerhin gefördert werden.“ Joel warf Raymond einen Blick zu, dem man einem Kind gab, das eine absolut logische Sache in Frage gestellt hatte – oder einem Genie, das einen einfachen Plan nicht durchschaute. „Na dann...“ „Nein, wie ungemein clever“, erklang plötzlich eine vergnügte Stimme hinter den beiden. Beide wussten sofort, um wen es sich dabei handelte, deswegen wandten sie sich ihr lächelnd zu. „Auch zu spät, Chris?“, fragte Joel amüsiert. Das weißhaarige Mädchen, das vor ihnen stand, war eine ihrer Mitschülerinnen, ihre goldenen Augen funkelten wie so oft, wenn sie den beiden gegenüber stand. Raymond befand sich gern in ihrer Nähe. Ihre Aura war von einem feinen, geradezu fließenden Gold, das sich wie vom Wind getragener Sand in der Wüste immer sacht bewegte, so dass sie selbst dann Ruhe und Selbstsicherheit ausstrahlte, wenn sie wieder einmal so gutgelaunt und energiegeladen wie an diesem Morgen war. „Jap“, antwortete sie auf Joels Frage. „Deswegen danke, dass ihr den Professor abgelenkt habt.“ „Wie bist du denn reingekommen?“, hakte Raymond neugierig nach. Mit einem triumphierenden Grinsen deutete sie auf eines der Fenster im Gang, das sperrangelweit offen stand. „Warum sollte ich die Tür benutzen, wenn es auch so geht?“ Joel stieß einen bewundernden Pfiff aus. „Christine, Christine, du erstaunst mich immer wieder.“ Im selben Moment noch wusste Raymond, dass es ein Fehler gewesen war, stehenzubleiben, dazu musste er nicht erst Christines plötzlich blass gewordenes Gesicht sehen oder die Stimme hören, die hinter ihm erklang: „So, so, Ms. Lande, Sie kommen ebenfalls zu spät und besitzen auch noch die Frechheit, durch ein Fenster zu klettern und die beiden anderen verspäteten Schüler aufzuhalten?“ Raymond und Joel fuhren zum zweiten Mal an diesem Tag zu Liam herum und wichen einige Schritte zurück, bis Christine zwischen ihnen stand. Sie salutierte nicht, verbeugte sich dafür aber hastig. „Es tut mir sehr Leid, Professor.“ „Das wird es garantiert noch mehr“, erwiderte er. „Besonders, wenn Sie mir bis morgen einen Aufsatz über ihre Verfehlungen schreiben. Ich erwarte mindestens tausend Wörter dafür.“ Christine nickte schluckend, da jedes Widerwort nur zu einer Erhöhung der Wortanzahl geführt hätte, von der sie ohnehin nicht im Mindesten wusste, wie sie diese füllen sollte. Liam blickte derweil abwechselnd erst Joel und dann Raymond an. „Von Ihnen beiden erwarte ich dasselbe, haben wir uns verstanden?“ Beide nickten ebenfalls und atmeten erleichtert auf, als Liam an ihnen vorbeiging und in einen anderen Gang einbog. Die drei Schüler setzten sich hastig wieder in Bewegung, ehe er zurückkehrte, da ihm möglicherweise eingefallen war, dass die Strafe noch zu mild war. „Ich wette, er hat uns verfolgt und nur auf eine Gelegenheit gewartet, uns wirklich eine Strafarbeit aufzugeben“, brummte Joel. „Was eigentlich auch sein gutes Recht ist“, erwiderte Raymond. „Immerhin sind wir ja auch zu spät gekommen, oder nicht?“ Doch als er die anderen beiden ansah, wurde ihm bewusst, dass sie seine Meinung nicht im Mindesten teilten. „Auch wenn ihr mich so anseht, wir müssen die Strafarbeit trotzdem erledigen, wenn wir nicht noch mehr Ärger wollen.“ Empört pumpte Christine Luft in ihre Backen und stieß Joel ihren Ellenbogen in die Rippen. „Dein Vater ist doch hier der Direktor. Warum gibt dir das keine Vorteile?“ „Gerade weil er der Direktor ist, gibt mir das nur Nachteile“, erwiderte er. „Mein Vater meint, dass mir eine strenge Hand ganz gut tut – da er sie mir aber nicht geben kann, sollen das die anderen Lehrer übernehmen.“ Sie zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und wandte ihren Blick Raymond zu. „Ist das echt wahr?“ Er nickte zustimmend. Wäre er nicht dabei gewesen, als Rufus das Joel einmal erklärt hatte, würde er es ebenfalls nicht glauben, aber er erinnerte sich noch allzugut an Rufus' nervöse Gesten und das ständige Schulternzucken. Als Direktor schaffte er es, sich gegenüber all seinen Lehrern und Schülern durchzusetzen, aber sobald es um seine Familie ging, wirkte er ein wenig hilflos und – wie Theia immer sagte – zum Verlieben. Joel dagegen zeigte sich eher genervt davon, besonders da jeder andere Schüler erwartete, dass er mit Samthandschuhen angefasst wurde und gewisse Vergünstigungen bei Prüfungen besaß, was seine Außenseiterposition nur weiter verstärkte und Rufus im Gegenzug noch unglücklicher machte. Raymond hatte oft das Gefühl, dass der kleine Freundeskreis von Joel eher ein Problem für dessen Vater war, während er selbst sich nicht weiter darum kümmerte. „Armer, armer Joel“, meinte Christine, aber er lachte nur darauf. „Mich stört das nicht. Außer bei Professor Liam, da nervt es.“ „Gewaltig“, stimmte sie sofort zu. „Statt euch zu beklagen, solltet ihr diese Energie darin setzen, die Strafarbeit zu erledigen“, bemerkte Raymond. Er ignorierte Christines empörten Blick, während er zu Joel hinübersah, was glücklicherweise nicht schwer war, obwohl sie zwischen ihnen lief, da sie fast einen Kopf kleiner war als sie beide. Joel neigte den Kopf ein wenig. „Ja, sollten wir wohl. Wie wär's, wenn ihr dann heute Abend beide zu mir kommt? Meine Eltern würden sich bestimmt freuen.“ Daran zweifelte Raymond keine Sekunde. Wann immer er Joel besuchte oder ihn aus irgendeinem Grund abholte oder nach Hause begleitete, wurde er von dessen Mutter Theia erst einmal in ein Frage-und-Antwort-Spiel verwickelt, das sich hauptsächlich darum drehte, ob es ihm gut ging, ob er gesund genug aß und ob er auch genug Schlaf bekam. Als er einmal nebenbei angemerkt hatte, dass ihm leicht kalt wurde, hatte er damit die Tradition eingeläutet, jedes Jahr zu Weihnachten einen Pullover von ihr geschenkt zu bekommen. Joel entschuldigte sich zwar immer für seine Mutter, aber Raymond störte das nicht weiter. Da er sich nicht an seine vor zwölf Jahren verstorbenen Eltern erinnerte, gefiel es ihm sogar, von der Mutter seines besten Freundes so umsorgt zu werden. Christine zeigte sich genauso angetan wie Raymond, weswegen Joel leise lachte, als er bei seinem Spind stehenblieb. „Gut, dann ist das abgemacht. Heute Abend bei mir, erst essen wir und dann erledigen wir die Strafarbeit. Erscheint also ruhig hungrig.“ Keiner der anderen beiden stellte in Frage, ob das Theia überhaupt recht wäre, sie beiden wussten die Antwort bereits und deswegen freuten sie sich auch gleichermaßen auf den Abend. Kapitel 2: Ein Abend unter Freunden ----------------------------------- Wann immer Raymond sich im Heim der Familie Chandler befand, fühlte er sich tatsächlich zu Hause. Vielleicht lag es daran, dass er seine erste Nacht in Lanchest in diesem Haus verbracht hatte, vielleicht aber auch an der familiären Atmosphäre und der Liebe, die im ganzen Gebäude verteilt war und jeden willkommenen Besucher sofort in seinen Bann zog. Im Endeffekt war es ihm aber egal, was denn nun genau der Grund war, solange er dort ebenfalls als gern gesehener Gast galt und jederzeit ohne Vorwarnung vorbeikommen konnte. Nicht, dass er von dieser Freiheit oft Gebrauch machte, immerhin erschien es ihm grob unhöflich, dauernd bei anderen Leuten vor der Tür zu stehen, aber es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass er zumindest die Möglichkeit dafür hatte. Christine schien es ähnlich zu gehen. Zumindest wirkte sie so, als sie mit beiden Händen nach der Tasse mit dem Tee griff, den es bei den Chandlers standardmäßig nach dem Abendessen gab, und diese vergnügt lächelnd hob. „Ah, er riecht so gut, Tante Theia.“ Sie hatte sich kurz nach Raymonds Ankunft in Lanchest bereits mit ihm und Joel angefreundet und war genauso ein gern gesehener Gast und da sie sich sichtlich wohlfühlte, hatte sie irgendwann angefangen, Theia immer mit Tante anzusprechen, was diese nicht zu stören schien. Raymond dagegen tat es nicht. Nicht, weil er sich nicht traute, sondern weil es ihm wie eine Lüge vorkam, immerhin war sie nicht seine Tante, also gab es keinen Grund, sie als solche zu bezeichnen. Theia lächelte. „Ich hoffe, er schmeckt auch so gut wie er riecht.“ Sofern es Raymond bekannt war, veränderten Auren sich nicht. Wann immer er eine Aura sah, konnte er sicher sein, dass sie Jahre später immer noch dieselbe war, wenn er diese Person wiedertraf. Die einzige Ausnahme bildete da Joel, dessen Aura sich stets an seinem Gemütszustand orientierte – und die seiner Mutter. Das einstmals tiefe Dunkelblau, das Theia wie einen perfekten Kreis umgeben hatte, war inzwischen mit silbernen Fäden durchzogen, die je nach einfallendem Licht entweder hell leuchteten oder geheimnisvoll schimmerten. Allein diese Aura war es wert, dass Raymond, wann immer er Joel besuchen ging, seine Brille in einer Tasche seiner Kleidung trug, um einen ungehinderten Blick auf Theia zu haben. In diesem kleinen Kreis war es inzwischen jeder gewohnt, ihn ohne Brille zu sehen, jeder von ihnen wusste, dass er nicht darauf angewiesen war, sie zu tragen, sondern sie nur brauchte, um das Sehen von Auren zu unterdrücken. Die meisten waren zwar ein äußerst schöner Anblick, aber mit der Zeit ermüdeten sie einen. Das menschliche Gehirn, wie sein Biologielehrer ihm immer erklärte, war nicht dafür geschaffen, derlei zusätzliche Reize andauernd zu verarbeiten. Aber für Theias Aura nahm er selbst Kopfschmerzen in Kauf. Abgesehen von diesem Schein hatte sie sich absolut nicht verändert. Ihre blauen Augen glitzerten immer noch fröhlich, ihr schwarzes Haar saß perfekt wie eh und je und ging fast übergangslos in ihre Aura über als ob diese direkt daraus hervorfließen würde. Aber irgendwann endete auch dieses ruhige Beisammensein, bei dem nur über Belanglosigkeiten gesprochen wurde und die drei Jugendlichen versammelten sich in Joels Zimmer, um endlich ihre Strafarbeit zu erledigen. In einem Anfall von Großzügigkeit – und wohl ein wenig Mitleid – hatte Rufus einst einen riesigen Schreibtisch für seinen Sohn gekauft, der eigentlich eher in einen Lernsaal gepasst hätte und für Raymonds Geschmack auch viel zu sperrig war. Aber Joel liebte diesen Tisch geradezu, er war innerhalb kürzester Zeit zum Dreh- und Angelpunkt seiner Freizeit geworden und das merkte man deutlich. Alles Wichtige in seinem Zimmer war in Reichweite, so dass er mit seinem Bürostuhl nur an die entsprechende Stelle rollen musste, so war er nicht einmal gezwungen, irgendwann aufzustehen, wenn er etwas brauchte; allerlei Papier und Stifte waren auf dem Tisch verstreut, damit er in jeder Ecke nur den Arm auszustrecken brauche, um daran zu kommen, falls ihn das Bedürfnis zu schreiben oder zu zeichnen überkommen sollte, auch wenn Raymond aus Erfahrung wusste, dass das eigentlich nie der Fall war. Zuguterletzt waren noch die aktuellsten Ausgaben seiner Lieblingsbuchreihe lagen auf dem Tisch gestapelt, so dass Raymond fast schon automatisch einen Blick auf diese warf. „Tausend Möglichkeiten, Träume zu deuten?“ Joel blickte nicht einmal auf, während er den Tisch freizuräumen versuchte. „Ich bin auch nicht unbedingt ein Fan von Traumdeutung, aber ich mag die Bücher.“ Auch wenn Raymond froh war, dass sein Freund sich zumindest für eine Reihe begeistern konnte, so würde er wohl nie verstehen, weswegen es gerade diese sein musste. Er hatte selbst einmal versucht, zumindest eines der Bücher zu lesen und nachdem Joel ihm einmal ausgiebig aus Tausend Wege, wie Sie zu Hause verunglücken könnten vorgelesen hatte – und er sich im Anschluss nicht einmal mehr getraut hatte, seinen Kühlschrank zu öffnen – war in ihm der Entschluss gewachsen, nie wieder eines davon zu lesen. „Ich mag Traumdeutung“, ließ Christine sich vernehmen. Sie saß inzwischen auf Joels Stuhl und ließ diesen immer wieder drehen. Als das Gespräch auf Traumdeutung fiel, hielt sie allerdings inne und blickte ihre beiden Freunde direkt an. In ihren Augen – und auch ihrer Aura – glitzerte etwas, das Raymond sofort als Begeisterung wiedererkannte und als ihre Aufforderung, dass einer von ihnen sie nun fragte, weswegen sie das Thema mochte, was Raymond auch sofort tat. „Gut, dass du fragst.“ Sie tat so als ob es nicht im Geringsten etwas mit ihrer stillen Aufforderung zu tun gehabt hätte und straffte unmerklich ihre Schultern, als sie zum Erklären ansetzte. „Träume entstehen aus unserem Unterbewusstsein, nicht wahr? Wenn man es versteht, sie zu deuten, kann man sich selbst verstehen und das ist ziemlich viel wert.“ Sie warf Raymond dabei einen vielsagenden Blick zu, der ihn wieder ins Grübeln geraten ließ. Christine wusste von dem Albtraum, der ihn jede Nacht heimsuchte, aber sie war nicht davon überzeugt, dass es nur auf den Stress zurückzuführen war. Diese Einstellung hatte ihn auch eine Weile darüber nachdenken lassen, aber das Ergebnis waren nur Kopfschmerzen gewesen, deswegen tat er das inzwischen nicht mehr. „Also ich verstehe mich selbst ziemlich gut“, erwiderte Joel und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Ich brauche dafür keine Traumdeutung – aber he, ich träume ohnehin nur jede Nacht davon, dass ich endlich mit der Schule fertig werde. Und um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir endlich die Strafarbeiten machen, sonst stuft Professor Liam uns alle fünf Jahre zurück.“ Mit einem Wink besagte er Raymond, dass dieser sich an den Tisch setzen sollte. Durch die Größe der Arbeitsfläche konnte jeder von ihnen eine eigene Ecke in Beschlag nehmen und dort die nächsten zwei Stunden überlegen, was sie schreiben sollten. „Tausend Wörter“, ächzte Joel nach gerade einmal der Hälfte. „Was denkt der sich eigentlich? Dass wir Weltmeister im Schwafeln sind?“ Christine seufzte zustimmend. „Wenn es wenigstens nach Seitenanzahl und nicht nach Wörtern ginge...“ Ein kurzer Blick auf ihr Blatt genügte, um Raymond ihre Einstellung zu erklären. Durch Eves und Theias schwungvolle Schriften, die eine eigene Art von Kunst sein mussten, war Raymond früher immer der Überzeugung gewesen, dass alle Frauen oder Mädchen eine schöne und verträumte Schrift innehaben würden – aber die von Christine war nicht einmal annähernd etwas davon. Manchmal zweifelte er sogar daran, dass diese Linien, die sie über das Papier zog, überhaupt Buchstaben waren, aber sie verteidigte sich stets damit, dass sie es als Kind so gelernt hatte und ihre damaligen Lehrer immer sehr zufrieden mit ihr gewesen waren. Jedenfalls schaffte sie es so aber locker auf die doppelte Seitenanzahl aller anderen Schüler, wann immer eine Prüfung anstand, die handschriftlich abgelegt werden musste. „Professor Liam ist ja nicht dumm“, meinte Raymond. „Würde er so vorgehen, würde jeder lediglich fünf Wörter in einer gewissen Größe schreiben und damit hätte es sich.“ Das war offenbar nicht das, was Christine hören wollte, denn sie warf ihm bereits wieder einen frustrierten Blick zu. „Warum hältst du eigentlich immer zu den Lehrern, Ray?“ Er wollte gerade erwidern, dass er das nicht tat, sondern nur versuchte, hinter die Taten zu sehen, um die Motivation zu erblicken, aber Joel nahm ihm das bereits ab: „Du weißt doch, Kinder aus dem Peligro Waisenhaus müssen immer wie der Feind denken, um diesen zu besiegen.“ Während Christine auf diese Logik hin verständnisvoll nickte, war sich Raymond nicht sicher, ob er sich für diese Rückendeckung bedanken oder wegen diesem Seitenhieb erzürnt sein sollte, weswegen er das tat, was ihm am Logischsten erschien: Er konzentrierte sich wieder auf seine Strafarbeit, um diese zu beenden. Tatsächlich war er nicht lange danach auch damit fertig und kurz nach ihm beendeten auch Joel und Christine ihre eigenen Arbeiten, aber um zu entspannen blieb nicht mehr viel Zeit. Wie üblich hatte sich das Essen und der anschließende Tee so lange hingezogen, dass es nun bereits Zeit war, nach Hause zu gehen. Christine wurde von ihren Eltern immerhin erwartet – und Raymond war nach dem Abend ohne Brille einfach nur noch müde und sehnte sich nach seinem Bett. Und auch wie üblich, machte er sich nach der Verabschiedung gemeinsam mit Christine auf den Rückweg, da sie in dieselbe Richtung musste wie er. Sie schob das Fahrrad, mit dem sie stets unterwegs war, neben sich her und blickte dabei unentwegt auf den Boden – zumindest der letztere Teil war allerdings neu, weswegen Raymond nicht anders konnte als sie zu fragen, ob alles in Ordnung war. Erschrocken zuckte sie zusammen und hob eilig den Blick, um ihn anzusehen. „Ah, du redest ja mit mir.“ „Natürlich, warum sollte ich nicht?“ Seine Stimme war ernsthaft verwundert, aber da er damit beschäftigt war, seine Brille wiederzufinden und aufzusetzen, erwiderte er ihren Blick nicht und konnte so nicht bemerken, dass sie lautlos erleichtert ausatmete. „Na ja, wegen meiner Frage vorhin, warum du immer zu den Lehrern hältst. Du hast nach Joels Antwort nichts mehr gesagt.“ Aufmunternd lächelte er ihr zu. „Mach dir keine Sorgen, ich trage dir das nicht nach. Ich habe schon gar nicht mehr daran gedacht.“ Das stimmte zwar nicht ganz, hatte ihm dieses Ereignis doch nur erneut vor Augen geführt, dass er anders war als seine Freunde und dass diese es nie vergessen würden, selbst wenn sie deswegen nicht schlecht über ihn dachten. Aber es brachte nichts, das Christine zu erzählen und damit ihr Gewissen zu belasten. Sie atmete noch einmal auf. „Gut. Ich dachte schon, du würdest Joel oder mich nun für immer hassen.“ „Das wird wohl kaum jemals geschehen.“ „Das wäre auch sehr übel für uns. Es gibt niemanden, auf den wir uns so gut verlassen können wie auf dich.“ „Und niemand, der es dir erlaubt, mit Joel Zeit zu verbringen ohne dass es aussieht als würdest du etwas von ihm wollen.“ Ihr Gesichtsausdruck nahm sofort einen gänzlich anderen Ausdruck an, leicht panisch und nicht im Mindesten erfreut darüber, dass er diese Feststellung machte. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sie sich wieder beruhigt hatte und etwas erwidern konnte: „Ist das deine Rache für deine Frage vorhin?“ „Vielleicht. Aber ernsthaft, hast du irgendwann auch einmal vor, ihm etwas davon zu erzählen?“ In einem Versuch, ihm und diesem Gespräch auszuweichen, wandte sie den Blick ab und hob den Kopf ein wenig, so dass es aussah als würde sie interessiert die Hochhäuser auf ihrem Weg betrachten. Da sie allerdings bemerkte, dass er weiterhin auf ihre Antwort wartete, wandte sie sich ihm wieder ruckartig zu. „Keine Ahnung. Vielleicht nie, vielleicht morgen, vielleicht bei unserer Abschlussfeier.“ „Du weißt doch aber, was man sagt, oder? Man sollte nicht zu lange zögern, so etwas Wichtiges zu tun.“ „Warum? Was sollte denn schon passieren, wenn man es nicht tut?“ „Du könntest vorher sterben – oder er. Und was dann?“ Schon wieder war der Tod in seinen Gedanken. In den letzten Tagen dachte er viel zu oft an solche düsteren Dinge, bekam er das Gefühl. Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern lachte nur leise. „Wir sind alle sterblich, ich weiß, aber das gilt hoffentlich nicht für mich.“ Statt einer Erwiderung blieb er abrupt stehen und hielt ihren Arm fest, damit sie ebenfalls innehielt. Noch bevor sie fragen konnte, was das sollte, kreuzte ein Laster lautstark die Straße auf der sie liefen. Christine sah dem Fahrzeug verdutzt hinterher, das keine einzige Sekunde lang auch nur ein wenig langsamer zu werden schien. „R-Rowdy...“ Die Worte verließen ihre Lippen nur schwach und kraftlos, anders als sonst. „Scheint als könntest du einfacher sterben, als du denkst“, meinte Raymond leicht schmunzelnd. Doch zu seiner Überraschung lächelte sie bereits wieder schelmisch, als sie sich ihm erneut zuwandte. „Damit das nicht passiert, hab ich ja dich. Ich sage doch, wir können uns auf dich verlassen.“ „Ich kann nicht immer da sein, um euch zu beschützen“, erwiderte er, wenn auch ein wenig verlegen; es kam nicht oft vor, dass jemand tatsächlich derart viel Vertrauen in ihn legte und das auch offen zugab. Christines Lächeln wurde ein wenig sanfter, fast schon liebevoll. „Ich bin sicher, dass du sofort angerannt kommen würdest, wenn Joel oder ich Hilfe brauchen oder in Gefahr sind. Da mache ich mir absolut keine Gedanken.“ „Danke, Chris.“ Sie sagte nichts mehr darauf, sondern stieg auf ihr Rad. „Ich fahr dann mal, bevor mein Dad noch einen Herzinfarkt bekommt, weil ich immer noch nicht zu Hause bin.“ Als sie das sagte, rollte sie mit den Augen, lächelte dann aber gleich darauf. „Wir sehen uns morgen in der Schule. Gute Nacht, Ray.“ Er erwiderte die Verabschiedung und sah ihr hinterher, bis das rote Rücklicht ihres Fahrrads nicht mehr auszumachen war. Wie jedesmal fühlte er sich in jenem Moment, in dem er das realisierte, allein, einsam, so als wäre er der letzte Mensch in einer Stadt voller Zombies – dass ihm dieser Vergleich kam, war auch die Schuld von Joels Lieblingsreihe und dem Band Tausend Wege, als letzter Mensch in der Großstadt eine Zombieinvasion zu überleben aus dem sein Freund ihm natürlich auch dauernd hatte vorlesen müssen. Ein plötzliches Gefühl von Unruhe überkam ihm, kaum, dass er das gedacht hatte. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut, so als ob sich etwas Bedrohliches nähern würde, sein Herz schlug augenblicklich schneller, sein Verstand wies ihn an, zu rennen solange er noch konnte – aber seine Vernunft beruhigte ihn mit einer ruhigen inneren Stimme und brachte ihn dazu, den Kopf zu wenden, um erst einmal herauszufinden, ob und was sich hinter ihm befand. Sollte es sich um einen Zombie – oder mehrere – handeln, wüsste er dank Joel ja, wie er diese am Effektivsten bekämpfen sollte. Doch nichts und niemand war zu sehen. Die Straße hinter ihm war vollkommen leer, verlassen, geradezu einsam. Er entspannte sich wieder einmal. Das angespannte Gefühl schwand zwar nicht völlig, aber immerhin war sein Verstand nun zufrieden und schob diesen Verfolgungswahn auf die Gedanken mit den Zombies um die er sich nicht weiter zu kümmern brauchte. So konnte er sich wieder nach vorne wenden und seinen restlichen Heimweg hinter sich bringen. Hätte er die Brille abgenommen, wäre ihm das unförmige, schleimige Wesen aufgefallen, das in der Dunkelheit saß und Raymond mit seinen roten Augen hinterhersah, bis weder er noch seine hell strahlende Aura noch zu erkennen waren. Kaum war das geschehen, verschmolz das Wesen mit der Dunkelheit und nun war wirklich nichts mehr auf der Straße zu sehen. Kapitel 3: Albträume -------------------- Er träumte wieder. Er wusste sofort, dass es ein Traum war, nicht nur weil er diesen in den letzten Wochen so oft durchlebt hatte, sondern auch, weil er dieses Wesen, das ihm gegenüberstand, nur dort sah. Es war in keinem Biologiebuch verzeichnet, lediglich in alten mythologischen Geschichten. Ein Wesen mit drei Köpfen, dem eines Löwen, dem einer Ziege im Nacken und dem einer Schlange als Schwanz; eine Chimäre, ein Mythos, der leibhaftig vor ihm stand. Nein, nicht leibhaftig, nur in seinem Traum und doch... Obwohl ihm bewusst war, dass er nur albte, dass er nur aufwachen müsste, um zu entkommen, gelang ihm das nicht. Er war gefangen in der immergleichen Szene, umhüllt von einem Mantel aus Furcht, der ihn zittern ließ, im Ohr die kalte Stimme eines Mannes, den er nicht sehen konnte. „Besiege deine Angst. Umarme den Tod; lass ab davon, dich an dein Leben zu klammern und du wirst sehen, dass es nichts gibt, vor dem du dich fürchten müsstest. Wenn du den Tod schätzt, gibt es keinen Gegner, der dich einschüchtern kann.“ Schmerzen, so echt als ob er sie tatsächlich durchleben würde, durchzuckten ihn, als er einem Angriff des Monsters nicht ausweichen konnte, da er vor Angst wie gelähmt war. Das Blut lief an seinem Arm hinab und trotz des Ratschlags zuvor, wollte er nicht sterben, er wollte das Leben nicht loslassen, nur um den Tod zu begrüßen. Die Stimme von zuvor lachte kalt. „Auf diese Art und Weise verlierst du nur – und zwar nicht nur den Kampf, sondern auch dein Leben.“ Die Chimäre riss ihr Löwenmaul auf und- „Raymond, bist du noch bei uns?“ Er hob weder den Kopf von seinen auf dem Tisch liegenden Armen, noch öffnete er auch nur die Augen. Erleichterung durchströmte ihn wieder einmal, als er erkannte, dass er wach war und keine Gefahr mehr drohte, egal von wem. Jemand berührte ihn sacht an der Schulter. „Raymond?“ „Hm?“ Sein Kopf ruhte immer noch auf seinen Armen. „Oh, gut, du bist wach.“ Die Stimme seines Lehrers Mr. Fry, der einzige Lehrer, bei dem es erlaubt war, zu schlafen. „Ich wollte dich auch nicht wecken, aber ich brauche deine Hausaufgaben. Du weißt schon, ich muss Noten verteilen.“ Ohne etwas zu sagen und immer noch ohne den Blick zu heben – seine Augen waren mit Sicherheit wieder rot und noch nass von den Tränen und das musste nun wirklich keiner sehen – kramte er die bereitgelegten Arbeitsblätter unter seinen Armen hervor und reichte sie Mr. Fry, der sich freudig bedankte. „Du kannst jetzt weiterschlafen.“ Das hatte Raymond zwar nicht vor, aber er war dennoch froh, als er endlich hörte, wie der Lehrer weiterlief und ihm wieder sich selbst überließ. Normalerweise suchte ihn dieser Albtraum nur nachts heim, weswegen er die Schulstunden bei Mr. Fry genutzt hatte, um etwas Schlaf nachzuholen, aber offenbar war sein Unterbewusstsein der Meinung, dass er noch nicht genug gequält wurde und holte das nun nach – und das seit einigen Tagen. Er traute sich kaum noch, die Augen zu schließen, geschweigedenn sich irgendwo hinzulegen und hatte damit in der letzten Zeit die Sorge all seiner Freunde und Bekannten auf sich gelenkt, er konnte nur vom Glück sagen, dass er so wenige von beidem hatte. Aber jene, die da waren, machten sich besonders viele Gedanken, so auch Joel, der ihm auf dem Heimweg wieder einmal aus einem seiner Bücher vorlas: „Als Ursachen für Albträume werden unverarbeitete Tagesgeschehen, traumatische oder traumatisierende Erlebnisse, Stress oder psychische Probleme, aber auch physische Komponenten angenommen.“ „Hm.“ Raymond interessierte sich nicht im Mindesten für das, was in diesem Buch stand und am Liebsten wäre es ihm gewesen, Joel würde das ebenfalls nicht tun. „Und? Hast du Stress oder psychische Probleme?“ Am Liebsten hätte Raymond damit geantwortet, dass seine Freunde ihm beides in letzter Zeit ausgiebig bescherten, doch stattdessen zuckte er mit den Schultern. „Sieht wohl so aus. Du weißt doch aber, wie das ist. Das ganze Lernen, Professor Liam...“ Er wollte sich auf die Zunge beißen, aber da waren die Worte schon draußen und die befürchtete Erwiderung blieb auch nicht aus: „Ich dachte, du bist ein Genie, was musst du da bitte noch großartig lernen?“ Er hasste es so sehr, hatte es regelrecht satt, dass er das ständig von jedem gesagt bekam und er musste sich schwer beherrschen, besonders in seinem derzeitigen Zustand, Joel nicht einfach anzufauchen. „Ich bin wahrscheinlich kein natürliches Genie. Ich muss genau so lernen wie du auch – ich habe nur das Glück, dass ich mir das alles merken kann. Aber es heißt ja, das Glück ist mit dem Schnelldenker, nicht?“ Joel lachte leise. „Mit dem Tüchtigen, Ray. Du solltest das Verwenden von Sprichwörtern wirklich aufgeben. Aber ich denke, ich sollte langsam aufgeben, bei dir immer ins Fettnäpfchen zu treten.“ „Das wäre nett“, sagte Raymond trocken. Gerade als sein bester Freund sollte er doch immerhin besser wissen, dass es Dinge gab, die man bei ihm nicht ansprechen sollte. Das Waisenhaus und sein vermeintlicher Genie-Status gehörten definitiv dazu und das hatte Raymond ihm auch oft genug gesagt. Er wollte nicht an das Waisenhaus zurückdenken – höchstens an Adam und Eve – und er hielt sich auch nicht im Mindesten für ein Genie. Er mochte das Glück haben, sich Dinge leicht merken zu können und im naturwissenschaftlichen Bereich viele logische Verknüpfungen allein durch sein Nachdenken zu durchschauen, aber dennoch blieb auch ihm nichts anderes übrig als zu lernen und sich vor den Prüfungen fast wahnsinnig zu machen, weil es so dermaßen viel Lernstoff war. Dass er dann jedes Mal erwidert bekam, dass er kein Recht hätte, sich zu beklagen, da er ja ein Genie sei, störte ihn seit Jahren. „Um mal das Thema zu wechseln.“ Joel schloss das Buch endlich und ließ es in seiner Schultasche verschwinden. „Chris macht sich ziemlich viele Sorgen um dich.“ „Hm?“ Seit dem Abend, an dem sie gemeinsam heimgelaufen waren, hatte Raymond nicht mehr mit ihr gesprochen, das war vor drei Tagen gewesen. Zwar gingen sie in dieselbe Klasse und gehörten zur gleichen Clique, aber da Raymond ohnehin wenig sprach, fiel es auch kaum auf, wenn er gar nichts sagte. „Ja, sie hat mich angerufen, um über dich zu sprechen.“ Raymond konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Er war sich äußerst sicher, dass das nur ein Vorwand gewesen war, ein dringend benötigter Grund, um mit Joel zu sprechen und seine Stimme zu hören. „Ich glaube, sie steht auf dich.“ Zumindest das spöttische Lachen konnte er unterdrücken. „Wie kommst du denn darauf?“ „Sie hat mich in den letzten Tagen ziemlich oft wegen dir angerufen.“ Joel wandte ihm nun den Blick zu. „Also, was sagst du dazu?“ Raymond sah nach wie vor stur geradeaus und versuchte, nicht zu grinsen. „Ich habe kein Interesse an ihr – und ich denke, das dürfte sie auch wissen.“ Diese Aussage beruhigte Joel offensichtlich, denn mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, sah er wieder nach vorne. „Gut, immerhin steh ich ja schon auf sie.“ Nun konnte er nicht anders, Raymond grinste. „Und wann sagst du es ihr?“ Teilweise empfand er es wirklich schon als störend, dass beide anscheinend dasselbe für den jeweils anderen fühlten, aber keiner von beiden sich traute, den ersten Schritt zu machen. Er war bislang noch nie verliebt gewesen, aber es fiel ihm dennoch schwer, sich vorzustellen, dass es so unmöglich sein könnte, der anderen Person einfach zu sagen, was man empfand. Doch der sonst so selbstbewusste Joel zuckte bei dieser Frage mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht wenn ich sicher bin, dass sie mich dann nicht auslacht... He, hat sie dir vielleicht mal was gesagt, wie sie mich findet?“ Raymond wäre nichts lieber gewesen als dieses ganze Spiel abzukürzen und seinem Freund einfach zu erzählen, dass Christine quasi nur darauf wartete, dass er sie einmal um eine Verabredung bat oder ihr zu sagen, dass Joel durchaus interessiert an ihr war und sie es einfach mal auf einen Kuss ankommen lassen sollte. Dummerweise hatte er beiden aber versprochen, dem jeweils anderem gegenüber Stillschweigen zu bewahren und so etwas pflegte er auch einzuhalten. „Nein, hat sie nicht. Wir reden immer nur über sehr belanglose Dinge.“ Vielleicht war diese ganze Sache ja der Grund für seine Albträume, aber das erklärte nicht, warum sich alles so echt anfühlte, so als ob er diesen Moment wirklich einmal durchlebt hätte. Die Furcht und die Schmerzen waren so echt, dass er jedes Mal, wenn er davon träumte, weinte – und manchmal sogar, wenn er nur daran dachte. „Ray!“ Er zuckte erschrocken zusammen, als er Joels lauten Ausruf bemerkte. „W-was ist denn?“ Joel blieb stehen und brachte ihn dazu, dasselbe zu tun, ehe er hastig ein Taschentuch hervorkramte, das er seinem Freund dann reichte. „Du hast plötzlich angefangen zu weinen“, erklärte Joel mit besorgter Stimme. Beschämt bedankte Raymond sich, nahm ihm das Taschentuch ab und ging sich damit über die tränenden Augen. „Vielleicht werden deine Albträume auch durch ein Trauma ausgelöst.“ Joel machte sich anscheinend wirklich Sorgen um ihn, normalerweise sprach er nicht gern über düstere Themen. „Du solltest vielleicht mal mit einem Psychologen sprechen.“ „Das hätte mir gerade noch gefehlt.“ Das Letzte, was er brauchte, war eine Person, die versuchte in seinem Unterbewusstsein und seiner Vergangenheit herumzustochern und dabei Dinge aufzuwühlen an die er sich gar nicht erinnern wollte. Es würde schon einen Sinn haben, wenn er das alles vergessen hatte. „Interessiert dich das alles denn gar nicht? Also... ich wäre traurig, wenn ich mich nicht mehr an meine Eltern erinnern würde.“ Raymond musste nicht erst Joels Aura betrachten, um zu wissen, dass sie sich bräunlich verfärbt hatte, ein sicheres Anzeichen für Traurigkeit. Er zuckte mit den Schultern. „Würde ich mich an sie erinnern, könnte das dazu führen, dass ich sie vermisse und das will ich nicht.“ Er empfand das Mitleid oftmals völlig fremder Menschen schon als schlimm genug, da musste er nicht noch Schmerzen in der Verärgerung spüren. „Weißt du... ich habe dich das noch nie gefragt,“, begann Joel und Raymond wusste bereits, dass er die Frage nicht im Mindesten mögen würde, „aber es interessiert mich.“ Er machte noch einmal eine Pause und sah seinen Freund so direkt wie möglich an. „Sehnst du dich denn nicht zumindest nach einer Familie?“ Raymond antwortete ihm nicht, sondern erwiderte seinen Blick nur als ob er mit dieser Frage endgültig bewiesen hatte, dass er kein Feingefühl besaß. Natürlich sehnte er sich nach einer Familie; nach jemandem, der auf ihn wartete, wenn er nach Hause kam; der sich dafür interessierte, wie sein Tag gewesen war und der ihn so akzeptierte wie er war und ihn nicht ständig daran erinnerte, dass er anders war, sei es nun wegen seiner Vergangenheit, wegen seiner Fähigkeit, wegen seiner Intelligenz oder einfach nur wegen der Tatsache, dass er im Gegensatz zu seinen beiden Freunden keine richtige Familie oder auch nur eine Erinnerung an eine solche besaß. Aber er hatte nichts davon und würde so etwas möglicherweise auch nie bekommen, deswegen lohnte es sich für ihn nicht, sich zu viele Gedanken darum zu machen. Am Ende würde er damit nur seine Albträume verschlimmern oder vor lauter Grübeln gar nicht mehr zum Einschlafen kommen. „Ich gehe nach Hause“, sagte er schließlich, um das Gespräch zu beenden und wandte sich bereits ab. „Ich muss die Hausaufgaben erledigen.“ Er war schon einige Schritte weitergelaufen, als Joel ihn noch einmal einholte. „He, willst du heute nicht zum Abendessen vorbeikommen? Meine Mutter würde sich bestimmt freuen und du könntest bei uns übernachten, vielleicht schläfst du dann ja besser.“ Es war seine Art, sich zu entschuldigen, ein Friedensangebot, wenn man so wollte, aber Raymond war noch nicht in der Stimmung, es einfach kompromisslos anzunehmen. „Ich überlege es mir.“ Damit verabschiedete Joel sich mit sichtlich geknickter Stimmung bei ihm und nahm dann einen anderen Weg nach Hause. Kaum war er nicht mehr in seiner Nähe, seufzte Raymond leise. Er wusste ja, dass sein Freund es nicht so meinte und sich lediglich Sorgen um ihn machte und er ihn mit seinem abweisendem Verhalten nur unnötig verletzte – aber er wollte es auch nicht einfach so hinnehmen, dass er sich ständig solche Fragen oder Seitenhiebe anhören musste, auch wenn Joel es nicht so meinte und er möglicherweise einfach nur überreagierte. War es denn wirklich so schwer für ihn ein wenig Rücksicht zu nehmen? Raymond warf ihm immerhin auch nicht andauernd an den Kopf, dass er keine Freunde hatte und seine Aura so außergewöhnlich war, dass er damit als Freak durchging. Er schüttelte den Kopf, um sich selbst zurechtzuweisen. Heute Abend würde er einfach bei den Chandlers essen gehen, dann wäre der Konflikt vorerst wieder aus der Welt geschafft. Nur die Übernachtung, die würde er nicht annehmen, denn das würde nur dazu führen, dass Joel direkt wieder mit einem für ihn unangenehmen Thema anfangen würde und dem wollte Raymond lieber entgehen. Nichtsdestotrotz freute er sich bereits auf eine angenehme Mahlzeit, den Tee – und auch Theias Aura. Kapitel 4: Verfolgt ------------------- Tatsächlich genoss Raymond den Abend. Kurz bevor er das Haus erreicht hatte, war ein erneutes Zögern in ihm erwacht, ob er Joel wirklich wieder so einfach damit davonkommen lassen sollte – und ob er sich den besorgten Gesichtern dessen Eltern aussetzen wollte. Immerhin hatte Joel ihnen bestimmt bereits erzählt, dass er unter heftigen Albträumen litt und die Lehrer waren damit sicherlich auch schon an den Direktor herangetreten. Lediglich der Wunsch nach einer warmen Mahlzeit, einem Tee und etwas Gesellschaft, die ihn ablenken könnte, hatten ihn schließlich davon überzeugt, nicht wieder nach Hause oder einfach ins nächstbeste Kino zu gehen. Entgegen seiner Befürchtungen wurde es auch ein netter Abend. Die Atmosphäre war bei weitem nicht so angespannt wie gedacht, keiner der Erwachsenen sprach ihn auf seine Albträume an, obwohl er durchaus bemerkte, dass ihnen die Schatten unter seinen Augen auffielen und auch Joel verhielt sich deutlich sensibler als sonst und schluckte des öfteren einen Spruch herunter, der ihm bereits auf der Zunge lag, das war selbst für Raymond offensichtlich. Genauso wie die Tatsache, dass dieses Verhalten seinem Freund äußerst schwerfiel, was ihn nur in dem Entschluss bekräftigte, nach dem Essen wieder nach Hause zu gehen, obwohl er auf der Stelle hätte einschlafen können, so müde wie er war. Theia und Rufus verabschiedeten sich nur knapp von ihm, vermutlich um nicht die Gefahr einzugehen, doch noch irgendwelche Anzeichen von Besorgnis auszuleben, während Joel ihn bis an die Tür begleitete. Ein wenig verlegen kratzte sein Freund sich am Nacken. „He, Ray, was ich vorhin gesagt habe, tut mir Leid. Ich sollte dich nicht dauernd auf solche Dinge ansprechen.“ Raymond war sich darüber im Klaren, dass Joel erwartete, dass er abwinken und sagen würde, dass schon alles gut sei, aber stattdessen sah er ihn nur schweigend an, so dass er gezwungen war, fortzufahren: „Aber meine Zunge ist manchmal schneller als mein Gehirn. Ich arbeite daran, echt.“ „Viel Erfolg“, meinte Raymond trocken, lächelte im nächsten Moment aber bereits. „Mach dir nicht allzu viele Gedanken darum. Ich werde nicht tot umfallen, weil du unsensibel bist. Du musst nur damit rechnen, dass ich ab und zu verärgert bin.“ Joel wirkte deutlich erleichtert und schmunzelte auch wieder. „Ich hasse es, wenn du so bist. Da gibst du einem immer das Gefühl, an allen Katastrophen auf der Welt schuld zu sein und als ob du nie wieder mit einem sprechen möchtest.“ Das war ihm nie bewusst gewesen, aber es war gut zu wissen. „Nein, keine Sorge, so weit wird es wohl nie kommen.“ „Sehr gut. Dann komm gut nach Hause, ich werd' dich morgen früh wieder abholen.“ Raymond nickte und verabschiedete sich von Joel, ehe er das Haus verließ. Er war erst wenige Schritte gelaufen, als er die Entscheidung bereits wieder bereute. Es war überraschend kalt für eine Nacht im September, fand er und auch irgendwie... unheimlich. Außer ihm schien sich sonst niemand auf den Straßen zu befinden, was zwar in dieser Gegend von Lanchest nicht sonderlich unüblich war, ihm aber im Moment doch einen Schauer über den Rücken jagte. Er hob den Kopf und entdeckte neben dem schwachen Leuchten einiger besonders heller Sternen auch den abnehmenden Mond, der ihm gemeinsam mit den Straßenlaternen Licht spendete. Genug, um zu sehen, dass es nichts gab, vor dem er sich fürchten müsste und doch war genau diese Abwesenheit von potentieller Gefahr etwas, was in seinem Inneren alle Alarmglocken auf Bereitschaft springen ließ. Er spielte mit dem Gedanken, wieder zurückzugehen und Joel zu fragen, ob er doch über Nacht bleiben könnte, aber er verwarf das sofort. Was würde das denn für einen Eindruck machen? Er war doch kein kleines Kind mehr, das sich vor der Dunkelheit fürchtete – zumindest redete er sich das im Moment ein, denn wenn er nur zu lang in die finsteren Ecken blickte, kam es ihm doch anders vor. Unmerklich wurden seine Schritte langsamer, bis er schließlich komplett stand. Es waren dieselben Straßen wie immer, er kannte jedes Straßenschild, jeden Stein, jede Macke im Asphalt und doch... etwas war anders als sonst. Nein, nicht anders, nur deutlicher. Da war schon immer etwas gewesen, das einen einfach irritieren musste, wenn man nachts diese Straße entlanglief, aber bislang war es immer möglich gewesen, das Gefühl zu ignorieren. In dieser Nacht aber kam es stetig wieder hervor, egal wie oft er es wegschob. Also versuchte er sich zu sagen, dass es nur ein Gefühl von Angst war, hervorgerufen durch all die Horrorfilme, die er sich hin und wieder gemeinsam mit Joel ansah oder dessen Bücher, die er las. Logisch argumentierend versuchte er innerlich, sich zu sagen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, dass er in Sicherheit war. Selbst die Monster, die es durchaus gab, könnten nicht einfach unbemerkt in der Stadt herumstreunen, jemand hätte sie längst bemerkt und eliminiert. Alles war gut. Aber als er seinen ausgestoßenen Atem weiß hervortreten sah als wäre ohne sein Wissen bereits der Winter eingebrochen, wusste er sofort, dass nichts gut war. Sein Puls beschleunigte sich wieder, das Blut rauschte in seinen Ohren und machte es ihm unmöglich, etwas zu hören. Dafür konnte er überdeutlich spüren, dass sich etwas hinter ihm befand. Etwas Böses, Bedrohliches, das nicht nur die Uhrzeit von ihm wissen wollte oder den Weg zum Bahnhof. Seine Vernunft ließ dieses Mal nichts von sich hören, aber dennoch erinnerte er sich an ein ähnliches Ereignis vor einigen Tagen und beschloss, es einfach noch einmal genauso zu machen, nur um sicherzugehen, dass nichts hinter ihm war. Erschreckend langsam wandte er den Kopf und entdeckte- „Nichts...“ Seine eigene Stimme kam ihm in der Stille schon fast tröstend vor, aber das nagende Gefühl der Unruhe und der Bedrohung schwand einfach nicht. Stattdessen mischte sich nun noch eine Stimme in seinen Gedanken dazu; eine Stimme, die ihm riet, einfach einmal die Brille abzunehmen, nur um sicherzugehen, dass sich außer ihm wirklich nichts auf der Straße befand. Das Heben seines Arms, um die Brille abzunehmen, ging nur quälend langsam vonstatten. Er hatte das Gefühl, dass etwas ihn festhielt, seinen Körper in die andere Richtung ziehen wollte, damit er nie erfuhr, ob da noch etwas war. Ein Instinkt möglicherweise, dem sein Seelenheil wichtig war, aber er bekämpfte diesen erfolgreich, um Gewissheit zu erhalten und nahm schließlich die Brille ab. Eine Mischung aus den verschiedensten Emotionen nahm noch im selben Moment seinen Körper in Beschlag. Er verspürte Erleichterung darüber, dass er sich die Bedrohung nicht nur eingebildet hatte; Verwirrung, weil er diese Wesen noch nicht einmal aus seinem Biologiebuch kannte und zuguterletzt auch Furcht, weil er sich in der Unterzahl sah und absolut nichts über diese Wesen wusste, außer dass sie feindselig waren. Es waren in etwa zehn, er war sich nicht sicher, weil es mal mehr und mal weniger zu werden schienen, wenn sie für einen kurzen Moment den Schein der Lampe verließen und in die Schatten krochen, wo ihre schleimigen, dunkelblauen Körper fast schon unsichtbar wurden, lediglich die roten Augen glühten ihm dann noch entgegen. Diese Augen wirkten... unschuldig, sie waren groß wie die eines Kindes, aber ihnen fehlte jedes Weiß und auch die Pupille, sie waren einfach blutrot. Zwei Auswüchse an den Seiten des Körpers endeten in drei viel zu lang geratenen Fingern, an Beinen mangelte es den Wesen, aber das hielt sie nicht davon ab, sich ihm langsam, aber zielsicher zu nähern. „Nein, bleibt weg! Kommt mir nicht zu nahe!“ Er schaffte es, zu schreien, doch das schien diese Ungetüme nur weiter aufzuhetzen, ihm kam es so vor als wären sie plötzlich schneller, hungriger und auch wenn er nicht genau wusste, was sie mit ihm tun wollten, so wusste er doch, dass es eine schlechte Idee war, stehenzubleiben und es herausfinden zu wollen. Seine Beine bewegten sich immer noch nicht, aber wenn er sich nur fest genug darauf konzentrierte, wenn er stark genug daran glaubte... vielleicht würde er es dann schaffen, die Wurzeln zu lösen, die ihn mit dem Boden zu verbinden schienen. Ein Adrenalinschub, genau! Das brauche ich jetzt! Und noch während er das dachte, fiel die Beklemmung von ihm ab, seine Beine und seine Arme gehorchten ihm wieder, was er nutzte, um eilig herumzuwirbeln und fortzulaufen. Wohin seine Beine ihn trugen wusste er nicht und es war ihm auch egal, solange es fort von diesen unbekannten Wesen war, die er hinter sich hören konnte, wie sie ihn verfolgten und dabei an Geschwindigkeit zunahmen. Sie gaben keine Töne von sich, aber zwischen seinen eigenen Schritten konnte er das träge Matschen hören, wenn die schleimigen Körper sich vorarbeiteten. In irgendeinem Unterrichtsfach, dessen Name Raymond in diesem Moment entfallen war, hatte er gelernt, dass man in einer Paniksituation oft vergaß, wo man war und selbst in seinem eigenen Haus plötzlich nicht mehr wüsste, wo sich der Ausgang befand. Er hatte das nie geglaubt, zumindest nicht, dass es auch auf ihn zutraf. Er war immer zuversichtlich gewesen, dass seine Vernunft und sein logisches Denkvermögen selbst im Angesicht des Todes noch fähig wäre, ihm zu sagen, was er tun sollte, wo er sich befand und welcher Fluchtweg der Verlässlichste wäre. Aber in diesem Moment, in dem er orientierungslos durch die Straßen rannte, die er eigentlich im Schlaf kennen sollte, auf der Flucht vor diesen seltsamen Wesen, wurde ihm bewusst, dass das auch für ihn galt und er zumindest in diesem Fall nicht anders war. Gerade, wenn ich es mal brauchen könnte, typisch. Noch dazu war niemand auf den Straßen zu sehen, der ihm helfen könnte. Keine Menschenseele befand sich draußen, alle Fenster waren verschlossen und größtenteils bereits dunkel, sämtliche Fahrzeuge, die am Straßenrand standen, waren verlassen. Es war als wäre er der letzte Mensch in dieser Stadt, als hätten diese Wesen jeden außer ihm bereits verschlungen. Dieser Gedanke ließ ihn ins Straucheln geraten und beinahe stürzen. Nein, das ist nicht wahr! Das kann gar nicht sein! Seine Vernunft schaltete sich wie ein Notaggregat ein und ließ ihn sicher weiterlaufen. Irgendwo würde er Hilfe finden, ja, er müsste nur bis zur Akademie rennen, dort gab es nicht nur genug Lehrer und Söldner, die ihm helfen könnten, dort gab es auch Waffen, die er benutzen könnte, um sich zu verteidigen. Er müsste nur immer dieser Straße folgen, dann... Als ob etwas seine Gedanken vorhergesehen hätte und ihn von seinem Vorhaben abbringen wollte, entdeckte er plötzlich eine Barriere nicht weit vor sich. Er konnte auf diese Entfernung nicht ausmachen, was es war, aber es war auf den ersten Blick eindeutig, dass er dieses Hindernis nicht überwinden könnte. Dennoch wollte er nicht aufgeben! Kurzentschlossen bog er in eine Seitenstraße ein – und fand sich nach wenigen Metern vor einer weiteren Barriere. Ihm blieb nichts anderes übrig als stehenzubleiben und sie ungläubig anzusehen. Was sich da vor ihm aufgebaut hatte und ihm den weiteren Weg versperrte, war eine Wand aus Wurzeln, sie verloren sich in der Erde, waren direkt vor ihm aber ineinander verschlungen als hätte jemand versucht, mit ihnen ein besonders schönes Muster zu stricken. Er fand es fast bedauerlich, dass er keine Zeit hatte, um es zu bewundern. Da er spüren konnte, dass seine Verfolger nicht aufgeben, beschloss er, zu versuchen diese Wand zu erklimmen. Er war immer schlecht im Klettern gewesen und hatte diesen Kurs auch sofort abgewählt, als es möglich gewesen war, aber im Moment blieb ihm keine andere Wahl. Seine Finger suchten unruhig und viel zu hastig nach geeigneten Stellen auf den Wurzeln, an denen er sich hochziehen und dann seine Füße darauf stellen konnte. Fluchend schlug er gegen das Holz, als er feststellte, dass es aussichtslos war. Zwar war die Wand nicht unbedingt glatt oder makellos, aber jedes vorstehende Stück, jeder Spalt, war zu schmal, um ihm die Möglichkeit zu geben, daran Halt zu finden. Er drehte sich wieder um und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Wand. Diese Wesen hatten inzwischen aufgeholt und positionierten sich vor ihm. Sie bewegten sich nicht mehr, immerhin wussten sie genauso gut wie er, dass er nun in der Falle war und es keinen Ausweg mehr gab. Er würde gleich hautnah, am eigenen Körper, miterleben, was sie mit ihren Opfern taten, aber ihm blieb keine Gelegenheit, es im Anschluss jemanden zu erzählen. Niemand würde erfahren, dass er... Am Liebsten hätte er sich selbst eine Ohrfeige verpasst. Warum war ihm nicht direkt sein Handy eingefallen? Er könnte jemanden zur Hilfe rufen und weiter zu fliehen versuchen. Da die Wesen sich immer noch nicht bewegten – ihm schien, dass in den hinteren Reihen noch einige aufschlossen – zog er sein Handy aus der Tasche, um damit die erstbeste Person anzurufen, die er in seinem Telefonbuch finden könnte. Doch ein Blick auf das Display genügte, um ihn von der Sinnlosigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen. Datum und Uhrzeit waren verzerrt als ob das Display einen Riss hätte, den er nicht sehen könnte, auf sein Drücken der verschiedenen Knöpfe folgte keine Reaktion außer unverständliche, kryptische Symbole, die ihm wohl ebenfalls sagten, dass es keinen Zweck hatte und er sich lieber endlich seinem Schicksal ergeben sollte. „Bitte nicht...“, murmelte er leise. Er hatte sich selbst nie sterben gesehen und wenn, dann doch bitte irgendwann in vielen, vielen Jahren und das im Schlaf und nicht in einer Seitengasse, in die er von unzähligen Wesen, deren Namen er nicht einmal kannte, gedrängt worden war. Die Furcht schnürte seine Kehle zu und ließ ihn wieder bewegungsunfähig werden, aber dieses Mal war das auch kein Problem, immerhin gab es keinen Fluchtweg mehr. „Besiege deine Angst. Umarme den Tod; lass ab davon, dich an dein Leben zu klammern und du wirst sehen, dass es nichts gibt, vor dem du dich fürchten müsstest. Wenn du den Tod schätzt, gibt es keinen Gegner, der dich einschüchtern kann.“ Die Stimme aus seinem Traum erklang plötzlich, so nah als würde der Mann, der diese Worte sagte, direkt neben ihm stehen, aber gleichzeitig waren sie von solch einem Nachhall begleitet, dass er direkt wusste, dass es nicht echt war, dass er allein war, vollkommen auf sich gestellt. Aber dennoch... Es widersprach seiner Natur, einfach aufzugeben, außerdem war da tief in seinem Inneren etwas, das ihm sagte, dass es da noch etwas gab, was er tun musste. Er durfte nicht aufgeben, durfte nicht Leute im Stich lassen, die an ihn glaubten. „Das wäre auch sehr übel für uns. Es gibt niemanden, auf den wir uns so gut verlassen können wie auf dich.“ Christines Stimme. Eine Person, die ihm vertraute, die sich auf ihn verließ, die er nicht einfach zurücklassen könnte, sonst würde sie möglicherweise doch noch von einem Laster überfahren – oder ebenfalls von diesen Wesen angegriffen werden. „Sehr gut. Dann komm gut nach Hause, ich werd' dich morgen früh wieder abholen.“ Er sah Joels Gesicht vor sich, als er erleichtert festgestellt hatte, dass sein bester und so ziemlich einziger Freund ihn nicht hasste. Eine Person, die ihn mochte, die auf ihn angewiesen war, die er nicht einfach verlassen könnte, sonst würde er wieder so einsam sein wie zuvor – oder ebenfalls von diesen Wesen angegriffen werden. Und mit der Erinnerung an diese beiden, erwachte in seinem Inneren erneut ein Kampfwille, der ihm sagte, dass es noch zu früh war zu sterben und dass er nicht einfach aufgeben durfte. „Ich kann noch nicht sterben, nicht hier!“, entfuhr es ihm, als seine Kehle sich von den Fesseln der Furcht mit einem Schlag befreite. Wieder das kalte Lachen aus seinem Traum. „Auf diese Art und Weise verlierst du nur – und zwar nicht nur den Kampf, sondern auch dein Leben.“ „Was auch immer“, erwiderte Raymond murmelnd, auch wenn er nicht glaubte, dass die Person ihn hören könnte. Er griff nach dem erstbesten Gegenstand, der sich ihm anbot, ein halb verrostetes Stahlrohr, und hielt es schützend vor sich. Wenn er schon sterben müsste, dann mit einem Kampf, selbst wenn dieser aussichtslos erschien. Niemand sollte ihm später nachsagen, er hätte nicht zumindest alles versucht, was in seiner Macht stand. Die Wesen rührten sich immer noch nicht als ob etwas sie davon abhalten würde, ihn anzugreifen, als ob es eine unsichtbare Barriere gab, die nur sie sehen konnten – aber noch während er darüber nachdachte, ob er die Gelegenheit zum Fliehen nutzen sollte, hörte er plötzlich eine weitere Stimme: „Schließe deine Augen.“ Irritiert hielt er inne und blickte sich um. Es war immer noch niemand außer ihm zu sehen, aber diese Worte eben stammten nicht aus seiner Erinnerung, er hatte diese Stimme – die eindeutig einer Frau gehören musste – noch nie zuvor gehört. „Schließe deine Augen, wenn du überleben willst.“ Es gab keinen Grund, dieser Stimme zu vertrauen oder überhaupt anzunehmen, dass sie wirklich existierte, aber wenn er so darüber nachdachte, war diese Chance möglicherweise realer als sein Gedanke, sich mit einem verrosteten Stahlrohr durchzuschlagen. Da selbst seine Vernunft, die bereits am Ende mit sich selbst zu sein schien, nichts mehr dazu anmerkte und ihm die Gelegenheit ließ, nach jedem Strohhalm zu greifen, der sich ihm bot, schloss er ohne weiter zu zögern die Augen. Er spürte eine Woge von Wärme, nein, Hitze, deren Zentrum sich inmitten der angreifenden Wesen befand und diese verzehrte – zumindest stellte er sich das so vor, er hielt die Augen immerhin weiter geschlossen. Schließlich erlosch die Hitze wieder, langsam kehrte die Kühle der Septembernacht zurück, aber etwas hielt ihn nach wie vor davon ab, seine Augen zu öffnen. Es dauerte einen Moment, bis ihm bewusst wurde, dass es eine Hand war, die sich auf seine Augenlider gelegt hatte – jemand stand hinter ihm, wie auch immer diese Person von ihm unbemerkt dorthin hatte gelangen können. Die fremde Stimme lachte leise und von der Richtung aus der sie erklang, konnte er sagen, dass es die Person hinter ihm war, die zuvor zu ihm gesprochen hatte – und das nun ebenfalls wieder tat: „Ich hoffe, du bist bereit zu sterben.“ Kapitel 5: Am Leben ------------------- Es war warm. Ganz anders als das Gefühl von Angst und Furcht, das er eben noch verspürt hatte. Eben? Nein, es musste länger her sein, Minuten, Stunden, vielleicht sogar Tage? Vielleicht war es auch nie geschehen? Im Moment war für ihn nur deutlich, dass er in einem Bett lag. Es war nicht sein eigenes, so viel konnte er spüren – die Matratze war ein wenig weicher und die Bettwäsche kratziger – und auch riechen – der Geruch von Desinfektionsmitteln stach in seiner Nase – also blieb die Frage, wo er war. Ausgehend von den Eindrücken, die er mit geschlossenen Augen machen konnte, war es ihm aber problemlos möglich auf ein Krankenhaus zu schließen. Er verband diese Orte mit Sicherheit, weswegen er sich direkt entspannte, als er das dachte. Nichts würde ihm geschehen, solange er dort war – nicht zuletzt, weil er die Anwesenheit einer weiteren Person spüren konnte. Es war nicht jene, die in der Gasse plötzlich hinter ihm gestanden hatte. Die nun anwesende Person trug eine vertraute Aura mit sich und als sie näherkam mischte sich auch der Geruch alter Bücher dazu. Er konnte nicht anders als sich ein wenig zu freuen, dass sie gekommen war – und öffnete endlich seine Augen. Zuerst blickte er nur auf die Decke über sich. Sie war nicht weiß, wie er es von einer Klinik erwartet hätte, sondern in einem dezenten, cremefarbenen Ton gehalten, vermutlich um die Patienten bei Laune zu halten, jedenfalls fühlte er sich schon ein wenig besser, als er diese Farbe sah. Dann erst wandte er den Kopf und entdeckte neben seinem Bett eine Frau. Sie schien in die Betrachtung der Gegend außerhalb des Fensters vertieft, ihr wie üblich hochgebundenes blondes Haar bewegte sich sacht im Wind, was auch das rote Haarband, das ihre Frisur hielt, flattern ließ. Er kannte diese Frau schon lange, aber ihre Aura war bislang die einzige, von der er nicht wusste, was er von ihr halten sollte. Das Magenta des Lichts um sie herum war äußerst kräftig und als ob es sich deswegen verstecken oder äußerst diskret sein wollte, existierte es nur als sanftes Glühen, das direkt auf ihrem Körper auflag und manchmal kaum zu erkennen war, statt einen Kreis um sie zu beschreiben oder sonstige Eigenheiten zu zeigen wie die Aura von Joel, die hin und wieder sogar nach einem zu greifen schien. Anfangs war es ihm deswegen so vorgekommen als stünde sie knapp vor ihrem Tod und deswegen wäre ihre Aura so schwach, aber inzwischen war er es gewohnt – auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum es bei ihr so zurückhaltend war. „Joy...“ Seine Stimme klang kraftlos, er hatte den Eindruck, heiser zu sein. Hatte er so viel in jener Nacht geschrien? Er erinnerte sich nicht. Er wusste nicht einmal, wie er in dieses Bett gekommen war. Die Frau wandte sich ihm zu, als sie ihren Namen hörte, ihre grünen Augen strahlten geradezu vor Erleichterung. „Ich hatte befürchtet, du würdest erst einmal nicht aufwachen, Raymond.“ „Was ist passiert?“ Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Stimme dieser unbekannten Frau. „Ich hoffe, du bist bereit zu sterben.“ Aber was war danach geschehen? Und wieso lebte er noch? „Ich weiß es nicht“, erwiderte Joy. „Du lagst heute Morgen in meinem Laden, als ich hineinging und warst bereits ohnmächtig. Ich habe dich dann nur ins Krankenhaus gebracht.“ „Heute Morgen...“ Also war er höchstwahrscheinlich in der letzten Nacht von diesen Wesen angegriffen worden. Sollte er Joy von diesen erzählen? Vielleicht würde sie ja wissen, was das war? Als Besitzerin eines Antiquariats und auch von Natur aus äußerst lesebegeisterte Frau, gab es vielleicht irgendein Buch, in dem diese Wesen erwähnt wurden – und wenn es sich nur um ein Märchenbuch handelte. Aber dennoch kamen die Worte nicht über seine Lippen, er schaffte es nicht, sie zu fragen. Zu nah noch war die Furcht, die er verspürt hatte und zu groß die Angst, dass sie einfach nur lachen würde, auch wenn er sie inzwischen lang genug kannte, um zu wissen, dass sie das nicht tun würde. Es waren inzwischen fünf Jahre, er hatte sie nicht lange nach seiner Ankunft in Lanchest kennengelernt, weil Rufus sie ihm unbedingt hatte vorstellen müssen. Sie und ihre beiden Geschwister – Seline und Ryu. Letzterer war die einzige Person, die in irgendeiner Art und Weise mit Raymond verwandt war, wenngleich auch relativ weit entfernt, aber es war besser als gar keine Verwandten mehr zu haben. Zur Familie zählte sich Raymond dennoch nicht, er mochte die drei – aber sie waren einfach nicht... seine Familie. Immerhin war er so aber endlich in den Genuss eines Nachnamen gekommen, wenngleich er bislang der Letzte war, der diesen trug, alle anderen Lionhearts waren verstorben. „Was ist denn das Letzte, woran du dich erinnerst?“, fragte Joy. „Ich hoffe, du bist bereit zu sterben.“ Wieder diese Stimme – aber statt ihr davon zu erzählen, beließ er es dabei, dass er Joels Haus verlassen hatte und seine Erinnerungen an dieser Stelle aussetzten. Fast schien es ihm als wäre sie enttäuscht, er glaubte sogar, sie mit der Zunge schnalzen zu hören, aber es war sofort wieder verflogen. „Du scheinst auch nicht weiter verletzt zu sein“, bemerkte sie. „Kann es sein, dass deine Albträume nur extrem lebhaft werden?“ Er wünschte, dass es so wäre, dass die Ereignisse nur ein sehr lebhafter Traum gewesen waren. Aber die Emotionen waren ihm noch viel zu lebhaft im Gedächtnis, genau wie die Hitze, der die Monster zum Opfer gefallen waren – und schlussendlich spürte er auch immer noch die Berührung dieser Frau auf seiner Haut. Die Stellen kribbelten auf eine unangenehme Art und Weise als wollten sie ihn stetig beweisen, dass nichts davon ein Traum gewesen war und er sich endlich daran erinnern sollte, wie er entkommen war. Und warum er in Joys Laden geflohen war, statt wie ursprünglich beabsichtigt in die Akademie. Die Barriere... „Ist draußen alles in Ordnung?“, fragte er, worauf Joy ein wenig den Kopf neigte. „Draußen? Da ist alles wie immer.“ Er setzte sich aufrecht hin, um ebenfalls einen Blick aus dem Fenster erhaschen zu können. Vom Krankenhaus aus gab es nicht viel Aussicht auf die Straße und schon gar nicht auf jene, durch die er in der Nacht zuvor gerannt war, aber er konnte den ungeminderten Verkehrslärm hören, weswegen er Joy einfach glaubte. Warum sollte sie ihn auch anlügen? Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und schnalzte dieses Mal tatsächlich mit der Zunge. „Ich muss langsam los, aber wenn mich nicht alles täuscht, dürften deine Freunde gleich da sein. Oh ja, außerdem darfst du auch wieder gehen, wenn du dich gut genug dafür fühlst, ich habe das alles schon mit deinem Arzt geklärt.“ Eigentlich war Raymond nur mit Ryu verwandt, da dieser lediglich der Halbbruder der beiden Frauen war – aber er hatte Joy quasi die Vormundschaft übergeben, weil er darauf vertraute, dass sie besser wusste, was zu tun war. Zumindest glaubte Raymond, dass es aus diesem Grund geschehen war, er hatte nie nachgefragt und er störte sich auch nicht daran. Ryu war ein sehr netter Mann, mit dem man gut reden könnte, aber Joy lag die Rolle der Erziehungsberechtigten doch ein wenig besser, fand er zumindest. „Danke, Joy.“ „Bewahre dir deinen Dank lieber für das hier.“ Sie griff in ihre Tasche und zog eine Brille hervor, die sie Raymond reichte. „Deine andere konnte ich nicht finden. Ich nehme an, dass sie kaputt ist, deswegen habe ich dir eine neue gemacht.“ Die Brille fiel zu Boden, erst ein Splittern, dann ein lautes Klirren, als die Person darauf trat. Er konnte sie nicht erkennen, die Kleidung, die sie trug, verschleierte zu viel von ihr und ihre Aura lenkte ihn ab. Rot, so dunkel, dass das Licht, das unruhig um sie herum wallte an fließendes Blut erinnerte. „Weglaufen ist zwecklos, es gibt keinen Ort, an den du fliehen könntest.“ Er blinzelte hastig, um diesen Fetzen Erinnerung an die letzte Nacht vorerst zu verdrängen, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden und sich bei Joy dafür zu bedanken. Es war ihr zu verdanken, dass er ein relativ normales Leben führen konnte, ohne ständig Auren ansehen zu müssen und davon Kopfschmerzen zu bekommen und dementsprechend dankbar war er auch, dass es sie gab und sie sich offenbar so ihre Gedanken um ihn machte, denn sonst wäre ihr mit Sicherheit egal, was mit ihm war. Sie lächelte herzlich, etwas, was bei ihr selten vorkam. „Keine Ursache. Sei in Zukunft aber ein wenig vorsichtiger. Wer weiß, ob du das nächste Mal nicht vielleicht unter einem Auto oder vor einem Zug landest.“ Er versicherte ihr, dass er vorsichtig sein würde, worauf sie sich von ihm verabschiedete und dann das Zimmer verließ, so dass er allein war. Das andere Bett war verwaist und durch die aufliegende Folie wusste er sofort, dass er ganz allein im Zimmer war, was er möglicherweise auch Joys Einfluss verdankte. Wie genau sie es hinbekam, wusste er nicht, aber ihm schien, dass sie jeden kannte, der in irgendeiner Art und Weise dazu berechtigt war, Entscheidungen zu treffen und diesen nach ihrem Willen beeinflussen konnte. Soweit ihm bekannt, war es auch sie gewesen, die zuerst mit Rufus Kontakt aufgenommen hatte, nachdem er an die Akademie gekommen war. Woher sie aber gewusst hatte, dass er dort war oder dass er der Sohn von Gil Lionheart war, entzog sich seinem Verständnis und bislang hatte er auch nie gefragt. Da war dieses Gefühl in seinem Inneren, das ihm sagte, dass er etwas Furchtbares erfahren würde, sollte er fragen, etwas, das seine gesamte Weltansicht verändern würde und darauf wollte er vorerst lieber verzichten. Raymond lehnte sich wieder ein wenig zurück, so dass er mit dem Rücken gegen das Kopfende lehnte und blickte aus dem Fenster hinaus. Der blaue Himmel war nur spärlich bewölkt, im Park des Krankenhauses liefen Ärzte, Pfleger und sogar Besucher geschäftig umher, lediglich eine Person schlenderte nur und hielt an dem Fischteich inne, um hineinzublicken – Raymond hatte darin noch nie einen Fisch gesehen, trotz des Füttern verboten-Schilds und der Person ging es wohl ähnlich – es war alles vollkommen normal. So normal, dass er wirklich den Eindruck bekam, das alles nur geträumt zu haben, aber... Ungeachtet der Tatsache, dass diese Person ihm eben das Leben gerettet hatte, wollte er vor ihr fliehen. Er spürte ihre Absicht, ihn umzubringen, sah das Schwert – ein Katana? – in ihrer Hand bereits erwartungsvoll im einfallenden Licht einer Straßenlaterne glitzern. „Warum hast du mich gerettet, wenn du mich jetzt umbringen willst?“ Seine Stimme zitterte nicht, ein menschlicher Gegner, darauf war er vorbereitet worden in der Akademie, es gab keinen Grund, sich zu fürchten. „Ich wollte nur verhindern, dass sie das bekommen, was sie wollten“, erwiderte sie kalt. „Dass ich dabei dein Leben gerettet habe, war nur ein unangenehmer Nebeneffekt, den ich nun negieren werde.“ Sie trat auf ihn zu, er wich nicht zurück – sondern holte mit dem immer noch in seiner Hand befindlichen Stahlrohr aus und zielte damit nach ihrem Kopf. Ein schmerzerfülltes Keuchen entfuhr ihr, als er sie traf; die Schneebrille, die sie bis dahin getragen und die jeden Blick auf ihre Augen verhindert hatte, fiel dabei zu Boden. Er ließ das Rohr fallen und wich einen Schritt zurück, als sie den Kopf hob und er ihre Augen sehen konnte – sie waren golden. Genau wie die Augen von Christine – die ihn gerade neugierig ansah und dabei mit ihrer Hand vor seinem Gesicht wedelte. „Ray? Alles in Ordnung? Du wirkst so weggetreten.“ Er blinzelte verdutzt, um erneut in die Wirklichkeit zurückzukehren und sah seinen Freunden, deren Ankunft ihm gar nicht aufgefallen war, überrascht entgegen. „Tut mir Leid, ich habe gerade... nachgedacht.“ Es war keine sonderlich gute Ausrede, aber im Prinzip war es ja sogar die Wahrheit. Während Christine sich damit lächelnd zufriedengab, sah Joel weiterhin besorgt aus. Aber nicht nur das, er stand sogar noch direkt neben der Tür als würde er sich nicht trauen, näherzukommen – und er sah aus als ob er geweint hätte, was Raymond doch überraschte, hatte er seinen besten Freund doch noch nie in diesem Zustand gesehen. Seine Aura schwankte noch dazu zwischen braun und grün, er war also traurig und unsicher, ein sehr seltener Zustand. „Steh doch nicht so weit weg“, sagte Raymond lächelnd. „Ich hab nichts Ansteckendes.“ Noch immer etwas zögernd kam Joel näher und stellte sich auf die noch freie Seite des Bettes, so dass er nun von seinen Freunden umgeben war. „Wie geht’s?“ Joel bemühte sich, unbeschwert zu klingen, aber das gezwungene Lächeln und die leicht krächzende Stimme verrieten, dass ihm das wirklich zusetzte. „Mit mir ist alles bestens. Ich werde auch gleich wieder nach Hause gehen – ich bin nur erst vor kurzem aufgewacht und wollte mich noch ein wenig ausruhen.“ „Ich habe mir solche Vorwürfe gemacht!“, platzte es plötzlich aus Joel heraus, was die beiden anderen verdutzt zusammenzucken ließ. „Ich hätte dich nicht allein gehen lassen dürfen!“ Raymond wollte sich gar nicht vorstellen, wie das alles ausgegangen wäre, wenn Joel ihn begleitet hätte. Vielleicht hätten die Wesen ihn dann nicht angegriffen, vielleicht aber doch – und sein Freund hätte sie nicht einmal sehen können! Er schüttelte sacht mit dem Kopf. „Mach dir keine Vorwürfe. Wie gesagt, es ist doch nichts passiert.“ Da Joel nichts mehr sagte, sondern nur schweigend den Blick senkte, übernahm Christine das für ihn, so dass Raymond ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte und nur aus den Augenwinkeln mitbekam, dass Joel sich mit dem Unterarm über das Gesicht fuhr. „Wir haben in der Schule gehört, dass du ohnmächtig in der Stadt gefunden wurdest und ins Krankenhaus gekommen bist“, erklärte sie. „Wir haben uns beide wahnsinnige Sorgen um dich gemacht, immerhin fällst du sonst nie in Ohnmacht.“ Joel nickte zustimmend und ein wenig zu heftig. „Selbst als wir damals bei einer Probemission dieses riesige Monster bekämpft haben und es danach einer Vivisektion unterziehen mussten, warst du der einzige, der nicht einmal annähernd an eine Bewusstlosigkeit herankamst.“ Daran erinnerte er sich dennoch nicht sonderlich gern, denn er verstand vollauf, warum Christine dabei bewusstlos geworden war und selbst Joel sich hatte setzen müssen. Aber irgendjemand hatte den entsprechenden Auftrag eben beenden müssen – wenngleich er hoffte, nie wieder den Mageninhalt einer Drachenechse auf eine Kristallkugel untersuchen zu müssen – und auf ihn konnten sie sich immerhin verlassen. „Was ist geschehen, dass du bewusstlos geworden bist?“, fragte Christine. Sie starrte ihn wütend an, ein Blutrinnsal floss von ihrem Kopf herab und hinterließ eine rote Spur auf seinem Weg über ihr Gesicht. Ihre Aura schien kurzzeitig zu explodieren und alles hinter ihr in ein rotes Licht zu tauchen. Blind vor Wut wollte sie sich auf ihn stürzen, stolperte dabei aber über das fallengelassene Stahlrohr und riss ihn zu Boden, wo sie benommen für einen Moment auf ihm liegenblieb. Das Katana fiel ihr dabei aus der Hand und landete einige Meter neben ihnen. Ohne zu registrieren, was er tat, machte er genau das, was ihm stets beigebracht worden war. Aus Ermangelung eines eigenen Messers, nahm er den Dolch an sich, den die Person an ihrem Gürtel trug – und rammte ihn ihr in den Bauch. Sie schrie schmerzerfüllt auf, stieß sich von ihm ab, um sich wieder aufzurichten und taumelte rückwärts. Normalerweise – so war ihm beigebracht worden – wäre nun die beste Möglichkeit, den Feind endgültig zu überwältigen und ihn entweder umzubringen oder ihn zumindest kampfunfähig zu machen. Doch sein Verlangen nach Flucht war stärker, weswegen er sich hastig aufrichtete, herumwirbelte und davonrannte. Hinter sich konnte er einen schrillen Schrei hören, der nichts Menschliches an sich hatte – und gleich darauf ein Jaulen, gefolgt von dem Geräusch rennender Pfoten. Ein Tier war hinter ihm her! Aber er hielt nicht inne, um einen Blick hinter sich zu werfen und herauszufinden, was für eines es war. Wie zuvor trugen seine Beine ihn von allein durch die Straßen, suchten sich selbst einen anderen Weg, sobald er feststellte, dass eine Barriere das Vorankommen verhinderte – und kam schließlich bei der kleinen Buchhandlung an, die Joy gehörte. Er atmete erleichtert auf, als er davor stehenblieb. Gleich würde er sicher sein, gleich... Das Knurren hinter ihm bewegte ihn schließlich dazu, sich umzudrehen. Es war ein Wolf, der ihn verfolgt hatte, aber er war um einiges größer als seine Artgenossen und auch die gebleckten Reißzähne wirkten um einiges bedrohlicher. Rückwärts wich Raymond bis zur Tür zurück, um diese zu öffnen und hineinzugehen. Wenn er erst einmal drin war, würde dieses Wesen ihm nichts mehr tun können, der von Joy angebrachte Schutzzauber würde das verhindern, ganz sicher. Doch der Wolf ließ ihm nicht die Gelegenheit dazu. Mit einem weiteren Knurren stürzte er sich auf Raymond und brach mit diesem durch die Tür. Schmerzen durchzuckten Raymond, als der Zauber aktiviert wurde und ein purpurfarbenes Licht ihn blendete. Im nächsten Moment landete er auf dem Rücken, worauf sämtliche Luft aus seinen Lungen gepresst wurde. Der Wolf dagegen... Das purpurfarbene Licht zerbrach vor Raymonds Augen zu unzähligen Scherben, die sich in den Körper des Wesens bohrten, das sich gleich darauf mit einem schrillen Jaulen in Rauch auflöste. Im selben Moment schwand die Kälte, das Gefühl der Gefahr, so als wäre es nie dagewesen. Erleichtert und erschöpft, ließ er seinen Kopf auf den Boden sinken. „Ich lebe noch...“ Die Erkenntnis sickerte langsam in sein Gehirn und ließ ihn aus irgendeinem Grund in amüsiertes Gelächter ausbrechen – das direkt erstarb, als es vor seinen Augen plötzlich schwarz wurde er das Bewusstsein verlor. „Ich weiß es nicht mehr.“ Trotz der nun wieder vollständigen Erinnerung wollte er seinen Freunden nichts davon erzählen. Es würde nur dazu führen, dass sie sich noch mehr Sorgen machen würden, dass er mit der Polizei sprechen müsste und natürlich dürfte er nachts nicht mehr allein unterwegs sein. Diese Frau mit dieser grauenhaften Aura war immerhin auch noch da draußen, er dürfte mit seinem Stich keine lebenswichtigen Organe getroffen haben, aber mit Sicherheit war sie nun wütend auf ihn. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee, wenn er fortan nachts nicht mehr hinausgehen würde, auch wenn ihn interessierte, wer sie war und warum sie ihn töten wollte – und warum sie genau wie Christine goldene Augen hatte. Prüfend musterte er noch einmal die Aura seiner Freundin, aber an dem goldenen Sand hatte sich nichts verändert und auch die Stimme der Frau war eine gänzlich andere gewesen, tiefer, angenehmer, aber auch... verbittert, einsam. Nein, Christine und diese Frau von letzter Nacht hatten nichts gemein, außer ihren Augen. Joel seufzte. „Da kann man wohl nichts machen. Vielleicht hast du in letzter Zeit nur zu wenig Schlaf abbekommen. Du solltest in der nächsten Zeit doch bei uns schlafen. Meine Mutter macht einen hervorragenden Tee, der bestimmt dafür sorgst, dass du keine Albträume hast.“ Nach dieser Nacht glaubte Raymond zwar nicht, dass ihm der übliche Albtraum noch weiterhin Furcht einflößen würde, aber er nahm das Angebot nur allzugern an. Immerhin würde das auch verhindern, dass er doch noch allein losziehen würde, um dieser Frau wiederzubegegnen. „Danke, Joel.“ Die Aura seines Freundes sprang sofort wieder auf ein angenehmes Blau, was ein sicheres Zeichen für seine Freude über Raymonds Worte war. „He, nichts zu danken. Also komm, wenn wir jetzt gehen, schaffen wir es noch zum Abendessen nach Hause. Heute gibt es Hühnchen.“ „Oh, darf ich auch kommen?“, fragte Christine begeistert. „Ich liebe Geflügel!“ Joel lachte. „Aber sicher. Ihr kommt einfach beide mit.“ Als er die Freude auf den Gesichtern seiner beiden Freunde sah, nachdem er letzte Nacht befürchtet hatte, sie nie wiederzusehen, entspannte Raymond sich endgültig wieder. Er würde versuchen, dieses Ereignis bei nächster Gelegenheit Joy erzählen oder Rufus, damit einer von ihnen beiden herausfinden könnte, was das für Wesen waren, die ihn verfolgt hatten und wer diese Frau. Er dagegen würde sich aus dieser Sache heraushalten, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Das Lächeln seiner Freunde war ihm wesentlich wichtiger als die Wahrheit – und in diesem Augenblick ahnte er trotz der Ereignisse der vergangenen Nacht noch nicht einmal, dass die unbeschwerten Tage, in denen Professor Liam ihr größtes Problem gewesen war, bald enden würden. Kapitel 6: Ein Hauch von Normalität ----------------------------------- Wenige Tage später dachte Raymond nur noch manchmal an jene Nacht zurück, die ihm immer mehr wie ein Traum vorkam und langsam auch wie ein solcher von ihm behandelt wurde. Am Tag nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus war er noch einmal in die Seitengasse zurückgekehrt, aber es war nichts von den durch den Boden gebrochenen Wurzeln zu sehen gewesen, der Asphalt war vollkommen unberührt und auch das Stahlrohr und die Überreste seiner Brille waren verschwunden. Dementsprechend hatte er niemandem etwas von den Wesen oder der fremden Frau gesagt. Ohne jeden Beweis empfand er es selbst als absurd. Möglicherweise hatte er wirklich nur lebhaft geträumt, seine Brille irgendwo verloren und nichts von alledem war wirklich geschehen. In einem solchen Fall wollte er die anderen und auch sich selbst nicht damit belasten. Er konzentrierte sich lieber darauf, wieder nach vorne zu blicken und sich auf seine nächsten Prüfungen vorzubereiten, solange seine Albträume nicht zurückkehrten. Es war sein vorletztes Jahr und vieles von dem, was er in diesem lernte, war auch für die Abschlussprüfung wichtig, wie ihm und den anderen Schülern immer wieder gepredigt wurde. Er machte sich keine Sorgen, dass er das Gelernte vergessen könnte, aber dafür, dass er es sich gar nicht erst einprägen könnte. Seine Freunde erleichterten ihm das Memorieren immerhin auch nicht sonderlich. „Oh, komm schon, Ray, die Schule ist vorbei!“ Joel seufzte tief, so als ob sein Freund gerade etwas Verbotenes getan und er ihn dabei erwischt hätte und ihn nun ermahnen müsste. „Du musst doch nicht wirklich noch unterwegs lernen, oder?“ Raymond hob den Blick von dem Buch, in dem er unentwegt gelesen hatte und sah die Vorauslaufenden an. Christine schüttelte bereits tadelnd den Kopf. „Warst du nicht derjenige, der zu mir meinte, ich sollte besser auf meinen Weg achten?“ „Hm.“ Eine bessere Erwiderung fiel ihm nicht ein. Er hatte nicht nur das Lernen vorantreiben, sondern den beiden auch die Gelegenheit geben wollen, ein wenig unter sich zu sein. Seit sie bei ihm im Krankenhaus gewesen waren, kamen sie ihm wesentlich... enger verbunden vor. Er war sich sogar sicher, dass sie bis gerade eben noch händchenhaltend vor ihm hergelaufen waren. Dementsprechend kam er sich eher wie das fünfte Rad am Wagen vor, aber er wusste genau, dass beide das empört von sich weisen würden, wenn er das ansprach und danach tagelang eine bedrückte Atmosphäre herrschen würde, die er lieber vermeiden wollte. „Bist du sicher, dass du nicht ein wenig zu früh wieder in die Schule bist?“, fragte Joel ernsthaft besorgt. „Vielleicht hättest du dich doch noch ein wenig ausruhen sollen.“ Er bemühte sich zu lächeln und schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon in Ordnung, mit mir ist alles bestens. Deine Besorgnis in allen Ehren, aber ich lerne doch nur.“ „Es geht ja nicht nur darum.“ Es schien als hätten Joel und Christine nur auf den richtigen Augenblick gewartet, um darüber zu sprechen, denn plötzlich setzten beide überaus ernste Mienen auf und blickten ihn direkt an. Fast schon fühlte er sich wie jemand, dem eine Standpauke seiner Eltern bevorstand. „Seit dieser Nacht bist du richtig... seltsam geworden“, fuhr Joel fort. „Als würdest du versuchen, etwas vor uns zu verheimlichen.“ Im Prinzip tat er genau das, aber doch nur, weil er niemanden mit einem Traum belasten wollte, deswegen schüttelte er noch einmal mit dem Kopf. „Nein, tue ich nicht.“ „Und du trägst deine Brille nicht mehr“, setzte Christine hinzu und deutete dabei auf seine Brusttasche, in der sich diese befand. „Ist das verboten?“ „Nein, aber normalerweise bekommst du Kopfschmerzen, wenn du längere Zeit ohne Brille unterwegs bist“, unterstützte Joel sie. Das war richtig und die letzten Tage hatte er damit auch wieder zu kämpfen gehabt, aber obwohl er nur noch an einen Traum glaubte, befürchtete er dennoch, dass diese seltsamen Wesen ihn noch einmal angreifen könnten – und das wollte er nicht zulassen. Er schluckte die patzige Antwort, die ihm bereits auf der Zunge lag, herunter. An der türkisfarbenen Aura um Joel herum und den trägen, fast traurigen Bewegungen des Sands von Christines Aura, konnte er erkennen, dass sie wirklich besorgt waren und er ihnen nur vor den Kopf stoßen würde, wenn er eine unangebrachte Antwort gab. „Ich bin nach dieser Sache wohl nur ein wenig paranoid“, sagte er schließlich. „Aber das lässt auch wieder nach, ganz sicher.“ „Wenn du das sagst.“ Überzeugt klang Joel allerdings nicht, ganz im Gegenteil. Allerdings schien er wohl zu beschließen, dass es besser war, Raymond nicht weiter zu bedrängen, denn er sagte nichts mehr dazu und selbst Christine wechselte plötzlich das Thema: „Ah ja, morgen haben wir ja endlich wieder einen Ausflug.“ Raymond wollte gerade fragen, was sie meinte, als Joel bereits die Stirn runzelte. „Das würde ich nicht als Ausflug bezeichnen. Das ist eine Exkursion – mitten in die Wildnis.“ Er stieß ein schweres Stöhnen aus als sei es die schlimmste Strafe der Welt – und in dem Moment erinnerte auch Raymond sich wieder an die vorangegangene Ankündigung. „Oh ja, mal wieder ein Zeige-wie-gut-du-in-der-Wildnis-zurechtkommst-und-was-du-über-die-ansässige-Tierwelt-weißt-Tag, hm?“ Joel nickte, immer noch nicht sonderlich gut gelaunt, während in Christines goldenen Augen bereits ein bestimmtes Leuchten aufgetaucht war, das nur zu sehen war, wenn sie wirklich freudig aufgeregt war – an ihrem Geburtstag und an Weihnachten sah man sie immer so, ohne Ausnahme. Raymond musste bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln. Allerdings fiel ihm dabei noch etwas anderes ein. „Die Exkursion ist morgen? Dann muss ich noch etwas aus meiner Wohnung holen.“ „Sollen wir dich begleiten?“, bot Joel an, doch Raymond schüttelte bereits mit dem Kopf. „Nicht nötig. Ich hole es schnell und treffe euch dann im Einkaufszentrum.“ „Aber beeil dich“, forderte Christine lächelnd. „Heute ist All-you-can-drink-Tag in der Milkshake-Bar, darauf freue ich mich seit einer Woche.“ Er versprach ihr, so schnell wie möglich nachzukommen, verabschiedete sich dann von den beiden und legte den Weg zu den Wohnhäusern der Schüler zurück. Dabei handelte es sich allesamt um hohe Gebäude mit jeweils zehn Stockwerken, mit je acht Apartments auf jedem Stock. Die sechs Bauten reihten sich ordentlich in zwei gegenübergestellten Reihen an einem Platz in dessen Mitte man mit viel Mühe ein Blumenbeet angelegt hatte. Zu jeder Jahreszeit wuchsen dort andere Zierpflanzen, selbst im Winter, der in Lanchest seit jeher so mild war, dass es oft nicht nötig war, noch eine Jacke über den Pullover anzuziehen. Dieses Jahr allerdings – und das glaubte er bereits im September zu spüren – würde das anders werden, möglicherweise würde er sich sogar einen Schal kaufen müssen. Aber vorerst war es wichtiger, dass er das holte, weswegen er gekommen war. Vor dem Haus in dem er wohnte, blieb er wieder stehen und kramte in seiner Tasche nach der Schlüsselkarte, aber noch bevor er sie gefunden hatte, wurde ihm die Tür von einem seiner älteren Mitschüler geöffnet, der gerade herauskam. „Ah, he, Ray.“ Raymond hielt inne, um seinen Gegenüber einen kurzen Moment zu mustern, ehe er den Gruß erwiderte. „He Kyle.“ Der schwarzhaarige Schüler im Abschlussjahr wohnte in der Wohnung gegenüber von Raymond, weswegen die beiden sich relativ gut kannten. Seine graue Aura hatte etwas Beruhigendes an sich, zwar bedeutete das einerseits, dass er nicht sonderlich großartig war, sondern irgendetwas ihn bedrückte, aber gleichzeitig verriet es auch, dass er nicht gefährlich war. Raymond ging an ihm vorbei, um das Gebäude zu betreten, wandte sich Kyle aber noch einmal zu, als dieser ihn erneut ansprach: „Übrigens war neulich ein Mädchen da, das unbedingt zu dir wollte.“ „Ein Mädchen?“ Ratlos neigte Raymond den Kopf. Die einzige Person, die ihm einfiel, wäre Christine, aber warum sollte diese ihn hier besuchen kommen, wenn sie doch wusste, dass er bei Joel war? „Ja, ich hab sie nicht sonderlich gut gesehen, sie stand vor dem Haus, als es schon dunkel war, ganz in Schwarz gekleidet, ziemlich seltsam. Ich sagte ihr, dass du nicht da bist, worauf sie meinte, sie kommt ein andermal wieder. Etwas an ihr...“ Er zögerte einen Moment, überlegte anscheinend, ob er wirklich sagen sollte, was ihm bereits auf der Zunge lag und fuhr dann fort: „Etwas an ihr erzeugte mir eine Gänsehaut. Sei lieber vorsichtig in nächster Zeit.“ Raymond bedankte sich, versicherte, dass er das tun würde und setzte dann seinen Weg fort. Während er die Treppenstufen erklomm, fragte er sich, wer diese Person wohl gewesen sein mochte. Er kannte kaum Mädchen und schon gar keine, die einem Gänsehaut verursachten und nachts zu ihm wollten, außer... Wie vom Donner gerührt, hielt er mitten in der Bewegung inne, den Fuß schwebend in der Luft. Was, wenn es diese Frau war? Wenn es kein Traum war? Unmerklich begann er zu zittern, wieder sah er ihre hasserfüllte blutrote Aura vor sich, den Blick aus ihren goldenen Augen, er hörte diesen unmenschlichen Schrei nach dem ihn der Wolf verfolgt hatte. Sie weiß, wo ich wohne. Sie kennt meinen Namen. SIE WEISS, WO ICH WOHNE! Die Panik versuchte schleichend, von ihm Besitz zu ergreifen, während diese Worte immer wieder in seinem Inneren nachhallten und er bereute, Joy nichts davon erzählt zu haben. Er war sich immer noch sicher, dass sie ihm hätte helfen können, auf irgendeine Art und Weise, auch wenn sie nur einen Buchladen führte, sie hatte irgendeine Form von Macht. Er müsste das auf jeden Fall nachholen, sobald wie möglich. Bis dahin, so wusste er genau, brachte es aber nichts, wenn er wie festgefroren im Treppenhaus stand, deswegen schüttelte er die Panik hastig ab und lief weiter. Während er tief durchatmete, um sich zu beruhigen, rocht er den intensiven Geruch des vom Hausmeister verwendeten Putzmittels, der ihm inzwischen so vertraut war, dass er tatsächlich dazu beitrug, dass sein Puls und auch seine Gedanken sich wieder normalisierten. Im vierten Stock angekommen, ging er durch die Glastür hindurch, den Korridor hinunter, um zu seiner Wohnungstür zu kommen. Auf dem Weg dorthin, kramte er in seiner Tasche wieder nach der Schlüsselkarte und zog sie diesmal schon nach wenigen Sekunden hervor. An seiner Tür angekommen, hatte er sich bereits wieder vollkommen beruhigt und dachte wieder an seine wartenden Freunde, statt an das Geschehene. Sicherlich hatte Christine bereits einen Milkshake getrunken und bestellte sich gerade einen zweiten. Wenn er dort hinkommen würde, wäre sie wohl bereits beim Fünften, so wie er sie kannte, während Joel noch immer an seinem Ersten nippte. Er lächelte bei diesem Gedanken und trat in seine Wohnung – wo ihm das Lächeln sofort wieder verging. Sein ganzer Körper spannte sich an, sein Nackenhaar stellte sich regelrecht auf. Es war nur ein Gefühl, ein äußerst unbestimmtes, dessen Ursache er nicht nennen konnte, das aber sofort all seine Alarmglocken auf Bereitschaft gestellt hatte, genau wie in jener Nacht. Es war eindeutig: Jemand war hier, in seiner Wohnung! Er versuchte, diesen Gedanken zu verscheuchen, das Gefühl weit fortzuschieben und es darauf zu begründen, dass Kyle ihm eben von diesem Mädchen erzählt hatte, aber es gelang ihm nicht. Die Furcht saß ihm in Nacken, wo sie sich mit aller Macht festklammerte, um nicht herunterzufallen. Leise schloss er die Tür hinter sich wieder und betrat als Erstes die Küche, direkt rechts im Gang. Es war nur ein kleiner quadratischer Raum, gerade groß genug für den Herd, die Spüle und den Kühlschrank, die sich an der Wand entlangreihten. Niemand war zu sehen, die Spüle war leer und sauber, genau wie er sie hinterlassen hatte. Er öffnete den Kühlschrank, der ihn mit einer gähnenden Leere begrüßte, lediglich eine Flasche abgestandenen Mineralwassers befand sich im Türfach. Allerdings erinnerte er sich nicht, ob er den Kühlschrank so hinterlassen hatte, so dass er hier keine Indizien für oder gegen sein Gefühl finden würde. Er verließ die Küche und betrat das Bad direkt gegenüber, ein ebenfalls quadratischer, aber immerhin mit weißen Fliesen gekachelter Raum, in dem eine Toilette, ein Waschbecken und eine Badewanne mit Duschkopf Platz fanden. Auch hier schien alles vollkommen unberührt. Also folgte er dem kurzen Korridor in das einzige Zimmer des Apartments. Der hellbraune Esstisch, der einem direkt ins Auge fiel, war sauber, das schwarze Sofa dahinter verlassen, der Fernseher an der Wand gegenüber ausgeschalten. Ja selbst der tragbare Computer, der auf dem dunkelblauen Wohnzimmertisch lag, war zugeklappt und befand sich noch in derselben Position wie zuvor. Er wandte sich nach rechts und ging an dem Raumteiler vorbei, in dem sich allerlei kleine Staubfänger in den einzelnen Fächern tummelten. Ein Tischkalender mit faszinierenden Wüstenbildern, ein eingerahmtes Foto von Joel, Christine und ihm selbst nach ihrer letzten Zwischenprüfung und viele kleine Andenken, von denen er oft nicht einmal wusste, was sie darstellen sollten, die er von Adam und Eve jedes Jahr zu seinem Geburtstag geschickt bekam. Auch dort befand sich alles noch an seinem Platz, wie er nach einem raschen Blick feststellte. Als nächstes galt seine Aufmerksamkeit seinem Bett, das immer noch frisch gemacht und unberührt schien. Die Balkontür rechts davon, die großzügig Licht in das Zimmer fallen ließ, war verriegelt. Langsam entspannte er sich wieder ein wenig und widmete sich dem Schrank, der an der Wand stand. Die Tür war wie üblich leicht angelehnt, er schloss ihn ungern ab, weil er die irritierende Furcht mit sich trug, dass der Schlüssel abbrechen könnte und er nicht darauf erpicht war, seinen eigenen Schrank aufzubrechen, um an den Inhalt zu kommen. Er öffnete die Tür, sondierte den im Dunkeln liegenden Inhalt, der aus verschiedenen auf Kleiderbügeln hängenden Jacken, Hemden und sogar Jacketts bestand und lächelte endlich wieder, als er den gesuchten Gegenstand entdeckte. Er ging leicht in die Knie und zog den Schwertkoffer hervor, den er wesentlich schwerer in Erinnerung hatte. Mit einem Ruck hob er den Koffer auf seinen Esstisch und öffnete ihn, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Kaum erblickte er die Klinge darin, war sämtliche Furcht wie weggeblasen. Sanft strich er über das blanke Metall der Schneide, über die Parierstange, die wie ausgebreitete Drachenflügel geformt war und über das raue Leder, das um den Griff gewickelt worden war. Dieses Schwert, das einmalig war, wie er wusste, war ein Geschenk von Ryu gewesen. Angeblich hatte es Raymonds Großonkel gehört und war nach dessen Tod weitervererbt worden. Obwohl Ryu als leiblicher Sohn der passende Besitzer wäre, hatte dieser darauf bestanden, dass Raymond es annehmen würde. Seitdem lagerte es in seinem Schrank, da sie im Unterricht mit Übungswaffen kämpften. Lediglich zu diesen Exkursionen oder Prüfungen, holte er es hervor, um es einzusetzen. Bei allem, was mir in der letzten Zeit passiert ist, wäre es aber vielleicht besser, das Schwert immer mit mir zu nehmen. Allerdings führte das offene Tragen eines Schwertes auch schnell einmal zu Ärger, selbst in Lanchest. Er würde erst im nächsten Schuljahr eine Lizenz dafür bekommen und immer einen Koffer mit sich zu tragen, fand er doch ein wenig störend. Noch dazu würden Joel und Christine sich dann nur noch mehr Sorgen machen, genau das, was er ja vermeiden wollte. Als seine Gedanken auf seine Freunde kamen, fiel ihm erneut ein, dass diese mit Sicherheit bereits ungeduldig auf ihn warteten. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihn dann darin, dass er schon viel länger als geplant hier war. Hastig schloss er den Koffer wieder und nahm ihn an sich. Ein letztes Mal sah er sich im Zimmer um, das von keinem Eindringling zu erzählen wusste, dann wandte er sich ab und verließ das Apartment wieder für unbestimmte Zeit. Als er die Tür ins Schloss zog, glaubte er, ein leises Niesen von drinnen zu hören, allerdings machte er sich keine Gedanken mehr darum, schob es auf seine angespannten Nerven und ging davon, um sich endlich mit seinen Freunden zu treffen. Kapitel 7: Tausend Wege, wie Sie in der Wildnis zu Tode kommen könnten ---------------------------------------------------------------------- Der Wald, in dem sie ausgesetzt wurden, war nicht weit von Lanchest entfernt. Genau genommen verlief der Übergang geradezu fließend. Kaum wenige hundert Meter, nachdem man die Stadt verlassen hatte, wuchsen die ersten wilden Hecken und Bäume, die sich alsbald zu einem schier undurchdringlichen Wald verdichteten. Seit jeher nutzte die Akademie diesen Umstand, um den Überlebensinstinkt ihrer Schüler in einer nicht allzu gefährlichen Wildnis zu testen. Raymond hatte oft das Gefühl, dass man diese entsprechenden Tage entweder lieben oder hassen musste. Der Großteil der Schüler gehörte zu der ersten Sorte, denn immerhin bedeutete das auch stets schulfrei, während Joel so ziemlich der einzige war, der diese Tage geradezu mit Leidenschaft verabscheute, ohne dass Raymond sich erklären konnte, weswegen. Es war nicht so, dass sein Freund etwas gegen die Natur selbst hatte, er schien nur... nicht ihr bester Freund zu sein. Bei jeder Exkursion zitierte er wieder aus Tausend Wege, wie Sie in der Wildnis zu Tode kommen könnten und auch das Lächeln schien ihm im Allgemeinen recht schwerzufallen, bis sie schließlich wieder die Stadt erreichten. Christine dagegen liebte die Exkursionen, aber nicht wegen dem Umstand, dass es an diesem Tag keinen Unterricht gab, sondern eher weil sie jedes Mal wieder irgendein wildes Tier fand, mit dem sie ewige Freundschaft schloss und das sie am Liebsten mit nach Hause nehmen würde – wenn ihre Eltern ihr denn Haustiere gestatten würden. Raymond wiederum sah sich selbst als Außenseiter, denn er freute sich weder auf die Exkursionen, noch störten sie ihn sonderlich. Er betrachtete sie als interessante Abwechslung, aber das war es auch schon, genau genommen könnte er auch darauf verzichten. Aber da sie nun einmal existierten... „Ich denke, wir sollten den Tag zumindest ein wenig genießen“, meinte Raymond. „Immerhin sind wir an der frischen Luft, nicht so wie in der Trainingshalle.“ Das gab ihm noch dazu die Gelegenheit, sich an das Tragen des Schwertgürtels und des zugehörigen Schwertes zu gewöhnen. In der Stadt war es oftmals nicht sonderlich intelligent, beides zu tragen, nicht zuletzt, weil dann immer die Gefahr bestand, dass sich jemand von einem bedroht fühlte. An diesem Tag aber, war er auch ganz froh über diese Exkursion. Weit weg von der Stadt, fühlte er sich nicht mehr bedroht oder verfolgt, so dass er wieder seine Brille trug, ohne befürchten zu müssen, von einem dieser seltsamen Wesen überfallen zu werden. Joel schenkte ihm nur einen genervten Blick – wohl nicht zuletzt wegen dem mannshohen sperrigen Stab mit den Klingen an beiden Enden, den er den ganzen Tag mit sich herumtragen musste – dann wandte er sich einem der massiven Baumstämme zu und zitierte wieder einmal aus dem Buch, das er inzwischen bereits auswendig kannte: „Nummer Sieben: Von einem umstürzenden Baum erschlagen werden.“ Raymond lächelte müde, kommentierte das aber nicht weiter, sondern blickte zu Christine. Im Gegensatz zu den beiden Jungen, die nur ihre Waffen mit sich führten, trug sie einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sie, der Erfahrung nach zu urteilen, zu essen und eine Flasche Wasser hatte, fast so als ob sie sich wirklich auf einem harmlosen Ausflug befinden würde. Die beiden Chakram, die sie zum Kämpfen benutzte, hingen sicher befestigt an ihrem Gürtel. „Jedes Mal werden wir weiter ausgesetzt“, beklagte Joel sich. „Eines Tages werden wir nicht einmal mehr den Weg nach Hause finden.“ „Und wir haben nicht einmal die Möglichkeit, Brotkrumen zu streuen“, stimmte Christine zu. Raymond zuckte allerdings nur mit den Schultern. „Die würden ohnehin nur von Vögeln gefressen werden. Und genau darum geht es doch bei dieser Exkursion, wir müssen uns in der Wildnis zurechtfinden. Also gehen wir lieber los.“ Mit diesen Worten übernahm er, wieder einmal unbewusst, die Rolle des Anführers und lief los, worauf die anderen beiden ihm direkt folgten. Der Wald um Lanchest herum, war einer jener Wälder, die nach dem letzten Weltkrieg entstanden waren. Jener Krieg, der vor etwas mehr als fünfhundert Jahren das Gesicht der Erde nachhaltig verändert und damit die Zivilisation zerstört hatte. Die Menschheit, wie man sie damals gekannt hatte, existierte inzwischen nicht mehr – oder kaum noch, aber Raymond war nie einem normalen Menschen begegnet. Jeder Mensch, dem man in diesen Tagen begegnete, war in irgendeiner Art und Weise mit Drachen oder anderen unmenschlichen Wesen verwandt. Was für viele Menschen damals unmöglich erschienen wäre, hatte sich sogar als Glücksfall erwiesen. Die neue Rasse war langlebiger, robuster – und intelligenter. Dieser Intelligenz war es zu verdanken, dass bereits 500 Jahre nach dem Untergang der großen Zivilisationen, eine neue, bessere entstanden war, die es meisterhaft verstand, Technik und Natur zu vereinen – und letzteres zeigte sich besonders, wenn man sich in Wäldern wie diesem aufhielt. Die massiven Stämme wuchsen scheinbar unzählige Meter hoch, die zahlreichen Äste trugen Blätter, die so dunkelgrün waren, dass man ihnen auf den ersten Blick ansah, wie gesund sie waren. Zwar wuchsen die Bäume schon äußerst dicht, aber dennoch blieb auf der fruchtbaren Erde noch genug Raum, dass auch übermäßig viele Sträucher darauf wachsen konnten, obwohl die Sonnenstrahlen sie dort nur schwer erreichten. Für Tiere war diese Umgebung geradezu ideal. Für Akademie-Schüler, die eigentlich nur nach Hause wollten, eher nicht. „Nummer 366: Von einer Schlingpflanze erwürgt werden.“ „Diese Gefahr ist hier äußerst gering.“ Raymond warf einen Blick umher, nirgends war eine wie auch immer geartete Schlingpflanze zu sehen. „Eher werden wir von rauflustigen Kaninchen angenagt.“ „Nummer 905“, ergänzte Joel unbeeindruckt. „Nummer 1001“, sagte Christine plötzlich und verpasste ihm eine liebevolle Kopfnuss. „Von genervten Freunden erschlagen werden.“ Das bewirkte bei ihm offenbar einen Wandel, denn nach einer kurzen Phase des Schmollens, begann er zu lachen. „Schon gut, ich bin jetzt ja still... ich versuche es zumindest.“ Raymond musste zugeben, dass es ihn freute, zu sehen, dass zumindest sie einen gesunden Einfluss auf Joel besaß. Nur manchmal, da war er doch ein wenig neidisch und auch eifersüchtig. Aber das Gefühl verflog immer rasch, es gab immerhin keinen Grund dazu, da er ebenfalls einen heilsamen Einfluss auf Joel besaß, wenn auch einer ganz anderen Art. „Das Gras ist dieses Jahr grüner, oder?“, fragte Christine, während sie den Blick auf den Boden gerichtet hielt. Joel warf ihr einen irritierten Blick zu. „Denkst du wirklich über so etwas nach?“ Als sie nickte, glaubte Raymond, etwas in ihren Augen zu sehen, das darauf schließen ließ, dass ein ganz besonderes Ereignis sie dazu antrieb, über solche Kleinigkeiten nachzudenken. Aber der Schimmer hielt nicht lange genug an, um ihm zu versichern, dass er ihn wirklich gesehen hatte. „Du bist schon was“, sagte Joel daher schmunzelnd. Ein Rascheln im Unterholz ließ die Gruppe augenblicklich innehalten. Raymonds Hand griff automatisch nach seinem Schwert. Er, Joel und Christine blickten konzentriert in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Im nächsten Moment schoss etwas aus dem Gebüsch, Christine stieß einen erschrockenen Ruf aus – aber beide Jungen reagierten zu spät. Das Mädchen wich erschrocken zurück und verlor das Gleichgewicht, als es von dem Etwas angesprungen wurde. Mit einem weiteren erschrocken Ausruf stürzte sie zu Boden, wo sie ein klägliches „Au“ von sich gab. „Christine!“ Joel und Raymond begaben sich sofort zu ihr – nur um erleichtert festzustellen, dass die Vorsicht vollkommen übertrieben gewesen war. Statt von einem wilden Tier angegriffen und zu Boden gerissen worden zu sein, hielt sie nun einen Hasen im Arm, der offenbar Gefallen an ihr gefunden hatte. Während sie ihn streichelte, kicherte sie leise. „Awww, er ist so süß~.“ „Und wir machen uns Sorgen um dich.“ Joel seufzte vorwurfsvoll, lächelte dabei aber. „Nummer 990: Einen Herzinfarkt beim Angriff eines harmlosen Tieres erleiden.“ Keiner der anderen beiden wies ihn darauf hin, dass er versprochen hatte, still zu sein. Christine war damit beschäftigt, lächelnd weiterhin den Hasen zu streicheln, Raymond dagegen befand es einfach für besser, nichts zu sagen, um nicht möglicherweise einen Streit zu provozieren. „Gehen wir weiter?“, schlug er stattdessen vor. „Dann kommen wir vielleicht heute noch nach Hause.“ Joel nickte zustimmend. „Gute Idee, heute gibt es Hackbraten.“ Christine hob plötzlich den Kopf, ihre Augen schimmerten vor freudiger Erwartung. „Hackbraten? Ich liebe Hackbraten!“ Die beiden Jungen sahen ihn an. „Gibt es denn irgendetwas, was du nicht liebst?“ Für einen kurzen Moment dachte sie tatsächlich über diese Frage nach, dann lächelte sie aber schon wieder. „Solange es sich um Fleisch handelt nicht. Ich liebe Fleisch.“ „Wie ungewöhnlich“, kommentierte Raymond, aber es war Joel, der denselben Gedanken hatte, der fortfuhr: „Mädchen sind normalerweise immer solche Tierliebhaber, dass sie Vegetarier werden. Aber du läufst herum und sagst, du liebst Fleisch.“ Sie blinzelte ihnen verschmitzt zu. „Ich bin eben nicht wie andere Mädchen.“ „Das macht dich auch so liebenswert“, meinte Joel. Mit einem Mal hatte das Gespräch eine, für Raymond, unangenehme Wende genommen. Er fühlte sich nicht nur fehl am Platz und wie das fünfte Rad am Wagen, er kam sich sogar als Störfaktor bei einem durchaus intimen Moment der beiden vor. Aber keinem der beiden schien es wirklich bewusst zu sein, so verzückt wie sie sich gegenseitig anlächelten, sah es sogar so aus als hätten sie vergessen, dass er ebenfalls da war. Schließlich räusperte er sich vernehmlich, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Die beiden erschraken und wandten sich ihm zu, fast schien es ihm als würden sie rot werden, aber er achtete nicht weiter darauf. „Können wir jetzt weiter, ja?“ Christine nickte sofort und stand auf, ohne das Kaninchen von ihren Armen abzusetzen. „Willst du das mitnehmen?“, fragte Raymond. „Du weißt, uns wurde verboten, wilde Tiere mit in die Stadt zu bringen.“ „Nur bis zum Waldrand“, versprach sie mit kindlicher Stimme. „Er ist doch so flauschig.“ Wenn sie so sprach, in Verbindung mit ihren glänzenden Augen, konnte nicht einmal er ihr etwas ablehnen, deswegen zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich dann von ihr ab, um anzuzeigen, dass er nun weitergehen würde und er erwartete, dass die anderen beiden sich ihm ohne Aufforderung anschlossen. Schon nach wenigen Schritten konnte er tatsächlich hören, wie sie sich hastig beeilten, um wieder gleichauf mit ihm zu laufen. Für eine Weile herrschte ein bedrücktes Schweigen zwischen ihnen, das schwer auf ihren Ohren lastete. Selbst der Hase schien das zu bemerken und ließ deswegen die Ohren sinken. Doch plötzlich entfuhr Joel ein Seufzen. „Diese Wald-Exkursionen sind ja ganz aufregend, wenn man noch klein ist, aber jedes Jahr werden sie weniger spannend.“ Lanchest-Schüler wurden das erste Mal mit 13 Jahren auf diese Exkursion geschickt und es kam nicht selten vor, dass sie dieses erste Mal dann im Freien übernachteten. Danach kamen die Exkursionen einmal jährlich, aber Raymond hatte bereits von anderen Schülern, aus dem Jahrgang über seinem, derartige Beschwerden gehört, so dass Rufus angeblich bereits darüber nachdachte, diese Exkursionen für die älteren Jahrgänge durch etwas anderes, etwas Lehrreicheres, zu ersetzen. Raymond würde das zwar nicht mehr erleben, aber er hoffte für die nachfolgenden Jahrgänge, dass es tatsächlich stimmte. „Wenigstens verbringen wir etwas Zeit an der frischen Luft“, sagte Christine, in einem Versuch, das Positive an dieser Exkursion zu sehen. „Und dieses Häschen ist doch einfach zuckersüß~.“ „Immerhin kann eine hier etwas Positives sehen.“ Joel seufzte noch einmal. Raymond schob seine vorgerutschte Brille wieder auf ihren Platz zurück. „Ich kann auch etwas Positives sehen. Wir sind eben alle zusammen.“ Und das war etwas, was in der letzten Zeit immer seltener geworden war, weswegen er sich darüber freute, diese Gelegenheit bekommen zu haben. Die anderen beiden sahen ihn mit einem ehrlich ergriffenen Lächeln an. „Das hast du schön gesagt“, beschied Christine. „Wir drei sind eben ein Goldenes Trio.“ „Yeah. Uns macht so schnell niemand etwas vor.“ Raymond lächelte ebenfalls, wenngleich eher aus Erleichterung darüber, dass seine kitschige Meinung auf eine solche Resonanz stieß, nachdem er einen kurzen Moment befürchtet hatte, ausgelacht zu werden. Christine löste einen Arm von dem Hasen, um sich bei Raymond einzuhaken, während Joel, der auf der anderen Seite von ihr lief, seinen freien Arm um ihre Schulter legte. Sie legte den Kopf in den Nacken, um beide anzulächeln. „Solange wir zusammen sind, kann uns absolut nichts geschehen.“ Die beiden Jungen nickten einvernehmlich. Niemand von ihnen ahnte in diesem Moment auch nur im Mindesten, dass sie schon bald nicht mehr zusammen sein würden und das nicht gerade freiwillig. Kapitel 8: Neumond ------------------ Als sie endlich in der Stadt ankamen, war die Sonne bereits untergegangen. Die Vorbezirke, in denen sie sich befanden, waren hauptsächlich von Familien bewohnt, die ihren Vorgarten immer schön vorzeigbar hielten und nach Sonnenuntergang keinen Fuß mehr vor die Tür setzten. Dementsprechend verlassen waren die Straßen auch, während sie diese durchquerten, um nach Hause zu kommen. Normalerweise würde man wohl sagen, dass Joel und Raymond es hierbei am Besten hatten, denn die Familie Chandler wohnte ebenfalls in einem Vorbezirk – nur dummerweise am anderen Ende der Stadt, wohin sie auch unterwegs waren. Noch dazu gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel in Lanchest, egal, wohin man wollte, man musste den Weg zu Fuß oder mit einem Auto zurücklegen. Zu den Exkursionen wurden die Schüler von den Ausbildern mit schuleigenen Autos an den entsprechenden Ort gefahren und dann dort allein gelassen, damit sie den Weg nach Hause selbst zurücklegten. Unterwegs seufzte Joel leise. „Ich bin müde. Können wir nicht lieber in deine Wohnung, Ray? Die ist viel näher.“ Mit gerunzelter Stirn erinnerte Raymond sich an das Gefühl zurück, als er das letzte Mal in seinem Apartment gewesen war. Dieses Da-ist-noch-jemand, die zermürbende Gewissheit, dass jemand in der Wohnung gewesen war, ohne dass Raymond es auf eine ganz bestimmte Sache schieben konnte. Das Niesen, als er hinausgegangen war, hatte er deutlich gehört und sich noch in der Nacht immer wieder ins Gedächtnis gerufen, bis er sich absolut sicher gewesen war, dass jemand dort gewesen war, während er durch jeden Raum gegangen war. Er glaubte nicht an Geister, deswegen schloss er diese Möglichkeit aus – ganz zu schweigen davon, dass Geister nicht niesten – aber die andere, nämlich, dass es diese Frau gewesen war, die gefiel ihm noch weniger. Deswegen wollte er nicht in seine Wohnung, aber das alles konnte er Joel nicht sagen, zumindest nicht jetzt. Darum ließ er sich kurzerhand etwas anderes einfallen: „Du hast doch sicher auch Hunger, nicht wahr? In meiner Wohnung gibt es aber nichts mehr. Ich war immerhin schon eine ganze Weile nicht mehr dort und zum Einkaufen ist es schon zu spät.“ Das ließ Joel diesen Plan verwerfen. „Wie blöd. Nächstes Mal gehen wir vorher einkaufen und dann-“ „Nächstes Jahr haben wir keine Exkursion mehr“, unterbrach Christine ihn. „Nächstes Jahr sind wir im Abschlussjahr, da haben wir richtige Missionen vor uns.“ Kaum hatte sie das gesagt, wich die Farbe aus Joels Gesicht. Raymond vermochte nicht zu sagen, ob er sich vor den Abschlussprüfungen, den richtigen Missionen oder dem Abschluss an sich fürchtete. Ihm fiel auf, dass sie sich noch nie über so etwas unterhalten hatten. Er wusste, dass Joel sich vor Zombies fürchtete, Vampire verabscheute und er sich eines Tages eine Pistole mit einer Silberkugel darin zulegen wollte, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass er irgendwann einem Werwolf begegnen würde. Außerdem verstand er nicht, was alle Welt so toll an Schmetterlingen fand, er fand sie einfach nur bunt und langweilig. Aber er wusste nicht, was Joel von seinem Leben erwartete oder wovor er sich wirklich fürchtete, er wusste nicht, was sein bester Freund träumte oder was das schlimmste Szenario war, das er sich für seine Zukunft vorstellen konnte. Wollte er eine Familie? Hatte er Angst davor, eines Tages Vater zu werden? Oder bereitete er sich heimlich bereits darauf vor? Plötzlich fühlte er sich ihm so fern wie noch nie zuvor seit sie sich begegnet waren, aber zumindest im Moment konnte er das auch nur schwerlich nachholen, immerhin war Christine bei ihnen – und vielleicht war es Joel ohnehin lieber, wenn Raymond diese Seite nie zu Gesicht bekam, vielleicht wollte er sie niemandem, nicht einmal Christine zeigen. Er wusste es nicht, aber er würde anfangen müssen, es herauszufinden, wenn er sich selbst weiterhin als guten Freund betrachten wollte. „Es ist ganz schön dunkel heute“, bemerkte Christine plötzlich. Joel blickte in den Himmel hinauf. „Kein Wunder, wir haben heute Neumond.“ Ein plötzlicher Schauer fuhr ohne jede Erklärung über Raymonds Rücken. Neumond bedeutete Dunkelheit und tief in seinem Inneren spürte er, dass es noch etwas anderes bedeutete, aber das Gefühl war dumpf und viel zu unbestimmt. „Aber was ist mit den Straßenlaternen?“ In den Vorbezirken gab es generell weniger Beleuchtung als auf den Straßen der Innenstadt, aber selbst diese wenigen Lampen brannten nicht. Eine unangenehme Vorahnung kroch Raymond den Nacken hinab; das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, tauchte plötzlich auf und klammerte sich mit aller Macht an ihn, so wie in jener Nacht, in der er angegriffen worden war. Automatisch blieb er stehen, vor Angst wieder unfähig, sich auch nur noch einen Schritt zu bewegen. Er bemerkte, dass Christine neben ihm ebenfalls stehenblieb, während Joel noch wenige Schritte weiterlief. Erst als er einige Meter von ihnen entfernt war, bemerkte er, dass die anderen ihn nicht mehr begleiteten, blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihnen um. „Was ist denn los? Habt ihr Angst im Dunkeln?“ Raymonds Herz schlug heftig gegen seinen Brustkorb, er schien Eiswasser einzuatmen und bekam das Gefühl, jeden Augenblick ersticken zu müssen. Für einen Moment glaubte er, sein eigenes schweres Atmen von außerhalb seines Körpers zu hören, aber gleich darauf wurde ihm bewusst, dass es Christine, neben ihm, war, die so schwerfällig nach Luft schnappte. Joel neigte den Kopf zur Seite, die Stirn wieder einmal fragend gerunzelt. „Was ist denn los?“ Er bemerkte den Wechsel der Atmosphäre nicht selbst, sondern nur durch die beiden, was Raymond nicht so ganz verstand. Warum ging das alles an ihm so vorbei? Plötzlich gab Christine ein ersticktes Keuchen von sich, ein gurgelnder Schrei, der in der Kraftlosigkeit der Situation unterging, ohne seine Nachricht überbracht zu haben. Mit vor Furcht geweiteten Augen starrte sie auf einen Punkt hinter Joel. Raymond, der sich nicht in unmittelbarer Gefahr wähnte, hob die Hand, um die Brille abzunehmen. Kaum hatte er das getan, entdeckte er dieselben Wesen, die bereits ihn angegriffen hatten – und sie befanden sich direkt hinter Joel! Seine Lungen füllten sich schlagartig mit Sauerstoff, als er tief Luft holte, um seinem Freund eine Warnung zukommen zu lassen. „Joel, hinter dir!“ Er runzelte die Stirn und drehte den Kopf, konnte aber offenbar nichts entdecken, weswegen er sich weiterhin nicht rührte. „Joel, komm hierher, bitte!“ Christines Stimme brach vor lauter Panik und Angst beinahe vollständig weg. Im selben Moment ereilte sie dieselbe Erkenntnis, Raymond und Christine blickten sich fragend an. „Du kannst sie auch sehen!?“ Neben der Verwirrung spürte Raymond auch ein wenig Erleichterung darüber. Wenn Christine diese Wesen ebenfalls sah, bedeutete dies, dass sie kein Produkt seiner Einbildung und kein Traum waren - und vielleicht wusste sie auch mehr über diese Kreaturen. Joel wiederum konnte sie nicht sehen, weswegen er sich wieder ihnen zuwandte und leise seufzte. „Kommt schon, Leute, das ist nicht lustig. Lasst uns lieber endlich nach Hause gehen.“ Raymond hätte am Liebsten erkundet, weswegen Christine diese Wesen ebenfalls sehen konnte, aber dafür war nun nicht die Zeit. Zwar war er dieses Mal bewaffnet, sein Schwert hing immer noch schwer an seiner Hüfte, aber er fühlte sich unfähig, es zu ziehen und die Wesen anzugreifen. Seine Angst hielt ihn nach wie vor davon ab, sich ihnen zu nähern. Er blickte wieder zu Joel, wollte diesen noch einmal davon überzeugen, dass es besser wäre, endlich zurückzukommen. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er entdeckte, dass eines der Wesen bereits die Füße seines Freundes erreicht hatte. Es berührte Joel und im selben Moment verließ sämtliche Farbe sein Gesicht. Seine Unterlippe begann zu zittern, er öffnete den Mund und für einen schrecklichen Moment lang, stand er einfach nur so da, eine stumme Drohung für das Kommende. Der Augenblick, der Raymond so unendlich lang vorkam, ging schließlich in einem schrecklichen Heulen und Schreien unter, dessen Ursprung Joel war. Er ging in die Knie, die Hände auf seine Ohren gepresst als könnte er seine eigenen Schreie nicht mehr ertragen, aber war dennoch unfähig, sie einzustellen. Seine Aura färbte sich von der braunen Unsicherheit zu einem furchtbar finsteren Schwarz, dessen Bedeutung Raymond nicht einmal im Geringsten erfassen konnte. Die anderen Wesen schienen davon aber sogar angezogen zu werden und begannen, sich ebenfalls auf ihn zu stürzen. Sie fügten ihm keine körperliche Verletzungen zu, aber seinen Schreien nach zu urteilen, erlitt er dennoch Schmerzen. Raymond wollte ihm helfen, aber er war nach wie vor wie festgewurzelt, nein, wie eingefroren, nicht mehr fähig, sich auch nur im Geringsten zu rühren. Er konnte sich nicht einmal die Ohren zuhalten, um die Schreie zu dämpfen, die Wunden in seine Seele reißen wollten. Glücklicherweise war Christine nicht eingefroren. Sie stürzte mit einem Schrei vor, aber statt nach ihren Chakram zu greifen, sah es plötzlich so aus als würde etwas aus ihrem Rücken hervorbrechen. Es waren keine Flügel, wie man es möglicherweise erwarten würde, wenn man sich in so einer Situation vorfand, stattdessen handelte es sich um vier Ketten, an deren Enden spitze Klingen befestigt waren. Ohne diese Ketten zu berühren, bewegten sie sich als würde ihnen ein eigener Wille innewohnen, der dem von Christine unterworfen war. Die Klingen griffen diese Wesen an, zerschnitten sie, so dass sie sich auflösten. Glitzernde Splitter erhoben sich von den sterbenden Ungetümen und lösten sich rasch in dünne Luft auf, so dass Raymond sich nur entgeistert fragen konnte, was das eben gewesen war. Christine dagegen hielt nicht inne, wie ein Berserker ließ sie die Ketten immer wieder auf die nachrückenden Wesen niedersausen, während Joel weiterhin schrie als würde er bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Die sie umgebende Aura war plötzlich nicht mehr goldener Sand, der sich träge bewegte wie vom Wind getragene Dünen in der Wüste. Es war flüssiges Gold, das sich immer mehr zu erhärten schien, während sie wütete, die Aura umgab sie nicht mehr nur, sondern legte sich auf ihrer Haut ab als gelte es, sie zu einer lebendigen Skulptur zu formen. Durch Christines Wüten entstand schließlich eine Lücke zwischen Joel und den nachrückenden Wesen und endlich schaffte Raymond es wieder, sich zu bewegen. Er stürzte vor, griff nach dem Arm des Mannes, dessen Schreie langsam nachließen und zog ihn hastig aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Schützend stellte Christine sich vor sie beide, ihre Entschlossenheit, ihre Freunde zu beschützen, war geradezu greifbar für Raymond, der ihr äußerst dankbar dafür war, auch wenn seine Verwirrung nach wie vor überwog. Als Joels Schreie gänzlich verstummten, richtete Raymond seine Aufmerksamkeit auf ihn. Er schien bewusstlos, seine Atmung war aber derart flach und sein Gesicht so blass, dass es aussah als würde sein Herz jeden Moment für immer aussetzen. Seine Aura hatte sich wieder verfärbt, sie ähnelte einem verwaschenen Schwarz und war nun kaum noch sichtbar. So etwas hatte er bislang nur einmal erlebt und jene Person war kurz darauf gestorben. Diese Erkenntnis jagte ihm Schauer um Schauer den Rücken hinab. Erst mit der neu eingetretenen Stille bemerkte Raymond, dass in den Häusern, vor denen sie standen, das Leben erwacht war. Zwar getraute sich niemand, herauszukommen, aber er konnte sehen, dass sie am Fenster standen und das Geschehen beobachteten. In der Ferne hörte er die Sirenen von Polizei- und Krankenwägen. Diese Geräusche sorgten offenbar dafür, dass die Wesen sich zurückzogen und überraschend schnell wieder verschwanden, ohne jede Spur zu hinterlassen. Es war als wären sie nie da gewesen. Gleichzeitig verschwanden die Ketten und Christines Aura kehrte wieder zu dem trägen Sand zurück, auch wenn das ein Vorgang war, der doch einiges an Zeit in Anspruch nahm. Die Sirenen näherten sich derweil, aber immer noch kam niemand aus den Häusern heraus. Schließlich wandte Christine sich um und kam ebenfalls zu Joel, neben den sie sich sofort kniete. „Lebt er noch?“ Raymond nickte. Die Atmung seines Freundes war immer noch viel zu flach und dementsprechend auch um einiges zu hastig, daran änderte sich auch nichts, als Christine seine Hand in ihre nahm. „Joel... du darfst nicht sterben.“ Raymond hob den Blick, um sie anzusehen. Ihre Aura war dieselbe wie immer, aber sie war mindestens ebenso blass wie Joel. „Christine... was war das?“ Er war sich selbst nicht sicher, ob er damit diese Wesen oder die Ketten, die aus ihrem Rücken gekommen waren, oder gar beides, meinte. Sie fragte allerdings auch nicht, sondern blickte ihn nur schweigend an. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber dennoch kam kein Laut aus ihrem Mund als hätte sie spontan vergessen, wie man richtig sprach. Er versuchte, von ihren Lippen zu lesen, etwas, was ihm manchmal gelang, aber sie schien keine richtigen Wörter zu bilden, es war doch mehr ein Wimmern, ohne dass sie es schaffte, loszuweinen. Er fragte sich, ob er ebenfalls einen solch erbärmlichen Eindruck machte, aber natürlich war kein Spiegel da, mit dem er sich darüber Klarheit verschaffen konnte. Während er lauschte, wie die Sirenen näherkam, was seinem Eindruck nach viel zu lange dauerte, hob er den Kopf, um sich umzusehen. Immer noch traute sich niemand zu ihnen heraus, sie drei waren ganz allein auf der Straße. Einen kurzen Moment lang hatte er erwartet, diese Frau wiederzutreffen, aber nirgends war eine Spur von ihr oder ihrer dunkelroten Aura zu sehen. Zumindest das erleichterte ihn ein wenig, denn er wusste genau, dass ihre nächste Begegnung mit seinem Tod enden würde. Er senkte den Blick wieder, um auf Joel hinabzusehen. Er, Christine und Joel, sie waren so dicht beieinander und doch hatte er plötzlich das Gefühl, dass eine unüberwindbare Wand sich zwischen ihnen aufgetan hätte und nichts mehr so sein würde wie früher, selbst wenn Joel überleben würde. Aber dennoch... Oh Gott, bitte... Joel darf nicht sterben! Kapitel 9: Wir nennen sie... ---------------------------- Krankenhäuser hatten es bislang nie geschafft, ihn depressiv werden zu lassen. Es gab Leute, die verabscheuten den Geruch der Desinfektionsmittel und das Weiß, das einem überall entgegenleuchtete. Sie verbanden Krankenhäuser nicht mit Gesundheit, sondern mit Krankheit und Sterben. Vielen kam zuerst die Pathologie in den Sinn, wenn sie an eine Klinik dachten. Raymond war bislang von jedem Eindruck verschont geblieben, Krankenhäuser waren einfach Einrichtungen gewesen, die man aufsuchte, wenn man krank war und aus denen man entlassen wurde, sobald man gesund war. Aber während er in dieser Nacht gemeinsam mit Christine auf dem Gang saß, den geschäftigen Schritten des Personals lauschte und darauf wartete, dass jemand ihnen sagte, dass Joel außer Gefahr war, kam es ihm wie ein Hort der Hoffnungslosigkeit vor. Niemand kam, um sie zu entwarnen, die Schwestern schenkten ihnen nicht einmal einen Blick, wenn sie an ihnen vorbeiliefen. Er konnte sie im nahegelegenen Schwesternzimmer lachen hören, sie ließen sich emotional nicht von den Schicksalen berühren, sonst wäre es ihnen wohl kaum möglich, diesen Beruf weiterhin auszuüben. Obwohl Christine neben ihm saß, wurde er das Gefühl nicht los, dass er allein war. Sie wandte ihm den Rücken zu, den Oberkörper leicht vornübergebeugt, die Hände auf ihren Oberschenkeln abgestützt, sie schluckte immer wieder nervös als würde sie fürchten, dass er das Schweigen brach und sie aufforderte, ihm zu sagen, was gerade geschehen war. Er hätte es ihr gern erspart, aber sie war im Moment seine einzige Quelle, die ihm endlich Antworten geben könnte. „Christine...“ Sie zuckte zusammen, als er sie ansprach, wandte ihm aber nicht den Blick zu. „Was?“ „Du weißt, was ich dich fragen möchte.“ Sein Mund fühlte sich unangenehm trocken an, aber er wollte nicht zum Wasserspender hinübergehen, der ohnehin fast leer zu sein schien. „Was waren das für Wesen?“ Für ihn stand außer Frage, dass sie wusste, was das für Ungetüme waren, sie hatte sie erkannt und daraufhin mit einer Kampftechnik reagiert, die ihm gänzlich unbekannt war. Aber sie zögerte mit der Antwort. In jenem Moment dachte er noch, es läge daran, dass sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte, später sollte er erfahren, dass sie mit der Frage beschäftigt gewesen war, wie viel sie ihm guten Gewissens erzählen dürfte. Plötzlich legte sie den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. „Wir nennen sie Mimikry.“ Er runzelte die Stirn. Das Wort sagte ihm etwas, es war ein biologischer Begriff, wenn er sich nicht täuschte und es bezeichnete die Fähigkeit eines Wesens sich einer anderen Art anzupassen, um dem natürlichen Feind zu entgehen. Sie wusste offenbar, dass er sich das gerade in Erinnerung rief, denn sie wartete einen Moment, um ihm diese Gelegenheit zu geben, ehe sie fortfuhr: „Sie leben in den Schatten und laben sich an den Seelen von Menschen, entreißen ihnen unbemerkt kleine Bruchstücke, um sie zu verspeisen. Je mehr Seelensplitter sie ernten, desto ähnlicher werden sie den Menschen, bis sie nicht mehr von einem solchen zu unterscheiden sind – und dann werden sie richtig gefährlich. Dann begnügen sie sich nicht mehr nur mit Bruchstücken, sondern entreißen anderen die gesamte Seele.“ Sie seufzte leise. Raymond nutzte ihre neue Pause, um sich wieder etwas ins Gedächtnis zu rufen, dieses Mal handelte es sich um die Zeitungsberichte über plötzliche Todesfälle. In Lanchest waren noch keine eingetreten, aber in den umliegenden Städten waren solche berichtet worden. Menschen, die kerngesund waren und plötzlich einfach umfielen und starben, ohne dass jemand die Todesursache feststellen konnte. Aber so plötzlich wie diese Mordfälle begonnen hatten, waren sie auch wieder beendet worden. Das war also der Grund. Aber warum wusste niemand davon? „Deswegen bekämpfen wir sie, bevor sie zu Menschen werden.“ Er neigte den Kopf ein wenig. „Du redest von wir. Wen meinst du damit?“ Ihre Eltern? Ihre Familie? Vielleicht noch irgendjemand anderen, der ihm nicht einmal im Traum einfallen würde, weil er nicht genug über sie wusste? Sie setzte gerade zum Antworten an, als Schritte sie unterbrachen. Raymond hob den Blick und sah den Gang hinunter. Er konnte die Chandlers entdecken, die gemeinsam mit Joy auf sie zukamen. Ratlos neigte er den Kopf. Was macht Joy hier? Die drei nickten ihnen nur zu, ehe sie in den Gang verschwanden, in den die Ärzte und Schwestern Joel gebracht hatten. Kaum waren sie nicht mehr zu sehen, antwortete Christine ihm: „Ich rede von Joys Organisation Hallows.“ Er öffnete den Mund, obwohl er nicht wusste, was er erwidern sollte. Es gab Wesen, die für normale Menschen nicht sichtbar waren. Mimikry. Joy war Oberhaupt einer Organisation, die gegen diese Wesen kämpften. Hallows. Christine war ein Teil davon. Aber wie genau funktionierte das? „Joel hat diese Wesen nicht gesehen... warum konntest du es?“ Sie scharrte mit den Füßen auf dem Boden, ihre behafteten Sohlen erzeugten dabei ein quietschendes Geräusch, das in seinen Ohren schmerzte. „Meine goldenen Augen... sind ein Zeichen, eine Art Mitgliedsausweis sogar. Ich war nicht immer ein Teil der Hallows.“ Wieder schwieg sie, dieses Mal spürte er, dass es ihr schwerfiel, weiterzusprechen. Eine Erinnerung hatte sie gepackt und schüttelte sie innerlich, jagte ihr Schauer über den Rücken, dass es fast schmerzhaft wurde, neben ihr zu sitzen. Schließlich entfuhr ihr ein Seufzen. „Es gibt eine andere Organisation, die gegen die Mimikry kämpft, man nennt sie Garou Society. Es gibt Unterschiede zwischen ihren Methoden. Joy gibt den Mitgliedern mit speziellen Brillen die Möglichkeit, die Mimikry zu sehen und bei Bedarf auch die notwendigen Waffen für die Bekämpfung. Die GS allerdings lässt ihre Mitglieder zu halben Mimikry werden.“ Abrupt wandte er ihr den Blick zu, auch wenn sie immer noch nach unten sah als wäre er gar nicht neben ihr. Als sie fortfuhr, bekam er den Eindruck, eine vollkommen andere Person, die er gar nicht kannte, neben sich zu haben. Ihrer Stimme fehlte der amüsierte Tonfall und das Liebliche, das sie sonst Freunde anziehen ließ wie das Licht die Motten. „Sie lassen die Mimikry Teile der Seele fressen und ersetzen es dann durch ein Mittel, das sie einem direkt injizieren. Dieses Mittel lässt einen innerlich zu einem Mimikry werden.“ Er wusste kaum etwas über diese Wesen, aber das war eine Methode, die ihm gefährlich erschien und unmenschlich. Man nahm den Probanden etwas von ihrer Menschlichkeit, um sie dem anzupassen, was sie jagen sollten, das war prinzipiell dasselbe, was Mimikry umgekehrt taten. „Und du...“ Sie nickte, so dass er seinen Satz nicht beendete. „Ich war ebenfalls eine von den Probanden, bei denen das gemacht wurde. So bekam ich die Fähigkeit, sie zu sehen und sie mit diesen Ketten zu bekämpfen. Aber meine Eltern fürchteten um mich, denn das Jagen ist mit großen Gefahren verbunden und nicht selten sterben die Jäger innerhalb des ersten Jahres. Deswegen verließen wir das Gelände der GS und suchten Rat bei Joy. Sie konnte meine Seele nicht wiederherstellen, aber sie versicherte uns, dass ich nicht sterben würde.“ Raymond fühlte sich augenblicklich ergriffen, seine Kehle schnürte sich zu. Nie hätte er geglaubt, dass die immer gut gelaunte und optimistische Christine ein solches Schicksal mit sich herumtrug und das ganz allein schulterte. Fast schien es ihm als wäre sie eine tragische Heldin, so wie jene in Joels Superhelden-Comics, die er als Kind gelesen hatte, in denen die Protagonisten ohne das Wissen all ihrer Freunde und Familienmitglieder gegen das Böse kämpften und dabei immer wieder ihr Leben riskierten. Am Liebsten hätte er sie in den Arm genommen, um sie zu trösten, aber es sah nicht so aus als würde sie darauf wert legen. Aber da fiel ihm noch jemand anderes ein, der das gebrauchen könnte... „Was wird jetzt aus Joel? Wird er sterben?“ Sie bemühte sich, ein trauriges Lächeln zustande zu bringen, das ihn dennoch ein wenig zuversichtlich stimmte, als sie ihn ansah. „Er wird überleben, ganz sicher. Mach dir keine Sorgen. Wir werden alle drei zusammen alt werden.“ Er nickte, dann wandte sie den Blick erneut auf den Boden. Wieder kehrte das Schweigen ein, während beide ihren Gedanken nachhingen. Die Wand, die sich nach dem Angriff zwischen ihnen aufgetan hatte, war nicht gänzlich verschwunden, aber Raymond war davon überzeugt, dass zumindest ein Fenster darin aufgemacht worden war, durch das sie sich beide sehen und sich auch Mut zusprechen konnten. Er hoffte nur, dass sie dieses Fenster nicht mehr zuschlagen und stattdessen die Mauer einreißen würde, damit er weder sie noch Joel verlor. Wieder lief eine Schwester an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, was dazu führte, dass Raymond seine Geduld verlor. Er stand auf und ging in Richtung des Gangs, dabei ignorierte er Christines leises Zischen, das ihm sagen sollte, dass er zurückkommen sollte. Sie wagte offenbar nicht, aufzustehen und sich ihm anzuschließen. Im Gegensatz zum hell erleuchteten Hauptgang war es in diesem hier geradezu düster. Die Deckenlichter brannten nicht, vermutlich um die Patienten in den Zimmern nicht zu stören, da jeder Raum eine Glasscheibe besaß, so dass man von außen sehen konnte, ob im Inneren alles in Ordnung war. Am Ende des Ganges verkündete ein rotes Schild, dass sich dort ein Ausgang befand. Eines der Zimmer war hell erleuchtet, Raymond strebte direkt auf jene Scheibe zu und wie erwartet entdeckte er jenseits davon Joy, die Chandlers und einen Arzt, den er nicht kannte. Auf dem Bett lag Joel, erschreckend blass und mit beschleunigter Atmung als ob er fieberte. Die Furcht, ihn zu verlieren, griff mit eisigen Fingern nach Raymonds Herz und drückte es mit einem hämischen Kichern schmerzhaft zusammen. Die Erwachsenen unterhielten sich sehr hitzig über etwas, das Raymond durch die Scheibe nicht verstehen konnte. Aber er konnte sehen, dass Theia schließlich mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck einknickte und mit einem unhörbaren Seufzen nachgab. Das war für den Arzt der Anlass, eine Spritze mit einer goldenen Flüssigkeit aufzuziehen, die sich in einem Fläschchen befand, das er von Joy gereicht bekam. Er musste nicht wissen, was sich darin befand, er konnte es sich durch Christines Geschichte bereits denken. Der Arzt trat mit der Spritze an Joels Bett, während Joy das Zimmer verließ. „Ah, ich wusste doch, dass du hier bist.“ Er öffnete den Mund, konnte allerdings nichts sagen, da seine Gedanken sich wieder allesamt zu jagen begannen und er ihr mehrere Dinge gleichzeitig sagen wollte. Zu seinem Glück übernahm sie die Initiative: „Dein Freund wird wieder, mach dir keine Sorgen.“ Er nickte nur, versuchte, sich Joy, die er als Besitzerin einer Buchhandlung und als Buchhalterin kannte, in der Rolle einer Organisationschefin vorzustellen, scheiterte aber gnadenlos daran. „Ray, hast du die Wesen gesehen, die Joel angegriffen haben?“ Er nickte noch einmal und erklärte ihr dann demonstrativ, wie die Wesen ausgesehen hatten, damit sie wusste, dass er nicht log oder sich nur etwas eingebildet hatte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, gab ihm die Möglichkeit, hinter ihre starke Fassade zu blicken und einen flüchtigen Blick auf ihr müdes Ich zu werfen. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie wieder die alte, die starke Joy. „Du hast sie auch damals schon gesehen, nicht wahr?“ „Ja, habe ich. Vor diesen Wesen bin ich geflohen.“ „In meinen Laden?“ Er schüttelte den Kopf, sie hob erstaunt eine Augenbraue, worauf er fortfuhr: „Ich wurde von einer Frau gerettet, aber dann versuchte sie, mich zu töten. Ich bin vor dieser Frau und einem geisterhaften Wolf weggelaufen und dann in deinem Laden gelandet.“ „Bist du eigentlich wahnsinnig?“ Ihre leiser werdende Stimme bebte, er spürte, dass sie eigentlich laut werden wollte, sich aber aufgrund ihres Aufenthaltsorts selbst zügelte – und er spürte, dass ihre Wut das Ergebnis ihrer Sorge um ihn war. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Bist du dir im Klaren darüber, in was für einer Gefahr du dich befunden hast?“ Das war er, sogar mehr als sie glaubte. Noch immer verfolgte ihn das Gefühl, dass er nicht allein in seiner Wohnung gewesen war bei dem letzten Abstecher dorthin. Wäre Joels Vorschlag, bei ihm zu wohnen nicht gewesen, wer wusste schon, was aus ihm geworden wäre? Nein, er wollte es sich gar nicht ausmalen. „Wer war diese Frau?“ Vielleicht wusste Joy es, ohne dass sie diese selbst gesehen hatte. „Ich nehme an, sie gehört zur Garou Society, das sind-“ „Christine hat mir schon davon erzählt.“ Sie brach abrupt ab, als er das erwiderte, dann seufzte sie leise. „Das erleichtert die Sache ein wenig. Jedenfalls habe ich Berichte gehört, dass die GS jemanden auf die Jagd nach den Mimikry in der Gegend geschickt hat. Normalerweise halten sie sich aber von den Zivilisten fern.“ Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Aber mich verwundert auch, dass du diese Wesen sehen kannst. Ich dachte, deine Augen sind auf das Erkennen von Auren beschränkt.“ „Ich bin wohl ein Rätsel“, schloss er daraus. Sein bitterer Tonfall ließ sie ihn aufmunternd anlächeln. „Das macht dich nur umso interessanter. Aber weißt du zufällig, warum diese Frau dich töten wollte?“ „Sie sagte, dass ich etwas habe, was diese Wesen wollen... ich nehme an, deswegen wollte sie mich umbringen, damit ich nicht noch mehr anziehe. Tue ich das denn?“ Seine Verunsicherung traf auf kein beruhigendes Lächeln, stattdessen deutete sie ein Nicken an. „Jeder besondere Mensch zieht sie an, du, Joel, Seline... aber solange du sie siehst, kannst du sie bekämpfen. Du solltest dir daher keine Gedanken machen. Mach dir auch keine Sorgen wegen dieser Frau, ich werde sie schon finden und zur Rechenschaft ziehen. Du solltest jetzt nach Hause gehen.“ Es war deutlich, dass sie ihn loswerden wollte und deswegen das Gespräch so abrupt beendete. Aber der Gedanke, nach Hause zu gehen, jagte ihm zahllose Schauer über den Rücken. „D-das kann ich nicht!“ Sie verstand seinen Widerspruch nicht, reagierte aber dennoch so wie er erhoffte: „Nun, du kannst auch nicht im Krankenhaus bleiben, das wäre keine gute Gegend für dich. Am besten du gehst zu Christine oder zu Ryu. Ich werde veranlassen, dass man dich anruft, wenn Joel wieder aufwacht.“ „Danke, Joy.“ Sie drückte noch einmal aufmunternd seine Schulter, dann wandte sie sich ab und ging wieder ins Zimmer hinein. Er sah noch einmal hinein, beobachtete, wie die Erwachsenen sich wieder in eine Diskussion vertieften, dann fuhr er herum und ging zu Christine zurück, um sie nach Hause zu begleiten, ehe er sich zu Ryu und Seline begab. Seine Gedanken drehten sich dabei weiter um Joel und auch um diese Frau. Würde sie möglicherweise noch andere Personen angreifen? Könnte Joy sie wirklich finden und aus der Stadt vertreiben? Niemand würde ihm diese Fragen beantworten können, außer die Zeit. Aber noch hoffte er, dass Joel bald wieder aufwachen und alles so werden könnte wie früher, auch wenn er nun vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte. Kapitel 10: Am nächsten Morgen ------------------------------ Der nächste Morgen brachte keinen Trost und keine Erkenntnisse. Stattdessen brachte er Verwirrung, denn als Raymond die Augen öffnete, erkannte er diese Decke nicht als jene wieder, die zu seinem Apartment oder dem Haus der Chandlers gehörte. Es dauerte einen langen Moment, in dem ihm all die Ereignisse vom Vorabend wieder in den Sinn kamen, bis er sich wieder erinnerte, dass er die Nacht bei Ryu verbracht hatte – und streng genommen auch Seline, aber diese war im Moment offenbar nicht zu Hause. Da Sonnenlicht in den Raum fiel, wusste er bereits, dass der Vormittag weit fortgeschritten war, was sich auch sofort bestätigte, als er auf die Uhr sah. Er seufzte leise, als er feststellte, dass es sogar bereits kurz vor elf Uhr war, eindeutig zu spät, um noch zum Unterricht zu gehen. Auch wenn ihm an diesem Tag ohnehin nicht der Sinn danach stand. Joel und Christine wären mit Sicherheit auch nicht da und er wollte sich nicht mit all den mitleidigen Blicken abgeben – oder dem offenen Desinteresse an ihm oder den anderen beiden. Aus der unteren Etage konnte er Geräusche hören, weswegen er aufstand und sich Pullover, Strümpfe und Schuhe wieder anzog. Zum Schlafen hatte er lediglich seine Jeans anbehalten, aber wenn er nach unten ging, wäre es besser, vollständig angezogen zu sein – und außerdem wurde ihm außerhalb des Bettes direkt kalt. Nachdem er sein Handy vom Nachttisch genommen und dabei festgestellt hatte, dass keine neue Nachricht auf ihn wartete, verließ er den kargen Raum, der gerade genug Platz für das Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Schrank bot und schritt durch den engen Flur, der wie alles in der oberen Etage... klein war. Fast so als wäre es dem Architekten nur wichtig gewesen, dass der Gastraum im Erdgeschoss groß war und der Rest, in dem sich der Besitzer aufhielt, ohnehin nicht wert wäre, beachtet zu werden. Da das Café um diese Zeit noch nicht geöffnet war, fand Raymond im Gastraum niemanden, aber in der angrenzenden Küche, in der sämtliche Arbeitsplatten aus feinstem Chrom zu bestehen schienen, entdeckte er eine Person, die am Spülbecken stand und dort einige Gläser wusch. Seine violette Aura in der Form zahlreicher Blitze, ließ den Eindruck entstehen, dass er beständig unter Strom stand, aber gleichzeitig war die Elektrizität so sanft und gutmütig, dass davon nicht zu sprechen war. Er wandte Raymond den Blick zu, worauf seine violetten Augen sanfter, aber nicht wärmer, zu werden schienen. „Guten Morgen.“ „Guten Tag trifft es wohl eher, Ryu“, erwiderte Raymond, während er auf seinen Gastgeber zuging, der sich allerdings nicht an der Zurechtweisung zu stören schien. Stattdessen deutete er auf einen der Barhocker, die an der Arbeitsplatte mitten im Raum, standen. Er verstand ohne Worte und setzte sich. „Warum hast du mich so lange schlafen lassen?“ Ryu wandte sich wieder seiner Arbeit zu und antwortete, ohne ihn anzusehen: „Ich dachte mir, es wäre wohl besser, wenn du dich einmal ausschläfst. Ich habe gehört, dass du in der letzten Zeit viele Albträume hattest.“ Er fragte besser nicht, woher sein Gastgeber das wusste, sondern bedankte sich leise dafür. Ryu beendete das Spülen und stellte dann ein Glas und eine Flasche vor ihm ab. Bereits auf den ersten Blick erkannte Raymond, dass es sich dabei um Alkohol handelte, was ihn die Brauen zusammenziehen ließ. „Ich bin noch nicht alt genug, um das zu trinken.“ „Oh wirklich?“, erwiderte Ryu mit einem Unterton, der deutlich sagte, dass ihm das durchaus bewusst war. „Dann solltest du besser niemandem hiervon verraten. Aber nach der letzten Nacht dachte ich, dass du ruhig mal ein Glas vertragen könntest – ich hätte damals eines gebraucht, als ich meinen ersten Feinden gegenübergestanden war. Aber ich hatte jemanden, der mich davon abgehalten hat.“ Also gab Raymond seufzend nach und schenkte sich etwas ein. Kaum hatte er das Glas allerdings geleert, hustete er bereits, da der Alkohol doch wesentlich stärker war als er erwartet hatte. Ryus darauf folgendes Lachen, das wie üblich so unterkühlt klang, dass es nicht zu ihm passen wollte, half ihm auch nicht sonderlich, sich besser zu fühlen. Ehe Raymond auch nur in Versuchung kommen konnte, sich noch ein Glas einzuschenken, nahm Ryu die Flasche wieder an sich. „Joy hat mir erzählt, was letzte Nacht geschehen ist.“ Nach Raymonds Ankunft bei Ryu, war er viel zu müde gewesen, um selbst noch etwas zu erklären, aber Joy schien wie üblich weitergedacht zu haben. Manchmal zweifelte er daran, dass diese Frau wirklich schlief. Er erwiderte nichts darauf, sondern malte Kreise auf dem Chrom der Arbeitsplatte. Aber Ryu erwartete offenbar auch keine Antwort, denn er fuhr direkt fort: „Es muss ziemlich hart gewesen sein, das alles zu beobachten. Ich meine, selbst als angehender Söldner hattest du bislang doch eher ein behütetes Leben und dann begegnest du nicht nur Monstern, sie töten sogar beinahe deinen besten Freund.“ „Warum?“ Ryu hielt inne und betrachtete Raymond verwirrt, er führte die Frage sofort aus: „Warum haben sie Joel angegriffen? Joy sagte, das Besondere ziehe sie an... was ist an ihm besonders?“ „Sag, wie sieht seine Aura aus?“, konterte Ryu mit einer Gegenfrage. Das musste Raymond nicht lange überlegen, die Antwort kam sofort: „Sie ändert ihren Farbton, seiner Stimmung entsprechend.“ Das war immerhin das gewesen, was ihn damals an Joel so fasziniert hatte und auch das, was dafür sorgte, dass andere Menschen nicht so viel Umgang mit ihm pflegten, auch wenn andere es nicht sehen konnten, sie spürten es immerhin. Zwar konnte er sich nicht vorstellen, dass dies wirklich der Grund war, dass diese Wesen ihn angegriffen hatten, aber Ryu nickte bestätigend. „Wir können uns nicht erklären, warum seine Aura das tut, aber es ist derart einzigartig, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Mimikry ihn aufspüren würden. Er kam noch gut davon, weil du und Christine bei ihm wart.“ Daran zweifelte Raymond, immerhin hatte er nichts tun können, um ihm zu helfen, es war alles Christines Verdienst gewesen. Er hatte Joel möglicherweise auch erst in Gefahr gebracht, immerhin gab es auch etwas in ihm, das sie wie magisch anzog. „Warum hat mir nie jemand etwas von diesen Wesen erzählt?“, fragte er und klang dabei nicht halb so vorwurfsvoll, wie man eigentlich hätte erwarten können. „Dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen und Joel wäre nun nicht im Krankenhaus.“ „Erstens“, begann Ryu ruhig, „kannst du froh sein, dass er nur im Krankenhaus ist und zweitens haben wir dir es nicht aus Bosheit nicht erzählt. Es ging dabei um deine eigene Sicherheit. Wie fühlst du dich nun, da du von der Existenz dieser Wesen weißt?“ Raymond öffnete bereits den Mund, hielt aber noch einmal inne. Er fühlte sich als wäre er aus dem sicheren Hafen der Normalität gerissen und direkt in ein tosendes Meer aus Furcht und Rastlosigkeit geschleudert worden. Er wusste nun von dieser verborgenen Welt, in der es Monster gab, die nach menschlichen Seelen gierten und er wusste, dass es nur wenige gab, die gegen sie kämpfen konnten und manche von ihnen – so wie Christine oder auch seine Angreiferin, davon war er überzeugt – darunter litten. Nein, er konnte wirklich nicht behaupten, dass er sich nun gut fühlen würde. Also schloss er den Mund wieder und ließ Ryu einen Schluss aus seinem Schweigen ziehen: „Das dachte ich mir doch. Deswegen haben wir dir nichts erzählt. Wir dachten, du wärst umsichtig genug, nie an diese Wesen zu geraten oder dich dann zumindest zu wehren wissen.“ „Wie würdest du dich gegen etwas wehren, das du nicht kennst?“ Ryu senkte den Blick ein wenig und sah ihn von unten herab an, als würde er ihn über den Rand einer Brille hinweg betrachten wollen. „Du enttäuschst mich wirklich, Ray. Ich dachte immer, du wärst intelligent und hältst auch viel von dir selbst.“ „Ich bin im Moment auch nicht stolz, dass ich keine Ahnung habe, was du von mir willst.“ „Du hast doch das Kämpfen gelernt“, erwiderte Ryu, tatsächlich klang Enttäuschung in seiner Stimme. „Du solltest dich eigentlich auf das Kämpfen verstehen.“ Von dieser Feststellung unangenehm berührt, kratzte Raymond sich an der Schläfe. Er hatte versucht, nicht in Panik zu geraten, aber das war eben nicht so einfach, wie er es sich gewünscht hätte. „Vielleicht war die Situation auch zu bedrohlich“, überlegte Ryu, um ihm ein wenig zu helfen. „Ich kann mir vorstellen, dass es schwer sein muss.“ „Eigentlich will ich gar nicht mehr darüber nachdenken“, erwiderte Raymond. „Ich möchte es nur noch vergessen.“ „Ich fürchte, das wird nun nicht mehr möglich sein.“ Ryu hob die Schultern und begann damit, die Arbeitsfläche abzuwischen, statt noch etwas zu sagen. Noch mehr war allerdings auch unnötig, denn in diesem Moment klingelte Raymonds Handy, das er hastig aus seiner Tasche zog. Doch dann hielt er es einen endlos erscheinenden Augenblick nur in der Hand, ohne auf das Display zu sehen. Er badete in der Hoffnung, dass es jemand war, der ihn wegen Joel anrief und wusste, dass er es nicht ertragen würde, wenn er entdeckte, dass sein Anrufer jemand vollkommen anderes war, jemand aus der Schule vielleicht, ein Lehrer oder ein Mitschüler, Leute, die einfach nur neugierig waren. Doch nachdem das Handy mehrmals geklingelt hatte, blickte er auf auf das Display, ehe sein Anrufer vielleicht noch auflegen würde. Er kannte die Nummer nicht, so viel wusste er sofort, dennoch nahm er den Anruf an und meldete sich mit seinem Namen. Dabei bemerkte er, wie Ryu ihn neugierig anschielte, ohne mit dem Wischen aufzuhören. „Ah, endlich gehst du mal ran“, sagte eine Stimme, die ihm im Gegensatz zu der Nummer sehr bekannt vorkam. „Ich dachte schon, du ignorierst mich absichtlich.“ „Joel?“, hakte Raymond ungläubig nach. Die Person am anderen Ende klang genau wie er, selbst die lebhafte Stimme war dieselbe wie vor dem Angriff, als ob dieser niemals stattgefunden hätte. Er glaubte gar, sich diesen Anruf nur einzubilden, was Ryus Blick erklärt hätte, aber ein kurzer Blick auf sein Display verriet ihm, dass der Anruf wirklich existierte und nicht nur Teil seiner Einbildung war. Joel lachte amüsiert. „Natürlich bin ich es. Mann, du hörst dich an, als würde dich gerade ein Geist anrufen oder so etwas.“ Raymond atmete erleichtert auf. „Nach der letzten Nacht dachte ich, du würdest ein Geist werden.“ „Ach, als ob mich so etwas umbringen würde... was auch immer das war.“ Er klang verwirrt, also wusste er immer noch nicht so recht, was eigentlich geschehen war. „Aber wie auch immer, Christine ist schon auf dem Weg hierher, also komm doch auch. Das Essen hier ist auch ziemlich lecker.“ „Ich bin schon unterwegs“, sagte Raymond, ehe er auflegte und dann aufstand, um ihn besuchen zu gehen. Joel war wach und das so schnell nachdem er ins Krankenhaus gekommen war, das musste das einzige Wunder sein, das er in den letzten Wochen erlebt hatte – aber er hoffte, dass es nicht das letzte bleiben würde. Kapitel 11: Anspannung ---------------------- Joel wirkte tatsächlich gesünder als noch in der Nacht zuvor. Er saß aufrecht in seinem Bett und aß immer wieder etwas von dem Tablett, das auf dem kleinen Beistelltisch stand, dafür benutzte er aber kein Besteck, sondern zwei Finger, mit denen er etwas von dem krümeligen Kuchen nahm, um es sich in den Mund zu stecken. Er war nicht mehr blass und er lächelte sogar, als er Raymond sah. „He, Morgen, Ray.“ „Hallo“, erwiderte dieser, während er ihn mit den Augen taxierte, um festzustellen, ob er wirklich so gesund war, wie er wirkte. „Was ist los? Hast du vor, unter die Ärzte zu gehen und nutzt mich als Anschauungsobjekt?“ Raymond wollte gerade erklären, was er tat, als er bei Joels Augen innehielt. Sein Herz sank augenblicklich derart tief, dass er glaubte, es würde niemals mehr an seinen ursprünglichen Platz zurückkehren können. Joels Augen waren golden. Seine einstmals braunen Iriden zeigten nun absolut nichts mehr von dieser Farbe, so als würde sie Raymond sagen wollen, dass er sich irrte und sie schon immer so ausgesehen hatten und fast hatte er sich selbst soweit, es auch zu glauben, nur um seinen Seelenfrieden zu wahren – als Joel die Stirn runzelte. „Ah, meine Augen irritieren dich, oder? Meine Mutter ist vorhin deswegen schon in Tränen ausgebrochen, dabei finde ich das gar nicht so schlimm.“ Also wusste er nicht, was das bedeutete, Raymond beneidete ihn regelrecht um diese Ahnungslosigkeit, die ihm wie ein Segen vorkam. Aber sich vorzustellen, dass die sonst so fröhliche Theia in diesem Zimmer stand und weinte, tat ihm in der Seele weh und Joel offensichtlich auch, denn er wirkte zerknirscht, als er daran zurückdachte. „Ich fühle mich, als hätte ich etwas falsch gemacht, aber ich erinnere mich an nichts.“ „An nichts?“, hakte Raymond verwirrt nach. „Na ja, ich weiß noch, dass wir wegen dem Ausflug unterwegs waren, aber nachdem wir wieder in der Stadt angekommen waren... na ja, ab da ist alles weg.“ Er erinnerte sich also nicht daran, dass diese Wesen ihn berührt hatte, dass er geschrien hatte als würde er bei lebendigem Leib verbrannt werden und er erinnerte sich nicht an Christines seltsame Fähigkeiten und die Untätigkeit seines besten Freundes. Um das alles beneidete Raymond ihn noch mehr, auch wenn er gleichzeitig sehr interessiert an dem gewesen war, was Joel gefühlt hatte, während diese Wesen ihn berührten. Er wollte wissen, was in der Lage dazu war, einen Menschen in Agonie schreien zu lassen, ohne dass er dabei auch nur im Mindesten verletzt war. Aber für Joel war es sicherlich besser, wenn er sich nicht erinnerte. Die Ankunft von Christine unterbrach seine Gedanken abrupt. „Guten Morgen allesamt~!“ Sie sah müde aus, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, aber sie bemühte sich, fröhlich zu sein. Dass sie sich anstrengen musste, war deutlich in ihrer Stimme zu hören. „Wir haben kurz vor zwölf Uhr“, seufzte Raymond. „Es ist wirklich zu spät für diese Begrüßung.“ Christine setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, während er weiterhin stehenblieb, dabei sah sie ihn ungewohnt finster an. „Sei nicht so pingelig. Ist doch egal, was wir sagen.“ Joel tippte ihr auf die Schulter, worauf sie sich näher zu ihm beugte, damit er ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. Dabei wirkten die beiden so vertraut, dass Raymond sich abermals wie ein ungewollter, überflüssiger Störfaktor fühlte, der eigentlich gar nicht da sein dürfte. Als die beiden ihre geheime Besprechung beendet hatten, wirkte Christine nun ebenfalls ein wenig zerknirscht. „Tut mir Leid, ich sollte dich nicht so anfahren. Das ist alles... ein wenig schwer, nicht wahr? Ich meine... woah!“ Sie vollführte eine Bewegung mit den Händen, als würde etwas zerplatzen, was Joel zu der Frage bewegte, was sie eigentlich meinte. Sie setzte gerade an, ihm davon zu erzählen, stutzte dann aber. „Warte, du erinnerst dich gar nicht an den Angriff?“ „Was für einen Angriff?“, fragte er. „Niemand hat mir gesagt, warum ich hier bin... oder was mit meinen Augen los ist.“ Bislang schien ihn das nicht gestört zu haben, aber plötzlich wirkte er deutlich unzufriedener als kurz zuvor. „Mir wurde nur gesagt, dass ich morgen wieder entlassen werde und ich dann wieder in die Schule gehen kann.“ Bei den letzten Worten rollte er mit den Augen. „Und ich soll außerdem nicht mehr im Dunkeln und auch nicht allein rausgehen. Als ob ich das immer verhindern könnte...“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte in Richtung der Wand, als gäbe es dort irgendetwas, das es wert war, angestarrt zu werden und von Raymond nicht gesehen werden konnte. „Na ja“, versuchte Christine es mit einem improvisierten Erklärungsversuch, „es ist nicht großartig viel passiert. Du bist einfach bewusstlos geworden und das... war es dann auch schon. Vermutlich hast du dich nur überanstrengt.“ „Wobei denn?“ Joel war ganz offensichtlich nicht mit dieser Erklärung einverstanden. Mit einem um Hilfe heischenden Blick wandte Christine sich nun Raymond zu, obwohl sie wusste, dass er nicht unbedingt fantasievoll war, was derartige Dinge anging – aber ausnahmsweise hatte er tatsächlich eine Idee: „Du hast den ganzen Tag kaum etwas getrunken oder gegessen und die Nacht davor auch nicht viel geschlafen, weil du dauernd in diesem Buch gelesen hast. Irgendwann rächt sich das dann auch mal.“ Skeptisch zog er die Brauen zusammen, aber dann zuckte er plötzlich mit den Schultern. „Na ja, wenn du das sagst, wird das schon stimmen. Aber meine Augen-“ „Deine Aura wechselt ständig ihre Farbe“, erklärte Raymond weiter. „Möglicherweise hat das auch noch Auswirkungen auf den Rest deines Körpers und in diesem Fall wären es eben die Augen.“ Joel ließ sich diese Aussage durch den Kopf gehen und blickte dafür an die Decke, da ihm dies – wie Raymond wusste – das Denken erleichterte. Christine nutzte die Gelegenheit, um Raymond unbemerkt noch einmal anzusehen und mit dem Mund das Wort Danke zu formen, worauf er nur nickte, damit sie wusste, dass es schon in Ordnung war. Immerhin war Joel auch sein Freund und er sah es lieber, wenn dieser sich mit einer Lüge abgab, als solch eine Wahrheit zu erfahren. „Klingt logisch“, meinte er schließlich, nachdem er eine Weile über die Erklärung nachgedacht hatte. „Wahrscheinlich sagt mir keiner was, weil alle keine Ahnung haben.“ „Ja, das wird es sein“, sagte Christine überzeugt. „Also mach dir keine Sorgen.“ Er lächelte ihr zu, dann sah er wieder Raymond an. „Setz dich doch auch. Das wirkt so, als würdest du gleich wieder gehen wollen.“ Erst als Christine zustimmend nickte, ihr Blick wieder ganz der alte, entschuldigte er sich leise dafür und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. „Schon besser“, urteilte Joel. „Und jetzt bemitleiden wir mich richtig.“ Erst am Abend, als die Sonne bereits unterging, verließen Raymond und Christine das Krankenhaus wieder. Schweigend liefen sie nebeneinander her, bis sie aus dem Gebäude traten und an den Fahrradständer kamen, an dem sie ihr Gefährt festgekettet hatte. Während sie sich daneben kniete, um die Kette zu lösen, blieb Raymond wieder stehen. Er hätte weitergehen können und sein Gefühl sagte ihm, dass er das eigentlich auch sollte, immerhin war die Stimmung zwischen ihnen den ganzen Tag angespannt gewesen und er glaubte, dass sie ohnehin nicht mit ihm reden wollte. Dennoch blieb er stehen. Dass sie damit nicht gerechnet hatte, erkannte er, als sie sich wieder aufrichtete und überrascht zusammenzuckte, als sie ihn sah. „Oh... du bist noch da...“ „Wie du siehst. Willst du mir nicht lieber sagen, was los ist?“ Es war nicht üblich, dass sie wütend auf jemand war oder ihn absichtlich ignorierte und Raymond war der Meinung, dass sie das alles leichter hinter sich bringen könnten, wenn sie einfach direkt darüber sprachen. „Eigentlich nicht“, antwortete sie. „Es ist nämlich schwachsinnig, deswegen sauer zu sein.“ Er musste nicht lange überlegen, wem das galt. „Warum bist du sauer auf mich?“ Sie presste die Lippen aufeinander, überlegte einen Moment und entschied sich dann tatsächlich, mit ihm zu sprechen – oder eher zu schreien: „Du hast letzte Nacht nichts getan, um Joel zu helfen! Du bist einfach nur dagestanden, aber du wusstest, was das für Wesen sind!“ Noch nie zuvor hatte er sie wütend erlebt, weswegen es ihn doppelt traf. Es war keine böswillige Absicht gewesen, die ihn hatte erstarren lassen, sondern die reine Furcht vor diesen Mimikry und seine Machtlosigkeit. Er besaß keine Fähigkeiten wie die von Christine, was hätte er tun sollen, außer Joel von diesen Angreifern fortzuziehen? „Du kannst sie sehen!“, bestand sie, als er schwieg. „Also musst du auch irgendetwas tun können, aber du hast es nicht!“ „Ich kann nichts tun“, erwiderte er leise. „Ich weiß nicht, warum ich sie sehen kann.“ In der Nacht zuvor war sie nicht derart wütend auf ihn gewesen, während sie auf eine Nachricht von Joel gewartet hatten. Möglicherweise war sie die ganze restliche Nacht wachgelegen, um sich einen Sündenbock zu suchen – und den hatte sie in Raymond, dem einzig anderen Anwesenden, gefunden. „Aber du bist ihnen schon einmal begegnet, oder?“, fragte sie weiter, als suchte sie noch immer nach etwas, das ihr zu verstehen helfen könnte. „Als du im Krankenhaus warst, in jener Nacht, da hast du sie gesehen, nicht wahr?“ Er deutete ein Nicken an. „Ich wurde von einem GS-Mitglied gerettet – das mich kurz darauf töten wollte. Ich habe es euch nicht gesagt, um euch nicht zu besorgen.“ Sie wurde augenblicklich blass und nahm seine Hand. „Ein GS-Mitglied ist hinter dir her?“ Doch ehe er antworten konnte, sog sie bereits hörbar die Luft ein, ließ ihn schlagartig wieder los und schlug sich die Hände vor den Mund. „Oh nein! Die Mimikry sind auch hinter dir her!“ Sie senkte den Blick und murmelte dabei Dinge vor sich her, die er nicht verstehen konnte, weil sie viel zu schnell sprach. Aber als ihr eine Erkenntnis kam, sah sie ihn wieder direkt an, die Augen vor Furcht geweitet. „Oh! Dann sind sie auch hinter Joel her!“ Sie wirkte nun wieder wesentlich ruhiger und entspannter, was ihn dazu bewegte, ihr mitzuteilen, was das GS-Mitglied ihm gesagt hatte, um herauszufinden, was sie dazu sagte – und zu seinem Glück antwortete sie auch bereitwillig: „Weil du so besonders bist, hat sie dich als Lockvogel benutzt, um möglichst viele Mimikry auf einen Schlag zu töten, das ist eine verbreitete Methode bei der GS, mit speziellen Barrieren halten wir Opfer und Monster dabei in einem bestimmten Bereich.“ Raymonds Inneres gefror regelrecht, als ihm bewusst wurde, dass er unbeabsichtigt in eine von dieser Frau vorbereitete Falle gerannt war. Dass sie ihn schamlos ausgenutzt hatte, um ihren Auftrag zu erfüllen auch wenn etwas in seinem Inneren ihm sagte, dass dieser Plan immerhin vielen anderen Menschen geholfen hatte. „Normalerweise werden wir angewiesen, den Lockvogel gleichzeitig mit den Mimikry zu töten. Ich weiß nicht, warum sie da bei dir eine Ausnahme gemacht hat.“ Vielleicht war in dieser verbitterten Frau doch noch ein letzter Funke Menschlichkeit, der sie davon abgehalten, aber nicht verhindert hatte, dass sie den Auftrag noch nachträglich ausführen wollte. „Weswegen werdet ihr dazu angewiesen?“ „Mimikry versammeln sich dort, wo viele spezielle Menschen sind und sie ernähren sich auch von diesen. Je spezieller, desto schneller wachsen sie. Wenn es nun aber keine von ihnen gibt und sie nicht mehr wachsen können, dann müssen sie doch irgendwann aussterben – so die Theorie.“ Das leuchtete ihm ein, auch wenn er es als grausam empfand. Es musste doch einen anderen Weg geben, mit ihnen fertig zu werden – genau denselben Gedanken musste auch Joy hegen. „Aber mal unter uns“, fuhr Christine mit verschwörerisch gesenkter Stimme fort, „ich glaube, man kann sie gar nicht ausrotten.“ „Wie kommst du darauf?“, fragte er. Ihre Augen verdunkelten sich ein wenig und hätte er die Brille abgenommen, wäre es ihm möglich gewesen, zu erkennen, dass ihre Aura sich gleichfalls verfinsterte. Noch dazu wäre ihm aufgefallen, dass der Sand nicht zurückgekehrt war und das flüssige Gold sie noch immer in eine lebende Statue zu verwandeln drohte. „Immer, wenn ich gegen sie kämpfe, ist das so, als würde ich gegen alle negativen Gedanken und Gefühle der Menschen auf einmal kämpfen... Ich glaube, sie entstehen daraus und fressen deswegen spezielle Seelenfragmente, die als positiv bewertet werden, um vollständig zu werden.“ Sie nickte nach diesen Worten schweigend, um sie noch einmal zu bekräftigen, während Raymond sie sich durch den Kopf gehen ließ. „Das klingt plausibel“, merkte er schließlich an. „Wenn deine Theorie stimmt, könnte man sie nur mit dem Tod der gesamten Menschheit ausrotten.“ „Ah, ich wusste doch, dass du mich verstehen würdest.“ Sie lächelte zufrieden und nahm endlich ihr Fahrrad aus dem Ständer. „Aber eine Sache würde mir da noch zu denken geben, weil sie dem widerspricht.“ „Was denn?“, fragte sie. So ganz wusste er nicht, ob er sie das wirklich fragen sollte, aber seine Neugier und der Wunsch, darüber zu theoretisieren war größer als sein Anstand. „Wenn du ein Mitglied der GS warst und zu einem halben Mimikry gemacht wurdest... wie kommt es, dass du immer so fröhlich bist?“ Sie hatte erwähnt, dass Joy ihr geholfen hatte, nicht sterben zu müssen, aber auch, dass ihre Seele nicht wiederhergestellt werden konnte. Also musste sie noch immer so sein wie diese Wesen und wie diese andere Frau, sofern Christines Theorie über die negativen Eigenschaften stimmte. „Nun, das ist so...“ Ohne ihn anzusehen, stieg sie auf ihr Fahrrad und stellte ein Fuß bereits auf das Pedal, während sie sich mit dem anderen noch auf dem Boden abstützte, dann blickte sie doch zu ihm. „Vielleicht spiele ich für euch auch nur erfolgreich Theater.“ Ehe er nachhaken konnte, trat sie in die Pedale und fuhr davon, so dass er ihr nur noch hinterhersehen konnte. Er konnte und wollte nicht glauben, was er da eben gehört hatte, aber wenn es stimmte, warf das ein vollkommen neues Licht auf seine beste Freundin, die vielleicht gar keine war. Alles schien vor seinen Augen einzustürzen wie ein Kartenhaus und er konnte nichts tun, um es aufzuhalten. Was, wenn Joel auch so werden würde? Was sollte er tun, um das zu verhindern? Vielleicht sollte er mit Joy darüber sprechen, immerhin kannte sie sich damit aus – und dann könnte er auch gleich herausfinden, was die Hallows noch taten, um die Mimikry zu bekämpfen. Also machte er sich auf den Rückweg ins Restaurant, in der Hoffnung, sie dort vorzufinden. Kapitel 12: Hallows ------------------- Bei seiner Rückkehr fand er das Restaurant geöffnet vor. Sechs Personen – eine vierköpfige Gruppe, die sich lachend unterhielt und ein Paar, das sich gegenüber saß und sich nur gegenseitig verliebt anstarrte – waren als Gäste anwesend, aber er beachtete kaum einen der ihm Unbekannten und sah stattdessen lieber an den Tresen, wo er Seline entdecken konnte. Wieder einmal schaffte ihre orangefarbene Aura es, ihre Umgebung so sehr zu erhellen, dass er sie über den Rand seiner Brillengläser hinweg sehen konnte. Es sah fast so aus als wäre sie der Mittelpunkt der Sonne. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn begeistert gefragt, was er bei ihr sehen könnte – und trotz seiner poetischen Antwort war sie sehr enttäuscht gewesen. Später hatte sie ihm verraten, dass ihre Hoffnung eine grüne Aura gewesen war, aber die Erklärung dafür war sie ihm schuldig geblieben. Sie fuhr sich mit ihren schlanken Fingern durch das goldblonde Haar und wurde dabei auf ihn aufmerksam, so dass sie ihn direkt zu sich winkte. Ihren blauen Augen konnte er kaum einen Wunsch – oder einen Befehl – abschlagen, weswegen er zu ihr hinüberging und sich neben sie an den Tresen setzte. „Wie geht’s dir, Ray?“, fragte sie lächelnd. „Es ging mir schon wesentlich besser“, antwortete er. „Wie geht es dir?“ Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Was für ein höflicher junger Mann du doch bist. Mir geht es außerordentlich gut und die Einnahmen verstärken meine Laune nur noch.“ „Es läuft wohl gut“, schloss er daraus. „Hervorragend“, erwiderte sie. „Ich glaube, wir sind eines der erfolgreichsten Restaurants in ganz Lanchest.“ „Dabei sind wir ein Café“, erwiderte Ryu, während er an der Theke vorbeilief. „Ein Café, das Steaks anbietet.“ Ganz offensichtlich kam er einfach nicht über dieses Detail hinweg und musste es immer wieder erwähnen, selbst im Vorbeigehen, wie in diesem Moment, denn direkt danach war er schon wieder fort. Seline schnitt ihm dennoch eine Grimasse, ehe sie sich wieder Raymond zuwandte. „Ich habe gehört, du lebst gerade hier.“ Er hatte sich eigentlich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo er übernachten wollte. In seine Wohnung zurückkehren wollte er zwar auch noch nicht, da er immer noch fürchtete, dass jemand dort war, aber konnte er einfach hier bleiben? Zu den Chandlers wollte er auch vorerst nicht zurück, deswegen blieb ihm nur diese Möglichkeit, wenn er genauer darüber nachdachte. „Ja, sieht ganz danach aus“, antwortete er. „Höchstens ein paar Tage.“ „Du kannst bleiben, solange du willst“, erwiderte sie lächelnd und er hoffte, dass auch ihre Geschwister das so sahen – auch wenn er eigentlich wusste, dass dem so war. Sie waren eine Familie, auch wenn er nur über die ein oder andere Ecke mit ihnen verwandt war und als solche half man sich eben, wie sie ihm oft genug erklärt hatten. „Ich möchte mit Joy sprechen“, sagte er schließlich, statt etwas darauf zu erwidern. „Ist sie hier?“ Seline nickte und verwies ihn in die Küche, wohin er sich auch sofort begab, um die Fragen zu klären, die ihm gerade auf der Seele brannten. Tatsächlich saß Joy in einer Ecke, in der nicht gearbeitet wurde und rechnete dort einige Dinge durch, was durchaus dazu passte, dass sie die Buchhaltung des Cafés führte, was er zu Beginn durchaus merkwürdig gefunden hatte, aber inzwischen war er das bereits gewohnt, weswegen er sich ihr ohne größeres Nachhaken gegenübersetzte. „Hallo, Joy“, grüßte er sie, was sie nur mit einem „Mhm“ erwiderte, ohne von ihren Unterlagen aufzublicken. „Ich wollte dich eigentlich was fragen.“ Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, die ihm wohl sagen sollte, einfach anzufangen, was auch zu ihrer Frage passte: „Was hindert dich daran?“ „Du bist die Anführerin der Hallows, oder? Was tut ihr, um Mimikry zu bekämpfen?“ Nun hielt sie tatsächlich inne und hob den Blick, um ihn anzusehen. „Ich werde dich sicherlich nicht rekrutieren, damit du ebenfalls kämpfst, solange diese GS-Hexe dich verfolgt. Das wäre für dich alles andere als angenehm.“ „Darum geht es mir nicht“, erwiderte er, obwohl er tatsächlich bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, aber die Furcht vor diesen Wesen saß viel zu tief und erlaubte ihm das nicht. „Es geht mir mehr um Christine und Joel. Ich will ihnen irgendwie helfen.“ „Sehr ehrenwert von dir. Was hat Christine dir denn gesagt?“ Er wiederholte alles, was sie ihm gesagt hatte, inklusive der Aussage, dass sie ihnen allen nur etwas vorspielte. Joy lauschte ihm mit neutralem Gesichtsausdruck und ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Erst als er fertig war, seufzte sie leise. „Ich finde ja, dass du viel zu tief in diese Sache hineingezogen wirst, aber ich kenne deine Neugier und weiß, dass du nicht nachgeben wirst, also ist es vielleicht besser, wenn ich dir antworte.“ Sie seufzte noch einmal, als er zufrieden lächelte, begann dann aber zu erzählen: „Was Christine gesagt hat, stimmt, jedenfalls soweit wir es sagen können. Mimikry entstehen aus negativen Gedanken und Gefühlen, sie werden also nicht künstlich erschaffen. Aber etwas in ihnen treibt sie dazu an, vollständig zu werden, also lauern sie Menschen auf, die besondere, positive Dinge in sich tragen, um ihnen Fragmente zu entreißen und sie sich selbst einzuverleiben. Normalerweise bemerkt man davon nichts, denn sie jagen nicht im Rudel und so verspürst du höchstens einen kurzen Stich in deinem Inneren, der dich vielleicht deprimiert sein lässt, aber das war es.“ Raymond erinnerte sich an die letzte Nacht zurück. Joel war von zahlreichen Mimikry angegriffen worden, die sich allesamt an seiner Seele vergriffen hatten, also mussten es unzählige dieser Stiche gewesen sein – es wunderte ihn nicht weiter, dass er derart hatte schreien müssen. „Je mehr Fragmente sie in sich aufnehmen“, fuhr Joy fort, „desto menschlicher werden sie, bis sie irgendwann nicht mehr von diesen zu unterscheiden sind. Jedenfalls äußerlich.“ Sie machte eine kurze Pause, es schien ihm, als wollte sie gar nicht sagen, was kommen sollte, tat es dann aber dennoch: „Sobald sie menschlich sind, ermorden sie andere Menschen.“ Ein eiskalter Schauer durchlief Raymond bei diesen Worten. Auch wenn er sie bereits von Christine gehört hatte, so klangen sie bei Joy wesentlich bedrohlicher und brachten ihn auf einen anderen Gedanken: Auf den Straßen liefen, möglicherweise genau jetzt, Wesen umher, die aussahen wie Menschen, aber keine waren und ohne jegliche Moral und Anstand, andere umbrachten, vielleicht sogar vollkommen grundlos. Viel schlimmer empfand er aber die unvermeidliche Parallele, die er nach seiner Zeit im Waisenhaus ziehen musste: Diese Wesen waren genau wie die Rekruten des Peligro Waisenhauses. Ohne Moral, ohne Gewissen, die einen hatten nie ein solches besessen, den anderen war es abtrainiert worden... Aber er verstand nicht, weswegen das so war. Warum tat jemand solche Dinge? „Deswegen bekämpfen wir sie“, sagte Joy. „Mehr oder minder erfolgreich.“ „Warum tut ihr euch nicht mit der GS zusammen?“ Joy schnaubte. „Ihre Methoden sind unmenschlich! Anfangs habe ich versucht, mit dem Anführer zu sprechen, aber er bestand auf seine eigenen Mittel und wollte nichts von meinen Alternativen hören – und deswegen habe ich beschlossen, die Hallows zu gründen, auch für Opfer der GS.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich daran zurückerinnerte, es war deutlich, dass sie sehr stolz auf ihre Entscheidung war und nichts davon bereute – und wenn er an Christine oder Joel dachte, war er auch froh darüber, dass sie es getan hatte. Diese Gedanken führten ihn aber direkt zu einer weiteren Frage: „Wird Joel dann auch so werden wie diese Frau, die mich verfolgt hat?“ Allein diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, ließ ihn frösteln. Er wollte nicht sehen, wie hasserfüllt und verbittert sein bester Freund werden könnte und hoffte, dass Joy ihm etwas anderes sagen könnte, doch sie blickte ihn ernst an, wie eine Lehrerin, die ihrem Schüler gerade beizubringen versuchte, dass er das Klassenziel nicht erreicht hatte. „Es ist gut möglich“, bestätigte sie und ließ seine Hoffnung zerbrechen. „Ich kann es nicht direkt sagen, denn wir haben nicht viele Versuchsmöglichkeiten gehabt. Auch bei der GS ist diese Methode noch nicht sonderlich verbreitet und die meisten sterben innerhalb des ersten Jahres. Christine ist so ziemlich die einzige Probandin, die länger lebt. Zumindest soweit ich es weiß, aber ich habe keinen Zugriff auf die GS-Datenbank und kann auch nur das sagen, was ich auf deren Website sehe.“ Dass eine solche Organisation sogar eine Homepage besaß, überraschte ihn allerdings, das war nicht unbedingt etwas Selbstverständliches. Er fragte sich, welche Informationen wohl dort abrufbar waren, sicherlich nicht unbedingt Dinge, die ihn interessierten, wie zum Beispiel der Name dieser Frau, die ihn verfolgte und für die er langsam – wie er in diesem Moment bemerkte – eine morbide Faszination entwickelte. Um sich von ihr wieder abzulenken, stellte er eine andere Frage, die ihn interessierte: „Stimmt es auch, dass Christine sagte, sie spielt uns allen nur etwas vor?“ Noch immer konnte er sich das nicht vorstellen. Er wollte nicht glauben, dass ihre Fröhlichkeit nur eine Maske war unter der sich Bitterkeit und Wut verbarg, die sie niemand anderem zeigte. „Wie es in Christine aussieht, kann letztendlich nur sie selbst dir sagen“, antwortete Joy schulterzuckend. „Natürlich trägt sie diese düsteren Emotionen in sich – aber die haben auch andere Menschen, jeder besitzt sie. Allerdings bin ich sicher, dass ihr Optimismus und ihr positives Wesen nicht nur gespielt sind. Es ist gut möglich, dass sie sich an diese Emotionen von früher erinnert und sie umzusetzen versucht oder dass sie echt sind. Ich kann es dir nicht sicher sagen.“ Was seine Freunde anging, fühlte er sich also so schlau wie zuvor. Joel würde vielleicht bitter werden, Christine war unter Umständen nur eine wahnsinnig gute Schauspielerin... und er fühlte sich verantwortlich für die ganze Misere. Wie könnte er mit diesem Wissen nur weiter Zeit mit ihnen verbringen? Wollten sie das überhaupt? „Du solltest dir nicht so viele Gedanken darum machen“, riet Joy ihm, auch wenn dies für ihn hohl klang. „Du kannst jetzt ohnehin nichts mehr dagegen tun, die Milch wurde bereits verschüttet.“ „Aber ich muss doch irgendetwas tun können, um ihnen zu helfen, oder?“ Joy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, ihr Blick verriet nicht, was sie dachte, aber er hoffte, dass sie einigermaßen beeindruckt davon war, dass er sich so sehr für seine Freunde einsetzte. Jedenfalls wäre das besser, als sein Gedanke, dass sie vielleicht nur überlegte, wie sie ihn loswerden könnte. „Das einzige, was mir einfällt wäre, dass du ihnen beistehst“, antwortete sie schließlich. „Sei ihnen ein guter Freund, lass sie nicht im Regen stehen, sie brauchen dich beide.“ „Das ist alles?“ Es störte ihn nicht weiter, immerhin hatte er auch nichts anderes vorgehabt, selbst wenn ihr Rat ein anderer gewesen wäre. „Das kriege ich hin.“ „Sicher?“ Joy zog die Brauen zusammen. „Es kann manchmal ziemlich schwer werden, jemandem ein Freund zu sein, der keinerlei positive Emotionen mehr kennt.“ Es klang, als würde sie aus eigener Erfahrung sprechen, aber er hakte nicht nach, welche das sein könnte. Stattdessen nickte er. „Ich bin mir ganz sicher. Die beiden können jederzeit auf mich zählen, ob mit positiven Emotionen oder ohne.“ Diese Worte brachten Joy tatsächlich zum Lächeln. „Das ist schön. Ich hoffe, du vergisst diesen Vorsatz nicht – oder störst dich nicht daran, wenn du ihn plötzlich ausweiten musst.“ Wieder einmal verstand er nicht, was sie meinen könnte, aber er blieb dem Gedanken treu, lieber nicht nachzuhaken, immerhin kannte er sie nicht als jemanden, der gern über sich selbst sprach. „Wenn das Thema nun erledigt ist, bin ich dafür, dass du etwas isst und dann ins Bett gehst.“ Sie tarnte es als Vorschlag, aber ihre Stimme verriet eindeutig, dass es ein nicht zu diskutierender Befehl war. „Du musst morgen immerhin wieder in die Schule.“ Bei allem, was geschehen war, hatte er diese inzwischen schon fast wieder ausgeblendet, aber als sie ihm wieder einfiel, musste er einsehen, dass sie recht hatte. Er durfte sich von diesen Dingen nicht einschüchtern lassen, durfte nicht vergessen, dass es noch ein normales Leben gab, dem er nachgehen musste, weil es wichtig war. „Gut, das mache ich.“ Wieder lächelte sie, diesmal ein wenig herzlicher als noch zuvor. „Du bist wirklich ein guter Junge. Jeder kann froh sein, etwas mit dir zu tun zu haben.“ Ein leichter Rotschimmer lag auf seinem Gesicht, als er sich dafür bedankte und sich dann aber auch für den Tag von ihr verabschiedete, ehe er wieder in den Gästebereich ging, um dort etwas zu essen. Es waren keine weiteren Gäste eingetroffen, während er sich mit Joy unterhalten hatte, dafür fühlte er sich plötzlich neidisch, als er die Gruppe oder das Liebespaar betrachtete. Ihre Leben waren normal, so wie es aussah, sie wussten nichts von dem, was im Schatten lauerte, ihre Freunde waren keine Probanden für irgendwelche abartigen Versuche, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Womit hatte er das alles verdient? Warum war gerade er in dieser Situation? Doch ehe er wütend werden konnte, bemerkte er, wie Seline seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er blickte zu ihr hinüber und bei ihrem fröhlichen Lächeln, das sie trotz des Wissens trug, konnte er nicht mehr wütend sein. Stattdessen ging er zu ihr hinüber, um sich den restlichen Abend mit ihr zu vertreiben und vorerst alles zu vergessen, was er an diesem Tag erfahren hatte, nur um seinen Seelenfrieden zu bewahren. Kapitel 13: Das Gesicht hinter der Maske ---------------------------------------- Joel war an diesem Morgen sichtlich verärgert, als er sich gemeinsam mit Raymond auf dem Weg zur Schule befand. Mit gerunzelter Stirn, die Hände in den Hosentaschen vergraben und fast schon stampfend, lief er neben Raymond her. „Mann, kaum aus dem Krankenhaus draußen, schicken die mich schon wieder in die Schule. Das ist unmenschlich!“ Seine Stimme verriet eindeutig, dass er nicht daran interessiert war, Gegenworte zu ernten, aber Raymond konnte sich diese dennoch nicht verkneifen: „Du musst aber auch bedenken, dass du der Sohn des Direktors bist – und anscheinend gibt es keinerlei medizinische Indikation, die dafür spricht, dass du zu Hause bleiben sollst.“ Joel schob schmollend die Unterlippe vor, zuckte allerdings mit den Schultern. „Ja, was auch immer. Ich muss das ja wohl oder übel tun, aber nicht einmal Christine kommt heute. Sie hat geschrieben, dass es ihr nicht gut geht. Was für ein blöder Tag.“ Es gab zwei Dinge, die Raymond an dieser Sache störten. Zum einen wusste er, dass Christine nur nicht kommen wollte, um ihm nicht gegenüberstehen zu müssen, nach dem, was sie am Tag zuvor gesagt hatte. Und zum anderen sagte es ihm, dass er allein für Joel nicht genug war und das verletzte ihn ein wenig, wenn er ehrlich war. Aber er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, während sie die Schule betraten und sich in ihrem Klassenzimmer auf ihre Plätze setzten. Die anderen Schüler warfen ihnen Blicke zu, die zwischen Spott und Gleichgültigkeit schwankten und nicht lange anhielten. Joel kümmerte sich nicht im Mindesten darum, Raymond schaffte das nicht so ganz. Um sich abzulenken, klappte er sein Pult auf, so dass ein Monitor und eine Tastatur zum Vorschein kamen und er den Computer einschalten konnte. Eigentlich gab es dafür keinen Grund, der Unterricht hatte noch nicht begonnen und er rechnete auch nicht mit einer Nachricht, da es niemanden gab, der ihm schreiben könnte, aber es gab auch nichts Besseres zu tun. Joel war in sein Handy vertieft, vermutlich, um Christine zu schreiben und beachtete seinen besten Freund nicht weiter, so dass dieser sich spontan fragte, ob er irgendetwas Falsches gesagt hatte, um ihn zu verärgern. Doch seine Gedanken wurden sofort von etwas anderem in Beschlag genommen, als der Computer hochgefahren war. Eines der Icons auf dem Hintergrund, der einer Unterwasserlandschaft ähnelte, blinkte und verriet Raymond somit, dass er tatsächlich eine Nachricht über das schulinterne Netzwerk bekommen hatte. Um herauszufinden, von wem sie kam, klickte er das Icon an und stellte überrascht fest, dass die Nachricht als Absender den Hauptserver aufführte – und der Inhalt ihm erklärte, dass offenbar jemand in den Server eingebrochen war und die Schüler deswegen zur erhöhten Sicherheit aufgerufen wurden. So ganz konnte Raymond allerdings nicht verstehen, warum jemand in einen Schulserver einbrechen sollte. Um den Lösungsbogen einer Prüfung zu kopieren? Um die Nummer eines anderen Schülers herauszufinden? Ihm erschien das alles viel zu aufwendig, aber er verstand auch nicht unbedingt sonderlich viel von Computern, wenn er ehrlich war. Er verwarf seine Gedanken und Überlegungen wieder, als sich die Tür öffnete und Mr. Fry eintrat. Nach den Ereignissen der letzten Tage war er ein äußerst angenehmer Anblick, denn er sah mit seinen ausgebeulten Hosen, dem ungebügelten Hemd und der unsauber gebundenen Krawatte so herrlich normal aus wie eh und je. Selbst sein braunes Haar wieder wieder einmal ungekämmt, so dass es aussah als wäre er eben erst aus dem Bett gekommen – und manchmal glaubte Raymond das sogar tatsächlich. An diesem Tag lächelte Mr. Fry gut gelaunt, als er vor die Klasse trat, was sogar Joel dazu bewegte, endlich von seinem Handy abzulassen. „Guten Morgen, ah, ich sehe, dass wir fast vollzählig sind, das ist schön.“ Die anderen Schüler beendeten ihre Gespräche und sahen sich um, nur um ebenfalls festzustellen, dass lediglich Christine fehlte, was bislang anscheinend noch keiner von ihnen bemerkt hatte, sie aber auch nicht weiter kümmerte. „Ich werde das aber gleich wieder ausgleichen“, fuhr Mr. Fry fort. „Wir haben nämlich eine neue Mitschülerin, die ab heute in diese Klasse geht.“ Ein leises Raunen ging durch die Anwesenden und mündete sofort in aufgeregtes Murmeln darüber, wie die Neue wohl wäre, wobei er besonders oft die Worte hübsch oder süß wahrnehmen konnte. Er warf Joel einen fragenden Blick zu, da er als Direktorensohn eigentlich mehr wissen müsste, aber dieser konnte ebenfalls nur mit den Schultern zucken. Wobei Raymond das nach den letzten Ereignissen gar nicht so sonderbar fand, er hätte da auch keine Nerven mehr für solche Trivialitäten besessen. Um die ratlosen Mutmaßungen zu unterbinden, gab Mr. Fry jemandem, der vor der Tür wartete, zu verstehen, dass sie eintreten konnte. Augenblicklich verstummten alle Anwesenden. Wie er gesagt hatte, war es ein Mädchen, das hereinkam. Sie trug eine dunkelblaue Jeans, die sicherlich schon weitaus bessere Tage gesehen hatte, so wie ein weißes Shirt, das allerdings von der roten Schuljacke zum größten Teil verdeckt wurde. Das alles war seltsamerweise das erste, was Raymond an ihr auffiel, vermutlich weil sie so dünn war, dass er sich für einen kurzen Moment fragte, wie sie die Ausbildung, in der es auch Kraft benötigte, schaffen wollte. Erst danach achtete er auf ihr hüftlanges schwarzes Haar – und dann bemerkte er ihre goldenen Augen. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass es sich bei ihr um ein Mitglied der Garou Society handelte und eine Sekunde lang befürchtete er, sie wäre diejenige, die hinter ihm her war. Doch er spürte keinerlei Feindseligkeit von ihr ausgehen und ihre Augen wirkten durch das Lächeln auf ihrem Gesicht wesentlich friedlicher als die jener Frau. Dennoch wagte er es nicht, die Brille abzunehmen, um durch einen Blick auf ihre Aura festzustellen, ob er im Recht oder Unrecht war, schon allein weil ihre fröhliche Stimme ganz und gar nicht nach seiner Feindin klang: „Guten Morgen. Mein Name ist Alona Leigh und ich bin erst vor kurzem aus Verrington nach Lanchest gezogen, um diese Akademie zu besuchen. Ich hoffe, dass wir uns sehr gut verstehen werden.“ Bei ihrem letzten Satz hatte Raymond das unangenehme Gefühl, dass ihr Blick sich auf ihn fokussierte, aber schon im nächsten Moment sah sie deutlich in eine andere Richtung, weswegen er glaubte, sich das wegen seiner Anspannung nur eingebildet zu haben. Allerdings stellte er auch fest, dass er der einzige war, der gerade nicht lächelte, da sogar Joel ein Lächeln für die neue Mitschülerin übrig zu haben schien. Also war es vermutlich nicht weiter verwunderlich, dass sie ihn ansah, den einzigen Miesepeter der Klasse, der sich nicht zu freuen schien. Der Hauch eines schlechten Gewissens machte sich in ihm breit, hielt aber nicht lange genug an, da sie sich gleich danach setzte, damit Mr. Fry mit dem Unterricht anfangen konnte und er die neue Schülerin und sein Verhalten ihr gegenüber erst einmal ganz nach hinten in seinem Bewusstsein verschob. Er könnte sich immer noch später entschuldigen, sobald die Pause angefangen hatte. Nach dem Ende der, überraschend anstrengenden, Stunde, wie er fand, blieb ihm allerdings keine Gelegenheit, sich bei Alona zu entschuldigen. Die anderen Schüler, männlich wie weiblich, scharten sich um ihren Tisch, um sie über allerlei Dinge zu befragen, angefangen mit ihren Hobbys, über Anfragen, ob sie gut in der Schule wäre oder Nachhilfe benötigte, bis zu ihrem Interesse an Verabredungen. Raymond lauschte ihren Antworten nicht, genausowenig wie Joel, der sich ihm nun endlich zuwandte und sich sogar ein wenig zu ihm hinüberbeugte, um leiser sprechen zu können: „He, was hältst du von ihr?“ „Was soll ich von ihr halten?“, erwiderte Raymond verwundert. „Sie ist eine neue Schülerin, mehr nicht.“ Joel blickte ihn prüfend an und neigte ein wenig den Kopf. „Na ja, sie hat dich vorhin ziemlich seltsam angesehen.“ Dass er das sagte, überraschte Raymond noch weiter, immerhin dachte er, sich das nur eingebildet zu haben, aber wenn Joel ebenfalls dieser Meinung war... „Es ist gut möglich, dass sie Interesse an dir hat.“ „Sie hat mich erst einmal gesehen“, erwiderte Raymond. „Und ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick.“ „Ich meinte ja auch mehr, dass du genau ihrem Typ entsprichst.“ Joel klang deutlich frustriert, auch wenn er im ersten Moment nicht verstand, weswegen eigentlich. Erst bei genauerem Nachdenken kam ihm in den Sinn, dass sein Freund möglicherweise versuchte, ihn zu verkuppeln. Allerdings sah er darin nicht den positiven Aspekt – dass Joel wollte, dass es ihm gutging – sondern den negativen: Joel wollte ihn loswerden und das ging am besten, wenn er ihn mit irgendeinem Mädchen zusammenbrachte. Dieser Gedanke ließ seine Stimmung unnötig tief in den Keller sinken, weswegen er auch dann kein Lächeln für Alona übrig hatte, als sie mit einem solchen plötzlich vor ihm stand. Ihm war nicht einmal aufgefallen, dass sie aufgestanden war. „Du bist... Raymond Lionheart, nicht wahr?“ Er nickte schweigend, worauf sie erleichtert aufatmete. „Ah, dann kannst du mir vielleicht helfen? Ich brauche noch ein Buch aus dem Materialraum.“ Die Frage, warum keiner der anderen das tun konnte, lag ihm bereits auf der Zunge, aber da fiel ihm ein, dass er irgendwann einmal zum inoffiziellen Materialwart der Klasse erklärt worden war, da die Lehrer den anderen nicht so sehr vertrauten – was ihm auch zu einigem Spott verholfen hatte. „Natürlich“, sagte er und stand auf. Als er den Raum gemeinsam mit ihr verließ, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie Joel einen Daumen hob, was ihn allerdings nur die Stirn runzeln ließ. Was glaubte er eigentlich, was Alona wirklich von ihm wollen könnte, außer eben dieses Buch? Wie in jeder Pause war auch in dieser der Gang mit Schülern gefüllt, die sich lachend unterhielten und Neuigkeiten aus dem eben erlebten Unterricht austauschten, da sie allesamt aus unterschiedlichen Klassen stammten. Immerhin achtete niemand auf sie beide, deswegen war Raymond eigentlich lieber auf dem Gang unterwegs, als in seinem Klassenzimmer. „Schaust du eigentlich immer so finster?“, fragte Alona plötzlich. So wie sie neben ihm herlief, mit federnden Schritten, die Arme locker hinter dem Rücken verschränkt, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, konnte er sich noch weniger vorstellen, dass es sich bei ihr um die Frau von jener Nacht handelte, weswegen er sich hastig bemühte, zumindest ein wenig zu lächeln. „Ah, natürlich nicht, tut mir Leid. Ich hatte nur eine schwere Zeit in den letzten Wochen.“ „Ist schon gut“, erwiderte sie. „Nicht jeder muss immer lächeln, nur weil er mich sieht, das erwarte ich doch absolut gar nicht. Es hat mich bei dir nur gewundert.“ Vor dem Materiallager blieb er wieder stehen und hielt seinen Ausweis vor den Scanner, der neben der Tür angebracht war. Dieser las den Barcode ein und gab dann mit einem Piepsen und einem grünen Licht zu verstehen, dass das Schloss nun geöffnet war. Im Inneren herrschte ein angenehmer Geruch nach Büchern, sowohl neuen als auch alten, weswegen Raymond sich gern in diesem Raum aufhielt, auch wenn es viel zu viele Dinge gab, die einem Angst einjagen konnten. In einem der Regale, hinter Glas verborgen, befanden sich mehrere konservierte Organe unterschiedlicher Tiere, ebenso präparierte Exemplare, die lebensecht wirkten und einen mit finsteren, furchteinflößenden Blicken taxierten und mit ihren scharfen Klauen und Zähnen drohten, während man an ihnen vorbeilief. In einem anderen Regal wurden Laborutensilien wie Schutzbrillen, Reagenzgläser, Gasbrenner und auch Lötkolben aufbewahrt, auf einem Tisch standen zahlreiche Mikroskope. Das Regal mit den Büchern befand sich in einer der hintersten Ecken, weswegen sie an all dem vorbeigehen mussten, aber zu Raymonds Erleichterung gab Alona keinerlei Kommentar zu all diesen Dingen von sich. Er wusste von vielen Mädchen, die sich in diesem Raum ekelten, sofern sie ihn mal betreten durften und manchmal war leises, erschrockenes Kreischen zu vernehmen, aber sie war vollkommen ruhig, als ob sie nichts hiervon berührte. „Welches Buch benötigst du denn?“, fragte er, als sie schließlich am Regal angekommen waren. Ihr Blick taxierte die aufgereihten Bücher, dann deutete sie auf eine der höheren Reihen, was ihn wieder die Stirn runzeln ließ, da dort keine aus ihrem Jahrgang standen, schüttelte das dann aber ab und streckte sich, um nach dem Buch zu greifen. Gerade als seine Fingerspitzen es berührten, spürte er einen schlagartigen Umschwung der Atmosphäre, gepaart mit einem leichten Stechen in seinem Rücken. „Ich hoffe, du bist bereit zu sterben.“ Es war eindeutig Alonas Stimme, aber nun war sie kalt und bitter, genau wie jene aus dieser Nacht. „Du bist es also wirklich“, stellte er fest. Sie schnaubte leise. „Ich hätte gedacht, du würdest mich erkennen. Offenbar bin ich doch eine sehr gute Schauspielerin... oder du bist einfach nur unsagbar dämlich.“ „Ich würde es eher als naiv bezeichnen... du hast aber ziemlich lange gebraucht, um mich endlich zu stellen.“ Sie bohrte die Spitze der Klinge, die sie hielt, weiter in seine Kleidung, so dass er das Metall auf seiner Haut spüren konnte. „Du hast mir ein Messer in den Bauch gerammt!“, zischte sie wütend. „Selbst ich kann das nicht innerhalb von fünf Minuten heilen!“ Darauf sagte er vorsichtshalber nichts mehr, um sie nicht aus Versehen weiter zu verärgern, in der Hoffnung, dass sie sich so weit beruhigen würde, dass er sie wieder überwältigen könnte. Tatsächlich wurde sie wieder ein wenig ruhiger. „Ich muss dir aber eines lassen: Noch nie zuvor hat es jemand geschafft, so lange vor mir wegzulaufen oder sich sogar zu verstecken. Aber deine geschätzte Freundin Joy wird dich hier auch nicht retten können.“ Sie spie den Namen wie etwas besonders Ekelhaftes aus, was er nachvollziehen konnte, wenn die GS die Hallows genausowenig leiden konnte, wie es die Gegenseite bei ihnen tat. „Dieses Mal wird dich nichts mehr-“ Ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem leisen Ächzen, erklang und im nächsten Moment schwand das Stechen in seinem Rücken, als Alona zu Boden fiel und dort bewegungslos liegenblieb. Raymond blickte auf sie hinab, stellte fest, dass sie keine Gefahr mehr darstellte und sah dann zu der Person, die ihn gerettet hatte. „Joel“, stellte er mit einem erleichterten Lächeln fest. Sein bester Freund stand da, ein Mikroskop in der Hand, mit dem er Alona niedergeschlagen hatte und an dem, wie Raymond erschrocken feststellte, Blut und Haare klebten. Obwohl sie gerade zum zweiten Mal versucht hatte, ihn umzubringen, machte er sich Sorgen um sie. Nur weil er nicht sterben wollte, hieß das nicht, dass er wollte, dass sie starb. Aber nach einem kurzen Blick ohne Brille stellte er fest, dass sie noch lebte, ihre dunkelrote Aura lag noch immer auf ihr, so dass er sich Joel zuwenden konnte. „Danke.“ Sein Freund lächelte und winkte hastig ab. „Nichts zu danken. Eigentlich hatte ich ja gehofft, sehen zu können, wie du sie bezirzt, aber so war ich glücklicherweise da, um dich zu retten.“ „Du bist uns gefolgt?“ Als Joel nickte, war Raymond fassungslos. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie nicht allein waren und ihr offenbar auch nicht. Seine Aura war überraschend unsichtbar, was ihm noch nie zuvor aufgefallen war. Sicherlich war er problemlos ins Lager gekommen oder hatte es sogar geschafft, die Tür aufzufangen, ehe sie wieder ins Schloss gefallen war. Er stellte das Mikroskop ab und verschwand zwischen den Regalen, allerdings konnte Raymond nach wie vor seine Schritte hören, weswegen er sich keine weiteren Gedanken machte und sich dafür neben Alona kniete, die noch immer bewusstlos war. Wieder spürte er diese Faszination an ihr in seinem Inneren, die durch diese Nähe – und ihre Hilflosigkeit – noch einmal verstärkt wurde und von ihm verlangte, sie näher in Augenschein zu nehmen. Die von Joel zugefügte Verletzung auf ihrem Hinterkopf hatte bereits zu bluten aufgehört und schien glücklicherweise nur oberflächlich, aber unter Kopfschmerzen würde sie vermutlich noch eine Weile leiden müssen. Vorsichtig griff er nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf ein wenig, um ihr Gesicht näher zu betrachten. In den letzten Tagen hatte er sie gedanklich immer als Frau bezeichnet, aber als er sie genauer musterte, stellte er fest, dass sie nicht älter sein konnte als er. Diese Erkenntnis versetzte ihm einen weiteren Stich in seine Brust. Sie war so jung und bereits so voller Hass und Bitterkeit und doch... da gab es etwas in ihrem Inneren, das sie davon abhielt, so bösartig zu sein, wie sie vorgab. Beide Male, bei denen es ihr möglich wäre, ihn zu töten, hatte sie derart lange gezögert, dass er gerettet werden konnte. Warum sollte sie das tun, wenn da nicht etwas Gutes in ihr war? Vielleicht könnte er sie überzeugen, die GS zu verlassen, vielleicht könnte er... Während er noch überlegte, ob und wie er ihr helfen sollte, kehrte Joel mit einem langen Kabel wieder, das er auf dem Arm trug. „Wir sollten sie fesseln“, erklärte er. „Danach können wir entscheiden, was wir mit ihr tun sollen... und tatsch sie nicht an, ihr hattet noch nicht einmal ein Date.“ Sofort zuckte Raymond zurück, obwohl Joel lachte, während er sich neben Alona kniete und damit begann, sie zu fesseln. „Du kennst sie also?“, fragte er, während er damit beschäftigt war, erst ihre Füße und dann ihre Hände zusammenzubinden. Raymond seufzte leise und erzählte ihm von jener Nacht, obwohl er das eigentlich hatte vermeiden wollen. Joel lauschte mit überraschend ernstem Gesichtsausdruck, das Festziehen der Fesseln erschien ein wenig zu schmerzhaft und wütend – Raymond hoffte nur, dass diese Wut nicht ihm galt. Und wie es aussah, hatte er Glück, denn als Joel fertig war und ihm seinen Blick wieder zuwandte, lächelte er verschmitzt. „Mann, das war also dein Geheimnis, was? Das hättest du uns aber ruhig sagen können, Chris und ich haben uns Sorgen um dich gemacht.“ „Habt ihr das?“, fragte Raymond zweifelnd. So wie Christine sich ihm gegenüber am Vortag verhalten hatte, konnte er sich das nicht vorstellen. Aber vielleicht war sie auch nur deswegen so wütend gewesen. Vielleicht war da tatsächlich Sorge die Wurzel des Übels gewesen. „Natürlich haben wir das!“, ereiferte Joel sich sofort. „Nach deinen Albträumen der letzten Zeit, kamst du plötzlich ins Krankenhaus, dann wolltest du deine Brille nicht mehr tragen, obwohl dir das Kopfschmerzen bereitet und du bist gedanklich immer wieder abgedriftet... wir wussten die ganze Zeit, dass du was vor uns verbirgst. Wir haben vorhin erst noch darüber geschrieben.“ Raymond dachte wieder daran zurück, wie frustriert er darüber gewesen war, dass sein bester Freund ihn nicht weiter beachtet hatte, aber offenbar war das Gesprächsthema tatsächlich er gewesen. Diese Nachricht rührte Raymond mehr als er zu sagen vermochte, aber ehe er darauf reagieren konnte, hörte er ein spöttisches Lachen, gefolgt von Alonas Stimme: „Wie kitschig, da wird einem ja schlecht.“ Die beiden wandten sich ihr zu, während sie sich mühelos aufrecht hinsetzte, obwohl ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammengebunden worden waren. Kühl blickte sie die beiden an, selbst ihre Mimik verriet nichts mehr von der fröhlichen neuen Mitschülerin von zuvor, ihre Aura war erdrückend bösartig, genau wie in jener Nacht. Dennoch war Raymond erleichtert, dass sie so schnell wieder wach wurde, immerhin hieß dies, dass es ihr gutging und sie wohl keine bleibenden Schäden zurücktragen würde. „Du bist ziemlich schnell wieder fit“, stellte Joel furchtlos fest. „Pff, ich wurde schon von Kleinkindern geschlagen, die mehr Kraft in den Armen haben als du.“ Seine Mundwinkel zuckten, sein Körper spannte sich augenblicklich an, aber er schaffte es, nicht auf ihre Provokation einzugehen. „Jedenfalls hast du verloren, das siehst du doch auch ein, oder?“ Sie stieß ein spöttelndes Lachen aus. „Das einzige, was ich einsehe ist, dass Idioten wohl sehr gern miteinander Freundschaft schließen. Gleich und gleich gesellt sich wohl wirklich gern.“ Joel und Raymond warfen sich einen fragenden Blick zu, aber keiner von ihnen schien zu verstehen, was sie meinte oder warum sie sich so siegessicher gab. „Was meinst du damit?“, fragte Joel misstrauisch. Plötzlich ertönte ein Geräusch und im nächsten Moment hielt Alona demonstrativ ihre Hände hoch, während die losen Kabelenden zu Boden fielen. Sie genoss den schockierten Ausdruck auf den Gesichtern ihrer Gegenüber, während auch die Fesseln an ihren Füßen abfielen, dann beschloss sie, eine Erklärung hinzuzufügen: „Nur ein Idiot würde versuchen eine Hexe fesseln.“ Kapitel 14: Einherjar --------------------- Raymond hörte Glas splittern, noch bevor er den Schmerz spürte, verursacht durch die Scherben, die sich in seinen Rücken bohrten. Das Regal, in das er hineingeflogen war, hielt glücklicherweise, es hätte ihm noch gefehlt, dass es über ihm zusammenbrach, während ihm bereits die Luft wegblieb und er mit seinem Körper kämpfte, um wieder Sauerstoff zuzulassen. Joel fiel wenige Meter entfernt von ihm ebenfalls zu Boden und stieß dabei ein leises Stöhnen aus. Allerdings versuchte er tatsächlich, sich sofort wieder aufzurichten. Eine Druckwelle folgte Alonas Handbewegung und presste ihn wieder zu Boden. „Bleib gefälligst liegen“, zischte die Hexe mit wutverzerrtem Gesicht, obwohl er es gar nicht mehr zu hören schien. „Um dich kümmere ich mich später, vorerst habe ich etwas Wichtigeres zu tun.“ Mit diesen Worten wandte sie sich wieder Raymond zu. Er wollte etwas nehmen, um sich zu verteidigen, fand aber nichts in Reichweite, um dieses Ziel zu erreichen und alles andere würde sie ihn sicher nicht erreichen lassen. Der Dolch, den er letztes Mal genutzt hatte, war nun ihrer Hand, um ihm das Leben zu nehmen, statt es ihm zu retten und er glaubte nicht, dass sie noch einmal lange genug zögern würde, bis ihm jemand anderes zur Hilfe eilte. Ihre Augen sprachen jedenfalls von keiner weiteren Gnade, ihr Gesicht verriet Entschlossenheit, die alles übertrumpfte, was er jemals in dieser Richtung gesehen hatte. „Das war dann wohl unsere letzte Begegnung“, sagte sie und hob das Messer über ihren Kopf. Er handelte schneller, als er denken konnte und nutzte die Öffnung, die sie ihm bot. Entschlossen sprang er, aus dem Sitzen, in ihre Richtung und warf sie zu Boden. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus, der in einen schmerzerfüllten mündete, als sie mit dem Rücken auf dem Boden aufkam. Diesmal ließ sie ihre Waffe allerdings nicht fallen, ihr Griff verstärkte sich so sehr, dass die Sehnen an ihrem Arm sichtbar hervortraten. Kaum hatte sie wieder Luft geholt, holte sie mit dem Messer aus. Raymond wich ihrem Angriff aus, indem er sich nach hinten fallen ließ und sich dann eilig aufzurichten versuchte. Sie wollte ebenfalls aufstehen, in einem Versuch, ihn von sich zu stoßen und die Oberhand zu gewinnen, aber er bewegte sich so schnell wie möglich weg von ihr. Sie vollführte einen Ausfallschritt nach vorne, um die entstandene Distanz auszugleichen und stieß mit dem Dolch zu. Ein scharfer Schmerz durchfuhr seinen Arm, da er nicht schnell genug ausgewichen war, aber das eingesetzte Adrenalin verdrängte es rasch. Er wusste, er konnte nicht ewig ausweichen, vor allem nicht in diesem nur begrenzten Areal. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich wieder auf seine Ausbildung zu besinnen und sie zumindest kampfunfähig zu machen. Körperlich gesehen dürfte er sie immerhin überwinden können. Mit einem gezielten Tritt in die Kniekehle wollte er sie wieder zu Boden bringen, doch ehe er sie berühren konnte, erwiderte sie mit einer einfachen Handbewegung. Die daraus entstandene Druckwelle ließ ihn zurücktaumeln. Nach einem kurzen Kampf gewann er sein Gleichgewicht wieder. Die Klinge fuhr an seinem Gesicht vorbei und hinterließ dabei einen Schnitt an seiner Wange, aber der Schmerz war nur dumpf spürbar. In der Sekunde, in der ihr Arm an ihm vorbei war, ergriff er diesen, doch der Versuch, sie niederzuringen, endete direkt, als sie ihm das Knie in den Magen rammte und er sie reflexartig, mit einem Keuchen, wieder losließ. Welche Ausbildung sie auch immer genossen hatte, sie war wirklich erstklassig gewesen. Aber ihm blieb keine Gelegenheit, das angemessen zu honorieren. Mit einer weiteren Druckwelle brachte sie ihn dazu, wieder zu Boden zu stürzen und dann derart viel Druck auszuüben, dass er auch dort blieb. „Mir reicht es langsam“, sagte sie kalt. „Wir haben lange genug gespielt.“ Es war aussichtslos. Egal, wie körperlich überlegen er ihr auch war, in seiner Ausbildung war nie die Rede von einem Feind gewesen, der Magie einsetzen konnte oder eine auch nur halbwegs so professionelle Ausbildung wie ihre genossen hatte. Verzweiflung wollte das Adrenalin verdrängen und ihn ohnmächtig werden lassen, um seine letzten Sekunden nicht mehr miterleben zu müssen. Er müsste nur noch aufgeben und alles wäre vorbei, so versprach ihm eine leise Stimme in seinem Hinterkopf. All der Schmerz, der Ärger, die Frustration, das alles wäre auf einen Schlag fort. Genau wie die Albträume. Doch in dem Moment, in dem ihn dieser Gedanke durchzuckte, glaubte er, zu sehen, wie die Zeit langsamer verlief. Alonas Bewegungen verliefen in Zeitlupe, er konnte seinen eigenen Herzschlag hören und dazwischen die Stimme des Mannes aus seinen Träumen: „Um eine Hexe zu töten, brauchst du mehr als reine Willenskraft. Du musst das verborgene Potential in dir wecken. Und das zur richtigen Zeit.“ Die Worte, die er zum ersten Mal zu hören glaubte, ließen etwas tief in seinem Inneren im Gleichklang ertönen. Und im selben Moment, in dem er diese unbekannte Melodie verspürte, wurde etwas in seinem Inneren wach – und er wusste sofort, wie er es einsetzen musste. Abwehrend hielt er die Hand vor sich, eine blaue Welle reiner Energie schoss daraus hervor und riss Alona von den Füßen. Kaum landete sie auf dem Boden, lief die Zeit wieder normal weiter. Eigentlich war der Kampf nun vorbei, er müsste ihr nur noch das Messer abnehmen und dafür sorgen, dass sie nicht mehr aufstehen könnte, bis er Hilfe gerufen hatte. Aber in Raymonds Inneren blieb der Drang nach mehr, er wollte diese Frau töten, er wollte ihr Herz herausreißen und er wusste nicht einmal, warum. Er wusste, dass er das nicht sollte, aber der Drang war derart stark, dass er sein rationales Denken vernebelte und ihn regelrecht von innen heraus auffraß, ihn dazu zwang, etwas zu tun, was er eigentlich gar nicht wollte. Er beugte sich über Alona, griff sie am Kragen und zog sie mit einer Hand wieder nach oben, bis ihre Füße wenige Zentimeter über dem Boden schwebten. Sie war zwar nicht so schwer, wie er gedacht hätte, aber dennoch wunderte es ihn, dass er sie einfach so hochheben konnte. Sie gab ein gurgelndes Geräusch von sich, das möglicherweise sogar Worte enthielt, aber nicht durch seinen Schleier aus Hass dringen konnte. „Bring mir das Herz jeder Hexe, die du finden kannst.“ Um diesen Befehl zu befolgen, beugte er den anderen Arm zurück, um die Wucht auszunutzen und ihr direkt in die Brust zu greifen und das Herz herauszuholen. Doch Alona reagierte schneller, hob das Knie und rammte es ihm mit aller Kraft gegen den Brustkorb. Schlagartig wurde ihm sämtliche Luft aus den Lungen gepresst, reflexartig ließ er sie wieder los. Sie stand kaum wieder auf dem Boden, da holte sie mit dem Dolch aus. Zwar schaffte er es geistesgegenwärtig, einem fatalen Hieb auszuweichen, spürte dafür aber den Schmerz einer Stichverletzung an seiner Seite. Sofort wich er zurück und presste sich eine Hand auf die blutende Wunde. „Verdammt...!“ Die Kräfte in seinem Inneren waren verstummt und die Schmerzen betäubten all seine Bewegungen, so dass er nicht einmal weiter ausweichen konnte. Ein kurzer Blick zu Joel sagte ihm, dass dieser ihm auch nicht helfen könnte, er lag noch immer bewegungslos auf dem Boden, so wie zu Beginn des Kampfes. „Das ist dein Ende!“, prophezeite Alona. Sie holte wieder aus. Er blickte ihr direkt in die Augen, fast schon als hoffte er, dass sie noch Skrupel entwickeln würde. Das war allerdings gar nicht notwendig. Jemand trat plötzlich hinter Alona und packte ihre Arme, worauf sie einen empörten Aufschrei von sich gab. „Was soll das denn?! Loslassen!“ Sie wehrte sich derart heftig, dass Raymond erst nach wenigen Sekunden erkannte, dass es Christine war, die sie mit aller Macht festzuhalten versuchte. Obwohl sie angestrengt ächzte und Alona sich wehrte so gut sie konnte, schaffte sie es dennoch, sie nicht loszulassen. Raymond wollte ihr raten, es sein zu lassen, da er mit seiner Verletzung ohnehin nicht fliehen könnte, aber seine Zunge war wie gelähmt und da trat auch bereits Joy heran. Sie griff ohne Umschweife nach Alonas rechter Hand und legte ihr etwas an den Ringfinger an. Die Hexe stieß darauf einen markerschütternden Schrei aus – und stürzte im nächsten Moment zu Boden, wo sie reglos liegenblieb. Sämtlicher Wut und Hass waren von ihr abgefallen. Raymond blickte auf sie hinunter, wartete dennoch darauf, dass sie sofort wieder aufspringen würde, aber sie blieb liegen, das Gesicht auf dem Boden, das schwarze Haar wild durcheinander. Er fragte sich, ob sie tot war und was genau Joy mit ihr gemacht hatte, doch ehe er den Mund öffnen konnte, verschwamm seine Sicht, seine Beine gaben unter ihm nach. Er spürte den Aufprall nicht, konnte dafür, als er auf dem Boden lag, aber in Alonas Gesicht blicken. Selbst in diesem Moment war ihre Stirn noch gerunzelt und plötzlich fragte er sich, ungeachtet seines eigenen Zustandes und dass sie ihn in diesen befördert hatte, welch finstere Vergangenheit sie wohl haben mochte, um derart dreinzublicken. Ein schwarzer Schleier legte sich über seine Gedanken und verhinderte, dass er weiter darüber nachdachte. Er spürte, wie jemand ihn vorsichtig auf den Rücken drehte, seine Kleidung hob, um die Wunde zu begutachten und wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen seiner Freunde, die ihn mit Erleichterung erfüllte. Auch wenn er hier sterben sollte, so ging es ihnen beiden immerhin gut und das war für ihn immer noch eines der wichtigsten Dinge. „Was tust du hier, Christine?“, fragte Joel, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte. „Wir haben mitbekommen, dass jemand hier ist, der Ray schaden will, deswegen sind Joy und ich so schnell wie möglich hergekommen. Aber es hat eine Weile gedauert, um euch hier zu finden.“ Joel entschuldigte sich leise. Selbst mit seinem trüben Blick bemerkte Raymond, dass sein Freund an ihm vorbei zu Alona sah. „Sie zu fesseln bringt nichts, das haben wir vorhin versucht.“ „Ich tue es trotzdem“, erwiderte Christine. „Joy hat ihr einen Einherjar-Ring angelegt, der unterdrückt ihre Magie.“ „Was für 'n Ring?“ Sie stieß ein schweres Seufzen aus, das aber eher gespielt klang. „Oh ja, du kennst das nicht. Einherjar-Metall muss künstlich hergestellt werden, aber verfügt über die Eigenschaft, jede Magie zu unterdrücken und es kann nicht einfach wieder abgenommen werden. So richtig gefährlich dürfte sie euch also nicht mehr werden.“ Deswegen war sie ohnmächtig geworden, nun verstand er es. Aber sicherlich würde sie nicht sehr erbaut darüber sein, wenn sie wieder wach wurde. Er bekam ein wenig Mitleid mit ihr. „Und was ist mit Ray?“ Joel kniete sich neben ihn und blickte ihn besorgt an. Raymond wollte ihm sagen, dass alles mit ihm in Ordnung war und er schon wieder gesund werden würde, aber er schaffte es nicht einmal einen einzigen Muskel zu bewegen. Ihm war als ob er eigentlich bewusstlos sein müsste, aber sein Körper hatte es noch nicht ganz begriffen. „Er wird wieder“, hörte er Joys Stimme, die aus jener Richtung kam, in der sich auch seine Verletzung befand. „Die Wunde schließt sich bereits.“ Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er irritiert die Augenbrauen gehoben, seine Freunde waren da ein wenig direkter: Sowohl Joel als auch Christine gaben einen überraschten Ausruf von sich. „Aber sie hat ihn mit dem Messer erwischt!“, sagte er. „Es ihm richtig reingerammt. Das kann sich noch nicht schließen!“ Raymond verstand seinen Einwurf, er dachte genau dasselbe und er war froh darüber, dass sein bester Freund es in diesem Moment aussprach, als er es nicht konnte. „Sie tut es aber“, erwiderte Joy. „Auch gegen die Regeln jeder Logik. Du solltest dich über dieses Wunder lieber freuen.“ Joel gab ein protestierendes Murmeln von sich und blickte dann wieder Raymond an. „Mann... er hat echt Talent darin, uns Sorgen zu bereiten, was?“ Christine lachte. „Aber das ist doch gerade das Unterhaltsamste an ihm. So wird das Leben nie langweilig oder zu selbstverständlich.“ „Da ist was dran“, stimmte Joel zu. „Aber wir sollten die beiden jetzt trotzdem auf die Krankenstation bringen. Ich zumindest ertrage nur ein gewisses Maß an Spannung.“ Raymond erinnerte sich nicht an das, was danach geschehen war. Als er wieder zu sich kam, lag er bereits in einem Bett auf der Krankenstation. Er fühlte keine Schmerzen und tastete deswegen nach der Stelle, die verletzt worden war. Doch wie Joy gesagt hatte, war dort nichts mehr zu spüren. Die Wunde hatte sich verschlossen. Allein der Gedanke erzeugte ihm eine Gänsehaut. Warum besaß er derartige Heilungskräfte? Und warum hatte er nichts davon gewusst? So etwas kam normalerweise nicht über Nacht. Aber während er sein Gedächtnis danach durchstöberte, fiel ihm auch wieder auf, dass er nicht sonderlich viel über Hexen und Magie wusste. Vielleicht konnten derartige Kräfte wirklich ein ganzes Leben lang in einem schlafen, ohne dass man je etwas davon mitbekam. Sein Kopf schmerzte, als er darüber nachzudenken versuchte, weswegen er das lieber vorerst wieder einstellte und sich stattdessen dem Nebenbett widmete, auf dem er Alona entdecken konnte. Sie lag auf der Seite, aber es war deutlich sichtbar, dass sie mit Handschellen an das Bett gefesselt war, der Ring, den Joy an ihrem Finger angebracht hatte, glitzerte in einem ungewöhnlichen Licht, dessen Farbe er nicht vollends bestimmen konnte. Es erinnerte an Violett, das von Silber durchzogen wurde, aber dann war da noch ein blutroter Schimmer, der gegen Dunkelblau anzukämpfen schien. Es bereitete ihm Kopfschmerzen. Das ist ein Einherjar-Ring... er hat mir das Leben gerettet... Vorerst jedenfalls. Er wusste immerhin nicht, was sie davon abhalten sollte, ihn einfach mit jeder Waffe anzugreifen, die sie finden konnte. Und dann gab es noch andere Möglichkeiten, wenn man nur fantasievoll genug war, was sie, wie er hoffte, nicht war. Außer ihnen war niemand zu sehen, die Krankenstation schien verlassen, weswegen er erschrak, als Alona sich plötzlich zu bewegen begann und dann die Augen öffnete. „Owww, verdammt.“ Sie sah ihn verwirrt an, als müsste sie erst überlegen, woher sie ihn eigentlich kannte, dann stieß sie einen erschrockenen Schrei aus und wollte zurückweichen, nur um festzustellen, dass sie an den Bettpfosten gefesselt war. „Was zur Hölle...?!“ Sie griff mit der freien Hand nach den Handschellen, versuchte offenbar, Magie anzuwenden, scheiterte daran aber kläglich – und hatte den Schuldigen dafür schnell ausgemacht. „Was soll dieser verdammte Ring?!“ „Joy hat ihn dir angelegt, weil-“ Sie hörte sich nicht einmal den Rest seiner Erklärung an, sondern gab ein genervtes Stöhnen von sich. „Joy! Wenn ich diesen Namen schon höre. Was denkt die sich eigentlich?“ Zumindest kannten die beiden sich also bereits. Möglicherweise waren sie sogar einmal aneinandergeraten und Alona hatte schon damals eine Niederlage einstecken müssen. Als sie seinen Blick bemerkte, räusperte sie sich. „Na, ich schätze, sie hat dein Leben gerettet, Idiot, also wirst du sie wohl mögen.“ Dass sie derart einlenkte, überraschte ihn. Aber vielleicht war ihr eigentlicher Charakter gar nicht so weit von dem entfernt, was sie im Klassenzimmer demonstriert hatte. „Hast du jetzt wundersamerweise nicht mehr vor, mich umzubringen?“, hakte er nach. Es kam ihm seltsam vor, mit ihr so über ihr Vorhaben zu sprechen, aber gleichzeitig war es auch sein Wunsch, normal mit ihr sprechen zu können, herauszufinden, was in ihr vor sich ging und warum sie tat, was sie tat. Wenn sie eine ähnliche Geschichte wie Christine hatte, dann war sie, in seinen Augen, ein bedauernswertes Geschöpf, das einfach nur jemanden brauchte, der ihr beistand. „Idiot“, sagte sie noch einmal. „Ich weiß sehr wohl, dass ich keine Chance gegen dich habe, wenn wir einen normalen Zweikampf angehen würden. Nicht nur, weil deine Kampfausbildung wesentlich länger war als meine und du öfter gegen Menschen kämpfst, sondern auch wegen deinen seltsamen Fähigkeiten. Was auch immer sie waren...“ Er war in dieser Hinsicht mindestens genauso ratlos. Die Energie, die ihn durchströmt hatte, war selbst ihm unbekannt gewesen, aber wie es aussah, stand sie in Zusammenhang mit seinen Träumen... und die wiederum mussten ihre Wurzeln in seiner Vergangenheit im Waisenhaus haben. Zu dumm, dass er sich nicht wirklich an etwas erinnerte. „Ich werde dich also erst einmal in Ruhe lassen, versuchen diesen verdammten Ring abzubekommen – und dann komme ich wieder und werde dich umbringen. Ruh dich also lieber nicht aus.“ Um ihre Worte zu unterstreichen, blickte sie ihn herausfordernd trotzig an, aber er widersprach dennoch: „Ich denke, du willst mich nicht umbringen.“ Alona hob die Augenbrauen, als er das sagte. „Bitte? Wie kommst du denn darauf?“ „Du hattest alle nur erdenklichen Möglichkeiten und ich lebe immer noch.“ Allein sein Aufenthalt in seinem Apartment, wo sie einfach das Element der Überraschung hätte nutzen können, um ihn außer Gefecht zu setzen, sprach seiner Ansicht nach Bände. Dann war da noch der Kampf im Materiallager gewesen, in dem sie immer wieder lange genug gezögert hatte, um zu erlauben, dass jemand zu seiner Rettung kam oder er sich selbst wieder in eine bessere Position brachte. Sie hätte auch einfach durchgehend ihre Magie einsetzen können und er wäre vollkommen hilflos gewesen. „Deswegen denke ich, du meinst es nicht ernst.“ Selbst ihr einziger, richtiger Treffer, den sie sicher auch besser hätte abpassen können, hatte keine lebenswichtigen Organe getroffen. Und er wusste, dass er recht hatte, als sie ein wenig rot wurde und den Blick abwandte. „Ich wollte dir nur auch eine Chance geben, damit der Kampf nicht so langweilig wird“, redete sie sich rasch heraus. „Beim nächsten Mal mache ich es dir nicht so einfach.“ „Abgesehen davon, dass es kein nächstes Mal geben wird“, erklang Joys Stimme von der Tür. „Ich werde dich nämlich erst einmal in Gewahrsam nehmen, Alona Leigh.“ Kapitel 15: Unerwartete Ergebnisse ---------------------------------- Obwohl die Wunde verschlossen war, zeigten sich die Auswirkungen des Kampfes noch immer auf seinem schwarzem Pullover. Der durch den Dolch entstandene Riss war nicht auf den ersten Blick erkennbar, aber der Blutfleck war noch deutlich zu sehen, auch wenn man diesen im ersten Moment für eine gänzlich andere Flüssigkeit halten könnte, was die Sache für ihn aber nicht unbedingt besser machte. Dementsprechend unangenehm war es ihm, als er damit im Direktorat bei einer Besprechung saß. Joy saß auf dem Stuhl neben ihm und auf ihrer anderen Seite hatte Alona Platz genommen. Sie hielt sich den rechten Arm und hatte das Gesicht abgewandt, als würde es sie nicht weiter kümmern, was in diesem Gespräch beschlossen werden könnte oder als wolle sie vermeiden, irgendjemanden anzusehen. Rufus Chandler saß auf der anderen Seite seines Schreibtischs, auf dem fein säuberlich Papier gestapelt war, der Computer brummte leise, wie ein schlafendes Tier, das einen angenehmen Traum erlebte. Rufus wirkte dagegen so entfernt wie nie zuvor, weswegen Raymond der Gedanke kam, dass es wesentlich besser wäre, einen separaten Tisch für solche Gelegenheiten bereitzustellen. Im Moment fühlte er sich, als wäre er ins Direktorat gerufen worden, weil er etwas falsch gemacht hatte und ihn nun Ärger erwartete – und wenn er an dieses seltsame Gefühl zurückdachte, das ihn dazu hatte antreiben wollen, Alona umzubringen, war das vielleicht gar nicht so verkehrt. „Niemand hier wird Ärger bekommen“, sagte Rufus plötzlich, als wäre es ihm möglich, Raymonds Gedanken zu lesen. Von dieser Aussage verwundert, hob sogar Alona endlich den Blick, allerdings nur für einen kurzen Moment, dann sah sie sofort wieder auf den Boden hinab. Ihm schien, sie wollte etwas sagen, schluckte die Worte jedoch hinunter. Also nahm er es ihr ab und stellte die Frage, die sie sicherlich interessierte: „Sie versucht, mich umzubringen und wird dafür nicht einmal bestraft?“ Glücklicherweise war Rufus' darauf folgender Blick verständnisvoll, statt verärgert, obwohl Raymond immerhin gerade seine Entscheidung in Frage gestellt hatte. „Alona ist genau wie du ein Opfer“, erklärte er stattdessen. „Wir wollen ihr die Gelegenheit geben, sich zu rehabilitieren – und ohne ihre Magie dürfte sie ohnehin harmlos sein.“ Sie stieß ein wütendes Schnauben aus, sagte sonst aber nichts weiter. Es war wieder Raymond, der für sie das Wort ergriff: „Sie könnte mir nachts auflauern, während ich schlafe oder mich vergiften.“ Ihm schien, aus den Augenwinkeln heraus, dass sie den Kopf neigte, als würde sie seine Vorschläge tatsächlich in Erwägung ziehen. Er war nur froh, dass er ohnehin nicht daran glaubte, dass sie versuchen würde, ihn umzubringen und hoffte, dass er sich nicht allzusehr in ihr täuschte. Rufus sah hilfesuchend zu Joy, die sofort einsprang: „Wir werden Maßnahmen einleiten, damit sie nichts tun kann, was dir irgendwie schadet.“ Er fragte sich, wie das funktionieren sollte, stellte diese Frage aber nicht laut, um nicht aus Versehen doch noch Alona darauf zu bringen, wie sie ihn aus dem Weg räumen könnte. Viel eher würde er sich diese Maßnahmen gern in der Praxis ansehen. „Wie ich also sagte, niemand wird Ärger bekommen“, setzte Rufus wieder an. „Joy und ich haben besprochen, dass wir es vorziehen würden, wenn Alona die Schule weiter besucht. Ganz normal, wie es sein müsste.“ Raymond konnte sich nicht vorstellen, wie jemand wie sie eine ganz normale Schule besuchte. Sicher, Christine schaffte das, aber sie sagte auch, dass sie allen nur etwas vorspielte – und er glaubte nicht, dass Alona es schaffen würde, länger als einen Tag so zu sein wie heute vor ihren Mitschülern. „Ich will lieber nach Hause“, erwiderte sie und klang in diesem Moment wie ein verzweifeltes Kind, das soeben erkannt hatte, dass es nie wieder nach Hause zurückkehren könnte. Fast bekam er Mitleid mit ihr – aber dann dachte er daran, dass dieses Zuhause der Ort war, an dem man aus ihr diese hasserfüllte, verbitterte Person gemacht hatte und plötzlich war er froh darum, dass sie in Lanchest bleiben würde. „Du weißt selbst, dass das nicht möglich ist, Alona“, sagte Rufus mit sanfter Stimme. „Du musst dir auch keine Sorgen machen, es wird dir bestimmt gefallen. Sieh dir nur Christine an, sie hat sich sehr gut eingelebt.“ Davon wirkte sie nicht überzeugt, sie stieß ein unhörbares Seufzen aus und rollte mit den Augen, widersprach aber nicht noch einmal. Sie hatte offenbar eingesehen, wie vergeblich ihre Mühe war und Raymond war überzeugt, dass sie versuchen würde, auf eigene Faust die Stadt zu verlassen, selbst wenn sie keine Magie einsetzen konnte und obwohl sie ihren Auftrag noch nicht erfüllt hatte. „Dir bleibt keine Wahl als zu akzeptieren, was wir dir sagen“, erhob Joy ebenfalls die Stimme. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass du die Stadt nicht wirst verlassen können. Außerdem dafür, dass du Raymond nichts antust, wie ich bereits sagte und dass du keinen Kontakt zur GS aufnehmen können wirst.“ Sie erwiderte Alonas hasserfüllten Blick mit neutraler Miene, in der sich nicht herauslesen ließ, was sie dachte oder fühlte. „Ich tue das nicht, um dir zu schaden. Du solltest es wirklich als Hilfe betrachten. Keiner hier will dir etwas Böses.“ Mit anklagendem Finger deutete Alona plötzlich auf Raymond. „Doch, er! Was sollte ihn daran hindern, sich nun an mir zu rächen, nachdem ich ihn schon mehrmals töten wollte und jetzt vollkommen wehrlos ihm gegenüber bin.“ Er war zu sprachlos, um überhaupt darauf zu reagieren und hoffe, dass die Erwachsenen das für ihn tun würden – allerdings gefiel ihm nicht, wie Joy das letztendlich tat: „Ich werde auch dafür sorgen, dass weder er noch irgendjemand sonst, dir Schaden zufügen kann. Du wirst in dieser Stadt absolut sicher sein.“ Natürlich wollte er glauben, dass Joy das nur sagte, um Alona zu beruhigen und sie ihm eigentlich ohnehin nicht zutraute, dass er ihr etwas antun würde, aber eine leise Stimme in seinem Hinterkopf bestätigte ihn nur darin, dass sie ihm nicht genug vertraute. Eine Erkenntnis, die ihm nicht sonderlich gefallen wollte. Genausowenig gefiel ihm aber das, was Joy noch mit ihren Worten implizierte, wenn auch wieder in Alonas Richtung. Die Hexe befand sich von nun an in einem Käfig, mit einer, zugegeben, großzügigen Leine um den Hals, aber dennoch ein Gefängnis, das sie nicht eher würde verlassen können, als jemand es ihr gestattete. Sie begriff das ebenfalls, ihr Gesicht war derart verzogen, dass es aussah, als hätte sie gerade in eine besonders saure Zitrone gebissen, aber sie widersprach nicht mehr und fand offenbar auch keine weiteren Argumente, die sie vorbringen könnte. „Dann sind wir uns wohl einig“, schloss Rufus mit lächelndem Gesicht. „Du wirst ab sofort ganz normal diese Schule besuchen, Alona. Eine Wohnung werden wir dir auch schnellstmöglich zuweisen.“ Raymond fragte sich, wo sie wohl bislang gewohnt haben mochte, sprach es aber nicht aus, schon allein, weil es in diesem Moment absolut unpassend gewesen wäre. Alona nickte nur geschlagen. „Da das nun geklärt ist, würde ich vorschlagen, dass du mich in meinen Laden begleitest“, sagte Joy in ihre Richtung. „Ich werde dich dort mit allem ausstatten, um dich zu schützen.“ Obwohl Raymond den Drang verspürte, dieses Thema, das ihn nun beschäftigte, direkt mit Joy auszudiskutieren, wusste er, das es nichts bringen würde, weswegen er nichts sagte, als sie sich von ihm verabschiedete und dann gemeinsam mit einer wütend dreinblickenden Alona das Büro verließ. Er selbst blieb auf Bitte von Rufus im Büro zurück. Der Direktor lächelte entschuldigend, fast schon verlegen. „Du bist jetzt ziemlich untergegangen. Bestimmt fühlst du dich übergangen.“ Dem war eigentlich nicht so. Er störte sich nicht daran, dass Alona in der Stadt bleiben müsste und nicht einmal eine richtige Bestrafung bekam – das hier wäre ihr sicher Strafe genug. Was ihm aber durchaus zusetzte war, dass er nun erstmal keine Antworten auf seine Fragen bekommen würde, auch wenn er diese ohnehin erst dann stellen wollte, wenn er geduscht, umgezogen und am besten auch noch ausgeschlafen war. So wie es im Moment war, wirkte für ihn alles eher wie ein Albtraum, aus dem er noch nicht wieder erwacht war. „Es ist in Ordnung“, erwiderte er deswegen. „Ich lebe noch und vertraue Joy. Es macht mir nichts aus.“ Zurückzustecken war ihm noch dazu im Waisenhaus anerzogen worden, so wie vieles andere, an das er sich lieber nicht zurückerinnerte. Trotz seines Wissens darüber blickte Rufus ihn misstrauisch an. Raymond erwiderte den Blick gefasst und ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Schließlich ließ der Direktor sich in seinem Sessel zurücksinken. „Manchmal glaube ich, du bist viel zu nachsichtig.“ „Verzeihung?“ „Versteh mich nicht falsch, Ray. Du bist ein guter Junge – aber wir haben gerade beschlossen, dass die Person, die versucht hat, dich umzubringen, mit dir zusammen in eine Klasse gehen wird und deine einzige Reaktion darauf waren zwei Sätze mit halbherzigen Widerworten.“ Also war ihm aufgefallen, dass Raymond nicht ernsthaft diese Dinge eingeworfen hatte. Diese Erkenntnis störte ihn allerdings ein wenig. Wie viele seiner Lügen konnte Rufus noch entlarven? „Ich sagte doch bereits, ich vertraue Joy.“ Der Direktor sah ihn plötzlich ungewohnt scharf an, die Augenbrauen zusammengezogenen. Unwillkürlich versuchte Raymond, auf seinem Stuhl zurückzuweichen, was ihm natürlich nicht gelang. Es war eindeutig, dass er gerade eine Lüge entlarvt hatte. „Das glaube ich dir nicht“, sagte er auch bereits. „Wenn dem so wäre, hättest du ihr bereits nach deiner ersten Begegnung mit Alona davon erzählt. Aber du hast es niemandem gesagt, nicht einmal mir oder Theia – oder deinen Freunden.“ Den vorwurfsvollen Unterton konnte Raymond beim besten Willen nicht überhören und auch wenn er das keineswegs mit böser Absicht verschwiegen hatte, überkam ihn nun ein schlechtes Gewissen. Wenn er Joy damals nur im Krankenhaus, direkt nach dem Aufwachen davon erzählt hätte... Aber was würde das ändern? „Wir hätten Alona früher einfangen und in ein normales Leben eingliedern können.“ Wieder schien es als könne Rufus seine Gedanken lesen. „Nur wegen deiner Nachlässigkeit musste es so weit kommen.“ In diesem Augenblick war es Raymond egal, ob die Sorge in der Stimme des anderen ihm galt oder Alona und was genau er meinte, sein schlechtes Gewissen hatte bereits die Oberhand gewonnen. Er hielt den Kopf um Verzeihung heischend gesenkt und sah auf den Boden hinab. Doch Rufus schien nicht gewillt, ihm das so schnell zu entschuldigen. Stattdessen machte er eine ungeduldige Handbewegung. „Du solltest jetzt gehen und dich erst einmal ausruhen. Ich erwarte, dass du morgen wieder wie gewohnt am Unterricht teilnimmst.“ Raymond stand sofort auf, salutierte überflüssigerweise noch einmal vor dem Direktor und verließ dann eilig dessen Büro. Erst vor der Tür erlaubte er es sich selbst, einmal zu seufzen – und bereute es sofort wieder, als er eine Stimme hörte: „Ray, da bist du ja endlich!“ Ehe er sich's versah, hatte Joel ihn bereits umarmt und obwohl er ihn impulsiv wegstoßen wollte, ließ er die Berührung zu, versteifte dabei jedoch. Christine stand neben ihm und blickte Raymond prüfend an. „Wie geht es dir?“ Er überlegte, auf diese Antwort zu schweigen, aber noch ehe er sich mit sich selbst geeinigt hatte, fuhr sie bereits fort: „Wir haben gesehen, wie Joy Alona weggebracht hat.“ Dies schien das Stichwort für Joel zu sein. Er ließ Raymond wieder los und trat einen Schritt zurück, die Stirn wütend gerunzelt. „Was wurde da drin eigentlich beschlossen? Es sah nicht so aus, als wäre versucht worden, diese Hexe festzunehmen.“ Nur Raymond bemerkte den gequälten Blick, den Christine ihrem Freund zuwarf, doch er ging nicht darauf ein, sondern erklärte stattdessen in neutralem Ton, dass Alona fortan gemeinsam mit ihnen zur Schule gehen würde. Die Reaktion seiner Freunde hätte nicht unterschiedlicher ausfallen können. Während Christine fast schon erleichtert lächelte, zog Joel die Brauen zusammen. „Wie bitte?! Sie greift dich tätlich an – mehrmals – und kriegt dafür gerade einmal einen Klaps auf die Finger?! Das ist doch nicht fair!“ Raymond war zu müde, um ihm zu erklären, dass sie nicht bestraft werden sollte und all ihre Einschränkungen, die damit einhergingen, bereits Strafe genug für sie wären und außerdem glaubte er nicht, dass Joel es verstehen würde. Er war nicht dumm, aber er sah das Leben einfach anders. Als er sich an die Stirn griff, hinter der sich ein bohrender Schmerz festzusetzen versuchte, verrauchte Joels Wut wieder und ließ Besorgnis die Oberhand gewinnen. „Du solltest dich erst mal ausruhen. Du kannst bei mir schlafen und-“ „Nein“, unterbrach Raymond ihn sofort. „Ich werde lieber nach Hause gehen, das wäre wohl besser.“ Nicht nur, weil er allein sein wollte, überall anders, wo er hätte schlafen können, gab es mindestens eine Person, die sein schlechtes Gewissen an diesem Tag nur noch verstärken würde und dem wollte er sich im Moment nicht aussetzen. „Bist du sicher?“ Joel war davon ganz und gar nicht begeistert und auch Christine schien bereit, zu widersprechen und es sich nur nicht recht zu trauen. „Ganz sicher. Ich war schon lange nicht mehr in meiner Wohnung, da wird es wieder einmal Zeit, oder?“ Um die Bedenken seiner Freunde zu zerstreuen, lächelte er zuversichtlich und zumindest bei Joel erzielte er damit den gewünschten Effekt. „Gut, wenn du das sagst.“ „Aber wir begleiten dich noch bis dahin“, sagte Christine sofort und ihr Blick verriet, dass sie keinen Widerstand zulassen würde. Glücklicherweise wollte Raymond auch gar nicht widersprechen. Zumindest für eine Weile wollte er das Gefühl haben, nicht allein zu sein, dass alles noch wie früher war und sich nichts verändern würde, egal was in der letzten Zeit alles geschehen war. Mit Joel und Christine nach Hause zu gehen, erschien ihm als sicherste Verbindung zu seiner Vergangenheit und so war er trotz allem wieder einmal unbeschwert, als er gemeinsam mit ihnen die Schule verließ und sich das Gesprächsthema ausnahmsweise wieder einmal um den ganz normalen Unterrichtsalltag drehte. Fast so, als hätte die dunkle Zeit dazwischen niemals stattgefunden. Kapitel 16: Ein nächtliches Telefonat ------------------------------------- Seit langer Zeit verbrachte Raymond wieder einmal eine Nacht in seiner eigenen Wohnung und seinem eigenen Bett. Diesmal war keine fremde Anwesenheit zu spüren, weswegen er keinerlei Unsicherheit fühlte und sich wie gewohnt darin aufhalten konnte. Vollständig angezogen lag er im Dunkeln auf seinem Bett und starrte, ohne jede Brille, an die Decke. Es gab nichts zu sehen, aber das interessierte ihn auch nicht wirklich. Da auch keinerlei Aura dort oben existierte, lief er auch nicht Gefahr, Kopfschmerzen zu bekommen. Er wusste, er sollte eigentlich schlafen, da er am nächsten Morgen wieder zur Schule gehen müsste, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Dabei hatte er nicht einmal einen Gedanken, der ihn heimsuchte, sein ganzer Kopf schien ihm wie leergefegt nach den heutigen Ereignissen. Gleichzeitig verspürte er den Wunsch, mit irgendjemanden darüber zu reden, aber er wusste nicht, mit wem – es konnte jedenfalls niemand von denen sein, die es wirklich etwas anging – oder was er überhaupt sagen sollte. Nach allem, was er erfahren hatte, war in ihm der Gedanke erwacht, dass er eigentlich der letzte sein dürfte, der sich beschwerte. Christine, Joel, ja sogar Alona, hatten es allesamt schwerer als er. Er war immer noch ein Mensch – oder eben so menschlich, wie es einem Drachenmenschen möglich war – und kein halber Mimikry, der dazu verdammt war, gegen diese Wesen in die Schlacht zu ziehen und dabei eines frühen Todes zu sterben. Er zog diese Monster lediglich an und bildete damit nur eine Gefahrenquelle. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Alona mich in jener Nacht einfach getötet hätte. Alles, was danach geschehen war, wäre möglicherweise nie eingetreten, wenn er nicht mehr gewesen wäre. Aber andererseits hätte das alles im Anschluss vielleicht nur verschlimmert. Er wusste es nicht so recht, war sich nicht sicher, was er denken oder glauben sollte, was ihn noch einmal darin bestärkte, dass er gerne mit jemandem darüber gesprochen hätte – und als ob jemand seinen Gedanken aufgefangen hätte, klingelte plötzlich sein Handy, das er auf dem Nachttisch neben dem Bett abgelegt hatte. In der sicheren Erwartung, dass es Joel war, nahm er das Telefon an sich und hob ab, ohne auf das hell erleuchtete Display zu blicken, um den Namen des Anrufers zu lesen. Er meldete sich mit bedrückt klingender Stimme, doch kaum hörte er jene seines Gesprächspartners, fühlte er, wie Erleichterung ihn durchströmte: „Ray~, hier ist Eve. Tut mir leid, dass ich dich so spät anrufe, mir ist nur gerade erst eingefallen, was für ein Tag heute ist.“ Kaum hörte er ihre sorglose Stimme, sah er auch bereits ihr ewig lächelndes Gesicht vor sich. Es schien nie etwas zu geben, das Eves Stimmung drücken konnte, nichts, was sie in eine Tiefstimmung versetzen könnte. Auch ihre gelbe Aura war immer strahlend hell gewesen, ungetrübt von allem, abgesehen von dem kleinen schwarzen Fleck, den er nie beachtet hatte. Fast wäre er, aufgrund der Freude, die er im Moment verspürte, tatsächlich in Tränen ausgebrochen, aber er konnte sich noch zurückhalten und sie stattdessen fragen, welchen Tag sie meinte. Er selbst erinnerte sich nicht, was wohl aber auch daran lag, dass er aufgrund aller Ereignisse der letzten Zeit nicht einmal wusste, welches Datum sie aktuell hatten. Eve stieß ein theatralisches Seufzen aus, das so etwas wie ein Markenzeichen von ihr war, dann antwortete sie ihm aber: „Ray, heute ist wieder einmal der Jahrestag, an dem wir uns kennen lernten.“ Im Hintergrund hörte er, wie Adam etwas murmelte, das zu undeutlich für ihn war, aber vermutlich erinnerte er Eve daran, nicht zu hart mit ihm ins Gericht zu gehen. Adam war Eves Partner und so etwas wie die erste Vaterfigur für Raymond, damals im Heim. Er war dort Lehrer gewesen und hatte sich meist besonders intensiv um Raymond gekümmert, ohne dass dieser jemals den Grund verstanden hätte – aber genau genommen hatte er auch nie wirklich danach gefragt. Es war, unter all diesen Waisen, angenehm gewesen, jemanden zu haben, der sich so sehr um einen kümmerte und einem das Gefühl gab, zu einer Familie zu gehören. „D-das ist wirklich schön“, sagte er und konnte dabei nicht verhindern, dass seine Stimme ein wenig zitterte. Es war nur ein kleiner Hauch gewesen, aber er entging Eve dennoch nicht. „Stimmt etwas nicht?“ Manchmal fand er es erstaunlich, dass sie, selbst wenn sie bedrückt klang, gleichzeitig immer noch gut gelaunt zu sein schien. Das empfand er nicht einmal als mangelnden Respekt vor sich, im Gegenteil, er fand es sehr angenehm. Man merkte, dass sie besorgt war und gleichzeitig hörte man weiterhin Optimismus in jedem einzelnen ihrer Worte, der einem selbst gute Laune bescherte. „Ach, es ist in letzter Zeit viel passiert. Ein bisschen zu viel.“ „Du kannst es mir ruhig erzählen“, erwiderte sie sofort. Er war nahe daran, genau das zu tun, empfand das aber nicht als wirklich passend. Jedenfalls nicht am Telefon. Außerdem wollte er sie nicht unbedingt mit all diesen seltsamen Dingen belasten, die bei ihm geschehen waren. Aber er musste ja nicht alles erzählen, oder? „Ich bin gerade nur ziemlich deprimiert. In letzter Zeit geschehen viele blöde Dinge. Meine Freunde sind nicht das, was sie zu sein scheinen oder sie verändern sich auf eine derart rasche Art, dass ich da nicht mehr mitkomme.“ Damit hatte er doch perfekt Christine und Joel zusammengefasst, ohne ins Detail gehen zu müssen. Mit den anderen würde er das doch auch hinbekommen, hoffte er jedenfalls. „Dann ist da noch dieses Mädchen, das, na ja, ziemlich fies zu mir war, aber nach ihrer Bestrafung tut sie mir nur noch leid.“ Eve gab ein verstehendes Geräusch von sich, als Zeichen, das sie zuhörte, was ihm den Mut gab, die ganze Geschichte auch noch abzuschließen: „Jedenfalls habe ich ein schlechtes Gewissen, weil es mir schlecht geht, obwohl alle anderen viel mehr Gründe haben, dass es ihnen schlecht gehen könnte.“ Einen Moment lang schwieg Eve. Aber er fürchtete nicht, dass sie nichts oder nur etwas Schlechtes darauf zu sagen hatte. Er war davon überzeugt, dass sie nur darüber nachdachte, was sie ihm raten sollte und dafür benötigte sie etwas Zeit. Doch es war nicht sie, die ihm dann einen Ratschlag erteilte, sondern Adam, an den sie das Telefon übergeben haben musste: „Es gibt keinen Grund für ein schlechtes Gewissen, Ray.“ Seine Stimme war immer noch so beruhigend, wie er es in Erinnerung hatte. Eine angenehme Konstante, die ihm versicherte, dass Dinge sich zum Guten wenden konnten, wenn man nur wollte. „So wie ich dich einschätze, wirst du dich kaum gut oder überlegen fühlen, nur weil es dir scheinbar besser geht“, fuhr Adam fort. „Außerdem solltest doch gerade du wissen, dass jeder seine eigenen Probleme hat. Man kann diese nicht gegenseitig aufwiegen.“ Raymond fragte sich, warum gerade er das wissen sollte, sprach es aber nicht laut aus und gab dafür nur ein „Hm“ von sich, ehe er fortfuhr: „Aber was soll ich tun, um meinen Freunden und dieser einen zu helfen?“ „Ich kenne ihre Probleme nicht“, sagte Adam. „Aber am meisten kann man anderen Leuten helfen, indem man ihnen einfach ein Freund ist.“ Ob er das konnte, wusste er nicht so genau. Er hatte dafür schlichtweg nicht genug Freunde, als dass er es aus Erfahrung her einschätzen könnte. Aber er könnte sein Bestes geben, darin besaß er zumindest Übung. „Danke, Adam.“ Kaum hatte er das gesagt, übernahm Eve wieder das Telefon, um ihn wieder mit guter Laune zu überfluten; es war richtiggehend schade, dass er dabei nicht ihre Aura genießen konnte. „Ray, wir sollten uns unbedingt mal wieder treffen und dich auf andere Gedanken bringen.“ Wie sehr er sich das wünschte. Nicht nur weil er zumindest für kurze Zeit vergessen wollte, was eigentlich alles vor sich ging und wie alles vor seinen Augen zu zerbrechen drohte, sondern auch weil er Adam und Eve gerne einmal wiedersehen wollte. Er hatte sie zuletzt gesehen, als er neun Jahre alt gewesen war, beim Verlassen des Waisenhauses, weil er nach Lanchest gegangen war. Seitdem waren ihnen nur Telefonanrufe geblieben, aber bislang hatte ihm das durchaus genügt. Erst durch die Ereignisse der letzten Tage verspürte er wieder diesen Wunsch, als könnte er damit einfach die Zeit zurückdrehen. „Kannst du nicht vielleicht Lanchest für ein paar Tage verlassen und nach Norsgrove kommen?“, fragte Eve weiter. Er wusste, dass es die nächstgelegene Stadt zum Waisenhaus war, aber er war noch nie dort gewesen. Während er sich noch in der Obhut des Heims befunden hatte, war es ihm nicht erlaubt gewesen, dieses zu verlassen und seit er in Lanchest war, gab es keinen Grund, irgendwohin zu gehen. Außerdem hatte er meist auch gar nicht die Zeit dafür, immerhin musste er die Schule besuchen, lernen, trainieren und nebenbei ein soziales Leben pflegen; für viel mehr blieb da keine Zeit. Und dummerweise machte ihm die Kombinationen aus diesen Gründen auch diesmal wieder einen Strich durch die Rechnung. „Ich kann leider nicht.“ Es war schon genug, dass er wegen all diesen Dingen einige Unterrichtstage versäumt hatte, aber jetzt musste er für Joel und Christine da sein. Er glaubte gern, dass sie sich gegenseitig Stärke geben konnten, aber andererseits benötigte es vielleicht noch eine dritte Person, die mit alledem nicht wirklich etwas zu tun hatte, jemand, dessen Augen nicht golden waren. Und dann war da noch Alona, die nun wegen ihm in einem Käfig leben musste und selbst nur ein Opfer war. Er konnte sich nicht einfach von diesem Verantwortungsgefühl loseisen. Aber Eve wollte sich das Wiedersehen nicht einfach so madig machen lassen. „Dann werden wir eben nach Lanchest kommen. Also morgen geht es nicht, aber so in den nächsten Tagen wird es schon funktionieren, davon bin ich überzeugt! Außerdem bin ich noch nie in Lanchest gewesen und möchte mir das auch mal ansehen. Es soll dort sehr schön sein.“ Richtig beantworten konnte er das nicht, immerhin fehlten ihm jegliche Vergleichsmöglichkeiten. Wenn er es recht bedachte, war er sogar noch nie in einer anderen Stadt als Lanchest gewesen. Wenn man von den vier Jahren absah, in denen seine Eltern noch gelebt hatten, aber an die erinnerte er sich immerhin nicht mehr. Eve erwartete aber wohl keine Erwiderung, weswegen sie direkt weitersprach: „Ich werde dich dann vorher noch einmal anrufen, ja? Aber dann nicht so spät in der Nacht, damit ich dich nicht vom Schlafen abhalte.“ Im Hintergrund hörte er wieder, wie Adam etwas sagte, diesmal war es aber wesentlich deutlicher: „Und mich. Vergiss mich nicht.“ „Ja, damit ich euch beide nicht vom Schlafen abhalte“, sagte sie seufzend. Raymond verzichtete lieber darauf, ihr mitzuteilen, dass er bislang ohnehin nicht hatte schlafen können, sonst hätte sie sich nur weiter Sorgen gemacht und das wollte er nicht. „Ich freue mich schon darauf“, sagte er stattdessen und lächelte dabei sogar. Eve verabschiedete sich gut gelaunt von ihm – im Hintergrund murmelte Adam eine eigene, müde Verabschiedung – dann beendeten sie das Gespräch. Er starrte auf das Display, noch lange nachdem es bereits wieder erloschen war, aber seine Stimmung war inzwischen wieder um einiges besser als zuvor. Es war ihm zwar nicht möglich gewesen, über alles im Detail zu sprechen, was ihm gerade im Kopf herumging, aber immerhin hatte er den Kern seiner Gedanken ansprechen können und dafür sogar einen Ratschlag bekommen, den er durchaus umsetzen konnte. Sei ihnen ein Freund. Es war derselbe Rat, den Joy ihm bereits vor zwei Tagen gegeben hatte, auch wenn diese Zeit für ihn inzwischen endlos weit entfernt schien. Aber erst als Adam es auch noch einmal gesagt und Eve es durch ihr Schweigen abgesegnet hatte, erschien es ihm wie ein wirklich vernünftiger Ratschlag. Er müsste es also ausprobieren – bei allen drei, die einen Freund gebrauchen könnten. Mit diesem Gedanken, den er morgen direkt umsetzen wollte, versuchte er diesmal tatsächlich zu schlafen und nach wenigen Minuten, in denen er immer noch Eves fröhliche und Adams beruhigende Stimme im Ohr hatte, war er tatsächlich in einen tiefen Schlaf versunken. Kapitel 17: Der Beginn des Plans -------------------------------- Als Raymond am nächsten Morgen vor dem Haus auf Joel und Christine wartete, war er immer noch entschlossen, den Rat von Adam umzusetzen. Er würde dafür sorgen, dass alle anderen wussten, dass sie sich auf ihn verlassen könnten und dass er ihnen eine Stütze sein würde. Nicht nur seine beiden bisherigen Freunde würden das erkennen, sondern auch Alona, auch wenn das niemand außer ihm je verstehen würde. Und dieser Entschluss wurde nur noch fester, als er Joel und Christine sah, die an diesem Morgen wirklich einander an der Hand hielten, als sie sich auf sein Haus zubewegten. Vor kurzem hätte ihn das noch über alle Maßen gefreut, aber inzwischen bereitete ihm das auch einige Sorgen, wenn man den Zustand der beiden bedachte. Dennoch ließ er sich das nicht anmerken und lächelte herzlich, als sie vor ihm stehenblieben. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen“, sagten beide im Einklang. „Oh, du siehst heute so gut gelaunt aus“, meinte Christine dann noch lächelnd. „Das kann ich auch über euch sagen.“ Das Paar tauschte einen Blick miteinander und lächelte sich dabei derart strahlend an, dass Raymond fast schon bereute, diesen Plan wirklich befolgen zu wollen. Er war sich nicht ganz sicher, ob er vielleicht einfach nur eifersüchtig war, aber im Moment wollte er diesen Gedanken auch nicht weiterverfolgen. Also konzentrierte er sich weiterhin auf seine gute Laune: „Wollen wir dann los?“ Gemeinsam machte die Gruppe sich auf den Weg zur Schule, wobei sie sich, wie schon am Abend zuvor, nur über vollkommen gewöhnliche Dinge sprachen, fast schon als wäre nie etwas vorgefallen. Joel beklagte sich wieder einmal über die Hausaufgaben, Christine gab lächelnd Kommentare dazu ab und Raymond lauschte dem allen lediglich und schätzte sich dabei glücklich, diese friedliche Zeit verbringen zu dürfen. In der Schule angekommen, suchten sie das Klassenzimmer auf und unterhielten sich immer noch, aber Raymond konnte dem nur noch mit halben Ohr lauschen. Er war gerade wesentlich interessierter daran, ob Alona wirklich zur Schule kommen würde und vor allem, wie sie sich dann benehmen würde. Er glaubte immer noch nicht so recht, dass sie ihr gestriges Bild aufrechterhalten könnte, aber vielleicht war das ja keine Fassade gewesen. Möglicherweise war das ihr wirkliches Ich und die Kämpferin war nur ihre Maske. Er hoffte, dass dem wirklich so war. Während er noch in Gedanken versunken war, öffnete sich plötzlich die Tür und augenblicklich verfinsterte sich Joels Gesicht. „Ich fasse es einfach nicht.“ Es war tatsächlich Alona, die hereinkam, dabei ihr Haar zurückwarf und der gesamten Klasse ein charmantes Lächeln schenkte, das Raymond an diesem Tag sogar erwidern konnte. Offenbar hatte sie sich wirklich entschieden, diese ganze Sache so anzugehen, wie sie von ihr begonnen worden war. Sie beachtete ihn nicht weiter und widmete sich stattdessen lieber einigen anderen Schülern und Schülerinnen, die am Tag zuvor bereits Interesse an ihr gezeigt hatten. Joel nutzte diese Gelegenheit, um abfällig zu schnauben. „Muss die echt hier auftauchen?“ „Ich nehme an, Joy hat von ihr verlangt, dass sie wirklich kommt“, meinte Christine. „Sie kann sehr durchsetzungsfähig sein, wenn sie will.“ „Das kann ich bestätigen“, sagte Raymond. Er wusste durchaus, wie sie sein konnte, wenn man sich gegen ihren Willen stellte oder das zumindest versuchte. Selbst Seline, die eigentlich über einen durchaus starken, eigenen Kopf verfügte, musste einknicken, sobald sie sich gegen Joy zu stellen versuchte. Oder wie Ryu sagte, es war wohl der einzige Weg, Seline dazu zu bringen, zu arbeiten. „Muss sie sich dann aber so aufführen, als wäre alles okay?“, fragte Joel brummend, aber immerhin mit gesenkter Stimme, damit es nicht jeder mitbekam. „Sie hat immerhin versucht, dich umzubringen.“ Es würde nichts bringen, ihm zu erklären, dass sie nicht so mörderisch war, wie sie sich gab, deswegen verzichtete er darauf und zuckte nur mit den Schultern. „Solange sie es nicht noch einmal versucht, stört mich das erst mal nicht weiter.“ Joel musterte ihn einen kurzen Moment mit zusammengezogenen Brauen. „Du bist wirklich viel zu nachsichtig.“ „Ja, wahrscheinlich.“ Genau dasselbe, was Rufus bereits gesagt hatte. Es musste wirklich etwas daran sein – aber eigentlich störte er sich nicht weiter daran. Er war lieber ein wenig nachsichtig, als sich ständig nur darauf zu konzentrieren, was andere Menschen ihm Schlechtes taten. „Ich finde das nicht schlimm“, sagte Christine plötzlich. „Ray ist ein guter Kerl, also ist es doch nur verständlich, dass er auch an das Gute im Menschen glaubt. Und das ist auch okay, immerhin bist du ja schon derjenige, der total nachtragend ist.“ Sie erwiderte seinen irritierten Blick angriffslustig, worauf er einfach nur mit den Schultern zuckte und sich dann lieber einem anderem Thema widmete: „Wisst ihr, die letzten Tage waren ziemlich dämlich, wir sollten nicht weiter über dieses Thema reden und uns lieber um fröhliche Dinge kümmern.“ Dabei vollführte er mit seinen Händen einen Bogen, als wolle er einen Regenbogen zeichnen und Raymond war sogar der Überzeugung, dass seine Aura in diesem Moment wie ein solcher aussah. Das war auf jeden Fall eine Sache, die Raymond sehr an seinem Freund mochte – also nicht die Tatsache, dass seine Aura sich so oft wandelte, sondern dass er es tatsächlich schaffte, nun einfach so auf etwas ganz anderes umzuschalten. Das hatte er eindeutig mit Christine gemeinsam, deswegen waren sie wohl ein so gutes Paar. „Was für fröhliche Dinge?“, fragte Raymond, dem einfach nichts einfallen wollte. „Wir waren schon ewig nicht mehr im Kino“, fuhr Joel fort. „Und inzwischen gibt es einige neue Filme, die wir uns ansehen könnten.“ In einem ersten Impuls freute Raymond sich über diesen Vorschlag, in einem zweiten war er allerdings besorgt. „Heißt das nicht, wir müssen nachts draußen herumlaufen?“ Es gab zu dieser Jahreszeit kaum die Möglichkeit, sich eine Vorstellung anzusehen, ohne dass es nach deren Ende nicht bereits Nacht war. Christine runzelte sofort die Stirn, als sie das nun ebenfalls dachte, während Joel lediglich verwirrt den Kopf neigen konnte. „Und?“, fragte er. „Das hat euch doch bisher auch nie etwas ausgemacht.“ Wieder einmal wurde Raymond bewusst, dass Joel sich an nichts erinnerte, was in jener Neumondnacht geschehen war und er war noch immer dankbar dafür. Er hatte seinem Freund zwar erzählt, was in der Nacht geschehen war, in der er Alona begegnet war, aber das war wohl nicht so eindrucksvoll wie eine Demonstration am eigenen Leib. In seiner Hilflosigkeit sah Raymond zu Christine hinüber und sie blickte gerade rechtzeitig auch zu ihm hinüber, als ob sie genauso ratlos war wie er. Für einen kurzen Moment hielten sie ein stummes Zwiegespräch darüber, was sie nun tun sollten und kamen – für ihn überraschenderweise – tatsächlich zu einer Einigung. Also nickten sie beide und sahen Joel wieder an. „Das mit dem Kino ist eine gute Idee“, sagte Christine. „Aber danach sollten wir alle bei Ray übernachten.“ Das überraschte diesen nicht, immerhin wohnte er von allen am nächsten am Kino, also war der Weg zu seinem Apartment vermutlich am sichersten. Joel sah zwischen den beiden hin und her. „Muss ich mir jetzt Sorgen machen, weil ihr das ganz ohne Worte besprechen konntet?“ „Natürlich nicht“, sagte Christine und winkte ab. „Du weißt doch, dass ich nur Augen für dich habe.“ Es war fast schon ein wenig zu kitschig, wie Raymond fand, aber da es dem nun lächelnden Joel zu gefallen schien, störte er sich natürlich auch nicht daran. „Dann ist es also abgemacht“, schloss Christine schließlich, als wäre es eigentlich ihre Idee gewesen. „Wir gehen am Wochenende alle zusammen ins Kino.“ Die beiden Jungen nickten und sahen gemeinsam mit Christine nach vorne, als sich die Tür öffnete und Professor Liam hereintrat. Dabei erhaschte Raymond einen Blick auf Alona, die gerade erst das Gesicht abwandte, aber bis dahin deutlich in seine Richtung gesehen hatte. Er fragte sich, ob sie wohl mitbekommen hatte, worum es in diesem Gespräch gegangen war, konnte den Gedanken aber nicht lange weiterverfolgen, da der Unterrichtsbeginn schon bald seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Die Zeit bis zur Mittagspause verging für Raymond viel zu lange. Nachdem sein Rhythmus durch all die Ereignisse der letzten Zeit gestört war, erschienen ihm die Schultage plötzlich öde und leer und er konnte keinerlei Elan mehr in diese stecken. Aber er hoffte, dass sich das wieder ändern würde, immerhin war seine Ausbildung wichtig, also funktionierte der rationale Teil seines Denkens noch. Alles andere funktionierte aber nach wie vor nicht so richtig. Nichts, was in der Mensa angeboten wurde, weckte an diesem Tag seinen Appetit, so dass er ohne jedes Essen am Tisch saß, während Joel und Christine, die ihm gegenübersaßen, sich derweil über ihre Mahlzeiten hermachten. Dabei warfen sie ihm immer wieder Blicke zu, die er aber stets nur mit zuversichtlichem Lächeln beantwortete, damit sie sich keine Sorgen machten. Seine Appetitlosigkeit erklärte er ihnen mit einem üppigen Frühstück, das aber natürlich niemals stattgefunden hatte, immerhin war er noch nicht einmal dazu gekommen, wieder neue Lebensmittel zu kaufen. Normalerweise saßen sie nicht in der Mensa, da es ein viel zu großer Raum, mit viel zu vielen Tischen und noch viel mehr Menschen war. Selbst mit seiner Brille bekam er stets Kopfschmerzen, wenn er sich zu lange darin aufhielt, weil er stets irgendeine Aura aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte und all diese Stimmen immerzu durcheinander redeten. Vermutlich war auch das ein Grund, weswegen er keinen Appetit hatte. Seine eigentliche Ausrede musste aber schon bald weichen, als er plötzlich bemerkte, dass Alona neben ihm stand. „He, Raymond.“ Sie klang immer noch fröhlich und ganz und gar nicht wie die Hexe, die sie eigentlich war. Aber da sie quasi von ihren Mitschülern umgeben waren, konnte sie es sich auch nicht leisten, irgendetwas anderes zu tun. Joel funkelte sie wütend an, während Christine erwartungsvoll schaute und Raymond sich wieder an seinen Vorsatz erinnerte und sie deswegen fragte, was sie von ihm wollte. Erst als sie eine entsprechende Kopfbewegung vollführte, bemerkte er, dass sie eine kleine Box in der Hand hielt, die sie ihm sofort lächelnd reichte. „Weil du gestern so nett zu mir gewesen bist, habe ich dir ein Sandwich gemacht.“ Die anderen, die in der Nähe waren und das Gespräch mitbekamen, sahen fragend zu ihnen hinüber. Vermutlich fragten sie sich, was im Materiallager geschehen war, dass keiner der beiden im Anschluss wiedergekehrt war und sie hofften so, Antworten zu finden. Joel fuchtelte sofort mit einer freien Hand, in der er keine Gabel hielt, herum, um sie zu verscheuchen. „Ray braucht dein Sandwich nicht, er hat keinen Hunger, ja?“ „Ich nehme es.“ Für ihn war das keine Frage, aus verschiedenen Aspekten. Zum einen wollte er Alona zeigen, dass er ein Freund war und ihr vertraute und zum anderen hatte er durchaus Hunger, nur keinen Appetit und ein hausgemachtes Sandwich war da mit Sicherheit wesentlich leckerer als das Mensaessen. Er ignorierte Joels ungläubigen Blick, als er Alona die Box abnahm und sie dann öffnete. Das Sandwich sah, soweit er es beurteilen konnte, wirklich ungefährlich aus und auch vom Geruch her konnte er nichts vorstellen, das auf irgendein, wie auch immer geartetes, Gift hinwies. Während er es begutachtete, setzte Alona sich wie selbstverständlich neben ihn und wartete. Joel beugte sich über den Tisch, damit er leiser sprechen konnte: „He! Ray, iss das nicht! Es ist garantiert vergiftet! Lass dich nicht von ihr verhexen.“ „Du verstehst das nicht“, erwiderte Raymond nur und begann zu essen. Christine lächelte zuversichtlich, während Alona ihn erwartungsvoll ansah. Joel seufzte leise. „Oh, Ray. Es war schön, dich kennen gelernt zu haben. Du wirst mir wirklich fehlen.“ Raymond schnitt ihm eine Grimasse, während er weiteraß. Immerhin schmeckte das Sandwich gut und nicht im Mindesten nach irgendeiner Substanz, die nicht vorhanden sein sollte. Schließlich hatte er den letzten Bissen vertilgt. „Ich lebe noch.“ „Fühlst du dich auch gut?“, fragte Joel. „Vielleicht ist es ein langsam wirkendes Gift.“ Die Gruppe blickte Alona an. Ihr Lächeln war inzwischen erloschen, dafür sah sie Raymond mit einer Mischung aus Faszination und Interesse an. „Du hast es wirklich gegessen.“ „War etwas daran, dass ich es besser nicht gegessen hätte?“ „Nein“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Ich bin nur ziemlich erstaunt, immerhin hätte ich erwartet, dass du misstrauisch sein wirst. Aber ...“ Sie zuckte nur mit den Schultern, aber Joel hatte sofort etwas zu erwidern: „Bestimmt will sie dich nur in Sicherheit wiegen und dir dann irgendwann etwas wirklich Vergiftetes unterschieben.“ Alona bedachte ihn dafür mit einem wütenden Blick. „Du bist echt ein Idiot.“ „Beruhigt euch doch“, mischte Raymond sich rasch ein, bevor sie sich zu streiten beginnen würden. „Alona, du musst zugeben, dass seine Reaktion gar nicht so abwegig ist, wenn man bedenkt, was du gestern erst getan hast.“ Sie erwiderte darauf nichts, aber Joel tat das durchaus: „Ernsthaft, Ray? Du klingst, als würdest du einem Kind gerade sagen, dass es aufhören soll, Süßigkeiten zu naschen.“ „Immerhin würde er also einen guten Vater abgeben“, sagte Christine, in einem schwachen Versuch, die ganze Situation ein wenig zu entschärfen.“ „Was auch immer“, meinte Alona plötzlich desinteressiert und erhob sich wieder. Ohne jede Verabschiedung ging sie davon und schloss sich einer anderen Gruppe von Schülern an, wobei sie wieder genauso fröhlich wirkte wie zuvor. Raymond konnte nicht anders, als sie noch zu beobachten, nachdem sie bereits einige Sekunden dort gesessen hatte und sich lachend an den Gesprächen beteiligte. Er fragte sich, ob diese Fröhlichkeit echt war oder ob man derart viel vortäuschen konnte. Wenn Alona das nämlich konnte, war es für Christine sicher ebenfalls ein Leichtes ... und dieser Gedanke bereitete ihm Sorge. Joel stand extra auf, um über den Tisch zu reichen und ihn grob anzustoßen. „He! Ray, warum beobachtest du sie so intensiv? Willst du deinen Feind kennen lernen?“ „So was Ähnliches“, sagte er und wandte sich wieder seinen Freunden zu. „Aber darüber sollten wir nicht reden. Konzentrieren wir uns lieber wieder auf unseren bevorstehenden Kinobesuch.“ Im Moment war es wichtig, Joels Gedanken davon abzulenken, dass es einen Feind gab und zu seinem Glück funktionierte es, denn das Gesicht seines Freundes hellte sich sofort auf. Joel zog sein Handy heraus, um nachzusehen, welche Filme gerade liefen und so kehrte das Gespräch wieder zu dem wesentlich friedlicherem Thema zurück. Auch wenn Raymonds Gedanken immer wieder zu Christine und Alona wanderten, so versuchte er doch, sich an der Unterhaltung zu beteiligen und hoffte, dass sein Plan, der bislang vielversprechend begann, auch wirklich aufgehen würde. Kapitel 18: Verantwortung? -------------------------- In den nächsten Tagen änderte sich nichts an Raymonds Plänen. Noch immer war er damit beschäftigt, ein guter Freund für Joel und Christine zu sein und gleichzeitig Alona zu beweisen, dass er ihr vertraute und sogar für sie ein Freund sein konnte. Ihr Verhalten ihm gegenüber änderte sich nicht, sie zeigte sich nach wie vor zuckersüß, wenn sie vor den anderen mit ihm sprach, näherten sich ihm aber niemals mehr als sie musste, außerhalb der Schule beachtete sie ihn nicht einmal, aber trotzdem hoffte er, mit seinem Plan Erfolg zu haben. Eve und Adam meldeten sich vorerst nicht mehr, was dafür sprach, dass sie gerade keine Gelegenheit fanden, ihn zu besuchen. In der Zwischenzeit schaffte er es aber zumindest, den verpassten Schulstoff wieder aufzuholen und auch seinen Freunden dabei zu helfen, alles zu verstehen. Zumindest soweit er den Stoff in Christines Kopf unterbringen konnte, was noch nie ein sonderlich leichtes Unterfangen gewesen war. Aber drei Tage nach den Ereignissen in der Mensa, schafften die drei es dann endlich, den Lernstoff zumindest kurz zu vergessen, um das Kino aufzusuchen, wie sie es besprochen hatten. Raymond war dabei vollkommen gleichgültig, welchen Film sie ansahen, er achtete nicht einmal besonders darauf, was auf der Leinwand vor sich ging. Joel, der neben ihm saß, beobachtete interessiert, was geschah und zeigte ein gesundes Interesse daran, dass der Hauptcharakter sich vor dem übernatürlichen Serienmörder – jedenfalls glaubte Raymond, dass sie einen Horrorfilm ansahen – verstecken und dann fliehen konnte. Christine, die auf der anderen Seite von Joel saß, wirkte aber genau wie Raymond reichlich abwesend und nicht sonderlich an dem Geschehen im Film interessiert. Allerdings schätzte er, dass sie einfach nur daran dachte, dass sie später im Dunkeln heimgehen müssten. In der letzten Zeit erschien sie ihm jedoch immer öfter mit ihren Gedanken in einer gänzlich anderen Atmosphäre, Joel schien das entweder nicht aufzufallen oder er kannte zumindest den Grund dafür und kümmerte sich deswegen nicht weiter darum. Da die beiden sich auch trafen, wenn Raymond nicht dabei war, fand er das gar nicht so abwegig und es weckte nur wieder Eifersucht in seinem Inneren. Ihm blieb lediglich zu hoffen, dass Christines gedankliche Abwesenheit nichts Schlimmes zu bedeuten hatte, aber da sie so fröhlich wie immer blieb ... Das Geräusch einer Kettensäge riss Raymond brutal wieder in die Wirklichkeit zurück. Als er bemerkte, dass der Antagonist sich diese Waffe geschnappt hatte, um eine Freundin der Protagonistin an der Flucht zu hindern, teilte er Joel flüsternd mit, dass er sich noch etwas zu trinken holen würde und verließ dann hastig den Kinosaal. Als er die Tür hinter sich zufallen ließ, dämpfte das den panischen Schrei der Freundin, dessen Ursprung sowohl pure Angst, als auch wirklicher Schmerz sein könnte – jedenfalls soweit das bei Schauspielern reichte. Der rote Teppich, der im ganzen Kino ausgelegt war, dämpfte seine Schritte, während er sich durch die Halle auf die Theke zubewegte. Dabei besaß er keinen Blick für die zahlreichen Plakate oder sogar Monitore mit kleinen Vorschaufilmen für die kommenden Filme, die gerade für niemanden liefen, da wegen der aktuell laufenden Vorstellungen außer ihm und dem Personal niemand zu sehen war. Er blickte auch lieber auf seine Uhr, statt auf die Monitore, nachdem er sich ein neues Getränk bestellt hatte. Inzwischen war es fast zehn, es war mit Sicherheit schon dunkel und möglicherweise waren unzählige Mimikry unterwegs, die nur auf sie warteten. Warum denke ich erst jetzt an sie? In den letzten Nächten war es ihm vollkommen egal gewesen, was sie draußen anstellten, er war der Überzeugung erlegen, dass Joy sich darum kümmern würde. Also musste er sich eigentlich keine Sorgen machen, oder? Da sie nun von der Situation wusste, würde sie sich bestimmt darum kümmern und sie müssten auf dem Heimweg keine Angst haben, dass etwas geschehen würde. Jemand tippte ihm auf die Schulter, worauf er überrascht zusammenzuckte und herumfuhr. Aber als er sah, dass es Alona war, die da vor ihm stand und mit der er überhaupt nicht gerechnet hatte, blieb ihm schlagartig erst einmal die Luft weg, so dass er nicht einmal etwas sagen konnte. Glücklicherweise ging es ihr da gerade wesentlich besser, auch wenn sie ihn finster ansah. „Was tust du eigentlich? Versuchst du, dich umbringen zu lassen?“ Obwohl sie es wohl nicht durchscheinen lassen wollte, hörte er deutlich, dass sie besorgt war, was es ihm ermöglichte, seine Sprache wiederzufinden: „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ „Du weißt es genau“, zischte sie, verstummte aber sofort, als der Mann hinter der Theke Raymond einen Becher reichte. Statt ihm zu sagen, dass er mit ihr kommen sollte oder ihm es irgendwie kenntlich zu machen, nahm sie einfach sein Handgelenk und führte ihn ohne jede Diskussion mit sich zu den hohen Tischen, die im gesamten Saal standen. Dort ließ sie ihn wieder los und setzte sich auf einen Barhocker, worauf er verstand, dass er sich ebenfalls setzen sollte. Kaum hatte er das getan, seufzte sie schwer. „Also, wo waren wir?“ „Du sagtest, ich weiß genau, dass ich dabei bin, mich umbringen zu lassen. Aber eigentlich habe ich keinen Schimmer, was du damit meinst.“ „Du weißt, dass nachts Mimikry unterwegs sind“, erklärte sie ernst. „Und du bist ihnen zweimal nur ganz knapp entkommen. Und deine Freunde ...“ „Sie sind genau wie du“, erwiderte er. „Also können sie auch gegen die Mimikry kämpfen.“ Auch wenn er nicht hoffte, dass das nötig werden würde – deswegen wollten sie ja bei ihm übernachten. Alonas Blick wurde urplötzlich hart. „Das können sie nicht. Chandler weiß nicht einmal, dass er über Kräfte verfügt oder welche das sein könnten und Christine ...“ Ihre Gesichtszüge wurden wieder ein wenig weicher. Er fragte sich, warum der Gedanke an Christine sie derart beeinflusste und sie sogar versöhnlich zu stimmen schien. Doch schon im nächsten Augenblick sah sie wieder so finster aus wie zuvor: „Christine ist fast schon am Limit ihrer Kräfte angelangt. Du bringst sie um, ist dir das bewusst?“ Er erinnerte sich dunkel daran, dass Christine erwähnt hatte, dass die Probanden bei der GS früh starben, aber ob das etwas damit zu tun hatte? „Ich bringe sie nicht um“, erwiderte er schließlich. „Und ich bin ziemlich sicher, dass Christine selbst weiß, wie es um sie steht und was sie tun kann. Außerdem hat Joy sicher Vorkehrungen getroffen, damit uns nichts geschehen kann.“ Alona tippte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch, erwiderte sonst aber nichts mehr. Stattdessen schien sie konzentriert nachzudenken. Das erlaubte Raymond selbst auf den Gedanken zu kommen, dass es das erste Mal war, dass er sich wirklich mit ihr unterhielt, wenn man von dem kurzen Gespräch auf der Krankenstation absah. Aber da interessierte ihn etwas: „Verfolgst du mich etwa?“ Ihr Blick fixierte sich wieder auf ihn. „Mach dich nicht lächerlich. So wichtig bist du mir auch nicht. Einige der anderen wollten ins Kino und haben mich eingeladen.“ „Das macht dir Spaß, oder?“ Sie öffnete bereits den Mund, um etwas zu sagen, wusste aber wohl offenbar nicht, was, denn sie gab keinen Ton von sich. Stattdessen sah sie ihn einfach nur an und Raymond kam unvermittelt in den Sinn, dass es aussah, als wäre sie spontan kaputt gegangen. Oder als wären die Batterien leer. Doch gerade, als er versuchen wollte, aufzustehen und einfach wegzugehen, in der Erwartung, dass sie sich ohnehin nicht mehr rühren würde, zuckte sie zurück. Ein leichter Rotschimmer legte sich auf ihr Gesicht. „G-gar nicht! Ich mache das hier nur, weil Joy mich dazu zwingt. Dieser ganze Kram geht mir furchtbar auf die Nerven.“ Allerdings konnte er dabei in ihrer Stimme etwas hören, das ihm bei ihr bislang vollkommen unbekannt gewesen war. Zum ersten Mal klang sie wirklich wie ein ganz normales Mädchen, auch wenn sie das mit ihren Worten eindeutig ablehnte. Aber er wollte ihr das alles nicht derart aufzwingen, da sie dann sicher noch trotziger geworden wäre. „Wenn du das sagst.“ Sie nickte und wurde dann wieder ernst. „Zurück zum Thema! Egal, was Joy dir sagt oder was sie tut, die Mimikry sind immer noch da draußen unterwegs und sie werden dich mit Sicherheit weiterhin jagen. Sie werden Christine und Chandler nichts mehr tun, weil sie nun selbst so etwas wie Mimikry sind – aber du bist immer noch etwas Besonderes.“ Es kam ihm vor, als würde ihre Stimme sich zu einem ominösen Flüstern senken, aber er war überzeugt, sich das nur einzubilden. Es war einfach unmöglich, dass sie auf derartige Effekte zurückgriff, das sah seinem Bild von ihr einfach nicht ähnlich. „Und wenn du in Gefahr bist, wird zumindest Christine für dich in die Bresche springen und dann ...“ Sie verstummte wieder und senkte den Blick auf den Tisch. „Bedeutet das, ich soll mich von den beiden fernhalten?“ „Zumindest nachts. Tagsüber sind Mimikry nicht unterwegs, aber nachts schon. Du musst dich auch nicht von ihnen fernhalten, du solltest einfach nur darauf achten, dich nachts nicht draußen herumzutreiben. Wenn etwas geschehen wird, dann nur, weil sie dich verfolgen.“ Raymond wollte erschrocken einatmen, aber es kam ihm so vor, als wäre der Sauerstoff plötzlich eiskaltes Wasser, das seine Lunge aufspießte, weswegen er zu vermeiden versuchte, zu tief Luft zu holen. Das führte allerdings nur dazu, dass er für einen kurzen Moment fürchtete, zu ersticken und vom Stuhl zu fallen. Es IST alles meine Schuld! Wenn ich nicht wäre, dann ... dann ... Ein warmes Gefühl zog ihn augenblicklich wieder von diesem Gedanken fort, bevor er sich darin verlieren konnte. Sein Blick fiel sofort auf Alonas Hand, die auf seiner lag. Als er in ihr Gesicht sah, entdeckte er erstmals einen Hauch von ehrlich gemeinter Menschlichkeit. „Das führt zu nichts“, sagte sie, als wäre ihr vollkommen bewusst, woran er gedacht hatte. „Die Situation ist nun wie sie ist, also solltest du dich auf sie einstellen, statt dich in Selbstvorwürfen zu ertränken.“ „Aber was soll ich jetzt tun?“ Er war noch nie zuvor in einer solch gravierenden Situation gewesen, an der er sogar unwillentlich Schuld gewesen war und er hoffte, dass sie eine Antwort für ihn hatte, an der er sich orientieren könnte. „Das kommt auf dich an“, erwiderte sie allerdings. „Es gibt einige Sachen, die du tun kannst, aber ich glaube kaum, dass Joy dir auch nur eine davon erlauben würde.“ Sie runzelte die Stirn und blickte zur Seite, offenbar war sie immer noch wütend, auch wenn er nach wie vor nicht wusste, warum genau. Im Moment fragte er sich aber eher, was das für Dinge waren, über die Joy wohl nicht sonderlich erbaut wäre. „Aber du solltest nicht heute darüber nachdenken. Sieh zu, dass du nachher gut nach Hause kommst und dann werden wir morgen noch einmal darüber reden. Bis dahin kannst du überlegen, ob du wirklich die Verantwortung übernehmen willst.“ Ehe er noch etwas sagen konnte, spürte er, wie Alona die Hand wieder von ihm löste. Sie rutschte vom Barhocker herunter und lief davon, so hastig, dass sie schon nach kurzer Zeit aus seinem Blickfeld verschwunden war und lediglich ihr Geruch blieb. Dieser reichte aber nicht aus, um ihn davon zu überzeugen, dass er diese Begegnung nicht einfach nur geträumt hatte. Das lag vermutlich aber auch daran, dass er das Gehörte einfach nicht glauben wollte. Christine war an ihrem Limit. Er war verantwortlich für alles. Nun war nur noch die Frage, ob er weiter hoffen sollte, dass Joy etwas tat oder ob er selbst endlich eingreifen wollte. Aber einzugreifen würde vermutlich bedeuten, seine Furcht überwinden und gegen die Mimikry kämpfen zu müssen. Er wusste nicht, ob er das schaffen könnte oder ob er das überhaupt wollte. Aber so wie Alona klang, müsste er sich bis zum nächsten Tag entschieden haben. Wie sollte er das tun, wenn er nicht einmal wüsste, woraus seine Alternativen bestanden und ohne mit Joy darüber zu sprechen und damit vermutlich ihren Zorn auf sich zu ziehen? Aber konnte er zulassen, dass noch mehr Menschen diesen Wesen zum Opfer fielen, nur weil er ebenfalls in dieser Stadt war? Selbst Joy müsste das doch einsehen, oder? Er seufzte leise, als seine Gedanken wieder einmal begannen, sich gegenseitig zu jagen und ihm dabei nicht erlaubten, lange genug bei einem innezuhalten, um wirklich alles durchzudenken. Die einzige Überlegung, die dauerhaft im Vordergrund blieb, war jene, dass er der Überzeugung war, dass das Leben aller besser verlaufen würde, wenn er damals mit seinen Eltern gestorben wäre. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus diesen finsteren Gedanken und holte ihn wieder ins Kino zurück. Als er nachsah, stellte er fest, dass er eine neue Nachricht bekommen hatte – und zwar von Christine: Komm bitte schnell wieder Ich kann nicht hinsehen, aber Joel hat Mitteilungsbedarf, was das ganze Kunstblut angeht. Ich brauche dich hier! ;b Unbewusst begann er zu lächeln und vergaß all die finsteren Gedanken wieder. Auch wenn es nur aus Scherz gesagt worden war, stand fest, dass er gebraucht wurde – und das war ein ungeheuer angenehmes Gefühl, wie er feststellte. Kapitel 19: Zahle den Preis --------------------------- Joel liebte Horrorfilme, was für Raymond schon immer unverständlich gewesen war. All dieses Kunstblut, die viel zu überzeugenden Schreie und die überraschend flachen Handlungen, die keinerlei Denkleistung erforderten, weckten keinerlei Interesse in ihm und verhinderten, dass er die Faszination seines Freundes nachempfinden konnte. Selbst wenn dieser beständig darüber redete und dabei alle besonders interessante Szenen noch einmal wiederholte, wie auch in diesem Moment, als sie eigentlich auf dem Weg zu Raymonds Wohnung waren. Dem anhaltenden Plappern schenkte dieser keine Beachtung, seine Gedanken waren schon wieder bei dem, was Alona zuvor gesagt hatte. Es war seine Schuld, dass es soweit hatte kommen können, wie es im Moment war und wenn er nicht auf die anderen acht gab, würde er sie ins Verderben reißen. Sobald diese Nacht vorbei war, müsste er wirklich zusehen, dass er keinen von ihnen mehr in Gefahr brachte. Bis dahin hoffte er, dass nichts geschehen würde. Auf Joels Vorschlag hin hatten sie beschlossen, eine Abkürzung durch die kleinen Seitenstraßen zu nehmen. Raymond war erst abgeneigt gewesen, da er glaubte, die Gefahr sei dort wesentlich höher, aber dann war ihm eingefallen, dass es auch eine erhebliche Zeitersparnis bedeutete und dieser Vorteil war wesentlich höher und jedes Risiko wert. In den Gassen, durch die sie liefen, sammelten sich die leeren Verpackungen und Becher aus dem Kino, die von anderen Besuchern hier achtlos weggeworfen wurden, das gelbe Licht vereinzelt aufgestellter Straßenlaternen war das einzige, was ihren Weg erhellte. Zumindest waren sie im Moment vollkommen allein, Raymond konnte keinerlei fremde Anwesenheit spüren und auch nichts sehen, obwohl seine Brille in seiner Brusttasche war und er damit ungehinderte Sicht auf alles besaß, was sich jenseits der normalen Vorstellungskraft befand. Christine ging es wohl genauso, immerhin lächelte sie sanft, während sie Joel lauschte. Dieser sprach gerade über die letzte Szene des Films, in dem die Protagonistin sich in einem Schlachthaus verstecken musste, dabei strahlte er regelrecht, als er auf die beste Stelle zu sprechen kam und sie aus den Seiten- wieder auf die – wie üblich um diese Zeit – verlassene Hauptstraße traten. Es waren nur noch wenige Meter bis zu dem Platz vor den Wohnheimen der Schüler. Inzwischen fühlte Raymond sich fast schon in Sicherheit, weswegen er sich wieder mehr auf Joel konzentrierte. „... und dann dieses Blutbecken, in dem sie sich verstecken musste!“, rief dieser gerade aus. „Das sah echt ekelhaft aus, aber absolut nicht echt. Ich meine, richtiges Blut sieht ja ganz anders aus. Ich frage mich, was sie da immer verwenden dafür und ...“ Seine Stimme erstarb langsam und verstummte schließlich ganz, gleichzeitig blieb er stehen. Raymond und Christine folgten seinem Beispiel, warfen sich beide einen besorgten Blick zu und sahen dann zu Joel. Inzwischen stand er vollkommen still da, die Augen geradeaus gerichtet, aber als Raymond seinem Blick folgte, konnte er nichts entdecken. Dennoch spürte er, wie die feinen Härchen an seinem Nacken sich aufstellten, eine Gänsehaut entstand auf seinen Armen, obwohl es keinerlei Grund dafür gab. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie Christine den Kopf neigte, also war sie ebenso verwirrt – und im selben Moment stieß Joel einen erfreuten Laut aus. „Aber natürlich!“, verkündete er. „Sie nehmen bestimmt Himbeersirup!“ Raymond sah wieder zu Christine, die seinen Blick genauso verwirrt erwiderte, dann aber erleichtert zu lächeln begann, was er ihr nachmachte. Joel beachtete das offenbar nicht, denn er fuhr einfach fort: „Ich meine, das Zeug in der Wanne sah schon stark nach Himbeersirup aus und es ist vermutlich wesentlich günstiger als sonst irgendein Zeug.“ Während er nun weiterlief und dabei wieder zu plappern begann, atmete Raymond auf. In ihm war bereits die Befürchtung erwacht, dass sie Mimikry begegnet waren oder dass Joel sich schlagartig an irgendetwas aus jener Neumondnacht erinnert hatte. Christine schenkte ihm ein zuversichtliches Lächeln, als sie beide ebenfalls weiterliefen, damit Joels Abstand zu ihnen nicht zu groß wurde. Es waren nur noch wenige hundert Meter, bis sie bei ihm zu Hause in Sicherheit waren, weswegen Raymond sich endlich erlaubte, erleichtert aufzuatmen – und es gleich darauf zu bereuen. Joel stellte gerade seinen Fuß auf die erste der drei Stufen, die zum Vorplatz führten, als sich die Atmosphäre schlagartig änderte. Pure Kälte erfüllte plötzlich die Luft und auch seine Lungen und ließ Raymond sich darüber wundern, warum die Straßenlaternen, die nun eine nach der anderen langsam erloschen, nicht beschlugen. Mit einer ihm unbekannten Ruhe schaffte er es, sich umzudrehen, in jene Richtung aus der die Bedrohung zu kommen schien. Es war nun das dritte Mal, dass er diese furchterregende Atmosphäre spürte, aber gleichzeitig empfand er das inzwischen auch als Vorteil. Er fühlte sich nicht mehr, als würde er wie festgewurzelt am selben Ort verharren müssen, nicht mehr, als würde allein die Anwesenheit der Feinde, die langsam in sein Sichtfeld robbten, ihn zur Flucht zwingen. Auch Christine wirkte dieses Mal um einiges entspannter, wie ihm auffiel, als sie gut hörbar neben ihm durchatmete. Joel dagegen wich ein wenig zurück, stolperte dabei über die nächste Stufe und versuchte erst gar nicht, sich aufzurichten. „W-was ist das denn?“ In seiner Stimme klang weniger Furcht, vielmehr war Verwirrung und Unverständnis zu hören, die Raymond wiederum gut verstehen konnte. Er wusste inzwischen, worum es sich handelte und dass es jemanden gab, der etwas dagegen tun konnte, so dass er sich keine Sorgen mehr machte. Im Moment war er sogar der Überzeugung, dass Joy jeden Moment wie ein rettender Engel herbeigeeilt kommen würde. Dabei ignorierte er, dass dies auch bei den letzten Malen nicht geschehen war. Christine beachtete den gefallenen Joel nicht und wandte sich stattdessen Raymond zu. „Ich kümmere mich schon darum. Pass du solange auf ihn auf, ja?“ Er nickte ihr zu, um ihr zu zeigen, dass er diesmal durchaus in der Lage war, sich zu bewegen und auch zu handeln gewillt war, was sie mit einem Lächeln quittierte. In diesem Moment waren sie beide wirklich wieder auf einer Wellenlänge, genau wie sie es früher immer gewesen waren. Für einen kurzen Atemzug wünschte er sich sogar, dass sie ewig miteinander kämpfen könnten, wenn es immer so ablaufen würde. Also ging er zu Joel hinüber und kniete sich neben ihn. Sein Freund sah ihn irritiert an und Raymond glaubte zu ahnen, was ihn derart verwunderte, deswegen konnte er direkt darauf reagieren: „Wir haben diese Wesen schon einmal gesehen. Es ist in Ordnung, Christine wird sich darum kümmern.“ Alonas Warnung, dass das Mädchen sich an seinem Limit befand, war gerade vollkommen vergessen, immerhin war er auch überzeugt, dass dieser Kampf nur wenige Sekunden andauern würde, genau wie der letzte. Und wie signifikant konnten einige Sekunden schon sein? Joel schien ihm das zu glauben, denn er schien plötzlich nicht mehr derart zu zittern und beobachtete, was vor ihm geschah. Christines Aura legte sich wieder auf ihr ab, die vier Ketten brachen aus ihrem Rücken und begannen sofort damit, die Mimikry anzugreifen. Wie auch schon beim letzten Mal kam es zu keinerlei Gegenwehr dieser Wesen, während sie von den Klingen zerfetzt wurden, sie sich auflösten und dann glitzernde Splitter aus ihnen entstanden. Joel betrachtete dieses Spektakel fasziniert, gleichzeitig sah es aber aufgrund seines verzogenen Gesichts so aus, als würde er einen Schmerz erleiden, der sich Raymond nicht erschloss. Als ob er Sicherheit fühlen wollte, drückte Joel den Arm seines Freundes, was dieser aber nicht erwiderte, da er viel zu vertieft in die Betrachtung von Christine war. Aus den wenigen Sekunden wurden rasch Minuten, in denen sie kämpfte. Es kamen immer mehr Mimikry nach, aber sie kümmerte sich nicht darum. Ihr gesamter Kampfstil entsprach dem eines Tanzes, wie sie zwischen den Gegnern umherwirbelte, dabei elegante Bewegungen vollführte, denen die Ketten folgten, um die Mimikry allesamt zu vernichten. Sie bewegte sich dabei in einem glitzernden Vorhang, entstanden aus allen Splittern, die sich aufgelöst hatten und wirkte dabei nicht nur überirdisch schön, sondern sogar wie der rettende Engel, den er sich in dieser Situation ersehnte. Doch die Sicherheit, die Raymond anfangs empfand, schwand rasch, als er bemerkte, wie sich ihre Aura weiterhin änderte. Das Gold verdichtete sich weiter auf ihrer Haut, nur noch ihr Gesicht und bestimmte Stellen ihrer Arme waren frei davon und je fester es zu werden schien, desto unkoordinierter wurden die Bewegungen ihrer Ketten. Der Tanz geriet aus dem Rhythmus, sie runzelte ihre Stirn, verstand offenbar selbst nicht, was eigentlich vor sich ging. „Das dauert zu lange“, murmelte Joel. Er empfand es ebenfalls so, weswegen er sich vorsichtig von seinem Freund löste und aufstand. Zwar wusste er nicht, was er überhaupt tun sollte, da er nicht einmal eine Waffe mit sich führte, aber irgendetwas musste er tun, er könnte nicht einfach nur daneben stehen und zusehen. Also machte er einen Schritt nach vorne – und im selben Moment vervollständigte sich die goldene Schicht auf ihrem Körper endgültig. Die Ketten fielen mit einem klirrenden Geräusch untätig zu Boden. Christine sah fassungslos darauf hinunter. Die Mimikry bewegten sich nicht, sondern schienen auf etwas zu warten und starrten sie mit großen Augen überraschend geduldig an. Raymond empfand es als durchaus möglich, dass sie genauso verwirrt über die Ereignisse waren, wenn sie denn in irgendeiner Form zum Denken fähig waren, und er wusste auch genau, dass er nicht mehr zögern dürfte – und tat es doch, um die nächsten Geschehnisse zu betrachten. Schlagartig wurde die Schicht auf ihrer Haut schwarz. Die Ketten schossen nach oben, direkt an Christine vorbei. Doch statt einen Mimikry anzugreifen, hielten sie sich für einen Moment senkrecht in der Luft, als wären sie unschlüssig, wie sie nun vorgehen sollten. Sowohl Raymond, als auch Joel und Christine blickten nach oben, sogar die Mimikry schienen das zu tun, während es wirkte, als würde die Zeit stillstehen. In diesem Augenblick war gerade alles möglich, sie befanden sich gleichzeitig in Sicherheit und waren doch in Gefahr; der Kampf war vorbei und hielt immer noch an; und jede unbedachte Bewegung könnte dazu führen, dass die grausame Idylle zersplitterte. Mit einem Schlag lief die Zeit weiter, die Ketten schossen wieder nach unten – und durchbohrten Christines Oberkörper; die schwarze Kruste zersplitterte und fiel gänzlich von ihr ab. Sie stieß einen leisen Schrei aus, der mehr von Überraschung, als Schmerz herrührte und sank gleichzeitig in die Knie. Die Ketten verhinderten, dass ihr Körper gänzlich stürzte, was sie zu einem morbiden Kunstwerk machte, das von den Mimikry ausgiebig bewundert wurde. In diesem Moment schien es Raymond, als wären sämtliche Töne verschwunden, er glaubte, Joel hinter sich schreien zu hören, war sich aber nicht sicher und schaffte es auch nicht, den Blick von Christine abzuwenden. Noch hegte er die Hoffnung, dass sie gleich wieder aufstehen und ihm lachend sagen würde, dass es nur ein Witz gewesen war, aber sie schwand immer mehr, als er das Blut bemerkte, das aus ihren Wunden herausfloss und die Kette herabtropfte. „Christine“, hauchte er und ging einen Schritt näher. Vor seinem inneren Auge sah er sie wieder in jener Nacht, hörte, wie sie mit ihm sprach: „Wir sind alle sterblich, ich weiß, aber das gilt hoffentlich nicht für mich.“ „Chris ...“ Noch ein Schritt. Wieder hörte er deutlich ihre Stimme: „Dass das nicht passiert, hab ich ja dich. Ich sage doch, wir können uns auf dich verlassen.“ Ein kaum verständlicher Laut kam aus seiner Kehle, als er noch einen Schritt tat. Dann erklang noch einmal ihre Stimme: „Ich bin sicher, dass du sofort angerannt kommen würdest, wenn Joel oder ich Hilfe brauchen oder in Gefahr sind. Da mache ich mir absolut keine Gedanken.“ Die Mimikry wandten sich nun ihm zu und kaum spürte er die Blicke der Wesen auf sich, kam es ihm vor, als würde ein viel zu heißes Feuer in seinem Inneren zu brennen beginnen. Es kam so plötzlich, dass er für eine Sekunde sogar glaubte, wirklich in Flammen zu stehen und doch kümmerte es ihn in diesem Zeitraum gar nicht, es wäre sogar von ihm begrüßt worden. Sein ganzes Inneres brannte, schrie nach Erlösung, nach Rache! Er legte den Kopf in den Nacken und stieß ein Heulen aus, in dem sämtliches Leid der Welt widerzuhallen schien. Dann stürzte er auf die Mimikry zu, mit Bewegungen, die nicht seine eigenen zu sein schienen, schlug immer wieder auf die Wesen ein, jeder Schlag begleitet von einem wütenden Heulen und einem blauen Glühen, dessen Existenz ihm unerklärlich war, das ihm im Moment aber auch vollkommen gleichgültig war. Die Mimikry zerplatzten unter seinen Schlägen, lösten sich auf, vollkommen chancenlos im Angesicht seiner Wut. Das Brennen in seinem Inneren ließ nicht nach, egal wie viele seiner Feinde er zerstörte, wie sehr seine Umgebung zu leuchten begann, als die Scherben verschwanden. Der Zorn ließ nicht nach, denn er konzentrierte sich nicht auf die Feinde, seine Wut galt ihm selbst, der Tatsache, dass er zugelassen hatte, dass Christine, die ihm vertraut hatte, getötet werden konnte. Der Hass in seinem Inneren richtete sich gegen ihn, wollte, dass er sich selbst vernichtete, bis nichts mehr davon übrig war und deswegen schlug er auf die Feinde ein, selbst dann noch, als eigentlich keiner von ihnen mehr stand. Die letzten schleimigen Reste eines Wesens, das einmal ein Mimikry gewesen sein mochte, waren das einzige, was noch seinen Schlägen ausgesetzt war, die blinde Wut in seinem Inneren und der Wunsch nach einer Strafe verhinderten, dass er einfach aufhörte. Er wollte weitermachen, so lange, bis seine Hände auf Asphalt trafen, bis sie zu blutigen Stümpfen wurden, bis er endlich die Schmerzen erlitt, die er seiner Ansicht nach auch verdient hatte. Doch in dem Moment, in dem seine Fingerknöchel das erste Mal auf die Straße trafen, seine Haut aufgeschürft wurde, spürte er, wie jemand die Arme um seine Hüfte schlang. Ein beruhigendes, angenehmes Gefühl versuchte plötzlich, ihn zu erfüllen, die Wut mit sich zu nehmen und stattdessen die Trauer einzulassen, so dass er endlich innehalten konnte. Er sah an sich herab, um festzustellen, wer ihn da gerade gestört hatte. Joel klammerte sich zitternd an seinen Körper, er schluchzte leise, so dass seine Worte kaum zu hören waren: „Bitte, Ray ... hör auf. Das ist ... das ist so grausam ... es ist schon in Ordnung ...“ Er wiederholte diese Worte immer wieder, während er weinte, seine Schultern zuckten und dieser Anblick löschte das Feuer in Raymonds Inneren gänzlich, worauf aber auch die Trauer verschwand. Es brachte keine neuen Gefühle hervor, aber es nahm die Wut gänzlich von ihm und hinterließ eine verbrannte Fläche, die sich nach nichts mehr sehnen konnte. Er sank neben seinem besten Freund – eine Bezeichnung, die er im Moment als höchst lächerlich empfand – in die Knie und ließ zu, dass dieser ihn richtig in die Arme schloss um ihn selbst in eine, als tröstend gemeinte, Umarmung zu ziehen. Diese Bewegung geschah automatisch, weil er wusste, dass die Gepflogenheiten das von ihm verlangte, er wusste nicht einmal etwas zu sagen, sein Innerstes war leer und ausgebrannt, aber für Joel genügte es im Moment offenbar. Er drückte sein Gesicht einfach nur in Raymonds Schulter und weinte hemmungslos weiter. Sein eigener Blick ging derweil ins Leere, irgendwo auf die Straße hinaus, wo er die Sirene eines sich nähernden Krankenwagen hören konnte – und wieder vernahm er Christines Stimme: „Ray? Alles in Ordnung? Du wirkst so weggetreten.“ Das war das letzte, was er hörte, ehe er plötzlich in tiefe Dunkelheit fiel, die ihm Frieden und Erlösung versprach und aus der er am liebsten nie wieder erwachen würde. Kapitel 20: Reue ist Verstand, der zu spät kommt. ------------------------------------------------- „Du träumst schon wieder schlecht, was?“ Joel warf ihm über den Rand seines Buches einen verstohlenen Blick zu. Raymond, der gerade eigentlich versuchte, dem Unterricht zu folgen, blickte nur kurz zu ihm hinüber. Er fragte sich, wieso sein Freund glaubte, dass die Lehrer es nicht bemerken würden, dass er sich unterhielt, sofern er sich dafür hinter seinem Buch versteckte – aber bislang war er tatsächlich erfolgreich gewesen. Auch wenn das vielleicht eher daran lag, weil er der Sohn des Direktors war und keiner der Lehrer ihn schlecht dastehen lassen wollte, aus Furcht um den eigenen Job. So richtig nachvollziehen konnte Raymond das zwar nicht, da er selbst immerhin am besten wusste, wie Rufus seinen Sohn behandelte, aber er dachte auch nicht weiter darüber nach, ehe ihn das möglicherweise am Ende doch nur wieder im Kreis herumführte. Er selbst genoss diesen Luxus nicht, auch wenn er der beste Freund des Direktorensohns war und sich auch sehr gut mit dessen Vater verstand, deswegen gab er nur ein knappes Nicken zur Antwort. Darauf gab Joel ein verstehendes Geräusch von sich und blickte dann zur Decke hinauf, was für Raymond ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass er gerade über irgendetwas angestrengt nachdachte. Wenn es einmal soweit war, interessierte ihn der Unterricht nicht mehr, weswegen Raymond sich lieber wieder auf diesen konzentrierte, damit zumindest er mitbekam, worum es überhaupt ging und er es Joel später erklären könnte. Worüber sein Freund nachdachte, würde er ohnehin noch früh genug erfahren, es schien immerhin mit ihm im Zusammenhang zu stehen und da behielt er es nie lange für sich. Dabei fiel sein Blick immer wieder auf das Mädchen mit dem schulterlangen weißen Haar, das einige Tische weiter vor ihm saß. Sie war seit einer Woche in ihrer Klasse, aber bis auf ihren Namen wusste er nichts über sie. Eigentlich war das nicht weiter ungewöhnlich, immerhin galten er und Joel aus verschiedenen Gründen als sonderbare Außenseiter und da empfand er es als logisch, dass alle anderen Schüler sie vor den beiden warnte und ihnen abriet, sich mit ihnen zu beschäftigen. Aber etwas an ihr sorgte dafür, dass er stets wieder zu ihr sehen musste, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Vielleicht war es ihr weißes Haar, vielleicht die goldenen Augen, die ihn an etwas erinnern wollten oder vielleicht auch die Art, wie sie sich bewegte, wenngleich er das nicht so ganz bestätigen wollte, immerhin bewegte sie sich nicht sehr viel anders als andere Menschen und sogar wesentlich weniger graziös als manch anderes Mädchen in ihrem Alter, ja sogar ihre Schrift entsprach nicht im Mindesten der Eleganz, die er weiblichen Personen gern zuschrieb. Joels Phase des Nachdenkens hielt nicht lange an, da gab er erneut ein Geräusch von sich. „Vielleicht bist du ja verliebt?“ Keiner der anderen Schüler beachtete Joel, obwohl er damit ein Thema ansprach, das gern zu Gerüchten führte und deswegen normalerweise von allen gierig aufgesogen wurde. Raymond war ganz froh, dass keiner so wirklich darauf achtete, denn er fühlte sich selbst immer ein wenig seltsam, wenn er über dieses Thema auch nur nachdachte. Vielleicht war er einfach noch nicht in dem Alter dafür, aber Liebe war für ihn mit seinen zwölf Jahren ein Konzept, das er nicht wirklich verstand – und eigentlich auch nicht verstehen wollte. Deswegen konnte er entschieden den Kopf schütteln und hoffen, dass Joel die Botschaft verstand. „Was soll Liebe denn mit meinen Albträumen zu tun haben?“, fragte Raymond schließlich nach der Unterrichtsstunde, als sich der Klassenraum ein wenig geleert hatte. Die meisten ihrer Mitschüler begaben sich in der fünf-minütigen Pause zu ihren Freunden in anderen Klassen oder zu einem der aufgestellten Snack-Automaten, Raymond bevorzugte die Ruhe des fast leeren Zimmers, genau wie Joel, der ihn immer noch musterte und dabei mit den Schultern zuckte. „Ich weiß es nicht genau. Die Psyche ist eine seeehr komplizierte Sache.“ Das sagte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, als wäre er tatsächlich seit Jahren daran, sie zu erforschen – und wäre bislang nur bis zu diesem Punkt gekommen, der aber schon für sich selbst sprach. Deswegen dachte Raymond auch nicht sonderlich gern über solche Dinge nach, stattdessen hoffte er, dass ihm alles, wenn er älter, es ihm auch endlich klarer wurde. „Du darfst das auch nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen, Ray“, sagte Joel. Bevor der Angesprochene darauf reagieren konnte, fuhr das weißhaarige Mädchen – das den Namen Christine trug und ebenfalls im Klassenzimmer geblieben war – ruckartig herum und sah ihn mit großen Augen an. „Hat er gerade Ray gesagt?“ Joel runzelte ein wenig die Stirn, bislang schien er nicht einmal auf sie geachtet zu haben und war wohl eher davon ausgegangen, dass sie sich gar nicht um die beiden kümmerte. „Äh, ja ... und?“ Christine stand eilig auf, überwand die Distanz zwischen ihnen und legte ihre Hände auf Raymonds Schultern. „Ah! Dann bist du Raymond Lionheart?“ Er schrumpfte ein wenig unter ihrem begeisterten Lächeln zusammen und nickte murmelnd, ohne zu verstehen, warum sie das so großartig fand. Joel erging es wohl ähnlich, denn er räusperte sich vernehmlich. „Und ich bin Joel Chandler.“ Sie fuhr zu ihm herum, nur um ihm genauso begeistert wie zuvor ihren eigenen Namen mitzuteilen, den sie beide eigentlich bereits kannten – oder kennen sollten: „Christine Lande, ich habe schon so viel von euch beiden gehört!“ Raymond verstand nicht im Mindesten, weswegen sie von ihnen gehört haben sollte – abgesehen von den Gerüchten, die so umhergingen, aber die waren sicher kein Grund, um begeistert zu sein – oder was sie eigentlich genau von ihnen wollte. Aber Joel störte sich nicht an derlei Details und ging nach kurzem Zögern direkt auf ihre Begeisterung ein. Das konnte Raymond schon besser verstehen, da Joel nicht viele Freunde hatte und ihm daher jeder, der auch nur ein wenig Interesse an ihm zeigte, von ihm dankbar angenommen wurde – und er gönnte es seinem Freund auch ohne jedes eifersüchtige Stechen, das eigentlich hätte da sein müssen, wie er glaubte. In diesem Moment wusste Raymond noch nicht, dass sie alle drei gute Freunde werden würden, die zwar Außenseiter waren, aber gerade deswegen die Zeit genossen, die sie miteinander verbringen konnten – bis das Schicksal sie derart gewaltsam auseinanderreißen würde wie in dieser kalten Septembernacht drei Jahre später. Als er erwachte, blinzelte Raymond mehrmals, aber die ungewohnte Ansicht verschwand nicht. Er erinnerte sich, bewusstlos geworden zu sein, deswegen hatte er erwartet, im Krankenhaus aufzuwachen, mit der bekannten cremefarbenen Decke über sich – aber stattdessen starrte er direkt auf eine dunkle, ungestrichene Betondecke. Die Leuchtstoffröhren verbreiteten ein unangenehmes Licht, das ihn den Kopf abwenden ließ. Er versuchte, aufzustehen, stellte aber sofort fest, dass es nicht möglich war. Verwirrt wanderte sein Blick an ihm herab und stellte dann fest, dass er mit Lederriemen an das Bett gefesselt war – und er glaubte nicht, dass es nur daran lag, weil jemand sich Sorgen darum machte, dass er aus dem Bett fiel und sich verletzte. Überflüssigerweise rüttelte er ein wenig an den Riemen, was jemanden auf den Plan rief, der sich im selben Raum befand, aber bislang in seinem toten Winkel gesessen hatte. Als Seline in sein Blickfeld trat, konnte er für einen Moment nicht glauben, dass es sich dabei wirklich um dieselbe Person handelte, die er sonst immer im Café antraf. Ihr Gesicht strahlte keinerlei Herzlichkeit aus, ihre Brauen waren finster zusammengezogen und ihre orange-farbene Aura, die ihm sonst wie die Aureole der Sonne vorkam, glich mehr einem wütenden Feuer, das ihn zu verschlingen drohte, wenn er auch nur eine falsche Bewegung machte. „Du bist also wieder wach“, stellte sie fest und selbst ihrer Stimme mangelte es an der üblichen Fröhlichkeit; sie klang wie eine Fremde und jagte ihm Schauer über den Rücken. Was war nur geschehen, dass sie sich ihm gegenüber so verhielt? Wo war er hier überhaupt? Und wo war Joel? War er in Sicherheit? Er wollte eigentlich etwas sagen, all diese Fragen stellen oder zumindest mit den Schultern zucken, aber im Moment war es ihm nur möglich, sie wortlos anzustarren, derart tief griffen ihre blauen Augen in ihn hinein – und das auf keine sonderlich angenehme oder auch nur gute Art. Für sie war es wohl aber wichtig, dass er etwas sagte, denn mit jeder Sekunde, in der er schwieg, wuchs ihre Ungeduld. Sie musterte noch einmal die Riemen, dann lehnte sie sich auf die Liege, stützte sich dabei mit ihren Händen ab, wobei je links und rechts von Raymond eine zu liegen kam. „Wer bist du?“ Diese Aufforderung – als Frage konnte er ihren Ton nicht mehr bezeichnen – verwirrte ihn noch wesentlich mehr. Sie wusste doch, wer er war, sollte das zumindest, also war diese Frage vollkommen überflüssig – außer sie erhoffte sich eine Antwort auf das, was in der letzten Nacht mit ihm geschehen war. In diesem Fall müsste Joel ihr davon erzählt haben. Der Gedanke an seinen Freund, der so hemmungslos geweint hatte, gab ihm die Fähigkeit zu sprechen wieder: „Wo ist Joel? Geht es ihm gut?“ Er verlangte ja nicht, dass sein bester Freund nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht – wenn er nicht doch wesentlich länger geschlafen hatte – an seiner Seite wäre, er wollte nur wissen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Oder ob er – Gott bewahre – Joel nach seinem Sturz in die Bewusstlosigkeit etwas angetan hatte. Etwas in Selines Augen flackerte deutlich sichtbar, fast hielt er es für Mitgefühl, aber es half ihm nicht aus dieser Situation heraus. „Wer bist du?“, wiederholte sie, nur um dann direkt fordernder zu werden: „Sag mir deinen Namen!“ Für einen Moment erwog er tatsächlich, ihr aus Trotz heraus nicht zu antworten und weiter selbst nach einer Replik zu verlangen. Aber zum einen hatte sie ihre Frage zuerst gestellt und zum anderen brannte ihre Aura immer heller, je länger er es hinauszog. Selbst das Flackern von Mitgefühl in ihren Augen beruhigte die Flammen von denen sie umgeben war, nicht, sondern schienen sie eher noch weiter anzufachen und er befürchtete, wirklich von ihnen verletzt zu werden. „Ray“, antwortete er schließlich, nur um dann ausführlicher zu werden: „Ich bin Raymond Lionheart, 15 Jahre alt, Schüler an der Lanchest-Militärakademie im vorletzten Schuljahr, Schülernummer 2786476.“ Schlagartig erinnerte er sich wieder, wie lange er gebraucht hatte, um sich diese Nummer, die außerordentlich wichtig für viele Dinge innerhalb der Schule war, einzuprägen. Joel dagegen war es wesentlich leichter gefallen, einfach aufgrund der Tatsache, dass er gut darin war, Dinge auswendig zu lernen – statt sie wirklich zu begreifen und anwenden zu können. Dafür beherrschte er nicht nur seine eigene Schülernummer aus dem Kopf, sondern auch die von Raymond und Christine. Für den Fall der Fälle, war seine Antwort auf die Frage gewesen, wozu er diese Nummern auch gelernt hatte. Man wisse ja nie, was geschehen könne. „Was ist mit Christine?“, fragte Raymond rasch, mit der geringen Hoffnung, dass die Ereignisse nur ein schlechter Traum gewesen waren, alles in Ordnung war und es eine ganz andere Erklärung für seine Anwesenheit in diesem ihm unbekannten Raum gab. Statt einer Antwort zog Seline sich aus seinem unmittelbaren Blickfeld zurück. Als er sie mit den Augen verfolgte, stellte er fest, dass sie die Fesseln an seinen Fußgelenken löste und dasselbe dann mit seinen Händen wiederholte, während sie weiterhin schwieg. Erst als er wieder frei war und er sich aufsetzen konnte, griff sie sich den blauen Klappstuhl, der in einer Ecke stand und trug ihn bis direkt neben die Liege, um sich dort niederzulassen. Sie schlug die Beine übereinander, legte ihre Hände auf ihre Knie und betrachtete Raymond nach wie vor skeptisch. Er war wiederum viel zu verwirrt, um allzuviel nachzudenken, während er sich die Handgelenke rieb, um die Durchblutung wieder zu normalisieren. Statt seiner normalen Kleidung – oder zumindest jener, die er vor seiner Ohnmacht getragen hatte – trug er nun einen weißen Pyjama, der ihn unangenehm an seine Zeit im Waisenhaus erinnerte, in dem jedes der Kinder derart uniformiert gekleidet gewesen war. Außerdem wusste er immer noch nicht, welcher Tag gerade war, wieso er an diesem Ort war, warum Seline sich ihm gegenüber so verhielt – und etwas an der Haltung ihrer Finger sagte ihm, dass es gefährlich sein könnte, sie wütend zu machen. Sie lagen scheinbar ruhig auf ihren Knien, aber bei genauerem Hinsehen konnte er die Spannung darin erkennen, dass sie leicht gespreizt waren und – kaum sichtbar – Splitter sie umkreisten, die ein unangenehmes Gefühl mit sich brachten. „Joel geht es gut“, antwortete sie schließlich und lenkte seinen Blick damit wieder auf ihre Augen. In diesen war nun kein Flackern mehr zu erkennen, nichts außer Misstrauen und eine Furcht, die regelrecht greifbar war, obwohl sie diese wohl zu verbergen versuchte. „Er ist zu Hause bei seinen Eltern.“ Raymond atmete erleichtert auf. Solange es Joel gut ging und er sich in Sicherheit befand, war es egal, dass dieser sich gerade nicht bei ihm aufhielt. „Was ist mit Christine?“ Selines Aura flammte noch einmal auf, ihr Körper versteifte sich. „Erinnerst du dich nicht mehr?“ „Doch.“ Seine Stimme war derart tonlos, sie kam ihm vollkommen fremd vor. „Ich hatte nur gehofft, du würdest mir sagen, dass es ein Traum gewesen ist.“ Endlich erschien wieder ein Flackern von Mitleid in ihren Augen, ihre Stirn glättete sich, die Flammen zogen sich sofort zurück und schmiegten sich an ihren Körper. „Es tut mir leid, dass dies nicht möglich ist.“ Betroffen schlug er die Augen nieder. Er erwartete, irgendeine Gefühlsregung zu spüren; Tränen, die ihm die Kehle zuschnürten, Wut, die ihn genau wie zuvor mit Hitze erfüllen würde – aber nichts von beidem trat ein. Stattdessen herrschte nun tiefster Winter auf der verbrannten Fläche, die Reue hatte mit einer Kältewelle Einzug gehalten und versuchte nun alles, um auch sein Herz erstarren zu lassen. Das kämpfte bislang aber noch erfolgreich dagegen an, indem es schmerzhaft gegen seine Brust schlug. „Ray, sieh mich wieder an.“ In ihrer Stimme lag ein überraschender Nachdruck, dem er sofort Folge leisten musste. „Es bringt nichts, wenn du dir nun Vorwürfen machst.“ Inzwischen war ihre Mimik sanfter geworden, ihre Aura hatte sich gänzlich beruhigt und auch die Splitter bewegten sich nicht mehr um ihre Finger. Es war, als wäre sie endlich davon überzeugt, dass er keine Gefahr darstellte. Im Gegensatz zu ihm selbst. „Aber ich habe nichts getan, um zu helfen. Ich habe sie wissentlich in Gefahr gebracht und dann zugesehen, wie sie stirbt.“ Noch immer sah er dieses geradezu morbide Kunstwerk vor sich, von dem Christine ein Teil geworden war. „Wie sollte ich mir da keine Vorwürfe machen?“ Seline gab ihre sichere Haltung auf, beugte sich vor und ergriff eine von Raymonds Händen. Sofort fühlte er sich von einem angenehmen, warmen Gefühl von Zuneigung durchflutet, auf das er im Waisenhaus, in all den Nächten in denen er leise geweint hatte, so oft verzichten musste. Schlagartig wünschte er sich allerdings, dass Eve und Adam nun bei ihm wären, statt Seline. Den beiden wäre es bestimmt gelungen, etwas zu sagen, das ihn aufgemuntert hätte, sie dagegen sah ihn nur schweigend an, aber mit einem Ausdruck, der ihn um Vergebung anflehte, was er nicht im Mindesten verstand. Warum sollte Seline ihn um Verzeihung bitten? Sie hatte ihm nichts getan. Aber er fragte auch nicht danach, er sagte sich einfach, dass sie den Grund dafür sicher kannte und stellte lieber eine andere, eine wichtigere Frage: „Was ist mit mir geschehen?“ „Was meinst du?“, fragte sie nach einem kurzen Zögern. Er unterdrückte das Seufzen, das seiner Frustration Luft machen wollte, es hätte ihm in diesem Moment nicht weitergeholfen. „Du weißt, was ich meine. Joel hat es bestimmt erzählt.“ Was auch immer über ihn gekommen war, hatte seinen Freund immerhin derart verstört, dass er das sogar als grausam bezeichnet hatte – für einen Kadetten in der Söldner-Ausbildung, der ohne mit der Wimper zu zucken sowohl Horrorfilme als auch Filmaufnahmen echter Schlachten ansehen konnte, war das verwunderlich – und deswegen hatte er bestimmt die erste Gelegenheit genutzt, um jemandem davon zu erzählen. Dass er das möglicherweise auch nur tun könnte, um zu erfahren, was mit seinem besten Freund los war, zog Raymond nicht für eine Sekunde in Betracht. „Das hat er wirklich“, sagte Seline schließlich. „Aber wir sind genauso ratlos. Deswegen bist du hier.“ Sie vollführte eine Bewegung, die den gesamten Raum miteinschloss. Als er sich pflichtgemäß noch einmal umsah, entdeckte er dabei nun auch eine Kamera, die in einer Ecke an der Decke hing, das rote Licht verriet ihm, dass er gerade aufgenommen wurde und so vermutlich unter ständiger Beobachtung stand. Anders war das wohl auch kaum möglich, immerhin gab es an den kahlen Wänden keinerlei Fenster, selbst die Stahltür war schlicht fensterlos. Die Liege, auf der er saß, befand sich mitten im Raum, sonst gab es außer Selines Klappstuhl nichts mehr. „Ist das der Sicherheitstrakt der Akademie?“, hakte er nach. Von diesem hatte er bereits gehört, aber es war das erste Mal, dass er ihn wirklich sah. Angeblich befand er sich unterhalb der Schule, in den Kellerräumen und sollte dazu dienen, auffällige Schüler, die zuvor in Kontakt mit Monstergiften oder fragwürdigen Zaubern gekommen waren, unter Kontrolle und Beobachtung zu halten. Niemals hätte er sich träumen lassen, selbst einmal an diesem Ort zu landen. Seline nickte und bestätigte damit seinen Verdacht. „Aber keine Sorge. Bislang sieht es gut aus. Solange du keine weiteren Anomalien zeigst, darfst du bald nach Hause.“ Er wusste, dass er sich über diese Worte freuen müsste, aber er konnte es nicht. Was erwartete ihn denn schon? Christine war tot, es war einzig seine Schuld, weil er alle Warnungen in den Wind geschlagen und dann auch noch nichts unternommen hatte, um ihr zu helfen. Stattdessen war da der Glaube gewesen, dass die paar Sekunden ihr schon nicht schaden würden. Und nun waren diese paar Sekunden der letzte Tropfen für das ohnehin schon viel zu volle Fass gewesen. Wie sollte er sich jemals wieder im Spiegel ansehen können? Er bemerkte erst, wie sehr sein Körper sich verkrampft hatte, als Seline sich plötzlich zu ihm auf die Liege setzte, die Arme um ihn schlang und seinen Kopf gegen ihre Schulter lehnte. Augenblicklich wurde er von Sicherheit durchflutet, einem Urvertrauen, das er schon lange verloren geglaubt hatte. Ein wenig zögerlich legte er die Arme um sie und entspannte sich wieder ein wenig. Eigentlich fühlte er sich viel zu alt, um noch auf diese Weise getröstet werden zu müssen, aber andererseits schien es auch genau das zu sein, was er gerade benötigte, also warum sollte er sich dagegen sperren? Allerdings erwartete er, dass er weinen sollte, irgendeine Reaktion auf das Geschehen zeigen, aber da war immer noch nichts. Das große weite abgebrannte Feld in seinem Inneren wurde lediglich von einer Schicht aus Reue bedeckt, die wie schwarzer Schnee, fast schon wie Asche, aussah. Dieser Anblick versuchte, seinen Selbsthass wieder zu wecken, aber Selines Anwesenheit, ihre Umarmung, ließ das nicht zu. Ihre Wärme verschloss den Hass hinter einer Tür, gesichert durch unzählige Ketten, die nicht gesprengt werden könnten. Und er war ihr dafür unendlich dankbar. „Mach dir keine Sorgen“, flüsterte sie, um ihn noch weiter zu beruhigen, die Ketten zusätzlich mit Bannsiegeln zu belegen. „Es wird alles gut werden, ich garantiere es dir. Ich werde nicht zulassen, dass irgendwer dir etwas antut.“ Dabei fürchtete er nicht einmal um sich selbst. Es war Joel, der ihm Sorgen bereitete. Er war nun derselben Gefahr wie Christine ausgesetzt, würde über kurz oder lang möglicherweise einen so tragischen Tod sterben wie sie, wenn niemand da war, der auf ihn achtgab. Aber obwohl er genau das sagen wollte, damit irgendjemand sich um seinen Freund kümmerte, so wie um ihn, konnte er nicht. Er wollte nicht, dass Seline fortging, um sich Joel anzunehmen, wollte nicht in diesem Raum alleingelassen werden, nur mit seinen Gedanken, die noch immer auf den schwarzen Schnee hinausstarrten und sich dabei fragten, was er in dieser Nacht hätte anders machen können, um es niemals so weit kommen zu lassen. Als Seline, Stunden später, schließlich den Raum verließ und noch einen letzten Blick auf ihn warf, fühlte Raymond sich besser. Sie ließ Sicherheit bei ihm, den Glauben daran, dass alles gut werden könnte, solange er nicht aufgab, was er nun ganz sicher nicht mehr plante. Die ganze Zeit hatte sie nichts mehr gesagt, ihn nur schweigend in den Armen gehalten, ohne jede Erwartung, denn er hätte auch keine erfüllen können. Ihm war nicht nach weinen gewesen, nicht nach schreien, nicht nach verzweifeln und mit ihr an seiner Seite war auch der Selbsthass, der Drang, sich selbst einfach auszulöschen, ausgeblieben. Da war nur noch heilsame Ruhe und Wärme gewesen und beides ließ sie bei ihm zurück, auch lange noch nachdem die Tür bereits wieder geschlossen war, er mit geschlossenen Augen auf der Liege lag und zu schlafen versuchte, in der Hoffnung, am nächsten Tag endlich wieder diesen Raum verlassen zu dürfen, zu Joel gehen zu können, um sich zu vergewissern, dass es ihm wirklich gut ging und ihm in dieser Zeit beizustehen, auch wenn er selbst nicht trauern konnte. Hier hatte man ihm nicht einmal sein Handy gelassen, er konnte mit niemandem dort draußen Kontakt aufnehmen und musste sich einzig auf Selines Wort verlassen, dass die Welt noch immer existierte. Während er mit diesen Gedanken und Hoffnungen langsam in den Schlaf versank, sah er noch einmal das mit Schnee bedeckte Feld, nur dass eine Stelle vollkommen frei von diesem war. Und dort, genau an dieser Stelle, an der sich keinerlei Asche mehr befand, hatte eine neue Pflanze Wurzeln geschlagen, um ganz allein all der Reue und dem eingesperrten Selbsthass zu trotzen – und ihre Blüte war so golden wie Christines Aura. Kapitel 21: Das Gewissen ist die Wunde, die nie heilt und an der keiner stirbt. ------------------------------------------------------------------------------- Erst am Tag danach ließ man Raymond wieder gehen. Man bot ihm keine Entschuldigung und er verlangte auch keine. Er verstand, warum es notwendig gewesen war, ihn unter Beobachtung zu lassen und trug es deswegen niemandem nach. Er wurde nicht vom Direktor selbst, sondern von Seline und Joy entlassen, die ihm beide anboten, weiter bei ihnen zu leben, was von ihm allerdings abgelehnt wurde. Im Moment wollte er eigentlich nur noch nach Hause, dort allein sein, ohne immer jemanden in seiner Nähe zu haben, selbst wenn diese Person ihn trösten könnte. Das erste, was er tat, als er endlich zu Hause angekommen war, bestand darin, zu duschen. Dabei verbrachte er die meiste Zeit damit, Wasser auf sich regnen zu lassen und mit gesenktem Blick zu beobachten, wie es im Abfluss verschwand, als wäre es niemals hier gewesen, vergaß dabei aber, seine Schuldgefühle mit sich zu nehmen. Eigentlich hatte er vorgehabt, erst einmal bei Joel vorbeizugehen, ihm zu sagen, dass es ihm gut ging, dass er ihm beistehen würde und dabei gleich sicherzustellen, dass es seinem Freund ebenfalls gut ging. Doch je mehr er das abfließende Wasser betrachtete, desto mehr schwand auch dieser Wunsch und wurde von dem Verlangen ersetzt, einfach nur allein zu sein. Irgendwann holte ihn die Kälte ein, so dass er die Dusche verließ und dann beschloss, einkaufen zu gehen. Er hatte keinen Appetit oder gar Lust, etwas zu essen, sogar das angebotene Frühstück in der Akademie war von ihm ausgeschlagen worden. Aber solange er vor den Regalen stand, sich überaus lange damit auseinandersetzte, was er kaufen sollte, die anderen Kunden und auch Verkäufer beobachtete, während er in der Schlange stand und wartete, musste er sich nicht mit dem Geschehen auseinandersetzen. Er musste nicht daran denken, dass sein Fehlverhalten das Leben einer Freundin eingefordert hatte, dass sein bester Freund deswegen mehrmals in Gefahr geraten war. Während dieser Zeit konnte er selbst glauben, dass er nur einer von vielen war, ein Mensch, der keine Freundin auf dem Gewissen hatte, einer, der keinerlei seltsame Kräfte in seinem Inneren beherbergte, die ihn dazu antreiben wollten, sich selbst zu vernichten. Das Leben aller anderen Menschen, die er beobachten konnte, während er nach dem Einkaufen auf einer Parkbank saß, ging einfach weiter, keinen von ihnen schien es zu kümmern, dass Christine so brutal und plötzlich aus dem Leben gerissen worden war. Hatte irgendwer von diesen Leuten sie überhaupt gekannt? Raymond war sich nicht sicher, denn er erkannte keine dieser Personen, sie schienen ihm wie eine graue, undefinierbare Masse, zueinander verschmolzen, unmöglich, sie jemals wieder voneinander zu trennen und erneut zu benennen. Deswegen unternahm er diesen Versuch gar nicht erst und beobachtete einfach nur, ohne die einsetzende Kälte zu beachten. Es wurde bereits Abend, als Raymond wieder heimkehrte und seine Einkäufe fast schon mechanisch verräumte, alles dort, wo es hingehörte, als wäre er nie fort gewesen. Die Schränke waren leer, als wäre er erst eingezogen, die Wohnung schien ihm fremd, obwohl er an diesem Tag bereits einmal hier gewesen war. Alles war ihm fremd, auch er sich selbst. Die Kälte war in seine Glieder gekrochen und ließ sich nicht vertreiben, auch nicht durch die aufgedrehte Heizung oder die Decke unter die Raymond sich wärmesuchend verkroch. Der Blick auf sein Handy-Display ließ das Loch in seiner Brust anwachsen. Niemand hatte sich bei ihm gemeldet, er war von niemandem vermisst worden, als ob er eigentlich derjenige war, der gestorben war. Und in dieser Nacht wünschte er sich wieder einmal, dass er wirklich derjenige gewesen wäre, der an Christines Stelle gestorben wäre. Er glaubte nicht, dass jemand ihn vermissen würde, wenn sie es nun schon nicht taten und dafür wäre er das schlechte Gewissen, das ihn stetig verfolgte und zu verschlingen drohte, endlich los. Eine Weile überlegte er, Eve und Adam anzurufen, kam aber davon ab. Sicher würden sie ihm beide nur sagen, dass er keinerlei Schuld an all diesen Dingen trug, aber das änderte nichts daran, dass er sich schuldig fühlte und das ging einfach nicht fort. Nicht einmal der Gedanke an Eves fröhliche Stimme änderte etwas daran. Die goldene Blume, die sich zuvor auf dem eisigen Feld gegen den Zweifel durchgesetzt hatte, ließ ihren Kopf hängen, war geknickt von seiner erst langsam einsetzenden Erkenntnis, dass er Christine niemals wiedersehen würde, dass niemand sie je wiedersehen würde, weil er es versäumt hatte, besser auf sie aufzupassen. Erst das entfernte Murmeln, Verkehrslärm und das Zwitschern von Vögeln, das plötzlich erklang, verriet ihm, dass er eingeschlafen sein musste. Aber eigentlich dürfte er diese Geräusche nur hören, sofern ein Fenster oder die Balkontür offen wäre – und er war sich sicher, nichts von beidem geöffnet zu haben. Also wühlte er sich wieder unter seiner Decke hervor und entdeckte tatsächlich, dass sich die weißen Vorhänge im Wind der offenen Balkontür bauschten. Verwirrt sah er sich um, nahm den Geruch von frischem Tee wahr, was ihn nur noch mehr verwirrte. Dann erklangen Schritte – und im nächsten Moment stand Alona in der Tür, mit zwei Tassen in der Hand. Sie sah emotionslos auf ihn hinab, aber in ihren Augen glaubte er, Schmerz zu sehen. Von ihr erwartete er Schuldzuweisungen, da sie ihn am Kinoabend noch davor gewarnt hatte, dass Christine nicht mehr lange durchhalten würde, aber sie kamen nicht. Statt etwas zu sagen, nickte sie ihm nur zu und hob dann eine der Tassen, um ihn zu grüßen. Er wunderte sich nicht einmal, dass sie sich einfach Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte, war lediglich froh, dass er nicht mehr allein war und sie ihm keinerlei Vorwürfe machte. So fand er sich kurz darauf auf dem Sofa wieder, eine Tasse Tee in den Händen, um sich daran zu wärmen. „Keiner hat sich bei dir gemeldet?“, fragte sie. Er schüttelte mit dem Kopf, schweigend. Obwohl er zuvor im Laden beim Einkaufen mit dem Verkäufer gesprochen hatte, mechanisch, als gäbe es ein Tonband, das er nur abspielen müsste, erschien es ihm nun unmöglich, einen Laut hervorzubringen. Alona schwieg ebenfalls, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. Ihre gerunzelte Stirn verriet ihm, dass sie gerade angestrengt darüber nachdachte, was sie sagen sollte. Aber er glaubte nicht, dass es sich um Mitleidsbekundungen oder doch noch kommende Vorwürfe handelte – und sein Verdacht bestätigte sich auch sofort: „Morgen ist Christines Beerdigung. Ich will, dass du mit mir dorthin gehst.“ Eigentlich blieb ihm keine Wahl, außerdem wollte er ebenfalls zu dieser Beerdigung, aber nicht allein – und er glaubte nicht, dass Joel sich darüber freuen würde, wenn Raymond sich an ihn hing. Bislang hatte er von niemanden aus der Familie Chandler etwas gehört und er dachte nicht daran, sich ihnen aufzudrängen, wenn er derart unerwünscht war. So stand er am nächsten Tag gemeinsam mit Alona auf dem Friedhof, in einiger Entfernung zu dem ausgehobenen Grab um das sich einige Leute versammelt hatten. Neben Christines Eltern, die sich trauernd in den Armen lagen, konnte Raymond auch einige seiner Mitschüler entdecken, dazu auch Rufus und Theia Chandler – und Joel. Es erfüllte ihn mit Erleichterung, dass sein Freund gesund schien, aber diese Welle schwand sofort wieder, als Joel bei seinem Anblick zusammenzuckte hastig die Augen abwandte. Fast als hätte er wirklich Angst vor ihm. Alona machte keine Anstalten, näher zu gehen, deswegen blieb Raymond bei ihr stehen, damit sie nicht allein sein musste. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Mantels vergraben, dessen Grau zur Farbe des bewölkten Himmels passte. Ihre Schultern waren hochgezogen, als versuche sie, sich vor der Kälte zu schützen, aber ihr Zittern verriet, dass sie darin erfolglos war. Nebeneinander stehend lauschten sie der Beerdigungsrede, gehalten von einer für Raymond unbekannte Frau, die Christines Leben zusammenfasste, ohne ihre Zeit bei der GS zu berücksichtigen. Als sie zu der Stelle kam, an der Christines Tod Erwähnung fand, wurde lediglich von einem tragischen Unfall gesprochen, der sie viel zu früh aus dem Leben gerissen hatte. Raymond lauschte dem mit einem stechenden, kalten Gefühl in der Brust und erinnerte sich wieder an jene Nacht zurück, an die schwarze Schicht, die Ketten, die sie aufspießten, die Figur, die sie danach eingenommen hatte … Er atmete scharf ein, kalte Luft strömte in seine Lungen, so plötzlich, dass sein Hals zu schmerzen begann. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Alona ihm einen kurzen Blick zuwarf, aber er war zu sehr mit husten beschäftigt, um zu erkennen, ob es sich um einen besorgten handelte. Zumindest half ihm dieser Anfall gleich, die Erinnerung an jene Nacht wieder zu verdrängen. Der Sarg wurde hinabgelassen, die Trauernden warfen Blumen und Erde hinab, während sie weiterhin weinten und dann davongingen. Lediglich Joel blieb allein zurück, mit zwei Friedhofsmitarbeitern, die begannen, das Grab zuzuschaufeln. Es war ein trauriger Anblick, den eigentlich so fröhlichen, lebenslustigen Jungen so geknickt und fast schon gebrochen zu erleben … und vor allem so einsam. Erst in diesem Moment ging Alona selbst hinüber, gefolgt von Raymond, der sich fragte, wie Joel wohl reagieren würde. Im ersten Moment reagierte er jedoch gar nicht, starrte einfach nur weiter auf den Sarg hinunter, dessen dunkles, poliertes Holz sich nur aufgrund des Glanzes von der ihn umgebenden Erde unterschied. Alona nahm die Hand aus der Tasche und warf eine getrocknete Seerose auf den Sarg hinab. Raymond beobachtete ihren Fall – dabei fragte er sich, warum es sich ausgerechnet um eine Seerose handelte, ohne eine Antwort darauf finden zu können –, bis sie auf dem Holz landete und rasch unter Erde begraben wurde, als wäre sie nie hier gewesen. Kaum war das geschehen, ging Alona davon, gab ihm aber ein Zeichen, dass er ruhig bei Joel bleiben sollte, was er auch tat. Schweigen umfing die beiden Freunde, während sie gleichsam auf den Sarg hinabsehen, der inzwischen fast vollständig von Erde verdeckt war. Aber Raymond konnte nicht glauben, dass Christine sich in dieser Kiste befand. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass ihr Lachen wirklich für immer verstummt sein sollte und ihr Körper nun dort unten lag, untätig dem ewig währenden Zerfallsprozess ausgesetzt, den niemand aufzuhalten vermochte. Erst als nichts mehr von dem Holz zu sehen war, schaffte er es, den Blick wieder zu heben. Der Friedhof lag mitten in der Stadt, umgeben von mehreren großen Straßen und doch drang nichts von diesem Lärm hierher. Auf einigen anderen Gräbern waren rote Windlichter zu sehen, in denen Kerzen brannten und damit gegen die früh einfallende Dunkelheit anzukämpfen versuchten. Warum hatte die Stadt diese christlichen Riten übernommen? Warum wurde Christine so beerdigt, statt mumifiziert? Vergraben, statt verbrannt? Er war überzeugt, das alles einmal gelernt zu haben, dass es dafür eine vernünftige Erklärung gab, aber in diesem Moment wollte sie ihm nicht einfallen und eigentlich war sie auch vollkommen irrelevant, wie ihm selbst bewusst war. Erst Joels zaghafter Stimme gelang es, ihn aus seinen Gedanken zu holen: „Kannst du mich zum Ausgang des Friedhofs begleiten?“ Für Raymond war das gar keine Frage, deswegen nickte er sofort und setzte sich gemeinsam mit seinem Freund in Bewegung. Dieser hielt den Blick nach wie vor ein wenig gesenkt und vergrub seine Hände nun ebenfalls in den Taschen seines braunen Mantels. Der Kies knirschte unter ihren Schritten und war das einzige, was die Stille ein wenig vertrieb. Wieder schwiegen sie einige Schritte lang, da Raymond nicht wusste, was er sagen sollte und Joel offenbar erst einen inneren Ruck benötigte, den er sich auch sofort gab: „Es tut mir leid, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe.“ Raymond erwiderte, dass es schon in Ordnung wäre. „Ich kann verstehen, dass du nach den Ereignissen Zeit benötigt hast.“ Sein Atem erschien in weißen Wolken vor ihm, während er sprach, aber sie wirkten derart milchig, dass er sich nicht sicher war, ob sie wirklich existierten oder nur seiner Einbildung entsprangen. „Aber ich will nicht, dass du denkst, dass ich Angst vor dir habe.“ Endlich sah Raymond zu ihm hinüber und bemerkte erst in diesem Moment, dass Joel den Kopf gehoben hatte und dann bereits fortfuhr: „Ich war ziemlich erschrocken über das, was in dieser Nacht geschehen ist. Nicht nur mit Christine, sondern auch mit dir. Ich habe es nicht verstanden … eigentlich tue ich das immer noch nicht.“ Das konnte Raymond ihm gar nicht verübeln, er selbst verstand es immerhin ebenfalls nicht, was er auch sagen wollte, als Joel ihm schon wieder zuvorkam: „Aber ich denke, du verstehst es ebenfalls nicht und dir muss das noch viel mehr Angst machen als mir. Ich will dir da nicht noch mehr Druck machen, sondern lieber ein guter Freund sein.“ Er holte die rechte Hand wieder aus der Tasche und legte sich die Faust aufs Herz. „Und was macht ein guter Freund? Er steht einem bei, wenn man verängstigt ist und Hilfe benötigt und genau das will ich tun. Wir können zusammen die Furcht abbauen und auch dieses Ereignis verarbeiten.“ Die Worte berührten Raymond derart, dass die Kälte in seinem Inneren langsam zu schmelzen begann. Nicht vollständig, aber zumindest ansatzweise und im Moment genügte das. „Was denkst du?“ Joel sah ihn endlich direkt an. Raymond widerstand der Versuchung, die Brille abzunehmen, um die Aura seines Freundes zu betrachten. Außerdem wollte er auch nicht zögern, deswegen antwortete er ohne zu lange zu warten: „Ich finde, das ist eine gute Idee. Ich würde dir auch lieber beistehen bei deiner Angst.“ Joel atmete erleichtert auf, was auch Raymond ein wesentlich besseres Gefühl als zuvor gab. Er war immer noch angespannt und bedrückt, ungläubig, aber er glaubte endlich ernsthaft, wieder neue Hoffnung fassen zu können. Als wäre Seline noch immer bei ihm in seiner Zelle. Dann verfinsterte sich Joels Gesicht aber auch gleich wieder. „Ray, werde ich auch sterben?“ Diese Frage fror die Hoffnung sofort wieder ein und ließ Raymond die Augen weiten. „Wie kommst du darauf?“ Selbst das Knirschen der Kiesel unter Joels Füßen klang plötzlich traurig, er sah wieder stur nach vorne, den Blick vollkommen leer. „Ich habe inzwischen begriffen, dass ich wie Christine bin. Die goldenen Augen, die seltsamen Kräfte ...“ Zur Demonstration nahm er die Hand wieder vom Herzen und öffnete sie, mit der Handfläche nach oben. Kleine Kristallsplitter erschienen in einem feinen Nebel auf seiner Handfläche. Die Fragmente bewegten sich von allein, schwebten umher, ohne jedes Ziel, aber auch ohne den Bereich der milchigen Schwaden zu verlassen. Raymond betrachtete das fasziniert, bis Joel die Hand zur Faust ballte und damit alles wieder verschwinden ließ. „Ich habe das festgestellt, nachdem du bewusstlos geworden bist“, führte er aus. „Die anderen wissen noch nicht, dass ich davon weiß.“ Es musste einiges an Mühe erfordert haben, bis Joel diese Fähigkeit zu kontrollieren gelernt hatte. Dass es ihm in dieser kurzen Zeit gelungen war, überraschte Raymond, sonst kannte er seinen Freund immerhin nicht derart strebsam. Er wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was, weswegen Joel leise seufzte, fast frustriert. „Aber du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet: Werde ich sterben?“ Darauf etwas zu sagen war nicht leicht. Die einzig wahre Antwort darauf wäre eigentlich ein deutliches Ja, denn so war es immerhin, aber das konnte er ihm nicht sagen. Nein, das wollte er ihm nicht sagen. Wenn Joel das wusste, würde er mit Sicherheit jede Hoffnung verlieren und sich am Ende vielleicht noch etwas antun – und das könnte Raymond sich niemals verzeihen. Es war sein Wunsch, Joel so lange wie möglich bei sich zu halten und ihn nicht einfach zu verlieren. So wie er Christine wegen seiner Nachlässigkeit verloren hatte. Er hatte bei Christine versagt und sie nicht retten können, noch einmal würde ihm das nicht geschehen. Die Kälte schwand noch ein wenig mehr, wurde ersetzt durch eine Entschlossenheit, die er bislang selten gekannt hatte und die ihn deswegen zu einer Antwort beflügelte, die er nicht vorher durchdacht hatte: „Keine Sorge, das werde ich nicht zulassen.“ Joel sah ihn erstaunt an. „Was?“ Raymond erwiderte seinen Blick. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst. Ich werde dich beschützen, so dass du nicht deine Kräfte einsetzen musst. Solange ich bei dir bin, wird dir nichts geschehen.“ Bewunderung, Dankbarkeit und auch ein wenig Ehrfurcht war in Joels Gesicht zu erkennen, als er wohl endlich die volle Tragweite dieser Worte begriff. Mit einem erleichterten Ausruf – offenbar zweifelte er nicht im Mindesten, dass es Raymond möglich sein würde, ihn zu schützen – legte er schwungvoll einen Arm um seinen Freund, womit er diesen fast umriss. Dennoch war das Gefühl angenehm, es war fast wie früher, als ob nie etwas zwischen ihnen vorgefallen wäre, weder Christines Tod, noch die kurze Funkstille. „Danke, Ray“, sagte Joel enthusiastisch. „Du bist wirklich der beste Freund, den man sich nur wünschen kann.“ Dass Joel derart überzeugt von ihm war, obwohl er hatte beobachten können, wie hilflos Raymond in jener Nacht bei Christine gewesen war, überraschte ihn. Aber er hakte nicht nach und wies auch nicht darauf hin, schon allein, weil er sich ja nun selbst dazu entschieden hatte, endlich zu kämpfen. Joy würde ihm das allerdings niemals gestatten, also musste er eine andere Alternative finden. Und er wusste auch schon genau, wen er dazu ansprechen musste. Am Ausgang des Friedhofs angekommen, entdeckte Raymond sofort die anderen Besucher, die dort noch versammelt standen und sich mit bedrückten Gesichtern gegenseitig versicherten, dass sie einander – aber vor allem Christines Eltern – stützen würden in dieser schwierigen Zeit. Raymond überlegte, ebenfalls zu ihnen hinüberzugehen, aber er hatte nie viel Kontakt mit den Landes gepflegt, deswegen fühlte es sich für ihn fehl am Platz an, sich nun derart aufzudrängen. Als Joel seine Eltern entdeckte, klopfte er Raymond auf die Schulter. „Danke, dass du mir zugehört hast. Kommst du morgen wieder in die Schule?“ Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. „Kommst du denn?“ Joel nickte. „Ich muss wohl. Du kennst ja meinen Vater. Deswegen wäre es cool, wenn du auch kommst. Besonders jetzt, da Chris ...“ Seine Stimme erstarb einen kurzen Moment, ehe er sich wieder fing: „Jedenfalls, danke, dass du heute da warst. Ich hoffe, du kommst morgen auch.“ „Werde ich ganz bestimmt“, versicherte Raymond ihm. Dann verabschiedeten sie sich voneinander, so dass Joel zu seinen Eltern gehen konnte, die bereits an ihrem Auto auf ihn warteten. Ehe er einstieg, wandte er sich noch einmal in Raymonds Richtung, worauf dieser ein wenig die Hand hob. Kaum war Joel endlich wirklich eingestiegen, musste Raymond daran denken, was er ihm versprochen hatte. Er würde ihn beschützen. Er würde darauf achten, dass er nicht sterben müsste, obwohl seine Existenz auf ein rasches Ende zusteuerte. Er würde tun, was er tun musste. Die durch diesen Gedanken entstehende Hitze sorgte dafür, dass er seinen eigenen Mantel aufknöpfte, so dass er leichter an seine Krawatte kam, um diese zu lockern. Es kam ihm vor, als würde dieses Stück Stoff ihn einschnüren und ihm jegliche Möglichkeit zu atmen rauben. Während er das tat, trat Alona, quasi aus dem Nichts, wieder zu ihm. Sie sagte nichts, aber das musste sie auch nicht, da er sofort seinen Blick auf sie richtete. „Ich habe mich entschieden“, sagte er, als hätte es jemals zwischen ihnen zur Diskussion gestanden. Da dies nicht der Fall gewesen war, blickte sie ihn verwirrt an, so dass er zu einer Erklärung ansetzte: „Ich werde kämpfen. Und ich möchte, dass du mir zeigst, wie ich am besten gegen die Mimikry vorgehen soll. Ein Nein werde ich nicht akzeptieren.“ Dennoch hielt er nach seinen Worten für einen Moment den Atem an. Er wusste nicht, wie sie auf vollendete Tatsachen reagierte oder ob sie überhaupt gewillt war, ihn zu unterrichten und auf ihrem ausdruckslosen Gesicht war nichts abzulesen. Auch nicht, als sie schließlich den Mund öffnete, um ihm eine Antwort darauf zu geben: „Gut, ich bin einverstanden.“ Kapitel 22: Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber arbeiten. ----------------------------------------------------------------------- Es war nicht das erste Mal, dass er nachts unterwegs war, aber es war das erste Mal, dass es sich wirklich anfühlte, als stellte er etwas Verbotenes an. Gemeinsam mit Alona saß er auf dem Dach eines Hochhauses und begutachtete den Nebel unter ihnen. Die Brille war sicher verstaut in seiner Brusttasche, so dass er einen ungehinderten Blick auf alles bekam, was sich in der Stadt abspielte – oder jedenfalls in dem Nebel, der zwischen den Häusern entlangkroch wie eine Armee von Geistern, die ihre langen knochigen Finger an den Gebäuden entlangstreifen ließen. „Dieser Nebel ist für normale Menschen nicht sichtbar“, erklärte Alona. „Er entsteht durch eine exzessive Vernichtung der Mimikry, so wie es durch dich geschehen ist.“ Ein Ereignis, an das er lieber nicht zurückdenken wollte, auch wenn es für immer bei ihm blieb. Irgendwann könnte er vielleicht einmal daran zurückdenken, ohne sich sofort schuldig zu fühlen. Aber dieser Tag war nicht heute. Raymond versuchte, die einzelnen Partikel, aus denen der Nebel bestand, genauer zu mustern, aber das war ihm kaum möglich. Er nahm lediglich ein Gemisch aus feinem lila-farbenen Kristallstaub wahr, das eine geradezu übernatürliche Atmosphäre ausstrahlte. Zu berühren wagte er allerdings nichts davon, er fürchtete, seine Haut würde durch den bloßen Kontakt einfach aufreißen und die Kristallpartikel dann durch seine Adern kreisen und nach und nach seinen gesamten Körper in einen Kristall verwandeln. Alona bemerkte seine Angst wohl und streckte demonstrativ ihre Hand aus, so dass sie den Nebel berührte. Ihre Haut blieb dabei unversehrt. Ihre dunkelrote Aura, die sonst wie eine Flamme loderte, beruhigte sich in diesem Moment und schmiegte sich wie ein Umhang an sie „Du ahnst gar nicht, wie oft du diesen Nebel schon eingeatmet hast oder wie oft du hindurchgegangen bist.“ Das wollte er sich nicht einmal vorstellen, das war einfach zu grauenhaft. Ein Schaudern überkam ihn, reflexartig wich er zurück, was bei Alona zu einem Stirnrunzeln führte. „Wenn du doch zu große Angst hast, hören wir auf und ich bringe dich wieder nach Hause. Es wird noch viel schlimmere Gefahren geben als nur diesen Nebel.“ Er dachte an die Panik, die ihn gepackt hatte, als er das erste Mal den Mimikry begegnet war. Er dachte wieder an Christine, die erst heute beerdigt worden war, ihren überraschten Schrei, als die Ketten sie durchbohrt hatten. Aber er dachte auch daran, wie verzweifelt Joel auf der Beerdigung gewesen war, und dass es niemanden sonst gab, der die Aufgabe übernehmen könnte, auf ihn zu achten. Nur er konnte und wollte es tun, also blieb ihm nur eine Wahl. Er trat wieder vor und hielt kurzentschlossen ebenfalls seine Hand in den Nebel. Es geschah nichts. Seine Haut riss nicht auf, sein Fleisch wurde nicht aufgefressen, es kribbelte nicht einmal. Die Verwunderung stand ihm wohl ins Gesicht geschrieben, denn Alona reagierte direkt darauf: „Ich sagte doch, dass es ungefährlich ist. Glaubst du mir jetzt?“ Er nickte und wartete darauf, dass sie mit ihrer Lektion fortfuhr. Sie ergriff diese Gelegenheit sofort: „Das aufwendigste an der Jagd ist das Aufspüren der Mimikry. Das kann sich normalerweise über ganze Wochen hinweg ziehen.“ Wie lange war sie schon nicht mehr zu Hause bei ihrer Familie gewesen? Besaß sie überhaupt noch eine solche? Wenn er die Zeit dafür hatte, sollte er sie einmal danach fragen. „Das dürfte jetzt nicht mehr nötig sein, oder?“ Träge blickte sie zu ihm hinüber. Der Wind spielte mit ihrem Haar, das sie unbedingt zurückbinden sollte, aber könnte er das so einfach vorschlagen? Vielleicht sollte er ihr das lieber einmal in der Schule ans Herz legen, wenn sie bei einer der Kampfeinheiten dabei gewesen war. Aber zumindest verstand sie wohl, weswegen er gefragt hatte: „Oh ja, du bist ja jetzt mein Köder. Ich hoffe, das stört dich nicht weiter.“ Die Antwort interessierte sie nicht, wie sie direkt damit zeigte, dass sie den Blick abwandte. „Jedenfalls sollten wir nach unten und herausfinden, ob wir noch einen Mimikry finden können. Glücklicherweise kannst du ja selbst kämpfen.“ Sie trat auf die Kante, die einen davor schützte, einfach hinunterzustürzen, und machte sich zum Sprung bereit, als Raymond sie noch einmal davon abhielt: „Ich komme auf diesem Weg nicht nach unten, ich bin nicht so … gelenkig.“ „Das hat nichts damit zu tun, gelenkig zu sein.“ Trotz ihres Widerspruchs kam sie wieder von dem Sims herunter. „Bei Gelegenheit sollten wir daran wirklich noch arbeiten. Aber vorerst nehmen wir eben die Treppe. Oder willst du dich darüber auch beschweren?“ Auf den Weg nach oben hatten sie den Aufzug benutzt, deswegen störte es ihn nicht im Mindesten, wenn es nach unten die Treppe sein sollte. Diesen Weg brachten sie schweigend hinter sich, bis sie endlich unten angekommen waren und das Gebäude verlassen konnten. Mitten im Nebel sah es nicht mehr so aus, dass es ihn überhaupt gab, als wäre man selbst ein Teil davon geworden. Die Straßen dieses Industriegebietes waren verlassen, was nicht einmal ein ungewöhnlicher Anblick war. Aber seit dem Vorfall mit Christine wirkten sie noch einsamer, als befände sich auch tagsüber niemand dort und das ließ sie wie eine Geisterstadt wirken. Was surreal war, da Raymond ganz genau wusste, dass hier viele Menschen lebten und tagtäglich ihrer Arbeit nachgingen. Aber im Moment war es ihm unmöglich, das Gefühl abzuschütteln. „Warum sollten sie sich hier aufhalten?“, fragte er, um die Stille zu durchbrechen. „Es gibt hier doch gar keine Menschen, von denen sie sich ernähren können. Zumindest nicht um diese Zeit.“ „Aber es gibt auch keine Feinde. Jedenfalls normalerweise nicht.“ Sie waren wirklich die Ausnahme. Die Lampen verbreiteten ein sanftes orange-farbenes Licht, keine Insekten schwirrten darum umher, es war schon zu kalt für sie. Raymond öffnete seine Jacke dennoch, da ihm zu warm wurde, während sie hier herumliefen. Doch plötzlich ertönte das leise Geräusch einer elektrischen Leitung, die durchbrannte, und im nächsten Moment erlosch die erste Lampe, worauf ihr rasch weitere folgten, bis sie im Dunkeln standen. „Das ist beim ersten Mal nicht passiert.“ Aber er erinnerte sich nicht mehr, wie es bei Christines Tod gewesen war, er erinnerte sich nur an die erste Gelegenheit, die nicht mit einer derart traumatischen Erinnerung verbunden war. „Wenn sie in der Unterzahl sind, beeinflussen Mimikry gern die Umgebung, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Aber lass dich nicht verunsichern, an der Kampftaktik ändert sich nichts.“ An deren Taktik oder an ihrer? Er wagte aber nicht zu fragen, da in diesem Moment bereits ein einzelner Mimikry hinter einer Häuserecke hervorkam. Es sah aus wie jedes andere, wirkte nicht im Mindesten traurig oder ängstlich, obwohl es ganz allein war. Was denke ich da? Als ob sie zu solchen Gefühlen fähig wären. Gut, genau genommen wusste er das nicht, aber es war auch besser, davon nicht einmal etwas zu ahnen, wie er glaubte. Raymond griff nach seinem Schwert, sah aber dennoch zu Alona hinüber und wartete darauf, dass sie das Signal gab, ihn anzugreifen. Noch stand sie aber einfach nur da und betrachtete den Mimikry, und er konnte nur vermuten, dass sie wissen wollte, was das Wesen als nächstes plante. Umgekehrt galt aber nicht dasselbe: Trotz seiner Form sprang der Mimikry plötzlich vor, hielt dabei direkt auf Raymond zu. Dieser wartete nicht länger auf eine Erlaubnis zum Handeln. Er zog sein mitgebrachtes Schwert und zerteilte das Wesen mit einem einzigen Schlag. Im ersten Moment der Euphorie glaubte er, bereits gewonnen zu haben, doch da wurde ihm bewusst, dass sich die zwei Hälften nicht auflösten. Stattdessen übernahm die eine den Seelensplitter und formte sich zu einem vollwertigen Mimikry, während der anderen Hälfte das auch ganz ohne Splitter gelang. Der ohne Splitter schien sich wesentlich schneller zu bewegen, als wäre der andere damit beschäftigt, zu verdauen. Alona gab ein freudloses kurzes Lachen von sich. „Man kann sie nur mit Magie vernichten. Alles andere gipfelt nur darin.“ „Aber beim letzten Mal ...“ Seine Stimme erstarb, als er nachdenklich wurde. „Richtig, du hast Magie verwendet, ohne es zu wissen. Ich dachte mir aber schon, dass es dir nicht gelingt, diese Fähigkeit noch einmal abzurufen.“ Wie auch? Es war ein reiner Ausbruch seiner Emotionen gewesen, nichts was von ihm gelenkt worden war. Genauso bei seinem Kampf gegen Alona. Was auch immer dieses innere Potential war, von dem die mysteriöse Stimme in seinen Träumen sprach, er wusste nicht, wie er es selbst wecken oder gar beherrschen sollte. Alona legte eine Hand auf die Klinge und fuhr diese entlang, ohne das Metall wirklich zu berühren. Ihrer Hand folgte eine blaue Flamme, die erlosch, kaum war das ganze Schwert davon eingehüllt, und nur ein gleichfarbiges Glühen zurückließ. „Jetzt solltest du ein wenig mehr Eindruck bei ihnen schinden können.“ Dass die Mimikry so lange gewartet und sie nur angestarrt hatten, sprach dafür, dass Alona sie mit einem Zauber fernhielt – oder ihnen bewusst geworden war, dass ihre Gegner sich nicht so leicht überrumpeln ließen. Raymond nutzte die Gelegenheit, um vorzupreschen. Der leere Mimikry wich durch einen erstaunlich lebhaften Sprung aus, aber der mit dem Seelensplitter wurde direkt zerteilt, worauf das Fragment sich glitzernd auflöste. In einer geschmeidigen Bewegung riss Raymond das Schwert herum, streifte den anderen Mimikry aber nur, da dieser erneut auswich. Kaum trat er selbst wieder zurück, um seine Verteidigung nicht zu vernachlässigen, stürzte sich das Wesen auf ihn – und enthüllte dabei zwei Reihen scharfer Zähne. Geistesgegenwärtig riss er das Schwert hoch und spießte das angreifende Wesen damit direkt auf. Ihm blieb nicht einmal Zeit, das zu realisieren, ehe es sich bereits auflöste. Gleichzeitig verschwand das blaue Glühen des Schwertes. „Das war es“, sagte Alona. „Gar nicht so schlecht für den Anfang.“ Sie fanden in dieser Nacht keine weiteren Mimikry. Deswegen setzten sie sich, als es gerade drei Uhr geworden war, in einem kleinen Park auf eine Bank. Eigentlich sprach nichts dagegen, einfach nach Hause zu gehen, aber er wollte nicht unhöflich sein – vor allem da Alona Redebedarf zu haben schien: „Bist du dir immer noch sicher, dass du es machen willst?“ „Ganz sicher. Ich kann nicht zurück.“ Ihr Blick wanderte in das gegenüberliegende Gebüsch. „Warum bist du so erpicht darauf?“ Er überlegte, ob er ihr von Joel erzählen sollte. Aber es war für ihn selbst noch zu frisch, als dass er darüber einfach reden könnte. Also zuckte er mit den Schultern. „Du sagtest, es ist meine Schuld, dass Christine etwas zugestoßen ist. Ich wollte verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht.“ Es war keine Lüge, er ließ nur etwas aus. „Wird deine Familie dich nicht vermissen?“ Sie wusste, dass er im Wohnheim lebte, aber das taten viele, die noch eine Familie hatten, sofern diese zu weit entfernt lebte. Die Schule war aber derart angesehen, dass viele diesen Umstand auf sich nahmen, um sie besuchen zu können. „Ich habe keine. Bevor ich hierher kam, lebte ich in einem Waisenhaus. Man hat mich wegen meiner außergewöhnlichen Test-Ergebnissen auf diese Schule geholt.“ Sie deutete ein Nicken an, wirkte aber nicht überrascht. Er wartete darauf, dass sie ihm nun von ihrer Familie erzählte, aber er wurde enttäuscht. Sie sagte nichts weiter, weswegen er das übernahm: „Was ist mit deiner Familie?“ „Ich bin genau wie du.“ Sie wandte sich ihm zu, den Blick gefasst. „Nun, vielleicht nicht ganz. Ich erinnere mich an meine Eltern. Aber es ist lange her, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Sie sind schon lange tot.“ „Woran sind sie gestorben?“ Es war eine sehr empathielose Frage, das war ihm klar, aber es interessierte ihn. Sie interessierte ihn, auch wenn er ihr das nicht sagen konnte. Ihr Blick schien ihn zu durchdringen, ohne die Antwort zu bekommen, die sie suchte. Dafür antwortete sie endlich: „Sie haben ebenfalls Mimikry gejagt. Meine Mutter noch ohne diese Kräfte, mein Vater wurde ein Opfer genau wie Christine.“ Daher kannte sie also die genaue Auswirkung dieses Zustands. Für einen kurzen Moment war er der Meinung, dass sie es besser hatte als er, da sie immerhin ihre Eltern gekannt hatte. Aber dadurch konnte sie diese auch vermissen. Für ihn gab es dieses Gefühl nicht. Als Kind hatte er, in den einsamen Nächten im Waisenhaus, oft Sehnsucht nach so etwas wie Eltern verspürt, aber inzwischen war es vergessen, der Wunsch tief in einem Graben seiner Seele verschwunden, wo er hoffentlich nie wieder hervorkäme. „Weißt du denn, was mit deinen Eltern geschehen ist?“, fragte sie, nachdem das Schweigen eine Weile angehalten hatte. „Nur grob. Ich erinnere mich, dass wir in einen Zugunfall verwickelt waren. Wir waren irgendwohin unterwegs, der Zug entgleiste, ich schlug mir den Kopf an und blutete stark ... danach erinnere ich mich erst wieder an meine Zeit im Waisenhaus.“ Sein Kopf schmerzte bei der bloßen Erinnerung daran. Am liebsten wollte er gar nicht daran denken. Schon allein weil es nichts brachte, denn an seine Eltern erinnerte er sich dennoch nicht, nur an die Schreie und den Schmerz. „Es ist furchtbar, an solche Dinge erinnert zu werden, oder? Es tut mir leid.“ Er winkte träge ab. „Schon okay. Inzwischen macht es mir nichts mehr aus.“ Da belastete ihn doch eher seine Zeit im Waisenhaus, daran wollte er lieber nicht mehr zurückdenken. Niemals. Umso schlimmer, dass er manchmal von diesem seltsamen Mann träumte, der damit in Zusammenhang stehen musste. Alona erhob sich abrupt. „Wir sollten jetzt wieder nach Hause. Morgen ist Schule.“ Er sprang auf seine Beine und sah sie ungläubig an. „Du willst wirklich in die Schule gehen? Nach dem, was passiert ist?!“ Sie erwiderte seinen Blick mit einer überlegenen Kälte in den Augen. „Wir können nicht ewig trauern. Bringt man dir das nicht in dieser Söldner-Ausbildung bei? Was willst du tun, wenn du mitten während einer Mission in einen Kampf gerätst und deine Freunde getötet werden? Einfach aufgeben und dich umbringen lassen?“ Es kam ihm vor, als versetze ihre kalte Stimme ihm eine Ohrfeige. Einem ersten Impuls folgend, wollte er zurückweichen, aber er blieb stehen und ballte die Fäuste. „Natürlich nicht ...“ „Dann kannst du auch zur Schule gehen. Also komm.“ Diesem Argument blieb ihm nichts entgegenzusetzen. Sie fuhr bereits herum, um wegzugehen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, wenn er nicht allein zurückbleiben wollte. Immerhin war die Nacht einigermaßen erfolgreich gewesen, er hatte Mimikry getötet und mehr über Alona erfahren – aber er war sich nicht sicher, ob er wirklich einen Schultag überstehen könnte. Kapitel 23: Ein Tag für Gespräche --------------------------------- Am nächsten Morgen ging Raymond, wie von Alona verlangt, in die Schule. Nach dem Aufwachen hatte er einen Moment mit sich kämpfen müssen, aber ihr Argument war immer noch überzeugend gewesen. Also hatte er geduscht und war anschließend losgezogen. Wie erwartet kam Joel nicht – trotz seiner Versicherung, dass er es täte –, aber dennoch enttäuschte es ihn. Mit seinem besten Freund wäre dieser Tag mit Sicherheit besser zu ertragen gewesen. Jedenfalls hoffte er, dass Joel und er immer noch derart unverfänglich miteinander umgehen könnten wie früher, bevor die Mauer zwischen ihnen erschienen war. Seine Mitschüler warfen ihm verstohlene Blicke zu, runzelten die Stirn und unterhielten sich flüsternd, wann immer sie glaubten, er wäre nicht aufmerksam. Allerdings bekam er dennoch mit, dass sie über seine Abwesenheit sprachen und über die Gerüchte, die sich darum rankten. Interessanterweise besagten diese, dass er Christine während eines plötzlichen Überfalls getötet und Joel schwer verwundet haben sollte. Wie auch immer die anderen nur darauf kamen oder warum er das tun sollte … „Mach dir nichts daraus.“ Alona saß gemeinsam mit ihm beim Mittagessen an einem Tisch in der Cafeteria, ein wenig abseits aller anderen, was ihm half, das Summen der anderen Gespräche zu ignorieren. Lustlos stocherte er in dem Salat, den sie ihm aufgedrückt hatte, während sie ihren eigenen mit großem Appetit verzehrte. Nach außen wirkte es nicht, als hätte sie am Vortag eine Freundin beerdigt, obwohl sie den neben ihr Sitzenden eindringlich vor dieser Konsequenz gewarnt hatte. Er kam nicht umhin, dieses Schauspieltalent zu bewundern. Dadurch, dass sie derart viel Zeit mit ihm verbrachte, erregte sie auch Bildung von Gerüchten über sich, aber das schien sie nicht zu kümmern. Obwohl nur sie beide hier waren, wirkte sie so fröhlich wie immer, wenn sie in der Schule war. Entweder fürchtete sie, von jemandem beobachtet zu werden oder diese ganze Sache machte ihr wirklich Spaß. Aber heute konnte er sich darüber keine Gedanken machen. „Wie soll ich mir nichts daraus machen, wenn mir vorgeworfen wird, ich hätte Chris getötet?“ „Die wollen doch nur über irgendetwas reden, um sich die Welt zu erklären.“ Sie spießte eine Cocktail-Tomate mit ihrer Plastik-Gabel auf. „Und du bist ihnen derart unerklärlich, dass sie besonders viel über dich reden. Lass sie einfach und ignorier sie. Eines Tages werden sie schon erkennen, dass sie dich unterschätzt haben.“ Sie nahm die Tomate in den Mund und kaute, während Raymond sich fragte, ob das gerade ein verstecktes Kompliment von ihr gewesen war. Aber er fragte sie lieber nicht danach. „Werden wir heute Nacht wieder losziehen?“ „Das lohnt sich nicht. Du hast ja gesehen, dass es kaum Mimikry draußen gibt. Warten wir lieber ein wenig, bis die Population sich wieder erhöht hat.“ „Aber fordert das nicht Opfer von der Bevölkerung?“ Ehe Alona antwortete, warf sie einen kurzen Blick umher. Niemand beachtete sie, es saß nicht einmal jemand in der Nähe des kleinen Tischs, fast als gäbe es ein unsichtbares Bannfeld um sie herum, also waren sie weiterhin ungestört. „Nicht wirklich. Also, klar, sie ernähren sich von Seelensplittern, aber das ist im Großen und Ganzen nicht zwingend gefährlich. Jedenfalls nicht, wenn es nicht im großen Stil vorkommt – und soweit werden wir es schon nicht kommen lassen.“ „Ich habe bisher kaum etwas getan, was macht dich da so sicher?“ „Du bist immerhin nicht allein bei der Sache.“ Sie belud sich die Gabel mit Mais. „Und ich habe bislang noch jeden Feind besiegt, der sich mir in den Weg stellte.“ Ein stolzes Lächeln umspielte ihre Lippen, die sich gleich darauf öffneten, damit sie sich die Gabel in den Mund schieben konnte. Mit einem Nicken deutete sie darauf hin, dass er ebenfalls essen sollte. Nur widerwillig folgte er dieser Aufforderung und aß zumindest einige der grünen Blätter, die einfach nach nichts schmeckten, wenn man ihn fragte. Nur der saure Essig gab dem ganzen ein wenig Geschmack – wenn auch keinen guten. „Du hast gestern doch mit Chandler gesprochen“, begann Alona. „Was hat er eigentlich gesagt, dass du plötzlich so wild auf das Kämpfen wurdest?“ Sie sah ihn sogar an, als sie das fragte und konzentrierte sich nicht mehr auf ihren Salat, es musste sie sehr interessieren – oder sie wollte einfach nur sichergehen, dass er auch wirklich aß. Aber konnte er ihr einfach von dem erzählen, was mit Joel vor sich ging? Andererseits verstand sie es mit Sicherheit besser als jeder andere und er zweifelte, dass sie zu ihm gehen und ihm direkt erzählte, dass Raymond ihr alles verraten hatte. Vielmehr schien es, dass sie Joel nicht leiden könnte – was wohl auf Gegenseitigkeit beruhte –, Raymond aber durchaus, obwohl dieser ihr wesentlich mehr angetan hatte. Unter diesen Voraussetzungen konnte er aber durchaus einfach alles weitererzählen, wenn sie das wollte. Das war auch angenehmer, als alles für sich zu behalten. „Joel hat festgestellt, dass er nun auch diese seltsamen Fähigkeiten hat. Also, diese Mimikry-Fähigkeiten, so ähnlich wie Christine und du.“ Auch wenn er sich fragte, was genau Alonas Fähigkeit eigentlich war. Konnte sie auch Ketten beschwören und kontrollieren? Aber sie hatte diese noch nie eingesetzt, auch nicht bei seiner Verfolgung. Also musste es doch etwas anderes sein. Es wäre einfacher, sie zu fragen, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihm darauf antworten würde. Sie hakte jedenfalls nicht nach, worin Joels Fähigkeiten bestanden, sondern runzelte die Stirn. „Ich verstehe. Du hast ein schlechtes Gewissen und willst verhindern, dass er dasselbe Schicksal erleidet wie Christine. Ist das so?“ „Auch. Aber zusätzlich ist er außerdem mein bester Freund, ich kann nicht zulassen, dass er stirbt.“ Auf diese Worte hin, schien sie noch um einiges nachdenklicher zu werden. „Selbst auf die Gefahr hin, dass du stirbst?“, fragte sie weiter. An diese Möglichkeit hatte er bislang noch nicht gedacht, eigentlich wollte er das auch in diesem Moment nicht, deswegen kam eine ausweichende Antwort: „Ich werde versuchen, das zu vermeiden. Aber Joels Leben wäre mir das wert. Er ist mein bester Freund und auch mein erster. Ohne ihn wäre ich immer einsam gewesen.“ So hatte er, seit seiner Ankunft in Lanchest, immer jemanden gehabt, an den er sich hatte wenden können. Gut, das war selten notwendig gewesen, da Raymond von klein auf daran gewöhnt worden war, sich um sich selbst zu kümmern, aber das Leben in der Großstadt war doch um einiges anstrengender geworden, als er es sich als Kind jemals hätte träumen lassen – und genau in dieser Zeit war Joels Hilfe für ihn unerlässlich gewesen. Auch wenn sich die Schwerpunkte inzwischen verschoben hatten, wollte Raymond an dieser Freundschaft, die noch immer bestand, festhalten. Dafür musste Joel selbstredend am Leben bleiben. Alonas anhaltendes Schweigen verunsicherte ihn ein wenig, weswegen er sich ihr zuwandte. „Stimmt etwas nicht?“ Sie sah ihn nicht an, stocherte nun aber selbst lustlos in ihrem Salat. „Ich habe nur gerade daran gedacht, wie glücklich Chandler sich schätzen kann, einen Freund wie dich zu haben. Nicht jeder kann das von sich behaupten.“ Er glaubte, einen Hauch von Verbitterung aus ihrer Stimme herauszuhören, war sich aber nicht sicher, ob er es sich nicht vielleicht doch nur einbildete. Weiter darauf eingehen wollte er allerdings nicht, auch wenn es ihm unter den Nägeln brannte, mehr zu erfahren, darüber wie sie dachte oder fühlte oder was in ihrer Vergangenheit noch alles geschehen war. Später würde Joel vermuten, dass er an einer Unterform des Stockholm-Syndrom leide, aber im Moment gab es noch keinen Grund, dass Raymond sich deswegen Sorgen machen musste. „Was machen wir denn heute?“ Das Thema zu wechseln erschien ihm besser, um die Stimmung nicht weiter zu drücken. „Ich habe dir schon gesagt, dass wir heute nicht mehr kämpfen gehen.“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, starrte aber weiter in den Salat. „Das lohnt sich einfach nicht.“ „Nein, ich meinte, ob wir nicht vielleicht einfach so etwas miteinander unternehmen wollen. Wir müssen ja nicht nur miteinander kämpfen, oder?“ Einen Moment lang schien sie es tatsächlich in Erwägung zu ziehen, aber dann schüttelte sie mit dem Kopf. „Du solltest lieber etwas mit Joel machen, er braucht dich sicher auch.“ Auch? Wollte sie ihm damit sagen, dass sie ihn benötigte oder dass sie der Meinung war, Raymond brauche Joel? Er wollte nicht fragen, akzeptierte es einfach nur und widmete sich dann schweigend wieder seinem Essen, genau wie sie – wobei sie einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck auflegte. Nach der Schule befand er sich tatsächlich vor dem Haus von Joel, wagte aber erst noch nicht, zu klingeln, sondern betrachtete das Gebäude lediglich. Hinter den Fenstern von Küche und Wohnzimmer waren Bewegungen wahrzunehmen, Schemen, die er im Halbdunkel des Gebäudes nicht so richtig erkennen konnte. Früher war es ihm wie eine Heimat erschienen, aber nun wirkte es vielmehr wie ein abweisendes Gefängnis, das nur dafür errichtet worden war, ihn fernzuhalten. Aber diesem Triumph konnte er ihm nicht gönnen. Raymond löste sich aus seiner Starre und ging mit langsamen Schritten auf die Tür zu und betätigte die inzwischen vertraute Klingel, deren Ton ihn willkommen zu heißen schien. Er hoffte, es galt nicht nur für diesen. Nach wenigen Sekunden erklangen Schritte, die er sofort als jene von Theia identifizierte, im nächsten Moment öffnete sie bereits die Tür. Heute hatte er die Brille extra behalten, weil er keine Auren sehen wollte, nur jene Personen, die seine Familie geworden waren, deswegen war es ihm unmöglich, ihre wundervolle Aura zu sehen, so musste er sie furchtsam anblicken, da er nicht wusste, wie sie reagieren würde. Schweigend sah sie ihn eine Weile an, dann durchbrach sie die angespannte Stille einfach dadurch, dass sie ihn in ihre Arme zog. „Es ist schön, dich zu sehen, Ray.“ Wärme breitete sich in seiner Brust aus, vorsichtig erwiderte er die Umarmung. „Danke, Theia.“ Sie zog ihn mit sich rein, schloss die Tür wieder und schob ihn dann vorsichtig, die Hände auf seinen Schultern, weiter den Gang entlang. „Es tut mir leid, dass wir in der letzten Zeit derart distanziert waren.“ „Das ist schon in Ordnung. Nach allem, was geschehen ist.“ Sie brachte ihn wieder dazu, anzuhalten und sie anzusehen. Vielleicht lag es daran, dass er sie lange nicht gesehen hatte oder an ihrer Sorge um Joel, aber es schien Raymond, als nähme er die Falten in ihrem Gesicht erst jetzt wahr. Sie wirkte gealtert und diese Erkenntnis weckte die Schuldgefühle in seinem Inneren wieder. Wenn er nur mehr getan hätte, um zu helfen … „Das ist nicht in Ordnung“, erwiderte Theia mit ungewohnter Strenge. „Gerade nach allem, was geschehen ist, hättest du bestimmt auch jemanden an deiner Seite gebraucht, der dir beisteht.“ Er war versucht, ihr zu sagen, dass Unterstützung bei ihm gewesen war, einfach nur um sie zu beruhigen, aber das wäre eine Lüge gewesen, die er ihr nicht zumuten wollte. Also legte er lediglich eine Hand beruhigend auf ihre, die noch immer auf seinem Arm lag. „Es ist schon in Ordnung, ich kann es vollkommen verstehen, also mach dir keine Gedanken mehr.“ Die Besorgnis schwand aus Theias Gesicht und machte einem erleichterten Lächeln Platz. „Möchtest du dann heute bei uns essen?“ „Nur wenn es dir keine Umstände macht.“ „Aber überhaupt nicht.“ Sie winkte ab. „Geh ruhig zu Joel, er kann dich bestimmt gerade brauchen. Den ganzen Tag sitzt er nur in seinem Zimmer, das ist nicht gut für ihn.“ Nachdem er ihr versichert hatte, dass er deswegen hier war, ging er die Treppe hinauf, klopfte kurz an die richtige Tür und trat ein, ehe es eine Antwort geben konnte. Joel saß an seinem riesigen Schreibtisch, die Arme darauf gelegt und den Kopf darin gebettet. Er blickte nicht einmal auf, als die Tür geöffnet wurde. „Hey, Ray.“ „Woher wusstest du, dass ich es bin?“ Er setzte sich ungebeten auf einen der Stühle, stützte seinen Ellenbogen auf den Tisch und bettete sein Kinn auf seiner Hand, während er Joel erwartungsvoll ansah. Dieser hob endlich den Kopf. Er wirkte müde, schien aber zumindest nicht geweint zu haben. „Du bist der einzige, der reinkommt, ohne abzuwarten, bis ich ihn hereinbitte.“ „Und bislang habe ich auch keinen Ärger dafür bekommen.“ „Ich hab ja nicht gesagt, dass du in Schwierigkeiten steckst.“ Er lächelte zaghaft. „Was willst du?“ „Ich wollte nur wissen, wie es dir geht.“ Joel zögerte einen Moment. „Na ja, es geht einigermaßen. Ich würde am liebsten den ganzen Tag heulen. Ganz schön erbärmlich, oder?“ „Absolut nicht.“ Raymond wünschte, er selbst könnte auch weinen. „Wir haben immerhin Chris verloren. Und dann die Veränderungen, die in dir vorgehen … es wäre eigenartig, wenn du nicht weinen würdest.“ „Ich wäre im Moment glücklich darüber.“ „Nein, wärst du nicht.“ Raymond lächelte ihn zuversichtlich an, worauf auch Joel nicht anders konnte als zu lächeln. „Vielleicht hast du ja recht“, gab er zu. „Aber ich würde dennoch gern ein bisschen weniger weinen. Irgendwann wird man so … leer.“ „Du solltest dich von deinen Gedanken ablenken. Bei mir funktioniert es.“ Aber er war sich nicht sicher, wie er das mit Joel anstellen sollte. Vielleicht wäre die Schule schon einmal ein guter Anfang. „Dein Vater wäre sicher froh, wenn du wieder in die Schule kommst.“ Joel wägte diesen Gedanken ab, dann nickte er tatsächlich. „Okay, ich komme morgen wieder. Du kommst aber auch, oder?“ „Klar. Ich lasse dich doch nicht hängen.“ Er nickte noch einmal, dann wandte er seinen Blick auf den dritten Stuhl, auf dem vor gar nicht allzulanger Zeit Christine gesessen hatte, um mit ihnen die Strafarbeit von Professor Liam zu erledigen. Damals hatten sie gedacht, für immer zusammen zu sein. Nun schien es eine halbe Ewigkeit her zu sein. „Glaubst du, es wird irgendwann leichter werden?“, fragte Joel leise. Raymond hätte ihm gern eine Antwort gegeben, einfach nur um ihn zu beruhigen. Aber er hatte noch nie zuvor jemanden verloren, abgesehen von seinen Eltern, an die er sich ohnehin nicht mehr erinnerte und die er deswegen nie vermisst hatte. „Ich weiß es nicht. Aber wir können es nur herausfinden, wenn wir weitermachen. Das ist die einzige Art, Chris' Opfer zu würdigen.“ Sonst wäre sie vollkommen umsonst gestorben und das konnte nicht im Interesse der beiden sein. Joel musterte ihn, mit einem Blick, den Raymond selten an ihm gesehen hatte, weswegen er ihn nicht wirklich einschätzen konnte. Doch ehe er nachfragen konnte, was los war, lächelte Joel bereits wieder traurig. „Du bist so erwachsen geworden. Wann ist das passiert?“ Raymond hob die Hände ein wenig, um von seiner Verlegenheit abzulenken. „Du bist auch erwachsen geworden. Das werden wir zwangsläufig alle. Besonders nach solchen Erlebnissen.“ „Wahrscheinlich. Irgendwie traurig.“ Joel lehnte sich zurück, ließ die Arme an seinen Seiten herunterhängen. „Aber wir können so nicht weitermachen.“ „Wir müssen nach vorne sehen, auch wenn das wie ein Spruch aus einem Selbsthilfebuch klingt.“ Solche hatte er zwar nie gelesen, aber er glaubte dennoch, den Inhalt einigermaßen erfassen zu können, jedenfalls nach dem, was ihm bislang alles erzählt worden war. Joel lachte leise. „Ja, das stimmt schon irgendwie~.“ Er hob die Arme wieder an, damit er seine Hände auf den Tisch legen konnte, er wirkte damit schon wesentlich dynamischer. Als er Raymond ansah, konnte dieser sogar einen Hauch des alten Ichs seines Freundes entdecken. „Wenn wir nach vorne sehen wollen, müssen wir auch mal an das Naheliegende denken: das Essen!“ Ja, das war schon eher Joel, wie er ihn kannte, selbst wenn die Traurigkeit noch immer in seinen Augen schimmerte. „Also? Willst du heute bei uns essen, Ray?“ „Aber sicher.“ So könnte er mehr Zeit mit seinem besten Freund verbringen und weiter sicherstellen, dass es ihm zumindest heute gut ginge – genau wie er es versprochen hatte. Kapitel 24: Ankündigungen ------------------------- Nicht nur Raymond besuchte die Schule ganz normal weiter, sondern auch Joel, der seit seinem Besuch wieder ein wenig optimistischer zu sein schien. So saßen sie schon einen Tag später wieder zusammen beim Mittagessen und beobachteten, quer durch die Mensa hindurch, die anderen Schüler, die sich um Alona scharten. Ohne eine ständig plappernde Christine waren sie dabei ziemlich leise. Selbst die Gespräche der anderen überdeckten das nicht. „Sie ist ganz schön beliebt“, stellte Joel fest und brach damit die Stille. „Und sie hing wirklich mit dir ab, während ich nicht hier war?“ Ohne großen Appetit aß Raymond seinen Salat, den er sich zuvor gekauft hatte. Eigentlich war ihm nicht nach Essen, aber er erinnerte sich daran, dass sie am Tag zuvor auch auf einen solchen bestanden hatte. Er spürte Alonas prüfende Blicke auf sich, obwohl sie so weit entfernt voneinander saßen, deswegen ging er lieber kein Risiko ein – außerdem wusste er selbst, dass er fit bleiben musste, wenn er Joel beschützen wollte. „Tat sie“, bestätigte er schließlich. „Sie ist eigentlich richtig in Ordnung. Ich glaube, sie ist hauptsächlich einsam. Deswegen genießt sie vermutlich diese Aufmerksamkeit auch so sehr.“ Er fragte sich, ob die anderen mit ihr gerade darüber sprachen, dass sie so viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Ob sie mehr über diese Beziehung wissen wollten? Oder waren sie nur an Alona selbst interessiert und ignorierten ihn und ihre Blicke in seine Richtung vollkommen? Welche Vorstellung störte ihn mehr? Joel wandte sich ihm mit gerunzelter Stirn zu. „Einsam? Sie ist eine Hexe, Mann. Und sie hat versucht, dich zu töten. Mehrmals.“ „Sie ist ein guter Mensch. Und sie wollte euch anderen eigentlich nur helfen.“ Es war immerhin seine Schuld, dass es derart hatte eskalieren können. Sie hatte ihn sogar noch gewarnt, doch er hatte sie ignoriert. Und nun war es seine Aufgabe, das wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber das konnte er nicht sagen. „Ich kann niemandem vertrauen, der versucht, meinen besten Freund umzubringen.“ Auf diesen Standpunkt beharrte Joel offenbar – und es rührte Raymond, weswegen er ihn kurz anlächelte, was von seinem besten Freund auch erwidert wurde. Nichts an ihm wirkte gerade noch deprimiert, das war ein gutes Zeichen. Er wechselte auch sofort das Thema, um nicht mehr über Dinge zu sprechen, die deprimieren könnten: „Ich hab ja vermutlich nicht viel verpasst. Mein Vater hat mir alles weitergegeben und mich dabei beobachtet, wie ich die Aufgaben erledige.“ Seine zusammengezogenen Brauen verrieten, wie sehr ihn das alles genervt hatte. „Wir stehen auch kurz vor dem Abschluss“, erinnerte Raymond ihn. „Da kannst du dir keine Ausfälle mehr leisten, egal aus welchem Grund.“ Es war eine harte Aussage, aber eben auch die Wahrheit. Vermutlich hatte Rufus sich aber auch eher Sorgen um seinen Sohn gemacht und ihn deswegen so genau beobachtet. „Ich bin jedenfalls vorbereitet“, sagte Joel. „Selbst wenn heute Nachmittag noch ein super-mega-Überraschungstest kommt.“ „Ich hoffe dennoch auf keinen.“ Raymond war jedenfalls nicht im Mindesten vorbereitet. Die letzten Tage hatte er zu viel Zeit mit anderen Dingen verbracht. Das wollte er allerdings im Moment nicht erklären, Joel nahm dafür andere Gründe an, so dass er das auch gar nicht musste: „Ja, es muss ganz schön hart für dich gewesen sein. Sorry, Mann.“ Das Thema drohte, wieder deprimierend zu werden. Raymond musste rasch einlenken: „Die Tage sind ja jetzt vorbei. Wenn du so gut im Unterrichtsstoff bist, lass uns zusammen lernen.“ „Klar.“ Joel wirkte ziemlich zufrieden und stolz über diese Ansage. „Dann zeige ich dir mal, wie intelligent ich wirklich bin. Bislang hast du noch gar nichts gesehen!“ „Oh, soll das heißen, du kannst dir wirklich noch andere Dinge merken als nur das, was du in deinen Büchern über Todesarten liest?“ Joel schmunzelte. „Ist das eine Herausforderung? Glaub mir, du wirst total überrascht sein~.“ „Ohne Beweise glaube ich dir gar nichts.“ Diese kleinen spielerischen Auseinandersetzungen waren wie früher, selbst ohne Christine. Deswegen genoss Raymond sie in diesem Moment umso mehr – und bemerkte dabei gar nicht, wie er sein Mittagessen nach und nach verzehrte. Im Nachmittagsunterricht folgte, wie von Raymond gehofft, kein Überraschungstest, nicht einmal ein kleiner. Auch kam es ihm vor, als könne er dem Schulstoff nun wieder viel besser folgen, obwohl er nach wie vor nicht wirklich spannend war. Sein Blick wanderte immer noch ab und an zu Alona, die wenige Reihen vor ihm saß und vollkommen im Unterricht aufzugehen schien. Jedenfalls bemerkte sie seine Blicke scheinbar nicht. Als Raymond nach der Schule mit Joel nach Hause ging, hatte sich der Himmel bereits orange gefärbt. Zumindest war es nicht bewölkt. Aber es war trotzdem recht kühl, was Raymond nicht sonderlich gefiel. Nicht wegen sich selbst, sondern wegen Alona, die viel mehr Zeit draußen verbrachte. Hoffentlich ging sie nicht ohne ihn raus. „Sind aktuell eigentlich viele von denen in der Gegend?“ Raymond sah zu Joel hinüber. „Viele von wem?“ Es schien ihm unangenehm zu sein, es wirklich auszusprechen. „Von diesen Dingern.“ „Oh. Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich schon darum. Gemeinsam mit Alona.“ Joel mochte sie nicht, aber wenn er erfuhr, dass sie für Sicherheit sorgte, dachte er vielleicht anders über sie. Allerdings kommentierte Joel das nicht und stellte stattdessen eine Frage: „Erlaubt dir Joy das etwa?“ Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass offenbar jeder annahm, er bräuchte Joys Erlaubnis für alles, was er tun wollte. Doch vielleicht stimmte das ja sogar und dies war auch ein Akt der Rebellion. Aber er bereute es nicht. „Ist das denn so wichtig?“ Joel zog die Brauen zusammen. „Du hast dich ganz schön verändert, was?“ Wenn sogar Joel es bemerkte, musste es so offensichtlich sein, dass er es nicht mehr abstreiten konnte. „Es sind auch viele Dinge geschehen. Ich musste mich verändern.“ Er verzichtete, seinen Freund darauf hinzuweisen, dass dieser das auch durchgemacht hatte. Im Moment gab Joel sich Mühe, so zu sein wie früher, das wollte er nicht zerstören. „Ja, man merkt es. Früher hast du alles getan, was Joy dir gesagt hat. Oder meine Eltern. Du warst immer so ziemlich der perfekte Sohn.“ Joel schmunzelte. „Und jetzt bist du auch ein kleiner Rebell geworden, das ist cool~.“ Das zu hören erleichterte Raymond. Joel wollte immer noch Zeit mit ihm verbringen, das tat gut. „Hey, Ray.“ „Hm?“ „Benutzt du im Kampf gegen diese Dinger dann auch wieder diese krassen Fähigkeiten wie in dieser einen Nacht?“ Aus irgendeinem Grund deutete Joel dabei einen Abstand mit seinen Armen an. „Das war zwar unheimlich, aber auch total cool irgendwie.“ Raymond erinnerte sich dafür eher ungern daran. Aber es war schön zu wissen, dass es Joel nicht weiter kümmerte. „Nein, das mache ich nicht. Ich glaube nicht, dass es sonderlich gesund für mich ist.“ Er erzählte seinem Freund auch nichts davon, dass er am Tag danach gefesselt in einem Raum im Keller der Schule aufgewacht war. Darüber hätte Joel sich nur zu viele Gedanken gemacht und auch seinen Vater zur Rede gestellt, Raymond wollte das lieber vermeiden. Glücklicherweise vertraute Joel ihm auch: „Okay, dann solltest du das wirklich nicht machen. Aber solange du auch sonst zurechtkommst, passt das doch. Sei nur vorsichtig, ja?“ Sein letzter Satz klang fast ängstlich. Raymond musste sofort einschreiten: „Mach dir keine Gedanken, ich begebe mich nicht in Gefahr.“ Zusammen mit Alona fühlte er sich sogar seltsam sicher. „Ich nehm dich beim Wort“, sagte Joel. Ein plötzliches Klingeln unterbrach ihre Unterhaltung. Joel griff in seine Tasche, was Raymond ihm nachmachte – und tatsächlich, es war sein Handy. Und das Display verriet ihm auch, dass es Eve war, die gerade versuchte, ihn anzurufen. „ Da sollte ich dich wohl lieber allein lassen“, bemerkte Joel nach einem kurzen Blick auf das Display. Ehe Raymond widersprechen konnte, lief er plötzlich schneller, um die vor ihnen liegende Kreuzung als erster zu erreichen. Er fuhr noch einmal herum und hob die Hand. „Wir sehen uns dann morgen, Ray.“ Nach einem kurzen Winken verschwand er aus Raymonds Sicht, die Querstraße hinunter. Sorgen machte er sich keine um Joel, nach diesem Tag wollte er vermutlich nur mal wieder allein sein, das war okay. Joel würde sich nichts antun. Und solange es noch nicht dunkel war, gab es auch noch keine Mimikry, die ihm auflauern könnten. Derart zufriedengestellt nahm Raymond den Anruf an und hörte auch sofort die gut gelaunte vertraute Stimme Eves. „Ich hoffe, ich störe dich nicht gerade~.“ „Du störst doch nie.“ Er setzte seinen Weg fort, während er antwortete. „Was gibt es?“ „Eigentlich müsste ich das eher dich fragen. Aber eigentlich wollte ich dir sagen, dass wir übermorgen bei dir vorbeikommen~.“ In all der Aufregung hatte er ganz vergessen, dass Eve und Adam angekündigt hatten, ihn besuchen zu wollen. Deswegen war die Überraschung umso größer, genau wie seine Freude darüber. „Das ist ja großartig. Ich kann es kaum erwarten.“ Gedanklich ging er bereits Orte in der Stadt durch, die er ihnen zeigen müsste. Eve war nicht sonderlich an Kultur interessiert, Adam aber schon. Adam mochte Bücher, Eve aber nicht so sehr. Es dürfte nicht einfach werden, beides unter einen Hut zu bekommen. „Ich hoffe doch, dass du dich freust~“, flötete Eve. „Ich bin auch schon ganz aufgeregt. Dann sehe ich endlich mal, wie du gewachsen bist.“ „Ich habe dir Bilder geschickt.“ „Die sagen doch gar nichts aus. Erst wenn ich dich in natura sehe, kann ich wissen, wie du wirklich gewachsen bist.“ Im Hintergrund war ein leises Seufzen zu hören. Adam hörte also wieder mit. Er müsste ihn bei dem Besuch fragen, wie genau er es mit Eve aushielt. „Ich schicke dir noch alle genaueren Angaben per Mail. Dann weißt du ganz genau, wann du uns am Bahnhof abholen musst.“ „Gut, ich erwarte dann eure Anweisungen.“ „Jawohl, Sir!“ Er stellte sich vor, wie Eve gerade mit dem Telefon in der Hand salutierte, was ihn tatsächlich zu einem Lächeln anhielt. „Okay, dann bis übermorgen.“ Sie verabschiedete sich ebenfalls, dann beendete er das Gespräch. Zu wissen, dass er diese beiden endlich bald wiedersah, erfüllte ihn mit einer Vorfreude, von der er nicht geglaubt hätte, sie jemals wieder spüren zu können. Ein wenig nagte nach dieser Erkenntnis auch das schlechte Gewissen an ihm. Christine war noch nicht lange tot – sie hatte er nicht einmal erwähnt bei dem Gespräch eben – und doch fühlte er sich wieder glücklich. Durfte das überhaupt sein? Wie gern hätte er Christine danach gefragt, ihre Meinung darüber erfahren – aber vermutlich hätte sie bei diesem Thema nur gelächelt und ihm gesagt, dass sie natürlich wollte, dass alle glücklich werden, auch ohne sie, wenn es sein musste. Manchmal war sie einfach zu gut für diese Welt. Und vielleicht war das im Endeffekt der Grund für ihren Tod. Allerdings wäre diese These nur dann zutreffend, wenn er davon ausging, dass die Natur ein eigenständig denkendes und fühlendes Wesen war. Und dieser Gedanke war- Lächerlich. Er wollte das Handy gerade wieder einstecken, als es aber plötzlich in seiner Hand vibrierte. Zuerst glaubte er, es sei nur die Mail mit den Einzelheiten, die Eve ihm versprochen hatte. Aber als er auf das Display sah, stellte er fest, dass es sich dabei um eine Mitteilung von Alona handelte. Um eine scheinbar ziemlich empörte: Sind du und Chandler eigentlich im „Heimgeh“-Club oder was? Ihr wart nach der Schule schneller verschwunden als ich mich umdrehen konnte. Dabei wollte ich noch mit dir reden. Warum rief sie ihn dann nicht an? Oder war sie derart sauer geworden, dass sie es nur fertig gebracht hatte, ihm eine Nachricht zu schreiben? Er müsste sie fragen, wenn er sie wiedersah. Jedenfalls geht es darum, dass ich dir sagen wollte, wann wir wieder jagen gehen. Heute Nacht lohnt es sich noch nicht, aber morgen Nacht dürften wieder genug Mimikry unterwegs sein um die man sich kümmern muss. Halt dir die Nacht also schon mal frei, okay? Ruh dich bis dahin auch aus und iss ordentlich! Ich behalte dich im Auge. Kapitel 25: Freunde der Wölfe ----------------------------- [LEFT]Raymond hatte sich die Mail von Eve angesehen, um herauszufinden, wann genau sie ankämen, war in der Schule gewesen, wo Alona ihn wieder mal ignoriert hatte, und hatte sich nach Unterrichtsschluss von Joel verabschiedet.[/LEFT] [LEFT]„Hast du noch etwas vor?“, war die misstrauische Frage gekommen.[/LEFT] [LEFT]„Wir wollten heute Mimikry jagen gehen.“[/LEFT] [LEFT]Danach war Joels Neugier befriedigt gewesen und nach einer neuen Bitte um Vorsicht war Joel allein nach Hause gegangen. Er hatte so … einsam gewirkt.[/LEFT] [LEFT]Raymond dachte noch immer darüber nach, als er nach Einbruch der Dunkelheit mit Alona zusammen durch die Straßen lief. Ihre Schritte waren fest und hart, wie ihm auffiel, während er diesen lauschte. Es kam ihm vor als gingen seine eigenen dabei vollkommen unter.[/LEFT] [LEFT]Vor allem fiel ihm aber auch auf, dass außer ihnen niemand draußen war. Warum war ihm früher nie aufgefallen, wie still und leer die Stadt nachts war? Hatte er es immer als normal betrachtet?[/LEFT] [LEFT]„Du wirkst abgelenkt.“ Alonas Stimme holte ihn aus seinen Gedanken heraus. „Was ist los?“[/LEFT] [LEFT]„Ich denke nur nach.“ Aber wenn sie sich schon unterhielten, konnte er diese Gelegenheit direkt nutzen. „Hey, kann ich dich was zu deiner Arbeit fragen?“[/LEFT] [LEFT]„Meinst du die bei Garou?“[/LEFT] [LEFT]„Arbeitest du noch irgendwo anders?“[/LEFT] [LEFT]Sie zog die Brauen zusammen. Er trieb es lieber nicht zu weit. „Jedenfalls wollte ich wissen, ob du keine Freunde hast, die du dort vermisst.“[/LEFT] [LEFT]Alona fuhr sich mit einer Hand durch das lange Haar. Der Ring an ihrer Hand glitzerte immer noch unheilvoll. Wenn er so darüber nachdachte, war das vermutlich der Grund, wegen dem sie ihn als Köder benutzen wollte – damit er dann auch die Arbeit erledigen könnte. Bislang hatte ihre Magie sich dank des Rings schließlich nur auf kleinere Tricks beschränkt.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich hielt sie inne und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir vermeiden es normalerweise, Freundschaften zu schließen. Wir wissen schließlich, welches Schicksal uns erwartet.“[/LEFT] [LEFT]Wusste sie, wie bitter sie bei diesen Worten klang? Raymond hätte sie am liebsten in die Arme genommen, aber er wusste, dass sie das nicht gutheißen würde.[/LEFT] [LEFT]„Nur Christine war da anders. Aber du siehst ja, wohin es sie gebracht hat.“[/LEFT] [LEFT]Ihr Blick ging zur Seite. In seinem Hals bildete sich ein unangenehmer Kloß. Er wollte nicht an Christine denken, nicht gerade in diesem Moment.[/LEFT] [LEFT]„Hast du dann wenigstens hier Freunde?“, fragte er weiter. „Abgesehen von mir?“[/LEFT] [LEFT]Sie stutzte, musterte ihn genauer. „Bitte? Wer sagt, dass wir Freunde sind?“[/LEFT] [LEFT]„Ich nahm es an.“[/LEFT] [LEFT]Mit einem leisen Schnauben wandte sie sich ab, doch er war sicher, dass sie ein wenig errötet war. „Ich habe versucht, dich umzubringen, Idiot. Hast du das etwa schon vergessen?“[/LEFT] [LEFT]Er zuckte mit den Schultern. Vergessen hatte er es nicht, aber es störte ihn kaum noch. Ihre Beweggründe für diese Versuche legitimierten sie seiner Meinung auch. Außerdem hatte er bei der zweiten Begegnung auch versucht, sie umzubringen. Damit waren sie fast quitt.[/LEFT] [LEFT]„Und wegen dir ist Christine gestorben.“[/LEFT] [LEFT]Das saß wesentlich mehr. Seine Schuldgefühle deswegen waren noch nicht erloschen, Zeit für Trauer war ihm auch noch nicht geblieben. Er musste funktionieren. Für Joel und Alona. Aber er sagte nichts zu ihrer Anklage.[/LEFT] [LEFT]„Wie könnten wir da jemals Freunde werden?“, schloss sie.[/LEFT] [LEFT]„Warum verbringen wir dann so viel Zeit miteinander? Wenn ich nur dein Köder wäre, hättest du dir bestimmt etwas anderes einfallen lassen. Und die Bekämpfung der Mimikry hättest du auch jemand anderem überlassen können. Dennoch sind nun wir beide hier unterwegs.“[/LEFT] [LEFT]Sie zog ihre Schultern nach oben als wolle sie sich zwischen diesen verstecken. Er hätte gern gewusst, wie ihr Gesicht gerade aussah, aber er traute sich nicht, nachzusehen.[/LEFT] [LEFT]Er hatte sie gar nicht derart bloßstellen wollen, er war nur daran interessiert gewesen, ob sie ihre Mitschüler als Freunde, Bekannte oder Alibi empfand.[/LEFT] [LEFT]Plötzlich wandte sie sich ihm wieder zu. Auf ihrem Gesicht lag ein gewohnt kühler Ausdruck. „Wie auch immer. Ich bin nicht hier, um mit dir über meine Freunde zu reden. Wir wollten Mimikry jagen, schon vergessen?“[/LEFT] [LEFT]Raymond sah sich um. Allerdings entdeckte er keinen der Feinde. „Da es hier keine gibt, können wir uns doch auch unterhalten, oder?“[/LEFT] [LEFT]„Nein, das heißt nur, dass wir besser suchen müssen.“ Damit wirbelte sie herum und lief in die andere Richtung weiter, ohne auf ihn zu achten.[/LEFT] [LEFT]Er folgte ihr rasch. Es kostete ihn keine Mühe, weiter mit ihr Schritt zu halten. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, als wolle sie sichergehen, dass er wirklich da war, dann sah sie wieder nach vorne. Für wenige Sekunden schwiegen sie beide, aber Raymond störte sich nicht daran. Es war angenehm, kein bedrückendes Schweigen, das darum bat, gefüllt zu werden. Schließlich sprach Alona weiter, aber ohne ihn anzusehen: Vor langer Zeit gab es noch jemand anderen bei Garou, den ich als Freund betrachtet habe. Er war ein sehr guter Freund meiner Eltern. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte er geschworen, den Mimikry zu finden, an dem sie gescheitert war, und ihn zu vernichten. Danach habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.“[/LEFT] [LEFT]„Das tut mir leid.“ Familie zu haben, nur um sie nach und nach zu verlieren, musste seiner Vorstellung nach härter sein als sie vollkommen zu vergessen.[/LEFT] [LEFT]Sie deutete ein Kopfschütteln an. „Ich habe damals beschlossen, niemals wieder Freundschaften zu schließen, wenn sie derart schmerzhaft enden. Das erschien mir als einzige vernünftige Konsequenz daraus. Aber dann habe ich Christine getroffen.“[/LEFT] [LEFT]Raymond konnte sich vorstellen, wie das abgelaufen war. Christine war mit ihrer liebenswerten Lebendigkeit direkt auf Alona zugestürmt und hatte dieser gar keine andere Wahl gelassen, als sich mit ihr anzufreunden. Nicht, dass irgendwer sich dem gar verschließen wollte. Christine war derart einnehmend, dass man erst gar nicht den Wunsch verspürte, sich ihr zu entziehen. Aber sicher war Alona damit am Anfang überfordert gewesen. Darüber sprach sie jedoch nicht.[/LEFT] [LEFT]„Sie war dann meine letzte Freundin, bevor ihre Eltern sie fortbrachten, um sie zu schützen.“[/LEFT] [LEFT]Es klang nicht danach als trage sie das jemandem nach. Vermutlich war sie ebenfalls der Meinung gewesen, man müsse Christine schützen – und er hatte darin versagt. Es war eigenartig, dass sie dennoch derart lebendig zwischen ihnen schien.[/LEFT] [LEFT]„Ich habe hier also keine Freunde“, fuhr sie fort. „Aber ich benötige auch keine. Sie würden mich nur von meinen Zielen ablenken.“[/LEFT] [LEFT]„Woraus bestehen diese?“ Besaßen die Mitglieder von Garou ein langfristiges Ziel? Bislang hatte er nur über die kurzfristigen nachgedacht: das Töten von Mimikry.[/LEFT] [LEFT]Sie antwortete nicht sofort, es dauerte nur wenige Sekunden, fühlte sich aber wie eine Ewigkeit an, bis sie es doch tat: „Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann. Aber mein Ziel ist es, alle Mimikry zu vernichten, dann die Quelle zu finden und sie ein für allemal auszuschalten.“[/LEFT] [LEFT]Raymond wurde von einer Gänsehaut übermannt. „Das ist wirklich ein großes Ziel.“[/LEFT] [LEFT]Konnte man das überhaupt erreichen? Da er so wenig über diese Wesen wusste, konnte er das nicht sagen, und er wollte sie das nicht fragen, nicht in diesem Moment.[/LEFT] [LEFT]„Es war das Ziel meiner Eltern“, erklärte sie. „Ich habe nur ihre Träume übernommen.“[/LEFT] [LEFT]Bevor er ihr mitteilen konnte, dass er sich erinnerte, bereits von ihren Eltern und deren Sterben gehört zu haben, stieß sie ein bitteres Lachen aus. „Ich bin nicht einmal in der Lage, einen eigenen Traum zu haben.“[/LEFT] [LEFT]„Wenigstens hast du einen“, erwiderte er, in einem Versuch sie zu trösten.[/LEFT] [LEFT]Sie interpretierte folgerichtig: „Hast du denn keinen?“[/LEFT] [LEFT]„Nein. Ich habe nur ein Ziel: Joel beschützen.“ So wie er es ihm versprochen hatte. „Aber ich würde das nicht als Traum bezeichnen. Also besitze ich keinen.“[/LEFT] [LEFT]„Bislang vielleicht.“ Ihre Stimme war plötzlich überraschend aufrichtig und fürsorglich. „Aber ich bin sicher, du wirst auch noch einen Traum finden. Einen, der es wert ist, von dir geträumt zu werden. Dafür ist es nie zu spät.“[/LEFT] [LEFT]Sie räusperte sich sofort, wohl um die Unsicherheit zu übertünchen, die mit diesen für sie ungewohnten Worten einherging. Er plante nicht, ihre Verlegenheit auszunutzen, obwohl er davon überrascht war.[/LEFT] [LEFT]„Dann kannst du aber auch noch einen neuen Traum finden“, erwiderte er ihr stattdessen. „Du sagst selbst, dafür sei es nie zu spät. Auch bei dir nicht.“[/LEFT] [LEFT]Sie lächelte kurz, wurde dann wieder ernst und öffnete den Mund, aber er schnitt ihr das Wort ab: „Ich weiß, dass du denkst, dass du wegen dieser Kräfte keine Zukunft haben wirst, um einen neuen Traum zu finden.“[/LEFT] [LEFT]„Vielleicht kann ich nicht einmal diesen erfüllen“, stimmte sie zu.[/LEFT] [LEFT]„Aber darum musst du dir keine Sorgen machen.“ Er wollte nicht, dass sie in eine schlechte Stimmung geriet oder er seinen Mut verlor, so mit ihr zu reden, deswegen durfte er sie nicht abschweifen lassen. „Ich werde nicht zulassen, dass dir dasselbe passiert wie Chris.“[/LEFT] [LEFT]Sie blieb unvermittelt stehen, genau wie er. Sie wandte sich ihm zu, verschränkte die Arme vor dem Körper. Ihr Blick war derart intensiv, dass er glaubte, sie könne bis auf den Grund seiner Seele sehen, aber er hielt stand. Das einzige, was sie entdecken könnte, wäre seine Aufrichtigkeit.[/LEFT] [LEFT]„Bist du sicher, dass du das schaffen kannst?“, fragte sie neutral. „Du hast es bei Christine nicht geschafft. Also was lässt dich denken, dass es nun anders wird?“[/LEFT] [LEFT]Er hob einen Finger. „Zum einen hast du diesen Einherjar-Ring, der dich davon abhalten wird, deine Kräfte zu überstrapazieren.“[/LEFT] [LEFT]Sie sah auf diesen hinab.[/LEFT] [LEFT]„Zum anderen kann ich jetzt auch kämpfen.“ Er hob die Schultern ein wenig. „Es wird nicht an dir hängen bleiben. Ich werde diese Stadt, Joel und auch dich beschützen. Deswegen wünsche ich mir, dass du mir vertraust, selbst wenn du das nicht gewohnt bist oder nie wieder tun wolltest.“[/LEFT] [LEFT]„Übernimmst du dich da nicht?“ Ihre Stimme war plötzlich eigenartig leise.[/LEFT] [LEFT]Er stemmte seine Hände in seine Hüften. „Nein, das tue ich nicht. Es ist mir ein ernsthaftes Anliegen, sowohl Joel als auch dich sicher zu sehen. Ich weiß, dass du wesentlich stärker bist als ich, dennoch möchte ich alles tun, was in meiner Macht steht. Deswegen werde ich mich nicht übernehmen, niemals.“[/LEFT] [LEFT]Nachdem er das alles endlich einmal ausgesprochen hatte, fühlte seine Brust sich schon wesentlich freier. Er konnte tief durchatmen. Auf ihre Antwort zu warten erzeugte aber ein nervöses Kribbeln in seiner Körpermitte. Ihm blieb nur noch zu hoffen, dass sie nicht lachte.[/LEFT] [LEFT]Sie hob den Kopf wieder und sah ihn erneut an. Im Licht der Straßenlaternen glaubte er, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. Allerdings bekämpfte sie diese erfolgreich. Seine Brust füllte sich mit Wärme, die er in seinem Leben bislang nur selten verspürt hatte. Gleichzeitig freute er sich darüber, diese schwache Seite an ihr sehen zu dürfen. Und dann war da noch dieser eigenartige Stolz auf sie, dass sie selbst in diesen Momenten noch stark zu sein versuchte.[/LEFT] [LEFT]Sie schluckte schwer, räusperte sich. „Uhm, weißt du, vielleicht habe ich mich vorhin getäuscht. Ganz offensichtlich habe ich hier Freunde, zumindest einen. Ich habe es bislang nur nicht sehen wollen.“ Sie neigte den Oberkörper ein wenig. „Danke, Raymond.“[/LEFT] [LEFT]Auch wenn sie nur das sagte, verstand er wesentlich mehr zwischen ihren Worten. Er spürte aufrichtige Dankbarkeit, zumindest wollte er das glauben. Dabei war er der Überzeugung, dass er derjenige war, der eigentlich ihr dankbar sein sollte. Sie hatte zuerst sein Leben gerettet – und war nun hier, um ihn anzuweisen, noch viel mehr zu schaffen.[/LEFT] [LEFT]Er nickte, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen.[/LEFT] [LEFT]Sie schien erleichtert und wandte sich wieder von ihm ab. Mit ausgestrecktem Arm deutete sie vor sich. „Dann lass uns endlich mal ein paar Mimikry jagen. Wenn du diese Stadt beschützen willst, musst du darin ein echter Profi werden.“[/LEFT] [LEFT]Lächelnd salutierte er darauf. „Jawohl, Ma'am! Schon unterwegs!“[/LEFT] [LEFT]Sichtlich zufrieden setzte Alona sich wieder in Bewegung, er folgte ihr sofort. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, fühlte er sich ihr endlich richtig verbunden – und er hoffte, dass dieses warme Gefühl in seinem Inneren noch lange anhielt.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)