Aurae von Flordelis (Löwenherz Chroniken II) ================================================================================ Kapitel 7: Tausend Wege, wie Sie in der Wildnis zu Tode kommen könnten ---------------------------------------------------------------------- Der Wald, in dem sie ausgesetzt wurden, war nicht weit von Lanchest entfernt. Genau genommen verlief der Übergang geradezu fließend. Kaum wenige hundert Meter, nachdem man die Stadt verlassen hatte, wuchsen die ersten wilden Hecken und Bäume, die sich alsbald zu einem schier undurchdringlichen Wald verdichteten. Seit jeher nutzte die Akademie diesen Umstand, um den Überlebensinstinkt ihrer Schüler in einer nicht allzu gefährlichen Wildnis zu testen. Raymond hatte oft das Gefühl, dass man diese entsprechenden Tage entweder lieben oder hassen musste. Der Großteil der Schüler gehörte zu der ersten Sorte, denn immerhin bedeutete das auch stets schulfrei, während Joel so ziemlich der einzige war, der diese Tage geradezu mit Leidenschaft verabscheute, ohne dass Raymond sich erklären konnte, weswegen. Es war nicht so, dass sein Freund etwas gegen die Natur selbst hatte, er schien nur... nicht ihr bester Freund zu sein. Bei jeder Exkursion zitierte er wieder aus Tausend Wege, wie Sie in der Wildnis zu Tode kommen könnten und auch das Lächeln schien ihm im Allgemeinen recht schwerzufallen, bis sie schließlich wieder die Stadt erreichten. Christine dagegen liebte die Exkursionen, aber nicht wegen dem Umstand, dass es an diesem Tag keinen Unterricht gab, sondern eher weil sie jedes Mal wieder irgendein wildes Tier fand, mit dem sie ewige Freundschaft schloss und das sie am Liebsten mit nach Hause nehmen würde – wenn ihre Eltern ihr denn Haustiere gestatten würden. Raymond wiederum sah sich selbst als Außenseiter, denn er freute sich weder auf die Exkursionen, noch störten sie ihn sonderlich. Er betrachtete sie als interessante Abwechslung, aber das war es auch schon, genau genommen könnte er auch darauf verzichten. Aber da sie nun einmal existierten... „Ich denke, wir sollten den Tag zumindest ein wenig genießen“, meinte Raymond. „Immerhin sind wir an der frischen Luft, nicht so wie in der Trainingshalle.“ Das gab ihm noch dazu die Gelegenheit, sich an das Tragen des Schwertgürtels und des zugehörigen Schwertes zu gewöhnen. In der Stadt war es oftmals nicht sonderlich intelligent, beides zu tragen, nicht zuletzt, weil dann immer die Gefahr bestand, dass sich jemand von einem bedroht fühlte. An diesem Tag aber, war er auch ganz froh über diese Exkursion. Weit weg von der Stadt, fühlte er sich nicht mehr bedroht oder verfolgt, so dass er wieder seine Brille trug, ohne befürchten zu müssen, von einem dieser seltsamen Wesen überfallen zu werden. Joel schenkte ihm nur einen genervten Blick – wohl nicht zuletzt wegen dem mannshohen sperrigen Stab mit den Klingen an beiden Enden, den er den ganzen Tag mit sich herumtragen musste – dann wandte er sich einem der massiven Baumstämme zu und zitierte wieder einmal aus dem Buch, das er inzwischen bereits auswendig kannte: „Nummer Sieben: Von einem umstürzenden Baum erschlagen werden.“ Raymond lächelte müde, kommentierte das aber nicht weiter, sondern blickte zu Christine. Im Gegensatz zu den beiden Jungen, die nur ihre Waffen mit sich führten, trug sie einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sie, der Erfahrung nach zu urteilen, zu essen und eine Flasche Wasser hatte, fast so als ob sie sich wirklich auf einem harmlosen Ausflug befinden würde. Die beiden Chakram, die sie zum Kämpfen benutzte, hingen sicher befestigt an ihrem Gürtel. „Jedes Mal werden wir weiter ausgesetzt“, beklagte Joel sich. „Eines Tages werden wir nicht einmal mehr den Weg nach Hause finden.“ „Und wir haben nicht einmal die Möglichkeit, Brotkrumen zu streuen“, stimmte Christine zu. Raymond zuckte allerdings nur mit den Schultern. „Die würden ohnehin nur von Vögeln gefressen werden. Und genau darum geht es doch bei dieser Exkursion, wir müssen uns in der Wildnis zurechtfinden. Also gehen wir lieber los.“ Mit diesen Worten übernahm er, wieder einmal unbewusst, die Rolle des Anführers und lief los, worauf die anderen beiden ihm direkt folgten. Der Wald um Lanchest herum, war einer jener Wälder, die nach dem letzten Weltkrieg entstanden waren. Jener Krieg, der vor etwas mehr als fünfhundert Jahren das Gesicht der Erde nachhaltig verändert und damit die Zivilisation zerstört hatte. Die Menschheit, wie man sie damals gekannt hatte, existierte inzwischen nicht mehr – oder kaum noch, aber Raymond war nie einem normalen Menschen begegnet. Jeder Mensch, dem man in diesen Tagen begegnete, war in irgendeiner Art und Weise mit Drachen oder anderen unmenschlichen Wesen verwandt. Was für viele Menschen damals unmöglich erschienen wäre, hatte sich sogar als Glücksfall erwiesen. Die neue Rasse war langlebiger, robuster – und intelligenter. Dieser Intelligenz war es zu verdanken, dass bereits 500 Jahre nach dem Untergang der großen Zivilisationen, eine neue, bessere entstanden war, die es meisterhaft verstand, Technik und Natur zu vereinen – und letzteres zeigte sich besonders, wenn man sich in Wäldern wie diesem aufhielt. Die massiven Stämme wuchsen scheinbar unzählige Meter hoch, die zahlreichen Äste trugen Blätter, die so dunkelgrün waren, dass man ihnen auf den ersten Blick ansah, wie gesund sie waren. Zwar wuchsen die Bäume schon äußerst dicht, aber dennoch blieb auf der fruchtbaren Erde noch genug Raum, dass auch übermäßig viele Sträucher darauf wachsen konnten, obwohl die Sonnenstrahlen sie dort nur schwer erreichten. Für Tiere war diese Umgebung geradezu ideal. Für Akademie-Schüler, die eigentlich nur nach Hause wollten, eher nicht. „Nummer 366: Von einer Schlingpflanze erwürgt werden.“ „Diese Gefahr ist hier äußerst gering.“ Raymond warf einen Blick umher, nirgends war eine wie auch immer geartete Schlingpflanze zu sehen. „Eher werden wir von rauflustigen Kaninchen angenagt.“ „Nummer 905“, ergänzte Joel unbeeindruckt. „Nummer 1001“, sagte Christine plötzlich und verpasste ihm eine liebevolle Kopfnuss. „Von genervten Freunden erschlagen werden.“ Das bewirkte bei ihm offenbar einen Wandel, denn nach einer kurzen Phase des Schmollens, begann er zu lachen. „Schon gut, ich bin jetzt ja still... ich versuche es zumindest.“ Raymond musste zugeben, dass es ihn freute, zu sehen, dass zumindest sie einen gesunden Einfluss auf Joel besaß. Nur manchmal, da war er doch ein wenig neidisch und auch eifersüchtig. Aber das Gefühl verflog immer rasch, es gab immerhin keinen Grund dazu, da er ebenfalls einen heilsamen Einfluss auf Joel besaß, wenn auch einer ganz anderen Art. „Das Gras ist dieses Jahr grüner, oder?“, fragte Christine, während sie den Blick auf den Boden gerichtet hielt. Joel warf ihr einen irritierten Blick zu. „Denkst du wirklich über so etwas nach?“ Als sie nickte, glaubte Raymond, etwas in ihren Augen zu sehen, das darauf schließen ließ, dass ein ganz besonderes Ereignis sie dazu antrieb, über solche Kleinigkeiten nachzudenken. Aber der Schimmer hielt nicht lange genug an, um ihm zu versichern, dass er ihn wirklich gesehen hatte. „Du bist schon was“, sagte Joel daher schmunzelnd. Ein Rascheln im Unterholz ließ die Gruppe augenblicklich innehalten. Raymonds Hand griff automatisch nach seinem Schwert. Er, Joel und Christine blickten konzentriert in die Richtung aus der das Geräusch gekommen war. Im nächsten Moment schoss etwas aus dem Gebüsch, Christine stieß einen erschrockenen Ruf aus – aber beide Jungen reagierten zu spät. Das Mädchen wich erschrocken zurück und verlor das Gleichgewicht, als es von dem Etwas angesprungen wurde. Mit einem weiteren erschrocken Ausruf stürzte sie zu Boden, wo sie ein klägliches „Au“ von sich gab. „Christine!“ Joel und Raymond begaben sich sofort zu ihr – nur um erleichtert festzustellen, dass die Vorsicht vollkommen übertrieben gewesen war. Statt von einem wilden Tier angegriffen und zu Boden gerissen worden zu sein, hielt sie nun einen Hasen im Arm, der offenbar Gefallen an ihr gefunden hatte. Während sie ihn streichelte, kicherte sie leise. „Awww, er ist so süß~.“ „Und wir machen uns Sorgen um dich.“ Joel seufzte vorwurfsvoll, lächelte dabei aber. „Nummer 990: Einen Herzinfarkt beim Angriff eines harmlosen Tieres erleiden.“ Keiner der anderen beiden wies ihn darauf hin, dass er versprochen hatte, still zu sein. Christine war damit beschäftigt, lächelnd weiterhin den Hasen zu streicheln, Raymond dagegen befand es einfach für besser, nichts zu sagen, um nicht möglicherweise einen Streit zu provozieren. „Gehen wir weiter?“, schlug er stattdessen vor. „Dann kommen wir vielleicht heute noch nach Hause.“ Joel nickte zustimmend. „Gute Idee, heute gibt es Hackbraten.“ Christine hob plötzlich den Kopf, ihre Augen schimmerten vor freudiger Erwartung. „Hackbraten? Ich liebe Hackbraten!“ Die beiden Jungen sahen ihn an. „Gibt es denn irgendetwas, was du nicht liebst?“ Für einen kurzen Moment dachte sie tatsächlich über diese Frage nach, dann lächelte sie aber schon wieder. „Solange es sich um Fleisch handelt nicht. Ich liebe Fleisch.“ „Wie ungewöhnlich“, kommentierte Raymond, aber es war Joel, der denselben Gedanken hatte, der fortfuhr: „Mädchen sind normalerweise immer solche Tierliebhaber, dass sie Vegetarier werden. Aber du läufst herum und sagst, du liebst Fleisch.“ Sie blinzelte ihnen verschmitzt zu. „Ich bin eben nicht wie andere Mädchen.“ „Das macht dich auch so liebenswert“, meinte Joel. Mit einem Mal hatte das Gespräch eine, für Raymond, unangenehme Wende genommen. Er fühlte sich nicht nur fehl am Platz und wie das fünfte Rad am Wagen, er kam sich sogar als Störfaktor bei einem durchaus intimen Moment der beiden vor. Aber keinem der beiden schien es wirklich bewusst zu sein, so verzückt wie sie sich gegenseitig anlächelten, sah es sogar so aus als hätten sie vergessen, dass er ebenfalls da war. Schließlich räusperte er sich vernehmlich, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Die beiden erschraken und wandten sich ihm zu, fast schien es ihm als würden sie rot werden, aber er achtete nicht weiter darauf. „Können wir jetzt weiter, ja?“ Christine nickte sofort und stand auf, ohne das Kaninchen von ihren Armen abzusetzen. „Willst du das mitnehmen?“, fragte Raymond. „Du weißt, uns wurde verboten, wilde Tiere mit in die Stadt zu bringen.“ „Nur bis zum Waldrand“, versprach sie mit kindlicher Stimme. „Er ist doch so flauschig.“ Wenn sie so sprach, in Verbindung mit ihren glänzenden Augen, konnte nicht einmal er ihr etwas ablehnen, deswegen zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich dann von ihr ab, um anzuzeigen, dass er nun weitergehen würde und er erwartete, dass die anderen beiden sich ihm ohne Aufforderung anschlossen. Schon nach wenigen Schritten konnte er tatsächlich hören, wie sie sich hastig beeilten, um wieder gleichauf mit ihm zu laufen. Für eine Weile herrschte ein bedrücktes Schweigen zwischen ihnen, das schwer auf ihren Ohren lastete. Selbst der Hase schien das zu bemerken und ließ deswegen die Ohren sinken. Doch plötzlich entfuhr Joel ein Seufzen. „Diese Wald-Exkursionen sind ja ganz aufregend, wenn man noch klein ist, aber jedes Jahr werden sie weniger spannend.“ Lanchest-Schüler wurden das erste Mal mit 13 Jahren auf diese Exkursion geschickt und es kam nicht selten vor, dass sie dieses erste Mal dann im Freien übernachteten. Danach kamen die Exkursionen einmal jährlich, aber Raymond hatte bereits von anderen Schülern, aus dem Jahrgang über seinem, derartige Beschwerden gehört, so dass Rufus angeblich bereits darüber nachdachte, diese Exkursionen für die älteren Jahrgänge durch etwas anderes, etwas Lehrreicheres, zu ersetzen. Raymond würde das zwar nicht mehr erleben, aber er hoffte für die nachfolgenden Jahrgänge, dass es tatsächlich stimmte. „Wenigstens verbringen wir etwas Zeit an der frischen Luft“, sagte Christine, in einem Versuch, das Positive an dieser Exkursion zu sehen. „Und dieses Häschen ist doch einfach zuckersüß~.“ „Immerhin kann eine hier etwas Positives sehen.“ Joel seufzte noch einmal. Raymond schob seine vorgerutschte Brille wieder auf ihren Platz zurück. „Ich kann auch etwas Positives sehen. Wir sind eben alle zusammen.“ Und das war etwas, was in der letzten Zeit immer seltener geworden war, weswegen er sich darüber freute, diese Gelegenheit bekommen zu haben. Die anderen beiden sahen ihn mit einem ehrlich ergriffenen Lächeln an. „Das hast du schön gesagt“, beschied Christine. „Wir drei sind eben ein Goldenes Trio.“ „Yeah. Uns macht so schnell niemand etwas vor.“ Raymond lächelte ebenfalls, wenngleich eher aus Erleichterung darüber, dass seine kitschige Meinung auf eine solche Resonanz stieß, nachdem er einen kurzen Moment befürchtet hatte, ausgelacht zu werden. Christine löste einen Arm von dem Hasen, um sich bei Raymond einzuhaken, während Joel, der auf der anderen Seite von ihr lief, seinen freien Arm um ihre Schulter legte. Sie legte den Kopf in den Nacken, um beide anzulächeln. „Solange wir zusammen sind, kann uns absolut nichts geschehen.“ Die beiden Jungen nickten einvernehmlich. Niemand von ihnen ahnte in diesem Moment auch nur im Mindesten, dass sie schon bald nicht mehr zusammen sein würden und das nicht gerade freiwillig. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)