Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 8: Neumond ------------------ Als sie endlich in der Stadt ankamen, war die Sonne bereits untergegangen. Die Vorbezirke, in denen sie sich befanden, waren hauptsächlich von Familien bewohnt, die ihren Vorgarten immer schön vorzeigbar hielten und nach Sonnenuntergang keinen Fuß mehr vor die Tür setzten. Dementsprechend verlassen waren die Straßen auch, während sie diese durchquerten, um nach Hause zu kommen. Normalerweise würde man wohl sagen, dass Joel und Raymond es hierbei am Besten hatten, denn die Familie Chandler wohnte ebenfalls in einem Vorbezirk – nur dummerweise am anderen Ende der Stadt, wohin sie auch unterwegs waren. Noch dazu gab es keine öffentlichen Verkehrsmittel in Lanchest, egal, wohin man wollte, man musste den Weg zu Fuß oder mit einem Auto zurücklegen. Zu den Exkursionen wurden die Schüler von den Ausbildern mit schuleigenen Autos an den entsprechenden Ort gefahren und dann dort allein gelassen, damit sie den Weg nach Hause selbst zurücklegten. Unterwegs seufzte Joel leise. „Ich bin müde. Können wir nicht lieber in deine Wohnung, Ray? Die ist viel näher.“ Mit gerunzelter Stirn erinnerte Raymond sich an das Gefühl zurück, als er das letzte Mal in seinem Apartment gewesen war. Dieses Da-ist-noch-jemand, die zermürbende Gewissheit, dass jemand in der Wohnung gewesen war, ohne dass Raymond es auf eine ganz bestimmte Sache schieben konnte. Das Niesen, als er hinausgegangen war, hatte er deutlich gehört und sich noch in der Nacht immer wieder ins Gedächtnis gerufen, bis er sich absolut sicher gewesen war, dass jemand dort gewesen war, während er durch jeden Raum gegangen war. Er glaubte nicht an Geister, deswegen schloss er diese Möglichkeit aus – ganz zu schweigen davon, dass Geister nicht niesten – aber die andere, nämlich, dass es diese Frau gewesen war, die gefiel ihm noch weniger. Deswegen wollte er nicht in seine Wohnung, aber das alles konnte er Joel nicht sagen, zumindest nicht jetzt. Darum ließ er sich kurzerhand etwas anderes einfallen: „Du hast doch sicher auch Hunger, nicht wahr? In meiner Wohnung gibt es aber nichts mehr. Ich war immerhin schon eine ganze Weile nicht mehr dort und zum Einkaufen ist es schon zu spät.“ Das ließ Joel diesen Plan verwerfen. „Wie blöd. Nächstes Mal gehen wir vorher einkaufen und dann-“ „Nächstes Jahr haben wir keine Exkursion mehr“, unterbrach Christine ihn. „Nächstes Jahr sind wir im Abschlussjahr, da haben wir richtige Missionen vor uns.“ Kaum hatte sie das gesagt, wich die Farbe aus Joels Gesicht. Raymond vermochte nicht zu sagen, ob er sich vor den Abschlussprüfungen, den richtigen Missionen oder dem Abschluss an sich fürchtete. Ihm fiel auf, dass sie sich noch nie über so etwas unterhalten hatten. Er wusste, dass Joel sich vor Zombies fürchtete, Vampire verabscheute und er sich eines Tages eine Pistole mit einer Silberkugel darin zulegen wollte, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass er irgendwann einem Werwolf begegnen würde. Außerdem verstand er nicht, was alle Welt so toll an Schmetterlingen fand, er fand sie einfach nur bunt und langweilig. Aber er wusste nicht, was Joel von seinem Leben erwartete oder wovor er sich wirklich fürchtete, er wusste nicht, was sein bester Freund träumte oder was das schlimmste Szenario war, das er sich für seine Zukunft vorstellen konnte. Wollte er eine Familie? Hatte er Angst davor, eines Tages Vater zu werden? Oder bereitete er sich heimlich bereits darauf vor? Plötzlich fühlte er sich ihm so fern wie noch nie zuvor seit sie sich begegnet waren, aber zumindest im Moment konnte er das auch nur schwerlich nachholen, immerhin war Christine bei ihnen – und vielleicht war es Joel ohnehin lieber, wenn Raymond diese Seite nie zu Gesicht bekam, vielleicht wollte er sie niemandem, nicht einmal Christine zeigen. Er wusste es nicht, aber er würde anfangen müssen, es herauszufinden, wenn er sich selbst weiterhin als guten Freund betrachten wollte. „Es ist ganz schön dunkel heute“, bemerkte Christine plötzlich. Joel blickte in den Himmel hinauf. „Kein Wunder, wir haben heute Neumond.“ Ein plötzlicher Schauer fuhr ohne jede Erklärung über Raymonds Rücken. Neumond bedeutete Dunkelheit und tief in seinem Inneren spürte er, dass es noch etwas anderes bedeutete, aber das Gefühl war dumpf und viel zu unbestimmt. „Aber was ist mit den Straßenlaternen?“ In den Vorbezirken gab es generell weniger Beleuchtung als auf den Straßen der Innenstadt, aber selbst diese wenigen Lampen brannten nicht. Eine unangenehme Vorahnung kroch Raymond den Nacken hinab; das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, tauchte plötzlich auf und klammerte sich mit aller Macht an ihn, so wie in jener Nacht, in der er angegriffen worden war. Automatisch blieb er stehen, vor Angst wieder unfähig, sich auch nur noch einen Schritt zu bewegen. Er bemerkte, dass Christine neben ihm ebenfalls stehenblieb, während Joel noch wenige Schritte weiterlief. Erst als er einige Meter von ihnen entfernt war, bemerkte er, dass die anderen ihn nicht mehr begleiteten, blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihnen um. „Was ist denn los? Habt ihr Angst im Dunkeln?“ Raymonds Herz schlug heftig gegen seinen Brustkorb, er schien Eiswasser einzuatmen und bekam das Gefühl, jeden Augenblick ersticken zu müssen. Für einen Moment glaubte er, sein eigenes schweres Atmen von außerhalb seines Körpers zu hören, aber gleich darauf wurde ihm bewusst, dass es Christine, neben ihm, war, die so schwerfällig nach Luft schnappte. Joel neigte den Kopf zur Seite, die Stirn wieder einmal fragend gerunzelt. „Was ist denn los?“ Er bemerkte den Wechsel der Atmosphäre nicht selbst, sondern nur durch die beiden, was Raymond nicht so ganz verstand. Warum ging das alles an ihm so vorbei? Plötzlich gab Christine ein ersticktes Keuchen von sich, ein gurgelnder Schrei, der in der Kraftlosigkeit der Situation unterging, ohne seine Nachricht überbracht zu haben. Mit vor Furcht geweiteten Augen starrte sie auf einen Punkt hinter Joel. Raymond, der sich nicht in unmittelbarer Gefahr wähnte, hob die Hand, um die Brille abzunehmen. Kaum hatte er das getan, entdeckte er dieselben Wesen, die bereits ihn angegriffen hatten – und sie befanden sich direkt hinter Joel! Seine Lungen füllten sich schlagartig mit Sauerstoff, als er tief Luft holte, um seinem Freund eine Warnung zukommen zu lassen. „Joel, hinter dir!“ Er runzelte die Stirn und drehte den Kopf, konnte aber offenbar nichts entdecken, weswegen er sich weiterhin nicht rührte. „Joel, komm hierher, bitte!“ Christines Stimme brach vor lauter Panik und Angst beinahe vollständig weg. Im selben Moment ereilte sie dieselbe Erkenntnis, Raymond und Christine blickten sich fragend an. „Du kannst sie auch sehen!?“ Neben der Verwirrung spürte Raymond auch ein wenig Erleichterung darüber. Wenn Christine diese Wesen ebenfalls sah, bedeutete dies, dass sie kein Produkt seiner Einbildung und kein Traum waren - und vielleicht wusste sie auch mehr über diese Kreaturen. Joel wiederum konnte sie nicht sehen, weswegen er sich wieder ihnen zuwandte und leise seufzte. „Kommt schon, Leute, das ist nicht lustig. Lasst uns lieber endlich nach Hause gehen.“ Raymond hätte am Liebsten erkundet, weswegen Christine diese Wesen ebenfalls sehen konnte, aber dafür war nun nicht die Zeit. Zwar war er dieses Mal bewaffnet, sein Schwert hing immer noch schwer an seiner Hüfte, aber er fühlte sich unfähig, es zu ziehen und die Wesen anzugreifen. Seine Angst hielt ihn nach wie vor davon ab, sich ihnen zu nähern. Er blickte wieder zu Joel, wollte diesen noch einmal davon überzeugen, dass es besser wäre, endlich zurückzukommen. Aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er entdeckte, dass eines der Wesen bereits die Füße seines Freundes erreicht hatte. Es berührte Joel und im selben Moment verließ sämtliche Farbe sein Gesicht. Seine Unterlippe begann zu zittern, er öffnete den Mund und für einen schrecklichen Moment lang, stand er einfach nur so da, eine stumme Drohung für das Kommende. Der Augenblick, der Raymond so unendlich lang vorkam, ging schließlich in einem schrecklichen Heulen und Schreien unter, dessen Ursprung Joel war. Er ging in die Knie, die Hände auf seine Ohren gepresst als könnte er seine eigenen Schreie nicht mehr ertragen, aber war dennoch unfähig, sie einzustellen. Seine Aura färbte sich von der braunen Unsicherheit zu einem furchtbar finsteren Schwarz, dessen Bedeutung Raymond nicht einmal im Geringsten erfassen konnte. Die anderen Wesen schienen davon aber sogar angezogen zu werden und begannen, sich ebenfalls auf ihn zu stürzen. Sie fügten ihm keine körperliche Verletzungen zu, aber seinen Schreien nach zu urteilen, erlitt er dennoch Schmerzen. Raymond wollte ihm helfen, aber er war nach wie vor wie festgewurzelt, nein, wie eingefroren, nicht mehr fähig, sich auch nur im Geringsten zu rühren. Er konnte sich nicht einmal die Ohren zuhalten, um die Schreie zu dämpfen, die Wunden in seine Seele reißen wollten. Glücklicherweise war Christine nicht eingefroren. Sie stürzte mit einem Schrei vor, aber statt nach ihren Chakram zu greifen, sah es plötzlich so aus als würde etwas aus ihrem Rücken hervorbrechen. Es waren keine Flügel, wie man es möglicherweise erwarten würde, wenn man sich in so einer Situation vorfand, stattdessen handelte es sich um vier Ketten, an deren Enden spitze Klingen befestigt waren. Ohne diese Ketten zu berühren, bewegten sie sich als würde ihnen ein eigener Wille innewohnen, der dem von Christine unterworfen war. Die Klingen griffen diese Wesen an, zerschnitten sie, so dass sie sich auflösten. Glitzernde Splitter erhoben sich von den sterbenden Ungetümen und lösten sich rasch in dünne Luft auf, so dass Raymond sich nur entgeistert fragen konnte, was das eben gewesen war. Christine dagegen hielt nicht inne, wie ein Berserker ließ sie die Ketten immer wieder auf die nachrückenden Wesen niedersausen, während Joel weiterhin schrie als würde er bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Die sie umgebende Aura war plötzlich nicht mehr goldener Sand, der sich träge bewegte wie vom Wind getragene Dünen in der Wüste. Es war flüssiges Gold, das sich immer mehr zu erhärten schien, während sie wütete, die Aura umgab sie nicht mehr nur, sondern legte sich auf ihrer Haut ab als gelte es, sie zu einer lebendigen Skulptur zu formen. Durch Christines Wüten entstand schließlich eine Lücke zwischen Joel und den nachrückenden Wesen und endlich schaffte Raymond es wieder, sich zu bewegen. Er stürzte vor, griff nach dem Arm des Mannes, dessen Schreie langsam nachließen und zog ihn hastig aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Schützend stellte Christine sich vor sie beide, ihre Entschlossenheit, ihre Freunde zu beschützen, war geradezu greifbar für Raymond, der ihr äußerst dankbar dafür war, auch wenn seine Verwirrung nach wie vor überwog. Als Joels Schreie gänzlich verstummten, richtete Raymond seine Aufmerksamkeit auf ihn. Er schien bewusstlos, seine Atmung war aber derart flach und sein Gesicht so blass, dass es aussah als würde sein Herz jeden Moment für immer aussetzen. Seine Aura hatte sich wieder verfärbt, sie ähnelte einem verwaschenen Schwarz und war nun kaum noch sichtbar. So etwas hatte er bislang nur einmal erlebt und jene Person war kurz darauf gestorben. Diese Erkenntnis jagte ihm Schauer um Schauer den Rücken hinab. Erst mit der neu eingetretenen Stille bemerkte Raymond, dass in den Häusern, vor denen sie standen, das Leben erwacht war. Zwar getraute sich niemand, herauszukommen, aber er konnte sehen, dass sie am Fenster standen und das Geschehen beobachteten. In der Ferne hörte er die Sirenen von Polizei- und Krankenwägen. Diese Geräusche sorgten offenbar dafür, dass die Wesen sich zurückzogen und überraschend schnell wieder verschwanden, ohne jede Spur zu hinterlassen. Es war als wären sie nie da gewesen. Gleichzeitig verschwanden die Ketten und Christines Aura kehrte wieder zu dem trägen Sand zurück, auch wenn das ein Vorgang war, der doch einiges an Zeit in Anspruch nahm. Die Sirenen näherten sich derweil, aber immer noch kam niemand aus den Häusern heraus. Schließlich wandte Christine sich um und kam ebenfalls zu Joel, neben den sie sich sofort kniete. „Lebt er noch?“ Raymond nickte. Die Atmung seines Freundes war immer noch viel zu flach und dementsprechend auch um einiges zu hastig, daran änderte sich auch nichts, als Christine seine Hand in ihre nahm. „Joel... du darfst nicht sterben.“ Raymond hob den Blick, um sie anzusehen. Ihre Aura war dieselbe wie immer, aber sie war mindestens ebenso blass wie Joel. „Christine... was war das?“ Er war sich selbst nicht sicher, ob er damit diese Wesen oder die Ketten, die aus ihrem Rücken gekommen waren, oder gar beides, meinte. Sie fragte allerdings auch nicht, sondern blickte ihn nur schweigend an. Ihre Lippen bewegten sich zwar, aber dennoch kam kein Laut aus ihrem Mund als hätte sie spontan vergessen, wie man richtig sprach. Er versuchte, von ihren Lippen zu lesen, etwas, was ihm manchmal gelang, aber sie schien keine richtigen Wörter zu bilden, es war doch mehr ein Wimmern, ohne dass sie es schaffte, loszuweinen. Er fragte sich, ob er ebenfalls einen solch erbärmlichen Eindruck machte, aber natürlich war kein Spiegel da, mit dem er sich darüber Klarheit verschaffen konnte. Während er lauschte, wie die Sirenen näherkam, was seinem Eindruck nach viel zu lange dauerte, hob er den Kopf, um sich umzusehen. Immer noch traute sich niemand zu ihnen heraus, sie drei waren ganz allein auf der Straße. Einen kurzen Moment lang hatte er erwartet, diese Frau wiederzutreffen, aber nirgends war eine Spur von ihr oder ihrer dunkelroten Aura zu sehen. Zumindest das erleichterte ihn ein wenig, denn er wusste genau, dass ihre nächste Begegnung mit seinem Tod enden würde. Er senkte den Blick wieder, um auf Joel hinabzusehen. Er, Christine und Joel, sie waren so dicht beieinander und doch hatte er plötzlich das Gefühl, dass eine unüberwindbare Wand sich zwischen ihnen aufgetan hätte und nichts mehr so sein würde wie früher, selbst wenn Joel überleben würde. Aber dennoch... Oh Gott, bitte... Joel darf nicht sterben! 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