Kakao von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Das Antiquitätengeschäft im Regen -------------------------------------------- Hallo und Willkommen zu Kakao :)! Holt Euch einen Kakao, stellt euch den Regen vor, der sanft gegen Eure Fenster trommelt, und los geht's! Viel Spaß^^! ____________________ Zuerst kam der Wind. Er huschte aus seinem Versteck, entfaltete sich im Laub der Bäume und begann dann immer wilder durch die Straßen zu brausen. Er trieb graue, schwere Wolken am Himmel zusammen und kühlte die drückend heiße Luft. Er benahm sich so auffällig und roch so eindeutig, dass die Menschen im Freien überall das Weite suchten. Beziehungsweise die Nähe von vier Wänden und einem stabilen, wasserundurchlässigen Dach. Innerhalb von Minuten waren die Straßen ausgestorben. Nur einer stand noch da. Ein junger Mann im schwarzen T-Shirt und mit windzerzausten Haaren. In irgendeiner Seitengasse, in der Mitte des Fußwegs, wie festgewachsen. Er hatte den Kopf gesenkt, in den Händen hielt er einen Comic. Wie hypnotisiert huschten seine Augen über die Zeichnungen und Sprechblasen. Hochkonzentriert blätterte er um und las weiter, ohne auch nur im Geringsten auf seine Umwelt, die fliehenden Menschen oder die klare Drohung über seinem Kopf zu achten. So war das bei Tim schon immer gewesen. Egal, wo er hinging, er nahm einen Comic mit und er las ihn, wann immer sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. Also im Bus, auf der Toilette, unter dem Tisch im Vorlesungssaal und so weiter. Manchmal halt auch im Gehen. Und wenn es besonders spannend wurde und er nichts hatte, um sich hinzusetzen, dann blieb er – wie zum Beispiel gerade jetzt – wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen und blendete seine Umgebung einfach komplett aus. Seine Familie hatte sich immer darüber lustig gemacht. Schon mit zwei Jahren hatten sie über ihn gescherzt: Gebt ihm ein Heft mit vielen bunten Bildern und ihr könnt ihn überall in der Fußgängerzone parken und in ein, zwei Stunden wieder abholen. Das hatte sich in all den Jahren nicht geändert. Deshalb war Tim der einzige Mensch in der Stadt, der von dem beginnenden Regen überrascht wurde. Abgesehen vielleicht von ein paar Laborassistenten, die sowieso so gut wie nie das Tageslicht sahen. Die ersten Tropfen fielen noch leise und unbemerkt. Aber dann, als die Wolken all ihre Schleusen öffneten und das Gesicht des Comichelden vor Tims Augen verschwamm, hob er den Kopf und blinzelte zum Himmel, als würde er aus einem tiefen Schlaf erwachen. Innerhalb von Sekunden war sein Gesicht klatschnass. „Oh…,“ sagte er verwundert, „Mist…!“ Er drückte den Comic an sein Herz und lief los. Er rannte eine Straße hinauf, die andere hinunter. Er bog um zwei Ecken. Er sprang über den Rinnstein, schlug nach links und rechts ein paar Haken, aber dem Regen entkam er trotzdem nicht. Kalt und schwer trommelte er auf seine Klamotten und durchnässte ihn bis auf die Haut. Tim prustete und stürmte auf die nächste Tür zu. Sie gehörte zu einem Geschäft und verkündete geöffnet. Tim hastete die paar Stufen hoch und warf sich dagegen. Mit einem beruhigenden Klingeln schwang die Tür auf. Tim seufzte und atmete schwer. Kaltes Regenwasser rann ihm über den Rücken und über das Gesicht. Die Haare klebten in seiner Stirn und tropften auf seine Schultern. Er schüttelte sich wie ein Hund, schloss die Tür hinter sich und legte seinen Comic hingebungsvoll auf die nahe Fensterbank, damit er etwas trocknen konnte. Dann sah er sich um. „Hallo?“, rief er. Niemand antworte. Niemand stand hinter dem mit Klimbim beladenen Ladentisch. Nur eine graue und ziemlich fette Katze hockte neben der hübschen, altertümlichen Kasse. Sie fixierte Tim empört, wie alle Katzen unbekannte Menschen empört fixieren, die ohne Vorwarnung und ohne schriftliche Berechtigung in ein ruhiges Zimmer poltern. Tim fuhr sich durch die tropfnassen Haare. „Hallo,“ sagte er zu der Katze und lächelte. Sie lächelte nicht zurück. Stattdessen verengte sie die gelben Augen zu Schlitzen und wandte den Kopf ab. Tim machte ein paar bedachte Schritte in den Laden hinein, während draußen der Regen unentwegt gegen die Fensterscheiben prasselte. Es schien sich um ein Einrichtungsgeschäft zu handeln. Jedenfalls machte es auf Tim diesen Eindruck, denn es war bis oben hin vollgestopft mit Möbelstücken und Dekorationsgegenständen. An jeder Wand standen mindestens vier große, hölzerne Schränke und Regale, glänzend und bis oben hin voll mit Vasen, Masken, Bechern und Gläsern, Büchern, Tellern, Dosen und Kerzenständern. An den Stellen, wo kein Schrank die Wand blockierte, hingen Bilder in vergoldeten Rahmen, eine Kuckucksuhr und ein Spiegel, für den Prinzessinnen gemordet hätten. Der Parkettboden war bedeckt von weichen, verzierten Teppichen. Überall standen Esstische, Couchtische, Schreibtische, Stühle, Sessel, Hocker, Lampen, Statuen, Gartenbänke, noch mehr Vasen und Kommoden herum und – sofern das möglich war – mit noch mehr Vasen, Geschirr, Kästchen, Puppen, Kissen, Körben, Urnen, Pokalen, Handtaschen, Musikinstrumenten, Spielbrettern, Uhren, Figürchen und antiken Telefonen vollgestellt. Alles war in das sanfte Licht von runden Wandlampen getaucht. „Hallo.“ Tim schrak aus seiner stummen Betrachtung. Irgendwo von der linken Seite war ein junger Mann mit dunklen Augen, ernstem Gesicht und kariertem Hemd in dem verwinkelten Raum aufgetaucht. Er lächelte und schlängelte sich elegant durch das Labyrinth aus Tischplatten und hohen Stapeln aus Krimskrams zu Tim hinüber. Dass er dabei nichts umstieß, fand Tim enorm. „Willkommen in Antiquitäten Hellbing,“ sagte der Fremde freundlich. „Ach so, Antiquitäten,“ erwiderte Tim und musterte das Chaos mit anderen Augen – tatsächlich war das die Gemeinsamkeit zwischen den ganzen unterschiedlichen Dingen: sie waren mehr oder weniger antik. „Ich dachte, hier gibt’s vor allem Vasen und Möbel. Wegen der ganzen…Vasen und Möbel.“ „Nee, wir verkaufen Antiquitäten. Steht übrigens auch draußen dran. Deshalb gibt’s hier auch mehr als nur Vasen und Möbel.“ „Klingt einleuchtend. Echt ein schöner Laden.“ „Danke.“ „Aber ich will trotzdem nix kaufen. Ich hab nur Schutz gesucht vor–,“ „–dem Regen, ich seh schon. Du bist ja ziemlich nass geworden. Willst du vielleicht…ein Handtuch?“ „Ein antikes?“ „Nein,“ der junge Mann gluckste, „Irgendwo hab ich auch ein neuzeitliches Handtuch gesehen. Willst du es?“ „Gern, vielen Dank.“ Er nickte und trat dann durch eine dunkle Holztür hinter dem Ladentisch. Während er fort war, wischte Tim sich über das Gesicht und rieb sich die feuchtkalten Arme. Er sah zum Ladentisch hinüber und betrachtete die graue Katze, die nach wie vor bewegungslos zwischen einer Büste und der Kasse thronte. Tim spitze die Lippen und maunzte die typischen Zwitschergeräusche, die viele Menschen zu machen pflegten, wenn sie eine Katze anlocken wollten. Bei diesem dicken Exemplar funktionierte es jedoch nicht. Die Katze ignorierte Tim als wäre er eine ebenso schweigende Antiquität wie alles andere im Raum. „Na? Versuchst du dich mit Amor anzufreunden?“, fragte die Stimme des Antiquitätenjungen aus dem Türrahmen belustigt. Tim grinste. „Ja, aber ich fürchte, Amor kann mich nicht leiden.“ „Das ist normal. Er mag dich erst, wenn du ihn eine Weile gefüttert hast.“ „Hast du es probiert?“ „Oh ja und ich habe drei Jahre gebraucht. Hier ist dein Handtuch.“ „Danke sehr.“ Tim nahm das neuzeitliche Handtuch und rubbelte sich damit die Haare ab. „Und ich hab dir auch einen Pullover von mir mitgebracht,“ fuhr der Antiquitätenjunge fort und reichte ihm etwas, das weich und gestreift war, „Wie sieht‘s mit der Hose und den Schuhen aus?“ „Das geht beides. Danke.“ Mit ein wenig Mühe zog sich Tim das durchweichte T-Shirt über den Kopf und schlüpfte in den angenehm trockenen, warmen Pullover. Er war ihm ein wenig groß. „Ah…,“ sagte er dankbar und grinste sein fürsorgliches Gegenüber an, „Das ist viel besser. Darf ich mein T-Shirt hier irgendwo aufhängen?“ „Klar, such dir einfach einen Stuhl aus.“ „Muss ich ihn dann kaufen?“ „Nein,“ der Antiquitätenjunge grinste, „Keine Sorge. Willst du vielleicht irgendwas Warmes trinken? Einen Tee?“ „Ich bin nicht so der Tee-Typ,“ antwortete Tim und hängte sein T-Shirt über einen hübschen, schlanken Stuhl, der leichte Ähnlichkeit mit einem Thron hatte. „Wir haben auch so einen Kakao zum Aufgießen. Schmeckt ganz gut.“ „Das ist besser.“ „Okay, bin gleich zurück.“ „Darf ich mich solange umsehen?“ „Sicher. Aber versuch, dabei nix umzuschmeißen. Hier funktioniert leider alles nach dem Dominoprinzip.“ „Verstehe. Ich passe auf.“ Mit einem sonderbar heimeligen Gefühl in der Magengegend blickte Tim dem Antiquitätenjungen nach. Er war sich sicher, dass er kleine Geschwister hatte. Jemand, der einem durchnässten Fremden einen eigenen Pullover und Kakao anbot, musste daran gewöhnt sein, sich um Andere zu kümmern. Tim ließ seinen Comic zurück und begann dann ganz langsam und vorsichtig den Balanceakt durch diese Welt aus zerbrechlichen Stalagmiten. Manchmal musste er seitwärts gehen, um nichts umzuwerfen. Fasziniert blickte er sich um. Hier gab es alles in dreifacher Ausführung. Und alles war so alt und schön und magisch. Ein Paradies für Sammler. Und für wissbegierige, phantasievolle Kinder, die gerne Verstecken spielten. Als kleiner Junge hätte er diesen Ort geliebt. Bestimmt gab es dutzende geheimer Schlupfwinkel, in denen man ungestört Comics lesen könnte. Neugierig ging Tim eine kleine Treppe hinauf und spähte um einen riesigen Kleiderschrank in eine Ecke am Fenster. Ihm ging das Herz auf. „Ohhh…,“ machte er hingerissen. Er stand vor dem größten und schönsten Ohrensessel, den er jemals gesehen hatte. Ein Bild von einem Ohrensessel sozusagen. Er war mit goldfarbenem Velour-Stoff bezogen und schimmerte im warmen Licht einer Stehlampe, deren Schirm wie eine Blüte geformt war. Durch den weichen Teppich am Boden, die zwei Wände aus Antiquitätentürmen und die bunten Laken, die gebauscht unter die Decke gehängt worden waren, kam sich Tim wie in einer geschützten Höhle vor. Das leichte Klopfen des Regens gegen die Fensterscheibe verstärkte dieses Gefühl noch. „Na? Ich sehe, du hast schon eins unserer Juwelen entdeckt.“ Tim drehte sich zu dem Antiquitätenjungen um, der lächelte und in jeder Hand einen dampfenden Becher hielt. „Der ist ja umwerfend!“ „Nicht wahr? Leider unverkäuflich. Ein Familienerbstück.“ „Sehr ärgerlich. Darf ich mich trotzdem mal reinsetzen?“ „Na klar.“ Tim strahlte, schob sich an einem kleinen und selbstverständlich schwer bepackten Mahagonitischchen vorbei und ließ sich in dem Sessel nieder. Es war wie eine Umarmung. Tim seufzte wohlig. „Ich fühl mich wie mein eigener Opa.“ „Aber er ist doch bequem, oder?“ „Super!“ „Hier hast du deinen Kakao.“ „Danke. Jetzt fühl ich mich noch opamäßiger.“ „Soll ich dir vielleicht noch eine Pfeife geben?“ „Habt ihr eine?“ „Merken Sie sich eins, lieber Freund: Wir haben hier alles. Alles, was Ihr Herz begehrt.“ „Ist das euer Werbeslogan?“ „Allerdings und er ist sehr erfolgreich.“ „Glaub ich gern. Darf ich die Pfeife sehen?“ „Gern, einen Moment.“ Behutsam stellte der Antiquitätenjunge seine volle Tasse auf dem letzten freien Platz des Mahagonitischchens ab und verschwand im Labyrinth. Tim trank einen Schluck Kakao und schmiegte sich verzückt in die Lehne des Sessels. So könnte er es ewig aushalten. Dieser herrliche Sessel, die himmlische Ruhe. Schade, dass sein Comic immer noch bei der Tür auf der einen Fensterbank trocknete. „So…,“ sagte der Antiquitätenjunge, in der einen Hand hielt er einen kleinen Holzkasten, in der anderen einen Schemel zum Sitzen. Er gab Tim den Holzkasten und setzte sich ihm gegenüber, während Tim die wunderhübsche, glänzende Pfeife auspackte und sie interessiert betrachtete. „Hast du schon mal Pfeife geraucht?“, erkundigte sich der Antiquitätenjunge. „Nee, noch nie,“ entgegnete Tim, „Du?“ „Ja, früher mal mit meinem Großvater.“ „Kannst du sie anzünden?“ „Sicher, soll ich?“ „Ja!“ „Gut, hilf mir mal, den Tisch leer zu machen. Dann zeig ich dir, wie es geht.“ Sie standen auf und räumten gemeinsam all die Kostbarkeiten von dem kniehohen Tischchen und verteilten sie auf die umstehenden Kommoden. Anschließend stellte Tim den Pfeifenkasten darauf, trank heißen Kakao und sah dem Antiquitätenjungen dabei zu, wie er die Pfeife vorbereitete. Ihm fiel etwas ein. „Wie heißt du eigentlich?“ „Vukan,“ antwortete der Antiquitätenjunge. Tim stutzte. „Wie? Vulkan?“ Der Antiquitätenjunge mit dem seltsamen Namen lachte. „Nein, Vukan. Ohne L. Und du?“ „Tim. Vukan… Das ist aber nicht Deutsch, oder?“ „Meine Mutter kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Aus Bosnien-Herzegowina, um genau zu sein.“ „Ach so. Aber du bist hier geboren oder wie?“ „Ja, genau. Mein Vater ist Deutscher.“ „Und kannst du das sprechen? Äh...,“ "Serbokroatisch?" "Ja." „Ein wenig. Aber Deutsch spreche ich besser. Bin halt hier aufgewachsen.“ „Und wie hängst du hier am Laden?“ „Er gehörte meinem Großvater. Nach seinem Tod haben ihn meine Eltern übernommen. Ich übernehm manchmal und verdien mir damit ein bisschen Geld. Für mein Studium und so.“ „Was studierst du?“ „Klassische Archäologie und Ägyptologie.“ „Wow. Das ist bestimmt interessant oder?“ Vukan, der Antiquitätenjunge, lächelte und zuckte die Schultern. „Meistens. Was ist mit dir?“ „Elektrotechnik.“ „Krass. Ist ja was ganz anderes. Ist es so hart, wie es klingt?“ Diesmal lächelte und zuckte Tim. „Meistens.“ „Und in deiner Freizeit liest du Comics?“, fragte Vukan und nahm einen Schluck Kakao. „Genau!“, Tim lachte, „Hast du es auf der Fensterbank liegen sehen?“ „Ja, ich bemerke immer sofort, wenn etwas Neues im Laden auftaucht.“ „Deshalb hast du mich auch sofort bemerkt, was?“ Vukan hob den Blick und grinste. „Erraten.“ Kapitel 2: Der Großvater im Flügel ---------------------------------- Guten "Morgen" :)! Hier kommt das zweite Kapitel von Kakao. Ich hoffe, Ihr habt Freude am Lesen und ein schönes Wochenende! Liebste Grüße ____________________ Vukan hob die Pfeife. „So, das wär’s. Hast du zufällig ein Feuerzeug?“ „Nee. Ich bin Nichtraucher.“ „Ich glaub, irgendwo vorne liegen Streichhölzer. Halt mal kurz.“ Tim nahm die gestopfte Pfeife entgegen und, während Vukan zum Ladentisch eilte, um die Streichhölzer zu holen, schnupperte er am Pfeifenkopf, der nach irgendetwas Fruchtigem roch. Irgendwie war das komisch. Eigentlich wollte er schon längst zu Hause sein, um zu lernen. Stattdessen fläzte er sich jetzt in einem Ohrensessel, trank Kakao und war im Begriff, mit einem völlig Fremden Pfeife zu rauchen. Und irgendwie…fühlte sich das gar nicht komisch an. Sondern genau richtig. Es dauerte keine Minute, dann war Vukan lächelnd mit einer Packung Streichhölzer und einem Aschenbecher zurück. Er setzte sich wieder auf den Hocker und entzündete die Pfeife. Tim leerte seinen Becher und beobachtete ihn beim Paffen. Er musste lachen. „Was würde dein Opa sagen, wenn er dich jetzt sehen könnte?“ Vukans Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. „Er würde sich freuen, dass ich die Traditionen weitergebe.“ „An einen Fremden?“ „Mein Großvater hat immer gesagt, dass Fremde nichts anderes sind, als Freunde, denen man zum ersten Mal begegnet.“ „Er war wohl ganz schön cool, dein Opa?“ „Von ihm hab ich alles gelernt, was ich weiß.“ „Vermisst du ihn?“ „Sehr.“ Vukan rauchte und ließ Wölkchen aus seinem Mund steigen. Er bot Tim die Pfeife an. „Willst du?“ Tim nickte und ließ sich die Pfeife geben. Gespannt steckte er das Mundstück zwischen die Lippen und zog. Es war gar nicht so schwer. Und es schmeckte gar nicht so übel. „Schieb sie mal in deinen Mundwinkel und knabbere daran,“ sagte Vukan, „Genau so!“, er lachte, „Das sieht so was von dämlich aus!“ Tim kicherte. „Also, Vukan…,“ begann er und lehnte sich mitsamt der Pfeife zufrieden in dem wunderbaren Sessel zurück, „Wie viele kleine Geschwister hast du?“ Der Antiquitätenjunge sah verblüfft aus. „Woher weißt du, dass ich kleine Geschwister habe?“ Tim zuckte die Achseln. „Du machst auf mich den Eindruck eines großen Bruders.“ „Was du nicht sagst,“ Vukan schmunzelte und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Kakaobecher, „Drei kleine Geschwister habe ich.“ Tim zog die Augenbrauen hoch und reichte Vukan die Pfeife zurück. „Drei?“ „Jap. Drei Brüder.“ „Ihr seid echt fünf Männer zu Hause?“, Tim lachte, „Deine arme Mutter.“ „Du sagst es. Darauf weist sie auch immer hin, wenn wir ihr auf die Nerven gehen.“ „Wie alt sind deine Brüder?“ „Fünfzehn, elf und vierdreiviertel.“ „Wie kommt‘s, dass du so viel älter als deine Brüder bist?“ Vukan pustete Rauch aus und grinste. „Auf wie alt schätzt du mich denn?“ „So zweiundzwanzig?“ Vukan lächelte. Draußen regnete es inzwischen nicht mehr so stark. „Gut geraten. Ich war damals nicht ganz so geplant. Meine Eltern waren noch jung und erst kurz zusammen. Noch unverheiratet. Meine Großeltern mütterlicherseits fanden das gar nicht gut und haben sie dann zur Hochzeit gedrängt. Mit jedem Jahr wird die Geschichte dramatischer.“ Tim musste erneut lachen. „Und dein kleinster Bruder?“ „Ja… Dejan war auch nicht so geplant, wenn du das meinst.“ „Meine ich.“ Sie sahen sich an und grinsten. Vukan gab Tim die Pfeife zurück. „Und du? Tim?“ „Ich habe nur eine große Schwester,“ erzählte Tim und nuckelte an der Pfeife, „Nadine. Sie ist zweieinhalb Jahre älter als ich und macht ihr Anerkennungsjahr in einem Jugendzentrum in Köln. Ich seh sie nicht mehr so oft, was wohl auch ganz gut so ist.“ „Wieso? Versteht ihr euch nicht?“ „Doch, schon. Sogar ziemlich gut. Aber halt nur, weil wir uns nicht mehr so oft sehen. Wenn wir länger aufeinander hocken, streiten wir uns schnell wieder.“ Vukan lächelte und nippte an seiner Tasse. „Verstehe.“ Tim reichte die Pfeife weiter und betrachtete Vukan beim Rauchen. Er hielt den Rücken sehr gerade, sackte nicht so in sich zusammen, wie Tim es beim Sitzen zu tun pflegte. Und er hob die Pfeife so elegant und lässig. Als wäre sie ein Taktstock oder so. „Bist du Musiker?“, fragte Tim aus einem plötzlichen Impuls heraus. Erneut wirkte Vukan erstaunt. „Also langsam wirst du mir unheimlich. Woher weißt du all diese Dinge über mich? Hast du mir nachspioniert?“ Tim lachte und schüttelte den Kopf. „Nein, ich…ich rate wohl nur gut.“ „Offensichtlich.“ Vukan sah ihn scharf an und Tim grinste. „Ja, ich spiele Klavier. Leider finde ich nicht mehr so oft Zeit dazu.“ „Wieso nicht?“ Der Antiquitätenjunge zuckte die Schultern. „Naja, Uni halt. Freunde, Familie. Und dann der Job hier im Geschäft. Obwohl hier ein Flügel steht. Ein ganz toller sogar.“ „Cool. Warum spielst du nicht darauf? Darfst du nicht?“ „Doch, schon. Aber ich mach mir immer Sorgen, dass ich dann die Kunden nicht reinkommen höre. Und wenn sie dann wieder gehen, weil sie nicht bedient werden, wäre das blöd.“ „Quatsch. Da ist doch ne Glocke an der Tür. Und ich wette, die meisten Kunden freuen sich über gute Livemusik.“ Vukan grinste und reichte Tim die Pfeife. „Würdest du dich denn über Livemusik freuen?“, wollte er wissen. „Aber klar!“, antwortete Tim leidenschaftlich. „Soll ich dir was vorspielen?“ „Ich bitte darum!“ Vukan strahlte. „Okay. Ich zeige dir meinen Liebling. Aber lass uns vorher die Pfeife ausmachen. Oder willst du noch weiterrauchen?“ Tim schüttelte den Kopf und händigte Vukan umgehend die Pfeife aus. Irgendwie war er richtig scharf darauf, Vukan beim Klavierspielen zu zusehen. Ob er den Rücken dabei auch so streckte? Vukan klopfte die Pfeife am Aschenbecher aus. Dann leerte er seine Tasse und stand auf. Als Tim ihm folgte, trat er beinahe auf die dicke, graue Katze vom Ladentisch. „Huch!“, sagte er erschrocken, „Wo kommst du denn auf einmal her?“ Die Katze starrte ihn vorwurfsvoll an. „Amor wundert sich, dass du immer noch hier bist,“ erwiderte Vukan schmunzelnd, „Normalerweise kommen und gehen die Leute in regelmäßigen Abständen. Tim ist ein Gast, Amor. Bitte sei nett zu ihm.“ Amor schien Vukans Worten keinerlei Bedeutung zukommen zu lassen. Seine gelben Augen waren nach wie vor auf Tim gerichtet. So misstrauisch und abweisend, dass Tim sich unwillkürlich wie ein krimineller Eindringling fühlte. „Er hasst mich,“ klagte Tim. Vukan lachte leise. „Wie gesagt, Amor mag niemanden gut leiden. Mich toleriert er auch nur, weil ich seine Futterdosen öffne. Ignorier ihn einfach. Komm.“ Tim machte einen möglichst großen Bogen um den grantigen Kater und folgte Vukan durch eine enge Schneise in einen anderen Teil des Ladens, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Dort, von weiteren Schränkchen und Regalen umgeben, stand ein schwarzer Flügel. Er war groß und ausladend und absolut wunderschön. „Ohhh…,“ machte Tim erneut, „Er ist…,“ „Wundervoll, nicht wahr?“, seufzte Vukan und strich mit den Fingerspitzen über das glänzende Holz, „Ich liebe ihn auch total. Ein Steinway, Modell A-188, Baujahr 1915. 188 cm lang, 148 cm breit und 315 kg schwer. Schwarz poliert und mit original Elfenbeintastatur. Klingt, als würde ein Engel singen. Ein Traum für jeden Pianisten.“ „Wieso habt ihr ihn dann noch? Müsste so ein Goldstück nicht sofort verkauft sein?“ Vukan schnaubte. „Allerdings. Aber…der Gedanke, dass ihn ein anderer spielt, bricht mir das Herz. Also…spare ich auf ihn. Seit fünf Jahren schon.“ Tim machte große Augen. „Fünf Jahre? Aber… Doch ja, er kostet sicher ein Vermögen, oder?“ „25.500.“ „Boah!“, stieß Tim hervor, „Echt? Das ist ja… Kriegst du das hin?“ Vukan biss sich auf die Unterlippe und wirkte plötzlich verlegen, störrisch und bedrückt zugleich. Liebevoll streichelte er das wertvolle Instrument. „Nicht wirklich. Mein Vater hat ihn erworben, da war ich siebzehn. Ich hab ihn gesehen und war verliebt. Ich wollte ihn unbedingt haben. Ich hab meinen Vater angefleht, mir die Chance zu geben, das Geld zusammen zu kriegen. Mein Großvater hat ein gutes Wort für mich eingelegt – er hat mir auch das Spielen auf unserem alten Klavier beigebracht – und schließlich hat mein Vater eingewilligt, den Flügel bis zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag vom Verkauf auszuschließen. Wenn ich das Geld bis dahin nicht zusammen hätte…,“ „Aber du bist jetzt zweiundzwanzig!“, warf Tim ein, der von der Geschichte richtig berührt war, „Wieso hat ihn dein Vater nicht schon verkauft?“ Vukan holte tief Luft. „Weil ich…den Verkauf boykottiere. Und vielleicht ist das der eigentliche Grund, weshalb ich ihn nicht gerne spiele. In diese Ecke des Ladens kommt so gut wie nie jemand und wenn ich spiele, könnte ich die Kunden anlocken. Immer, wenn jemand Interesse für ihn zeigt, behaupte ich, er wäre schon verkauft, damit ich noch mehr Zeit habe, das Geld zusammen zu kriegen. Ich habe noch einen Job und spare alles, was ich verdiene. Aber es ist so schwer. Das Studium und Essen und Bücher und so. Ich werde immer wieder zurückgeworfen. Aber ich hab schon weit über die Hälfte und ich schwöre dir, ich werde es schaffen! Auch, wenn ich dafür eine meiner Nieren verkaufen muss.“ „Das…ist irgendwie richtig romantisch…,“ sagte Tim schwach und lächelte, „Was würde dein Vater sagen, wenn er es wüsste?“ „Ich glaube, er weiß es. Oder wenigstens ahnt er es. Er weiß ja, wie sehr ich an dem Flügel hänge und er hat noch keine Schritte eingeleitet, um es an den Mann zu bringen. Ich glaube, er will mir helfen. Er hat auch meinen Lohn für die Aushilfe hier aufgestockt. Er weiß, dass…der Flügel mich an meinen Großvater erinnert.“ Tim schluckte. „Wann…ist dein Großvater denn gestorben?“ „Da war ich neunzehn, also vor drei Jahren. Ich war völlig fertig und hab stundenlang an dem Flügel gesessen und gespielt. Weil ich mir dann immer einbilden konnte, dass mein Großvater mir wieder Unterricht gibt.“ Sie schwiegen einige Sekunden. „Das ist die traurigste Geschichte, die ich seit langer Zeit gehört hab,“ meinte Tim deprimiert, „Jetzt möchte ich dir was spenden, damit du das Geld schneller zusammen hast.“ Vukan lachte. „Du bist süß, ehrlich! Aber das ist nicht nötig. Ich schaff das schon. Komm, setz dich irgendwohin, wo Platz ist. Ich spiel dir was vor.“ Süß. Hatte er ihn gerade süß genannt? „Darf ich mich auch anzüglich dagegen lehnen?“ Hatte er diese Frage gerade wirklich gestellt? Mit diesem Adjektiv? Vukan, der sich bereits auf den Klavierhocker gesetzt hatte, lachte erneut und schüttelte leicht den Kopf. Dann warf er Tim einen vergnügten Blick zu. „Tu dir keinen Zwang an.“ Tim grinste, stützte den Arm auf den Flügel und schmiegte sich an seine glatte Seite. Vukan hatte ihn…süß genannt. So nannten ihn normalerweise nur seine Mutter und seine Schwester. Von ihnen hörte er es nicht besonders gern. Dann begann Vukan zu spielen. Tim kannte die Melodie. Das bedeutete, dass es vermutlich eine von diesen berühmten Melodien war, die irgendein Genie als Fünfjähriger komponiert hatte. Die Töne reihten sich so sanft und weich aneinander wie Rosenblätter, die auf einen Teich fielen. Woher Tim diesen Vergleich hatte, war ihm schleierhaft. Aber es klang wirklich so. Es war die schönste Musik, die er je gehört hatte. Tim legte den Kopf auf den Flügel und seufzte. Seine Ohren schienen vor Wonne zu vibrieren. Sie lauschten so tief wie sie konnten. Als Vukan verstummte, verzog Tim das Gesicht. „Das war schööön…,“ sagte er, „Bitte spiel noch etwas.“ Vukan grinste verlegen. „Was willst du denn hören?“ „Irgendwas schönes, cooles.“ „Was von Beethoven?“ „Yes!“ Vukan fuhr sich mit der Zunge über die lächelnde Unterlippe und legte seine Hände wieder auf die Tastatur. Abermals erklangen helle Töne, die zu einer Melodie verschmolzen. Gebannt musterte Tim den musizierenden Antiquitätenjungen. Er hielt den Rücken tatsächlich auch beim Spielen so gerade. Und er legte den Kopf langsam von einer Seite zur anderen. Seine Finger wanderten elegant über die Tasten und er bewegte die Lippen, als würde er die Klänge auf ihnen spüren. Als er Tims gefesselten Blick bemerkte, schmunzelte er und der letzte Ton erstarb. „Es macht mich nervös, wenn du mich so ansiehst,“ beschwerte er sich. „Tut mir Leid. Du…siehst sehr gut aus, wenn du spielst.“ Tim fragte sich, ob im Pfeifentabak irgendwelche Opiate enthalten gewesen waren. „Danke…,“ diesmal berührte Vukan seine Oberlippe mit der Zunge, „Du siehst beim Comiclesen auch sehr gut aus.“ Verdutzt hob Tim den Kopf. „Woher weißt du das denn? Hast du… Hast du mich gesehen?“ „Ja, hab ich,“ Vukan gluckste über Tims Gesichtsausdruck, „Ich bin direkt an dir vorbei gegangen, als du gelesen hast. Du standst mitten auf dem Fußweg. Du hast noch nicht mal mit der Wimper gezuckt.“ Tim kicherte beschämt. „Tut mir Leid. Wenn ich konzentriert lese, kriege ich gar nix mehr mit. Da könnte neben mir eine Bombe explodieren.“ „Das finde ich cool,“ meinte Vukan. „Ach ja?“ „Ja.“ Sie schauten sich an. Dann miaute es neben Tims Füßen. Ziemlich mürrisch übrigens. Kapitel 3: Das Monokel in der Hosentasche ----------------------------------------- Hallo Allerseits :)! Weiter gehts mit dem 3. Kapitel von Kakao! Ich hoffe, die Drei machen Euch Freude und leiten ein schönes Wochenende ein :)! Kapitelwidmung: Für meine . Weil sie sich mit Vukan identifiziert. Liebe Grüße ____________________ Tim sah zu Boden. Amor starrte mit den Augen eines Ninjas zu ihm hoch. „Du schon wieder,“ brummte er, „Was willst du diesmal?“ „Ich glaub, er kriegt langsam Hunger,“ antwortete Vukan mit einem Blick auf seine Armbanduhr, „Hast du Hunger, Amor?“ Der dicke Kater wandte die Augen nicht eine Sekunde von Tim ab. Er miaute erneut. „Ich denke, das heißt ja,“ sagte Vukan und stand vom Klavierhocker auf, „Willst du ihm was geben? Vielleicht schaut er dich dann nicht mehr so böse an.“ „Gern.“ Mit Amor im Schlepptau stiegen, schoben und duckten sie sich durch das Labyrinth, am Ohrensessel vorbei und zum Ladentisch zurück. Vukan öffnete die geheime Tür und Tim folgte ihm in einen kleinen Flur, von dem man eine winzige Küche und ein noch winzigeres Badezimmer erreichen konnte. Vukan gab Tim einen Löffel und zwei geschlossene Aluminiumschalen. Auf den Vorderseiten waren Bilder glücklicher Katze gedruckt. „Da ist sein Futternapf,“ erklärte er und deutete auf eine blaue Plastikschale neben dem kleinen Kühlschrank, „Hau einfach gleich beide rein. Das wird ihn besänftigen.“ Tim tat wie geheißen, riss die beiden Futterboxen nacheinander auf und löffelte den Inhalt in den Napf. „Sieh mal, Amor,“ sprach er mit der näherkommenden Katze, „Hier hast du leckere… leckeres… Sagt man die oder das Paté?“ Er hob den Kopf und sah zu Vukan hinüber. Der Antiquitätenjunge zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Das?“ „Leckeres Paté für dich, Amor. Mit Geflügel,“ Tim stand auf und betrachtete das Etikett, während Amor sich energisch über die gefüllte Schale beugte, „Was ist eigentlich Paté?“ Vukan grinste. „Pastete für Katzen?“ „Klingt seltsam. Und riecht grauenhaft,“ betonte Tim. Der Antiquitätenjunge lachte. „Ich hab’s schon mal probiert.“ „Echt?“, fragte Tim schockiert, „Bah! Wieso?“ „Ich hab eine Wette verloren.“ „Eine Wette? Vukan…,“ Tim schüttelte gespielt enttäuscht den Kopf, „Ich hätte dich echt für niveauvoller gehalten. Wer Pfeife raucht und in einem Antiquitätengeschäft aushilft, sollte bei keiner Wette mitmachen, die Katzenfutter impliziert.“ Vukan lehnte an der Wand und lachte. Tim musterte ihn fasziniert. Wenn er so richtig lachte, sah er gar nicht wie jemand aus, der all sein Einkommen für einen wertvollen Flügel sparte. „Ist schon…ist schon eine ganze Weile her,“ kicherte Vukan, „Ehrlich. Damals hab ich noch nicht Pfeife geraucht.“ „Und das soll jetzt ne Entschuldigung sein oder was?“, brummte Tim amüsiert. „Sag mir nicht, dass du noch nie eine bescheuerte Wette eingegangen bist! Ich wette um noch einen Löffel Katzenfutter, dass das eine Lüge wäre.“ „Die Wette möchte ich nicht eingehen.“ „Weil du dann Katzenfutter essen müsstest, nicht wahr?“ Tim grinste. „Ja. Stimmt.“ „Ich wusste es!“, triumphierte Vukan, „Also… Was für eine Wette war es?“ Beinahe errötete Tim. „Ich erzähl dir nicht alles. Nur so viel: Es ging um meine Klassenlehrerin in der neunten Klasse. Und um Unterwäsche. Mehr–,“ Der Rest seines Satzes ging in Vukans schallendem Gelächter unter. „Hee! Hör auf zu lachen!“, rief Tim belustigt durch Vukans Lachen hindurch. „…Unterwäsche…!“, gluckste Vukan. „Kannst du dir vorstellen, wie peinlich das war?!“ „Nee…,“ „Ich werd’s dir auch nicht näher erklären! Jetzt hör schon auf. Du Blödmann.“ Vukan presste die Lippen aufeinander und sah Tim an. Seine Augen leuchteten. „Entschuldige…,“ Tim grinste. „Schon gut.“ „Willst du…vielleicht noch einen Kakao?“ „Ja.“ „Ich mach dir einen. Du kannst dich solange auf den Sessel setzen und deinen Comic lesen, wenn du möchtest.“ „Möchte ich.“ „Gut.“ Sie lächelten sich an. Ein bisschen durcheinander irgendwie. „Ähm… Ja,“ sagte Vukan und leckte sich über die Oberlippe, „Ich hol kurz unsere Becher.“ Er verließ die Küche. Tim schaute ihm nach. Er fühlte sich beobachtet und als er den Kopf senkte, waren Amors gelbe Augen abermals auf ihn gerichtet. „Ich habe dich gefüttert,“ meinte er brummig, „Was hast du nur gegen mich, du alter Griesgram? Wieso siehst du mich immerzu so böse an?“ Der dicke Kater dachte gar nicht daran, Tims Bedenken zu zerstreuen. Mit hocherhobenem Schwanz watschelte er an Tim vorbei und zurück in den Laden. Tim seufzte resigniert und folgte ihm. Während Amor sich mit Mühe auf einen knuddligen Sessel hievte, ging er zu der Fensterbank, auf der sein Comic lag, und hob ihn hoch. Er war noch immer etwas feucht. Und draußen fiel immer noch der Regen auf die Straßen und erzeugte plätschernde Bäche im Rinnstein. Wie spät es wohl inzwischen sein mochte? Er sollte wirklich langsam gehen, dachte Tim. Aber…er wollte nicht gehen. Außerdem regnete es noch. Er könnte zumindest noch warten, bis der Regen aufgehört hatte. Ja, das war eine gute Idee. Bis der Regen aufhörte, konnte er ruhig noch hier bleiben und Kakao trinken und Comic lesen. Und so. Vukan trat mit ihren zwei Bechern aus dem Antiquitätendschungel. Er schmunzelte, als sein Blick auf Tim fiel. „Und? Ist er schon trocken?“, erkundigte er sich. Tim wiegte den Kopf hin und her. „Noch nicht ganz. Aber das wird schon. Ich versuch’s einfach mal mit dem Lesen.“ „Okay, ich komm gleich und bring dir deinen Kakao, Opa.“ Tim giggelte. „Danke schön. Und vergiss mein Monokel nicht, Junge. Sonst kann ich die Sprechblasen nicht erkennen.“ „Alles klar!“, kichernd schob sich Vukan durch die Tür zur Küche. Mit einem albernen Grinsen erreichte Tim den Ohrensessel und warf sich hinein. Ein paar Momente schmiegte er sein Gesicht in das Polster. Dann setzte er sich auf und begann behutsam die klammen Seiten seines Comics zu entkleben, bis er die Stelle gefunden hatte, an der ihn der Wolkenbruch überrascht hatte. Er schaffte zweieinhalb Seiten. Dann hörte er Schritte näher kommen und mit einem Mal verloren all die bunten Bilder an Attraktivität. „Hey,“ sagte Tim und lächelte. „Hey,“ sagte Vukan und lächelte zurück. Er stellte die beiden Kakaotassen auf den Tisch und setzte sich dann auf seinen Hocker. Er griff in die Hosentasche und holte etwas hervor. „Ich hab dir was mitgebracht,“ er reichte es Tim, „Hier.“ Tim lachte auf. „Ein Monokel!“, begeistert nahm er es in die Hände und betrachtete es eingehend, „Wie trägt man so was? Kann man das einfach ins Auge einsetzen?“ „Du musst es irgendwie einklemmen. Gib mal her, ich probier‘s mal.“ Tim gab Vukan das Monokel zurück und beobachtete ihn glucksend. Nach einigen Sekunden hob der Antiquitätenjunge den Blick und strahlte. Tim prustete in seinen Becher. „Genial!“ „Findest du?“ „Absolut! Es steht dir hervorragend.“ „Danke, danke. Ich wette dir auch, hier.“ Glucksend wurde das Monokel übergeben und eingesetzt. Vukan kringelte sich geradezu vor Lachen. „Super, ehrlich!“, schnaufte er, „ Wie für dich gemacht, Opa!“ „Ich wusste es! Ich bin ein Monokelträger.“ „Eindeutig. Du solltest es nie wieder ablegen.“ „Ich glaub, du hast Recht. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt.“ „Das sieht man. Weißt du was? Ich schenke es dir!“ „Echt?!“ „Aber ja! Was Gott zusammen geführt hat, soll der Mensch nicht trennen.“ „Oh, Vukan! Ich danke dir!“ Tim sprang vom Sessel auf, um Vukan zu umarmen. Vukan lachte und erwiderte die Umarmung scheu. Als sie sich wieder voneinander lösten, war das Lachen bereits verstummt. Während Vukan seine Lippen befeuchtete, beeilte sich Tim, auf seinen Sessel zurückzukommen und den Hauch eines angenehmen Geruchs aus seiner Nase zu verbannen. Sein Herz schlug unangebracht hastig und als er einen unverfänglichen Schluck Kakao nehmen wollte, verbrannte er sich die Zunge. „Also…,“ begann Vukan nach einer kleinen Pause und bepustete seine Tasse klugerweise erst einmal, „Was ist das für ein Comic? Worum geht es? Der Name sagt mir gar nix.“ „Interessierst du dich denn für Comics?“, fragte Tim erstaunt. Vukan zuckte die Achseln und grinste. „Wenn es ein interessanter Comic ist.“ „Okay, also…,“ Tim schmunzelte und klappte den Comic zu, „Der Hauptcharakter heißt John Constantine – steht ja auch vorne drauf, hier. Er ist Magier, läuft immer in nem Trenchcoat rum, raucht Kette, lügt und verarscht und ist auch sonst ein ziemlich fieser Typ eigentlich. Also, er hat ziemlich miese Tricks auf Lager und so. Ein richtiger Antiheld…,“ Während er sprach, tastete seine Hand nach dem Monokel, das ihm bereits leicht in die Haut schnitt und außerdem seine Sicht benebelte. Er nahm es heraus und hielt es fest. Noch nie hatte er ein so nutzloses und bezauberndes Geschenk erhalten. Er hatte das Bedürfnis, es immer bei sich zu tragen. In der Hosentasche. Oder an einer Kette um den Hals. Als Glücksbringer. Er steckte es in die Hosentasche. „Aber er rettet der Menschheit natürlich regelmäßig den Arsch und zwar vor teilweise ziemlich grauenhaften Höllenwesen,“ fuhr er dann fort, „Alles so’n bisschen übernatürlich angehaucht. Und in diesem Band, dem sechsten, Stationen des Kreuzwegs, hat er sein Gedächtnis verloren und wird jetzt – ohne, dass er begreift wieso – von den Mächten des Bösen gejagt…,“ „Klingt ja ziemlich unangenehm.“ „Ist es auch. Dieses Mädchen mit der Schere… Die war echt gruselig. Aber so weit bin ich leider noch nicht. Ich weiß noch nicht, wieso das alles passiert und wer oder was genau dahinter steckt.“ „Aber am Ende kommt das alles raus?“ „Hoffentlich!“ „Soll ich dich dann lieber in Ruhe lesen lassen, damit du–,“ „Nein! Ähm. Nein,“ sagte Tim, räusperte sich und legte den Comic auf das Tischchen zwischen ihnen, „Ich kann auch noch heute Abend im Bett lesen. Erzähl mir lieber, was du so liest. Oder liest du gar nicht?“ „Doch schon, aber in letzter Zeit nicht mehr so oft. Ich hab immer gern historische Romane und so gelesen. Jetzt les ich abends nur noch meinem kleinen Bruder vor.“ „Echt?“, lächelte Tim, „Dem Kleinsten? Dejan?“ Vukan schmunzelte und nickte. „Ja, genau.“ „Was liest du ihm denn so vor?“ „Gerade lesen wir Der kleine Prinz und davor haben wir Peterchens Mondfahrt und ganz viel von Astrid Lindgren gelesen.“ Vukan errötete fast unter Tims Blick. „Findest du das lächerlich?“ „Nein, überhaupt nicht!“, betonte Tim entschieden, „Ich finde das niedlich, echt. Wenn ich so kleine Geschwister hätte, würde ich ihnen auch vorlesen.“ „Aus deinen Comics?“ „Nee, das stell ich mir schwierig vor. Außerdem sind die teilweise ganz schön gewalttätig und blutig. Außer meine ersten, also Donald Duck und Micky Maus und so. Aber die sind pädagogisch vermutlich auch nicht besonders wertvoll.“ „Es muss ja auch nicht immer alles pädagogisch einwandfrei sein. Hauptsache die Kinder amüsieren sich und fühlen sich hinterher gut.“ „Glaubst du?“ „Ja, schon.“ „Aber Der kleine Prinz ist doch auch so pädagogisch oder nicht?“ „Ja, aber nicht in erster Linie. Vor allem ist es einfach schön und warmherzig und süß und gibt ein gutes Gefühl. Nach dem Lesen fühlt man sich geborgen und glücklicher als vorher und genau das macht es dann irgendwie pädagogisch, verstehst du?“ Vukan stutzte und grinste verlegen. „Wieso lächelst du so?“ Tim zuckte die Schultern und senkte eilig den Blick. Wie peinlich. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er gelächelt hatte. „Ach. Nur so.“ Und es hing bestimmt nicht damit zusammen, dass er plötzlich sehr prinzenhafte Züge an Vukan feststellte. Zum Glück wählte die Glocke an der Tür gerade diesen Augenblick, um leise zu klingeln. Kapitel 4: Die Dame auf dem Schachbrett --------------------------------------- Guten Tag Ihr Lieben :)! Hier ist das 4. Kapitel von Kakao und damit ist über die Hälfte der Geschichte schon abgeschlossen. Drei Kapitel kommen noch. Ich hoffe, Ihr habt Spaß beim Lesen und anschließend ein schönes Wochenende! Liebe Grüße, Eure Lung ____________________ „Oh, entschuldige mich,“ sagte Vukan und erhob sich, „Kundschaft.“ Er warf Tim einen bedeutungsvollen Blick zu und entschwand im Labyrinth. Tim lauschte auf seinen Herzschlag und fand sich sonderbar. „Hallo! Willkommen in Antiquitäten Hellbing,“ erklang Vukans Stimme gedämpft zu ihm hindurch, „Was kann ich für Sie tun?“ Tim hörte eine fremde Stimme antworten und trank ein paar Schlucke Kakao, der jetzt genau die richtige Temperatur hatte. Als er den Becher wieder abstellte, entdeckten seine Augen einen grauen Fellball zu seinen Füßen. „Mann, Amor!“, sagte Tim erschrocken, „Langsam find ich dich echt gruselig. Wie lange sitzt du denn da schon?“ Der Kater schwieg und starrte. Tim wurde den Eindruck nicht los, dass Amor ihn tatsächlich für einen Eindringling hielt und ihn loswerden wollte. Vielleicht…war er eifersüchtig? „Ich werd ja schon wieder gehen, echt. Nur halt noch nicht jetzt gleich. Und ich…ich nehm ihn dir schon nicht weg…,“ Amor schien ihm kein Wort zu glauben. Um dem missbilligenden Blick und seinen eigenen Gedanken zu entkommen, griff Tim wieder nach dem Comic. Nach einer Weile lenkten ihn neuerliche Schritte abermals ab. Offenbar wirkte der Comic-Zauber zwischen all den Antiquitäten nur bedingt. Tim senkte den Comic und lächelte. Doch statt Vukan stand eine Frau mit braunen Locken vor ihm. Und lächelte zurück. „Hallo,“ sagte sie. „Hallo…,“ antwortete Tim unsicher. „Schöner Sessel.“ „Ja. Stimmt,“ Tim dachte einen Moment nach, „Aber er ist nicht zu verkaufen. Ein Familienerbstück.“ „Schade.“ „Ja.“ Sie grinste ihn an. „Und du? Bist du der Wächter des Sessels?“ „Genau,“ Tim nickte salbungsvoll, „Ich pass auf ihn auf. Und ja, der Wollpullover ist meine Uniform.“ Sie lachte leise. „Das hab ich mich tatsächlich gefragt. Wirklich sehr hübsch. Besonders in Kombination mit dem Comic.“ „Danke sehr.“ Aus dem Urwald trat ein großer Mann mit Lederjacke hervor und gesellte sich an die Seite der Frau. Vom Ladentisch war immer noch Vukans Stimme zu vernehmen. Anscheinend telefonierte er. „Guten Abend,“ sagte der Mann an Tim gewandt, „Oh, was für ein schöner Sessel.“ „Er ist nicht zu verkaufen,“ erklärte die Frau schmunzelnd und deutete auf Tim, „Er bewacht das Familienerbstück.“ „Schade.“ „Allerdings. Und wie sieht’s mit den Esszimmerstühlen aus?“ „Er hat gesagt, er könnte sie uns übermorgen bringen lassen,“ erzählte der Mann und nickte, „Er klärt das nur eben mit dem Inhaber ab.“ „Wunderbar!“ Neue Schritte kündigten Vukans Ankunft an. Tims Magen quittierte diesen Umstand mit einem Salto. „Alles geregelt,“ informierte der Antiquitätenjunge das erfreute Paar, „Mein Vater und ich können Ihnen die Stühle übermorgen Nachmittag bringen.“ „Sehr gut, vielen Dank.“ „Gern geschehen. Kommen Sie mit nach vorne? Dann können wir die Papiere fertig machen.“ „Natürlich.“ Vukan warf Tim ein Grinsen zu, bevor er den Weg zurück zum Ladentisch einschlug. Der Mann folgte ihm. Die Frau nahm sich noch die Zeit, Tim zu zuwinken. „Viel Erfolg noch beim Wachen.“ „Danke. Viel Spaß mit den Stühlen.“ Sie lachte. „Danke schön. Tschüss.“ „Ciao.“ Tim nippte an seinem Becher und lauschte den Stimmen von vorne. Erst nach einiger Zeit bemerkte er, dass es nicht mehr gegen die Scheiben pochte. Alarmiert drehte er den Kopf und starrte an der Sessellehne vorbei aus dem Fenster. Tatsächlich, keine Regentropfen mehr. Die Pfützen lagen still und unbeweglich. Er könnte jetzt nach Hause gehen. Aber…da war noch Kakao in seiner Tasse. Außerdem war sein T-Shirt ganz bestimmt noch nicht trocken. Wenigstens einen Augenblick könnte er also noch bleiben. Bis sein Becher leer und sein T-Shirt wenigstens halbtrocken war. Von vorne kamen Dankbarkeitsbekundungen und Abschiedsworte. Kurz danach läutete das Glöckchen. Tims Herzschlag beschleunigte sich, als näherkommende Schritte zu hören waren. Eine Sekunde später ließ sich Vukan schmunzelnd auf seinen Hocker sinken. „So, das wär’s.“ „Stühle verkauft?“ „Ja. Mein Vater wird sich freuen. Gleich sechs auf einmal. Und – unter uns gesagt – nicht gerade billige. Aber sie passen offenbar perfekt zu ihrem Esstisch.“ „Und dafür seid ihr ja da, oder?“ „Richtig.“ „Also, Tim…,“ begann Vukan und griff nach seiner Kakaotasse, „Wie…lange willst du noch bleiben?“ Tim schluckte. „Soll ich… Soll ich gehen?“ „Nein, nein!“, antwortete Vukan hastig und seine Zunge berührte seine Oberlippe, „Im Gegenteil, ich finde es schön, dass du…dass du da bist.“ „Echt?“ „Ja. Ehrlich.“ „Cool, ich…ich find’s nämlich auch schön, dass ich hier bin.“ Tim fragte sich, ob er allmählich den Verstand verlor. Warum sagte er solche Dinge? Und warum kamen sie so rasch und einfach aus seinem Mund gekullert? „Gut,“ sagte Vukan und lächelte wieder. Tim lächelte automatisch zurück. „Kannst du Schach spielen?“, wollte Vukan dann wissen. Tim zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Nein? Wieso nicht?“ „Ich hab noch nie Schach gespielt.“ „Noch nie? Wirklich noch nie?“ „Nee.“ „Das ist ja kaum zu glauben.“ „Ich wette, dir hat dein Großvater Schachspielen beigebracht, oder?“ Vukan lachte. „Genau! Du hast wieder richtig geraten.“ „Ich beneide dich. Meine Großeltern sind leider schon vor langer Zeit gestorben. Und irgendwie hat sich Schachunterricht nie ergeben.“ „Tut mir Leid für dich. Hattest du ein gutes Verhältnis zu deinen Großeltern?“ Tim zuckte die Achseln und legte seinen Comic zurück auf das Mahagonitischchen. „Ich hab sie nur selten gesehen, weil sie alle weit weg wohnten. Also wohl eher nicht. Was ist mit deinen Großeltern mütterlicherseits? Leben die noch in Serbien?“ „Ja, wir fahren sie manchmal in den Ferien besuchen. Damit sie auch was von ihren Enkelkindern haben. Aber zu den Eltern meines Vaters hatte ich immer mehr Kontakt.“ „Kein Wunder. Lebt die Mutter deines Vaters noch?“ „Nein, leider nicht. Sie ist kurz nach meinem Großvater gestorben.“ „Wie schrecklich.“ Vukan nickte und seufzte. „Für meinen Vater war das ziemlich schlimm. Aber sie wollte ohne meinen Großvater nicht mehr leben. Das hat sie sogar angekündigt. Sie sagte, ohne ihn würde ihr Leben keinen Sinn mehr machen. Zwei Monate später war sie tot, obwohl sie eigentlich noch ganz fit war.“ „Wahnsinn…,“ flüsterte Tim gedankenverloren, „Das ist schon krass, oder? Ich meine, eine so große Liebe, dass der Tod des einen auch den Tod des anderen bedeutet…,“ Vukan nickte abermals und betrachtete Tim so geistesabwesend und eindringlich, dass dem tatsächlich ein wenig wärmer wurde. „Ja, das haben wir alle gesagt. Ich glaube, das hat meinen Vater auch etwas getröstet. Also der Gedanke, dass seine Eltern einfach wieder zusammen sein wollten.“ Tim nickte ebenfalls. Aber ihm fiel keine gute Antwort ein. Vukans ernster Blick machte ihn stumm. Eigentlich glaubte er nicht an die große, wahre Liebe. Liebe war vergänglich. Das hatte er an seinen Eltern und an seinen eigenen kurzlebigen Beziehungen gesehen. Trotzdem war der Gedanke irgendwie tröstlich, dass es auch anders sein konnte. „Wie auch immer,“ sagte Vukan plötzlich und schreckte Tim aus seinen Gedanken, „Soll ich dir Schachspielen beibringen?“ Tim blinzelte. „Ähm, ja. Wieso nicht? Aber du musst geduldig sein, ich bin manchmal etwas schwer von Begriff.“ „Das macht nichts,“ grinste Vukan, „Ich erklär dir alles ganz langsam und auch mehrmals, wenn du willst. So kompliziert ist das Ganze eigentlich auch gar nicht. Sobald du erst mal durch die unterschiedlichen Züge durchgestiegen bist, ist der Rest nur noch Übung.“ „Okay. Meinetwegen,“ lächelte Tim. „Gut!“, Vukan grinste und sprang auf, „Warte kurz, ich hol eben das Spiel.“ „Ist es antik?“, rief Tim ihm nach. „Na klar!“ „Yes!“ Während Vukan davon lief, kuschelte sich Tim grinsend in den Ohrensessel. Schach. Interessant. Bis er dieses Spiel begriffen hatte, sollte sein T-Shirt trocken sein. Dieser Gedanke füllte ihn irgendwie mit Wehmut. Es dauerte nicht lange, dann stand Vukan mit einem karierten Holzkasten wieder vor ihm. Er schob die beiden Becher und Tims Comic beiseite und stellte ihn auf dem Tischchen ab. „Okay. Wir bauen erst mal auf. Welche Farbe willst du? Schwarz oder weiß?“ „Äh… Schwarz.“ „Gut,“ Vukan klappte den Kasten auf und entblößte eine Menge hölzerner und sehr hübsch geschnitzter Spielfiguren, „Dann bau mal die schwarzen Figuren auf. Mach es mir einfach nach. Also, das ist der König. Er–,“ „Wie? Fangen wir jetzt direkt an?“, unterbrach Tim ihn erschrocken. „Am besten lernt man beim Spielen, finde ich. Es ist ein Trainingsspiel, ich erklär dir dabei alles. Und keine Sorge. Ich mache auch Fehler.“ Tim grunzte. „Hoffentlich. Ich will mich vor dir nicht zum Volldepp machen.“ Der Antiquitätenjunge lachte und Tims Mundwinkel zuckten unvermittelt. Irgendwie mochte er es, Vukan zum Lachen zu bringen. „Das wirst du ganz bestimmt nicht! Das kannst du gar nicht.“ „Wollen wir wetten?“ „Um Katzenfutter?“ „Nee, auf keinen Fall! Lieber um noch nen Becher Kakao.“ „Einverstanden.“ Sie reichten sich grinsend die Hände über den Tisch. „Gut,“ sagte Vukan dann, „Bauen wir weiter auf. Und hinterher machst du mir Kakao.“ „Du wirst mir Kakao machen. Aber schön, mach weiter.“ „Okay. Wie gesagt, das ist der König. Er ist die wichtigste Figur im Schach, obwohl er kaum hilfreich ist. Er kann nur einen Schritt in jede Richtung gehen und ist deshalb ziemlich unbeweglich. Er steht hier in der Mitte, immer auf der jeweils anderen Farbe. In deinem Fall also auf weiß. Und das ist die Dame. Sie ist die flexibelste Figur im ganzen Spiel. Sie kann in jede beliebige Richtung laufen und zwar so viele Schritte wie sie will, auch zurück. Sie ist die Coolste von allen. Sie steht neben dem König, auf ihrer eigenen Farbe.“ Tim hörte zu und verfolgte, wie Vukan seine weißen Figürchen aufbaute. Er bemühte sich, nach dieser Anleitung seine eigenen Figuren zu setzen und sich alles über ihre jeweiligen Spielzüge zu merken. Allein das verlangte schon eine ganze Menge Konzentration. „Wieso stehen die unbewaffneten Bauern denn ganz vorn?“, fragte Tim schließlich, während er die kleinsten Figuren aufstellte, „Ausgerechnet die? In einer Schlacht? Die Arbeiterpartei fände das bestimmt schlimm.“ Zu Tims Entzücken lachte Vukan schon wieder. „Keine Ahnung. Das ist halt so. Tradition, wenn du so willst. Außerdem heißt die Aufstellung nicht, dass die Bauern automatisch zuerst geschlagen werden. Du wirst schon sehen.“ „Na gut.“ „Also. Bist du bereit? Weiß zieht immer zuerst. Und beim ersten Zug darf einer der Bauern zwei Schritte nach vorne gehen. Normalerweise dürfen sie immer nur einen Schritt gehen. Und immer nur nach vorne, auch nicht zurück.“ „Nur einen?“, fragte Tim empört und sah Vukan zu, wie er einen seiner weißen Bauern zwei Quadrate nach vorne ziehen ließ, sodass er jetzt bereits in der Mitte des karierten Spielfelds stand, „Und nur nach vorne? Das ist ja voll gemein. Da können sie ja kaum was ausrichten.“ „Aber sie können!“, grinste Vukan, „Los, du bist dran. Lass einen deiner Bauern gehen.“ Tim suchte sich einen Bauern ganz am Rand aus, um möglichst viel Abstand zu Vukans Initiator aufzubauen. „Muss man mit einem Bauern eröffnen?“, erkundigte er sich. „Nein, man kann auch einen Springer nehmen. Aber nur den, weil er halt springen kann. Die anderen können sich nicht bewegen, solange die Bauern noch vor ihnen stehen.“ „Seltsam…,“ brummte Tim. Vukan warf ihm einen belustigten Blick zu. Dann ergriff er eine der Figuren der hinteren Reihe – die Dame, wie sich Tim erinnerte – und ließ sie in einer Diagonalen über das Feld zischen. Mit einem Klacken fiel sein Bauer um. Kapitel 5: Das Unglück im Geruch -------------------------------- Hipp Hipp Hurra - hier kommt das 5. Kapitel :)! Kapitelwidmung: Für Laniechan. Weil sie mir in den letzten Tagen eine Flut von entzückenden Kommis geschenkt hat. Ich hoffe, Ihr hattet eine schöne Woche und genießt das Wochenende! Liebste Grüße von Lung ____________________ „Hee!“, rief Tim entrüstet, „Du… Du hast meinen Bauern geschlagen!“ Ausgelassen lachte Vukan auf. „Ja, aber–,“ „Du hast doch gesagt, die Bauern werden nicht automatisch zuerst geschlagen.“ „Ja, stimmt. Ich wollte dir doch auch nur etwas zeigen.“ „Was denn?“, grollte Tim und Vukan strahlte ihn so lieb an, dass Tim der arme Bauer plötzlich ganz egal war. „Ja, ich habe deinen Bauern geschlagen. Mit meiner Dame. Und deshalb war das, was ich gerade gemacht habe, ziemlich dämlich. Weil…,“ Verheißungsvoll ließ er seine Stimme ersterben und blickte Tim auffordernd an. Tim blickte hilflos zurück. „Weil…?“ „Sieh dir an, wo meine Dame jetzt steht. Und erinnere dich, was ich vorhin über die Zugmöglichkeiten des Turms gesagt hab.“ Tim runzelte konzentriert die Stirn. „Du hast gesagt, dass…der Turm in alle Richtungen gerade laufen kann.“ Vukan nickte enthusiastisch. „Genau! Also…,“ Tim deutete mit wachsender Freude auf das Spielbrett. „Heißt das, ich kann jetzt deine Dame schlagen?“ „Jaah, richtig!“ „Yes!“, rief Tim begeistert und wandte sich an Amor, der aus unerfindlichen Gründen schon wieder in der Nähe hockte und finster dreinsah, „Hast du das gehört, Amor? Ich kann Vukans Dame schlagen!“ Vukan lachte schon wieder. „Ja, das kannst du. Also los, worauf wartest du noch?“ Glückselig schickte Tim seinen schwarzen Turm in einer geraden Linie über das Feld und stieß Vukans Dame vom Spielbrett. Er kicherte zufrieden. Als er aufsah, um den Antiquitätenjungen zu verspotten, bemerkte er, dass dieser ihn breit lächelnd beobachtete. „Was ist…?“, fragte er verlegen. „Nichts,“ erwiderte Vukan rasch, „Ich…finde dich nur ganz schön cool.“ „Mich? Aber…wieso denn? Weil ich deine Dame geschlagen hab?“ „Nee…,“ Vukan leckte sich kurz über die Unterlippe, „Weil du…einfach cool bist.“ Tim blinzelte und starrte auf Vukans Mund. „Ähm. Danke…,“ sagte er mit klopfendem Herzen und lächelte versuchsweise, „Du…bist auch echt cool.“ „Danke…,“ murmelte Vukan. Sie sahen sich beschämt schmunzelnd an und die Stille zog sich peinlich in die Länge. Tim verdrängte den Gedanken, dass Vukan gerade absichtlich und nur für ihn schlecht gespielt hatte, und fand nur deshalb mühsam als Erstes ins Hier und Jetzt zurück. „Ähm. Wollen…wir weiter spielen?“ „Oh. Ja. Klar.“ „Du bist dran, oder? „Äh, richtig. Genau. Okay. Gut.“ Sie spielten. Tim bemühte sich, seinen hüpfenden Magen zu ignorieren. Wenn er am Zug war und sich zu entsinnen versuchte, auf welche eckige Weise der Springer zu springen vermochte, spürte er manchmal Vukans Blick auf sich. Aber er schaute nicht auf, weil er befürchtete, dann nicht mehr weggucken zu können. Vukan gewann selbstverständlich. Obwohl er seine Dame verloren hatte und extra noch ein paar Fehler einbaute. Aber allein die Vorstellung von Vukans Haaren und der Art, wie sie ihm widerspenstig in die Stirn fielen, machten es Tim nahezu unmöglich, sich auf die korrekten Spielzüge zu konzentrieren. „Verdammt…,“ zischte Tim, nachdem sein König wehrlos vom Feld gerollt war. Vukan lächelte. „Ach was. Ich finde, du hast dich sehr gut geschlagen. Das war immerhin dein allererstes Schachspiel. Und ich habe jahrelange Erfahrung.“ „Aber ich habe es noch nicht einmal geschafft, deinen König ansatzweise zu bedrohen.“ „Das macht doch nix. Das kommt schon noch.“ „Und wie viele Jahre muss ich spielen, bis es soweit ist?“ „Du kannst gerne jeden Tag vorbei kommen, wenn ich hier bin, und mit mir Schach spielen. Dann dauert es bestimmt gar nicht so lange.“ „Ich warne dich, ich mach das wirklich. Ich komme jeden Tag und nötige dich, mit mir zu spielen. Bis du weinst.“ Der ernste Antiquitätenjunge lachte erneut und Tims Haut antwortete mit einem angenehmen Schauder. „Ich glaube kaum, dass ich weinen werde, wenn du mich besuchst.“ „Das sagst du jetzt! Aber warte nur, wenn du mich nicht mehr los wirst…,“ Vukan kicherte und musterte Tim schmunzelnd. „Nein, ehrlich. Ich wünschte wirklich, du würdest jeden Tag kommen. Ich würde dir auch auf dem Flügel vorspielen und dir so viel Kakao machen wie du willst. Und du dürftest immer in diesem Sessel sitzen und Comics lesen.“ „Echt?“, fragte Tim gedämpft. „Ja…,“ Tim schluckte. Seine Kehle war schlagartig ganz trocken. Sein Kopf nickte von selbst. „O…Okay. Also, das…kann ich einrichten, denke ich. Ich…ich könnte zum Beispiel… morgen wieder vorbeikommen. Wenn du dann hier bist natürlich nur.“ „Bin ich,“ antwortete Vukan und leckte sich atemlos über die Lippen, „Auf jeden Fall. Morgen bin ich hier.“ „Cool…,“ brachte Tim hervor und erwiderte Vukans lächelnden Blick gebannt, „Dann…komm ich einfach vorbei morgen. Ähm… Wann?“ „Egal wann! Nein, warte… Ich hab bis zwei Uni. Vielleicht…am Nachmittag? So gegen vier oder so?“ „Klar, das geht,“ entgegnete Tim sofort und wusste, dass er Elektrische Messtechnik trotz Anwesenheitsliste morgen Nachmittag ausfallen lassen würde. „Schön…,“ sagte Vukan und strahlte. „Ja,“ sagte Tim und strahlte zurück, „Find ich auch.“ Während sie sich anschauten, entstanden Bilder vor Tims innerem Auge. Bilder der Zukunft, in der Vukan und er jeden Tag zusammen saßen und Schach spielten und redeten und Kakao tranken und der Regen dabei leise gegen die Fensterscheiben tippte. Tim fand diese Aussichten wundervoll. Auch wenn dies bedeutete, jeden Tag mit Amor, der nach wie vor unter einem nahen Stuhl kauerte und ihn anfeindete, konfrontiert zu werden. Apropos Regen. Tim riss sich von Vukans tiefbraunen Augen los, drehte den Kopf und stellte fest, dass seine Ohren sich nicht verhört hatten. „Oh…,“ machte er verdutzt, „Es regnet wieder.“ „Tja, dann…musst du wohl noch eine Weile bleiben,“ grinste Vukan. „Sieht ganz so aus,“ schmunzelte Tim und fühlte sein erfreutes Herz pochen, „Und? Hast du Lust auf eine Revanche?“ „Gern. Aber vorher…machst du mir Kakao.“ „Heißt das, du hältst mich echt nicht für nen Volldepp?“ Lächelnd schüttelte Vukan den Kopf. „Nein, gar nicht. Sagte ich doch.“ Tim seufzte übertrieben schwer. „Also gut… Ich glaube dir. Du hast die Wette gewonnen, ich mache dir Kakao.“ „Sehr gut!“ „Wo finde ich was?“ „Ich komm mit und zeig dir alles. Muss mich eh mal erleichtern.“ „Okay.“ Sie standen auf. Tim nahm die beiden leeren Becher und ging Vukan voraus durch das Labyrinth aus Antiquitäten. Liebevoll sah er sich in dem Laden um. Er hatte das Gefühl, ihn bereits in- und auswendig zu kennen, obwohl er ihn doch erst heute gefunden hatte und immer wieder etwas Neues entdeckte. Wie zum Beispiel die geheimnisvolle Truhe, die dort unter dem Hutständer lagerte. „Was ist da drin?“, fragte Tim über die Schulter und wies mit einem der Becher nach rechts. Vukan folgte seinem Arm. „Ähm… Gardinen, glaube ich.“ „Gardinen?“ „Ja, mit Spitze und so. Meine Großmutter fand sie so schön, deshalb haben wir sie nicht weggeworfen. Jetzt liegen sie halt da drin und verrotten langsam.“ „Wieso hängt ihr sie nicht auf?“ „Mein Vater findet sie scheußlich.“ Tim lachte leise. „Ach so.“ Sie traten zum Ladentisch. Im Vorbeigehen befühlte Tim sein T-Shirt. Es war noch ziemlich feucht, was ihn mit tiefer Befriedigung erfüllte. In der kleinen Küche angekommen, zeigte Vukan ihm den ebenfalls antik wirkenden Wasserkocher und die Dose mit dem Kakaopulver. „Da ist der Wasserkocher. In der Dose liegt auch ein Löffel. Ich mach immer drei auf jede Tasse. Ach ja, den Hahn nicht auf heiß drehen, sonst setzt du die Küche unter Wasser.“ „Alles klar.“ „Gut.“ Vukan grinste ihn an und verschwand durch die Toilettentür gegenüber. Tim füllte kaltes Wasser in den Kocher und schaltete ihn ein. Als er nach der Kakaodose griff, bemerkte er die Fotos an dem kleinen Wandschrank. Sie alle zeigten dunkelhaarige Kinder. Jungs, um genau zu sein. Auf einem Bild waren gleich vier von ihnen abgebildet. Den ältesten Jungen ganz links erkannte Tim sofort. Es war Vukan und er stand seitwärts, beugte sich leicht nach hinten und lachte in die Kamera. Hinter ihm, der Größe nach geordnet, waren vermutlich seine drei jüngeren Brüder abgebildet. Ebenfalls im Profil. Der Zweite von links war ein wenig zu cool, um zu lachen, und grinste nur schief. Der Dritte trug eine runde Brille und strahlte wie die aufgehende Sonne. Der Kleinste, ganz rechts, hatte sich die Finger in den Mund gesteckt und lächelte etwas desorientiert. Tim schmunzelte, löffelte Kakaopulver in die beiden Tassen und ließ den Blick weiter wandern. Ein Foto zeigte wohl den Jüngsten, Dejan, wie er mit ernster Miene vor einem verschmierten Teller saß. Der größte Teil seines niedlichen Gesichts bestand aus Nutella. Auf einem anderen Bild saß ein etwa elfjähriger Junge im Schneidersitz und hielt ein Baby im Arm. Ein kleinerer Junge, vielleicht vier oder fünf, umarmte ihn von hinten und lachte über seine Schulter. Weitere Fotos zeigten einen offensichtlich verkleideten Polizisten mit Brille und Zahnlücke, zwei sonnengebräunte Jungs in Badehose und einen offensichtlich pubertierenden Jugendlichen mit E-Gitarre. Und auf einem Foto…spielten ein schlanker, gutaussehender junger Mann und ein älterer Herr mit silbergrauem Haar und Lachfältchen gemeinsam an einem braunen Klavier. Der Jüngere hielt den Rücken sehr gerade, während seine Hände gewandt über die Tasten glitten. Und, angesichts der Kamera, lächelte er auf eine vertraute Weise verlegen. Der alte Mann schmunzelte warmherzig. Tims Lippen verzogen sich zu einem ebenso warmen Lächeln. Gleichzeitig mit der Toilettenspülung im Bad begann der Kocher lauter zu rauschen. Er klickte und Tim goss heißes Wasser in die Becher. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und Vukan kam mit einem Seufzen in die Küche zurück. „Ist er das? Dein Großvater?“, fragte Tim sofort und stellte den Kocher weg. Vukan trat zu ihm und wischte sich seine nassen Hände an der Jeans ab. Er nickte. „Ja… Das ist er.“ „Er sieht nett aus.“ „Das war er auch.“ „Und das sind deine Brüder?“, fragte Tim weiter, um Vukan nicht in traurige Erinnerungen zu verwickeln. „Genau. Das ist Zavisa,“ erläuterte Vukan und deutete auf den jungen Gitarristen, „Der Fünfzehnjährige. Und das ist Kamenko,“ das war der kleine Polizist, „Und Dejan natürlich.“ „Der ist aber niedlich. Und offenbar mag er Nutella.“ „Und wie. Du machst dir ja keine Vorstellungen. Er ist so süß…,“ Tim drehte den Kopf, um den schmachtenden Antiquitätenjungen anzugrinsen und zuckte zusammen. Vukan war ihm ganz nah. So nah, dass Tim seine Körperwärme und erstmals auch seinen Duft richtig wahrnehmen konnte. Das Aroma ließ seinen Magen wie einen Flummi hüpfen. „Boah!“, stieß Tim hervor. „Was?“, fragte Vukan erschrocken. „Wie du riechst.“ „Was? Schlimm?“, beunruhigt schnupperte Vukan an seinem Hemd. „Nee, im Gegenteil! Du riechst phantastisch, Mann. Was ist denn das?“ „Äh… Giorgio Armani, glaube ich.“ „Boah, mir wird ganz schwindelig davon. Geh bloß weg von mir. Sonst passiert noch ein Unglück.“ „Was für ein Unglück denn?“ Tim versuchte es. Doch er konnte es nicht zurückhalten. „Ich werde dich anspringen und knutschen.“ Kapitel 6: Die Spinne in der Spüle ---------------------------------- Guten Tag Allerseits :)! Weiter gehts mit dem vorletzten Kapitel von Kakao. Ich hoffe, es gefällt Euch und Ihr verzeiht mir den Umstand, dass ich Eure Hoffnungen enttäuschen muss ;) Euch allen ein schönes Wochenende! ____________________ Einen Moment schien es, als wäre Vukan gemeinsam mit dem Raum-Zeit-Kontinuum erstarrt. Dann drehte es sich weiter und Vukan begann zu lachen. Tim wollte sich unterdessen gern unter dem Kühlschrank verkriechen. „Und das nennst du Unglück?“ Tim traute seinen Ohren nicht. „W… Was? Wie…würdest du es denn sonst nennen?“ Vukan zuckte die Achseln und seine Zunge berührte mal wieder die Oberlippe. „Keine…Ahnung. Ich kann mir auf jeden Fall Schlimmeres vorstellen, als von dir geknutscht zu werden, weil ich so gut rieche.“ „Ach ja? Was denn zum Beispiel?“, erkundigte sich Tim und nahm tiefe Atemzüge, um sein Herz zu beschwichtigen, „Krieg? Hungersnot? Aids? Super Gau?“ Vukan nickte ernsthaft. „Und Durchfall,“ fügte er hinzu, „Schlafstörungen, Hausarbeiten. Auch Glatteis fand ich immer richtig ätzend.“ „Jaah! Besonders, wenn man mit dem Rad unterwegs ist.“ „Du sagst es. In der Schulzeit hab ich mich mehrmals gut auf die Klappe gelegt.“ „Ich auch. Erste Stunde, Arschkälte, hundemüde und dann auch noch das.“ „Richtig. Furchtbar war das.“ Sie tauschten ein paar Geschichten aus, in denen sie bei Glatteis vom Rad gestürzt waren. Danach waren sie ein bisschen ratlos. Angespannt rührte Vukan ihre Kakaotassen durch. „Außerdem…,“ begann er schließlich beiläufig und Tim wurde leicht mulmig zumute, „Außerdem würde deine Freundin mir bestimmt den Kopf abreißen, oder?“ „Ich hab keine Freundin,“ entgegnete Tim wahrheitsgemäß und – seltsamerweise – wie aus der Pistole geschossen. Der Antiquitätenjunge zog die Augenbrauen hoch. Mit einem Mal wirkte er viel entspannter und lehnte er sich gegen den Kühlschrank. „Nicht? Wie kommt das?“ „Meine letzte Beziehung ist vor nem halben Jahr in die Brüche gegangen.“ „Warum?“ Tim hob und senkte die Schultern. „Keine Ahnung. Wie das halt bei manchen Menschen manchmal so ist. Man verbringt weniger Zeit miteinander und streitet nur noch. Und plötzlich bemerkt man, dass man nie richtig verknallt, sondern nur geil war. Verstehst du?“ Vukan grinste, schien aber nachdenklich zu sein. „Wie lange wart ihr zusammen?“ „Keine Ahnung. Drei, vier Monate?“ „Das ist ja nicht so lange.“ „Nee.“ „Wie lang war denn deine längste Beziehung?“ Tim schnaubte. „Keine Ahnung. So drei, vier Monate?“ Vukan lachte. „Nein, ich glaube sieben oder so,“ korrigierte Tim schmunzelnd, „Das war damals, als man noch jung und unerfahren war und noch glaubte, für die Liebe kämpfen zu müssen.“ „Das hört sich ja reichlich deprimiert an, mein Lieber.“ „Tja, ich hatte nie besonders viel Glück mit der Liebe. Das muss erblich sein. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich zehn. Und meine Schwester hat ständig Liebeskummer.“ Tim fragte sich, ob Vukan ihn hier gerade mutwillig aushorchte. Er sollte den Spieß schnell umdrehen. „Was ist mit deiner Freundin?“, fragte er und bemühte sich, eine möglichst gleichgültige Tonlage anzustimmen, „Wie lange seid ihr schon zusammen?“ Diesmal schnaubte Vukan. „So null Monate? Ich habe auch keine Freundin.“ Mit Mühe verbarg Tim seine aufkommende gute Laune. Er griff nach seinem Kakao. „Ach? Wieso nicht? Ich meine, du…bist nett und cool und… Und du kannst Klavier und Schach spielen und liest deinem kleinen Bruder abends vor. Hinter dir müssten sie doch alle her sein.“ Verlegen fuhr sich Vukan mit der Zunge über den Mund. Tim versuchte, nicht genau hinzusehen. „Ach was, gar nicht…,“ Tim fand Vukans spontane Schüchternheit ziemlich entzückend. „Machst du eigentlich viel Sport?“, fragte Vukan dann plötzlich. Tim starrte ihn an. „Wow, was für ein Themawechsel. Wie…kommst du plötzlich darauf?“ „Mhm… Nur so…,“ antwortete Vukan und leckte sich Kakao und Scham von den Lippen. „Ich spiele dreimal die Woche Fußball.“ „Im Verein?“ „Ja, hab mir gleich nen Neuen gesucht, nachdem ich hergezogen bin.“ „Zum Studieren?“ „Yes.“ „Und wo kommst du ursprünglich her?“ „Aus der Nähe von Bonn.“ „Und wieso ausgerechnet hierher?“ „Wegen Elektrotechnik. Das wird leider längst nicht überall angeboten.“ „Das kenn ich mit meinem Studienfach auch. Ich hatte aber Glück und konnte hier bleiben. Das wollte ich unbedingt.“ „Wegen dem Flügel? Und Dejan?“ Vukan grinste zärtlich. „Ja, genau. Er hat deutlich gemacht, dass er gar nix davon hält, wenn ich weggehe. Also bin ich nur in eine andere Wohnung gezogen, aber in der Stadt geblieben.“ „Wohnst du in einer WG?“ „Nee, allein. Aber nur um die Ecke von meiner Familie. Damit ich abends schnell vorbeikommen kann, um Dejan vorzulesen.“ „Cool…,“ grinste Tim und stellte sich den Antiquitätenjungen beim Vorlesen vor. Keine gute Idee. Der Gedanke war einfach zu reizend. „Was ist mit dir?“, wollte Vukan wissen und holte Tim aus seiner Versunkenheit. „Ich wohn in einer Zweier-WG. Mit nem Maschbauer. Läuft ganz gut.“ „Seid ihr befreundet?“ Tim gab ein undefinierbares Geräusch von sich und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. „Direkt befreundet sind wir eigentlich nicht. Wir kommen gut miteinander aus und tolerieren die Macken des Anderen. Aber es ist nicht so, dass wir ständig zusammen hängen und plappern oder so.“ „Verstehe,“ Vukan stellte seinen Becher ab. „Schon leer?“, fragte Tim erstaunt. „Klar! Der Kakao war so gut, da konnte ich nicht widerstehen.“ „Der beste deines Lebens, ja?“ „Der Allerbeste!“ Tim lachte und Vukan strahlte ihn an. Dann – schlagartig – verblasste sein Lächeln. „Was ist?“, erkundigte sich Tim verwirrt. Vukan entgegnete nichts, fixierte nur etwas, das sich hinter Tim zu befinden schien. Tim wirbelte herum und sah es auf der Stelle. Über der Spüle klebte etwas an der Wand. Etwas, das gerade noch nicht da gewesen war. Eine Spinne. Eine große, mit acht Beinen, die noch dazu haarig waren. „Oh…,“ machte Tim. Hinter ihm entfernte sich Vukan langsam und stellte sich in den Türrahmen. Er war ganz blass geworden. „Alles in Ordnung?“, fragte Tim besorgt. „Ja, ich…ich steh nur nicht so auf Spinnen…,“ „Soll…ich sie wegmachen?“ „Würdest du?“, Vukans Stimme klang ganz kläglich. „Sicher!“, sagte Tim sofort und stellte ebenfalls seinen Becher ab. „Du kannst dir ein Glas aus dem Schrank nehmen. Aber ich glaube, wir haben auch einen Schlagstock im Laden.“ Tim gluckste und näherte sich der Spüle. „So was brauch ich nicht. Das geht auch so…,“ Er hörte Vukan nach Luft schnappen, als er sich zu der schwarzen Spinne beugte und seine Hand unter sie hielt. „Na komm…,“ sagte er zu der Spinne und schob seine Finger behutsam unter sie, „Mein Freund Vukan mag keine Spinnen. Sei so nett und lass dich nach draußen bringen, ja?“ Die Spinne krabbelte auf seine Handfläche. Tim richtete sich auf und betrachtete das Tier mit einer gewissen Faszination. Als er sich zu Vukan umdrehte, stellte er fest, dass der Mund und Augen aufgerissen hatte. „M… Du…hast sie auf der Hand…,“ brachte Vukan hervor. In seiner Stimme vibrierten sowohl Bewunderung als auch Ekel. „Ja, so schlimm ist das nicht. Willst du auch m–,“ „Nein!“ „Okay…,“ Tim grinste, „Keine Sorge. Ich bring sie eben raus, ja?“ Vukan wich in den Flur zurück, als Tim an ihm vorbeiging, um die Spinne vor die Ladentür zu setzen. Das Glöckchen klingelte und er trat auf die Straße. Der Regen hatte wieder aufgehört und überrascht bemerkte Tim, dass es bereits dämmerte. Dann musste es schon ziemlich spät sein. Schließlich war Sommer. Tim kniete sich auf den Fußweg und ließ die brave Spinne frei. Einen Augenblick verharrte sie starr, dann krabbelte sie über das Pflaster zur nächsten Hecke. Mit einem Seufzen richtete sich Tim wieder auf und wandte sich zur offenen Ladentür um. Jetzt bemerkte er auch das Schild oben drüber, auf denen in großen verschlungenen Lettern Antiquitäten Hellbing stand. Auch von außen war das Geschäft schön. Vukan stand in der Tür und lächelte breit und beeindruckt. „Tim, der Spinnenflüsterer…,“ sagte er. Der Spinnenflüsterer grinste verlegen. „Blödsinn…,“ brummte er, „Ich hab das nur schon häufiger gemacht. Für meine Schwester.“ „Hat die auch Angst vor Spinnen?“ „Wie verrückt.“ Sie musterten einander stumm. „Ich…hab grad bemerkt…,“ fing Vukan an und klang mit einem Mal beschämt und bedrückt, „…dass ich schon vor einer Stunde hätte schließen sollen. Und meinen Vorlesungstermin bei Dejan hab ich auch verpasst…,“ „Oh nein!“, rief Tim bestürzt, „D… Das tut mir Leid!“ „Nein, nein! Das ist doch nicht deine Schuld.“ „Aber ich hab dich die ganze Zeit vollgequatscht.“ „Aber ich dich doch auch. Wir haben einfach die Zeit vergessen.“ „Kannst du ihm denn wenigstens noch eine Seite vorlesen, wenn du dich jetzt beeilst?“, fragte Tim hoffnungsvoll und fühlte sich schrecklich schuldig. „Weiß nicht. Ich muss ja noch alles zumachen… Vielleicht hat auch mein Vater für mich übernommen. Das macht er manchmal, wenn ich…nicht komme…,“ „Tut mir ehrlich Leid.“ Zerknirscht sah Tim vom Fußweg zu Vukan hoch. Vukan schüttelte den Kopf. „Mir aber nicht.“ „Nicht?“ „Nein, ich…ich hab doch gesagt, dass ich es schön fand, dass du hier warst.“ Tim lächelte, als er die altbekannte Zungenbewegung bemerkte. „Ja, das fand ich auch. Und ich…komme ja morgen auch schon wieder.“ „Richtig…,“ Vukan lächelte sanft. „Dann…hol ich jetzt mal meine Sachen. Ja?“ „Okay…,“ Vukan klang mindestens genauso missmutig, wie Tim sich fühlte. Kapitel 7: Das Richtige zum Abschied ------------------------------------ Und hier ist es schon: Das letzte Kapitel von Kakao. Ich danke Euch für Eure Begleitung und Eure Kommentare und hoffe, dass Ihr beim Lesen soviel Spaß hattet wie ich beim Schreiben :) Bis hoffentlich zur nächsten Geschichte *winke winke*! Liebe Grüße, Lung P.S. Ganz eventuell ist es möglich, dass zu Tim und Vukan irgendwann noch ein paar One-Shots auftauchen. Mal schauen...^^ ____________________ Schweigend gingen sie zurück in den Laden. Während Vukan die Nachtbeleuchtung einschaltete, ein paar Wasserflecken vor der Tür wegwischte und ihre Kakaobecher abspülte, sammelte Tim sein klammes T-Shirt und den Comic ein. Seufzend ließ er seinen Blick durch das Geschäft, über all die Möbel und Vasen und das benutzte Schachspiel schweifen. Ein letztes Mal streichelte er das weiche Polster des Ohrensessels. Abschiede hatte er schon immer verabscheut. Aber so schwer war es ihm noch nie gefallen. Zum Glück war es kein Abschied für immer, sondern nur bis zum nächsten Tag. Er konnte es schon jetzt kaum erwarten. Als er nach vorne zurückkehrte, stapelte Vukan einige Papiere aufeinander und sprach mit Amor, der sich – Gott weiß, unter welchen Anstrengungen – zurück auf den Ladentisch gewuchtet hatte. Er beäugte Vukan streng und sein Schwanz peitschte die Kasse. „…weiß, dass wir schon längst hätten schließen sollen. Aber ich mach ja, siehst du? Gleich bin ich weg und du kannst draußen spazieren gehen.“ Tim wünschte, er könnte einfach hier stehen bleiben, zu einer Statue werden und Vukan ewig und einen Tag beim Aufräumen zusehen. Aus irgendeinem Grund kam ihm diese Vorstellung wie das pure Paradies vor. Auch, wenn er dann nie wieder Comics lesen könnte. Beim Klang der Schritte des Spinnenflüsterers schaute der Antiquitätenjunge auf. „Hey…,“ sagte er und lächelte. „Hey…,“ erwiderte Tim und lächelte zurück, „Alles klar?“ „Jap. Alles klar. Bin soweit fertig. Hast…du alles?“ Tim nickte und zeigte ihm den Comic und das T-Shirt. „Ist dein T-Shirt trocken?“, erkundigte sich Vukan und trat unter Amors stechendem Blick vom Ladentisch weg und auf Tim zu. „Naja…,“ „Nicht?“ „Nicht so ganz. Aber das wird schon gehen. Ich hab’s ja ni–,“ Vukan schüttelte den Kopf. „Nein. Behalt meinen Pullover an. Nicht, dass du auf dem Heimweg frierst. Ich gebe dir eine Tüte für dein T-Shirt mit.“ „Echt?“, fragte Tim. Vukan grinste und nickte. „Klar. Für den Spinnenflüsterer immer. Und du…kommst ja morgen schon wieder. Da kannst du ihn mir mitbringen.“ Tim wurde ganz warm ums Herz. Er nickte und grinste zurück. „Okay. Das mach ich. Dann–,“ „Warte – die Tüte…!“ „Ja, richtig…,“ Vukan eilte um den Ladentisch herum, bückte sich und holte eine weiße Plastiktüte hervor. Auf beiden Seiten stand in schlichtem Schwarz Antiquitäten Hellbing geschrieben. Vukan kam zurück und gab Tim die Tüte. „Bitte.“ „Danke…,“ murmelte Tim und stopfte T-Shirt und Comic hinein. Verklärt lächelnd betrachteten sie einander. Der Moment schien nicht enden, sondern den Abschied hinaus zögern zu wollen. Tims Herz pochte sehr schwer und leidend in seiner Brust. Trotzdem gab er sich einen Ruck. „Dann…,“ begann er nochmal und versuchte, sich nicht in Vukans Augen zu verlieren, „Dann… Tschüss. Oder? Bis…morgen.“ „Ja, bis morgen…,“ antwortete Vukan und nickte entschlossen, „Schön, dass du… Ja. Das sagte ich ja schon…,“ „Ja, sagtest du…,“ Verlegen grinsend senkten sie die Köpfe. Vukan leckte sich über die Unterlippe und machte Tim den Abschied noch viel schwerer. Wie sollte er diesen Laden nur verlassen? Wie sollte er sich nur von diesem Kerl trennen, wenn der einfach so…so… Abermals, zum gefühlt hundertsten Mal, sahen sie sich in die Augen und schwiegen. Tim bemühte sich, seine Beine in Gang zu kriegen. Aber sie schienen festgewachsen zu sein. So was schafften normalerweise nur Comics. „Mach’s…gut…,“ startete Vukan einen neuen Versuch. „Du auch…,“ entgegnete Tim. Er riss sich zusammen und machte einen Schritt rückwärts. Aber sollte das echt alles gewesen sein? Ein paar plumpe Worte? So konnte er sich doch nicht von Vukan verabschieden. Das fühlte sich irgendwie nicht richtig an. Sollte er ihm noch die Hand geben? Nein. Das machten Geschäftsfreunde und Fremde. Das waren sie längst nicht mehr. Vielleicht eine zweite Umarmung? Aber so was machten Freunde und Freunde waren sie auch nicht. Nicht wirklich. Er könnte winken. Doch das tat man normalerweise nur, wenn man mehr als fünf Meter voneinander entfernt war. Sie standen jedoch direkt voreinander. Ein Kuss…, wisperte eine leise und sehr gut informierte Stimme in Tims Kopf, Ein Kuss wäre der richtige Abschied. Ein Kuss?! Er konnte Vukan doch nicht einfach küssen! Was würde er denken? Andererseits… Vukan hatte sich ebenfalls noch nicht bewegt. Er musterte Tim unverwandt und seine Pupillen schienen in einem Dreieck über Tims Gesicht zu fliegen. Und seine Lippen…schimmerten ganz feucht. Ach, Scheiß drauf! Tim fühlte das Herz in seinem Brustkorb trommeln. Er spürte Amors berechnendes Starren auf sich. Er setzte alles auf eine Karte. Das Universum kippte nach vorn, Tim stolperte vorwärts und… …küsste Vukan auf den Mund. Es war nur ein kleiner, harmloser, flüchtiger Kuss, der nach Kakao schmeckte. Einer von der Sorte Küsschen. Die Wirkung war trotzdem gewaltig: Es fühlte sich an, als ob sich alle Haare an Tims Körper gleichzeitig aufstellen würden. In seinem Magen ging ein Feuerwerk los und irgendwo hinter seiner Stirn gab es eine leise Erschütterung. Eine Sekunde später warf sich Tim nach hinten, um der Kraft des Universums entgegen zu wirken. In seinen Ohren klingelte es. Vukan…starrte ihn an. Genauso fassungslos wie Amor. Tims Füße drehten sich auf dem Absatz um, seine Hand fand die Türklinke. Er stolperte die kurze Treppe hinunter und auf die Straße. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. Er schaffte fünf Schritte, dann stoppte er. Seine Hände bebten, sein Herz hämmerte. „Mist!“, zischte er, „Mist! Mist! Mist!“ Das ging so nicht! Das ging so einfach nicht! Erneut drehte er sich um. Er lief zurück, er stürzte die Stufen wieder hinauf und durch die Tür. Vukan stand noch genauso da, wie er ihn verlassen hatte. Tim ließ die Tüte los und sie klatschte zu Boden. Vukan kam ihm entgegen. Drei Schritte – dann schlangen sie die Arme umeinander und…verabschiedeten sich richtig. Sie schlossen die Augen wie im Traum. Sie wankten nach vorn, sie wankten nach hinten. Sie wankten nach links und rechts. Sie griffen sich gegenseitig ins Haar, sie strichen über Rücken und Arme. Sie knutschten und seufzten und hielten sich so fest sie konnten. Einige Zeit später. Ein junger Mann im gestreiften Wollpullover und mit handzerzausten Haaren stürmte aus einem Antiquitätengeschäft. Er rannte so schnell er konnte. Er rannte eine Straße hinauf, die andere hinunter. Er bog um zwei Ecken, schlug nach links und rechts ein paar Haken, aber dem Adrenalin entkam er trotzdem nicht. Heiß und wild schäumte es durch seine Venen und wärmte ihn bis in die Fingerspitzen. Er jauchzte und jagte auf die untergehende Sonne zu. Hinter der Tür des besagten Antiquitätengeschäfts wankte ein junger Mann mit dunklen Augen, ernstem Gesicht und kariertem Hemd zum Ladentisch. Seine Beine wackelten so sehr, dass er sich festhalten musste. Nach einer Weile sackte er aber doch zu Boden und lehnte sich gegen das glänzende Holz. Er atmete schwer. Er bemerkte eine weiße Tüte in der Nähe. Er zog sie zu sich und umarmte sie, als wäre sie ein Teddybär. Und auf dem Ladentisch saß eine graue und ziemlich fette Katze. Sie kauerte zwischen einer antiken Kasse und einer hässlichen Büste und fixierte den jungen Mann auf dem Boden. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie wohl die Augen verdreht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)