Separation von Saria-chan (Der Vorhang fällt) ================================================================================ Kapitel 1: Separation --------------------- „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Deutlich hörte Ludwig das Echo der Worte in seinen Gedanken, welche der DDR Abgeordneten Ulbricht auf einer Pressekonferenz vor kaum mehr als zwei Monaten hatte verlauten lassen, während der blonde Mann fassungslos auf das Bild starrte, das sich vor seinen Augen eröffnete. Das Phantom der fast schon empörten Stimme des Ministers übertönte für einen Moment sogar das Hämmern der Presslufthämmer und das verwirrte Gemurmel der Menschen um ihn herum – tauchte seine Umwelt für einen Moment in vollkommene Stille, bis ihn jemand anrempelte und die blonde Nation wieder vorwärts in die Realität stolperte. Eine Realität, die sein Verstand immer noch zu begreifen versuchte, als er ein weiteres Mal seine azurblauen Seelenspiegel auf die Straße richtete. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Wie eine leiernde Schallplatte wiederholte sich die Erinnerung an jene Aussage in Ludwigs Kopf und mit jedem Mal wurden Spott und Lüge in ihr größer. Wenn wirklich niemand die Absicht hatte, was... was in Gottes Namen hatte dann dieser Stacheldraht zu bedeuten? Was hatten dann all die Bagger und Lastkraftwagen hier zu suchen, die beständig neue Pfeiler anlieferten, zwischen den rasch die silberblitzende, scharfkantige Barriere gespannt wurde, sobald sie standen? Was machten dann die ganzen DDR-Soldaten hier, welche die Menge eifersüchtig davon abhielten, sich der Begrenzung zu nähern? Was sollte das hier alles? Eigentlich hatte Ludwig sich in einem Café hier in der Nähe mit Gilbert treffen wollen. Es war einer dieser wenigen Tage gewesen, an denen sich sein Bruder den Pflichten in Russlands Haus hatte entziehen können. Die Momente, welche die Bundesrepublik mit dem Albino hatte verbringen können, waren selten geworden, seitdem sie beide den Krieg verloren hatten. So hatte der blonde Mann vor zwei Tagen keinen Moment gezögert, sich für heute frei zu nehmen, nachdem er Gilberts Nachricht erhalten hatte. Aber von all den Hoffnungen, die vor einigen Minuten noch so hell in seiner Brust gebrannt hatten, waren jetzt nur noch einige, schwelende Klumpen schwarzgebrannter Kohle übrig, deren Gewicht schwer auf sein Herz drückte und ihm das Atmen schwer machte. Ludwig hob den Blick und spähte über die Sektorgrenze hinweg auf die andere Straßenseite, zu einer Menschenmenge, die mindestens genauso verständnislos auf das Treiben der Bauarbeiter blickte wie jene auf seiner Seite, als er ihn sah. Einen silberweißen Haarschopf und ein blasses Gesicht, welches sich deutlich von jenen der übrigen Passanten abhob. „Bruder!“ Deutschland schob sich zwischen den Leuten hindurch und an ihnen vorbei, in Richtung des Stacheldrahts, bis der auf ihn gerichtete Lauf eines Maschinengewehrs sein Vorkommen zum Erliegen brachte. Er starrte einen Moment auf den in Khaki gekleideten Mann, der offensichtlich nicht wusste, wer oder was Ludwig war und ihn für einen gewöhnlichen Fußgänger halten musste. Dann entschied das blonde Land, dass es besser war, das Schicksal nicht zu sehr herauszufordern und trat einen Schritt zurück. Den Blick jedoch richtete die Bundesrepublik wieder auf die andere Straßenseite, auf der es Gilbert nach seinem Zuruf geschafft hatte, sich ebenfalls bis in die vorderste Reihe der Menschen vorzukämpfen. „Bruder! Was geht hier vor?!“ rief Ludwig über den Zaun hinweg. „Siehst du das nicht?“ erwiderte der Albino und seine Schultern zuckten in einer Mischung aus Verbitterung und Verzweiflung nach oben. Etwas in Deutschlands Innerem krümmte sich bei dieser Bewegung und obwohl der Soldat, der vorhin die Waffe so mahnend auf ihn gerichtet hatte, keinen einzigen Schuss abgegeben hatte, so hatte der Jüngere der deutschen Brüder dennoch das Gefühl, als hätte ihn eine der Kugeln des Großkalibers in die Brust getroffen. Gilbert sah erschreckend schlecht aus. Die Schatten unter den sonst so frechen, roten Augen lagen tief und die Züge des früheren Preußen wirkten mager und eingefallen. Wie alles an seinem Bruder. Da war viel weniger von Gilbert da, als eigentlich sein sollte. Die Kleider an dem seit jeher schlanken Körper der kriegerischen Nation wirkten um zwei Nummern zu groß für das bisschen Mann, was in ihnen steckte und der silberne Schopf des Albinos wirkte stumpf und glanzlos. Noch während Ludwig auf das blickte, was von seinem Bruder noch übrig war, sprach dieser weiter. „Die finden, dass man soviel Großartigkeit nicht frei herumlaufen lassen kann und sperren mich ein.“ „Bruder! Hör auf, Witze über sowas zu machen! Was passiert hier?“ Gilbert blickte zur Seite und schloss einen Moment lang die Augen. Selbst auf diese Entfernung konnte die Bundesrepublik noch erkennen, wie die Mundwinkel des anderen Mannes zuckten und ein trauriges Lächeln formen wollten. Dann richtete sich das Rubinrot des Albinos wieder auf ihn. „Es tut mir leid, West.“ Ludwig las die Worte vielmehr von Gilberts Lippen als dass er das leise Flüstern tatsächlich hörte. Da war sie wieder, diese Stille wie nach einem Bombenaufschlag. Und diese Leere in seinen Gedanken, während er versuchte zu begreifen, was hier gerade geschah, während ihm sein Bruder allmählich den Rücken zukehrte... Nein.... „GILBERT!“ Die Stimme seines Bruders – diese laute, kräftige Stimme, die es mit Leichtigkeit schaffte, ganze Korps von Soldaten mit einem einzigen Wort stramm stehen zu lassen – war voller Verzweiflung. Deutlich übertönte sie den Lärm um Gilbert herum und schnitt gleich einem Dolch in das Herz des Albinos. Er spürte das Brennen in seinen Augen, blinzelte es weg und drängte weiter zwischen den Menschen hindurch. Sein eigener Atem rasselte ihm in den Ohren und trotz dem heftigen Heben und Senken seiner Brust hatte der Albino das Gefühl, viel zu wenig Luft zu bekommen. Sein Kopf schwamm und die Welt in seinem Blickfeld schwankte schlimmer als das Deck eines Seekreuzers bei starkem Seegang. Die DDR hastete und taumelte weiter, wusste, dass sie hier nicht zusammenbrechen durfte, wenn sie keinen Aufruhr verursachen wollte. Nur noch ein kleines Stück.... Als er in eine schmale Seitengasse bog, gaben seine Beine schließlich unter ihm nach. Gilberts nächster Schritt ging ins Leere und er stürzte. Mit dem Fall umfing sanfte Dunkelheit seine Sinne und... der Duft von Schnee und Sonnenblumen, vermischt mit dem Geruch von Wodka. Der Albino brauchte einen langen Moment, um zu realisieren, dass er nicht auf dem schmutzigen Straßenboden zwischen Müll und Exkrementen lag, sondern in den kräftigen Armen eines anderen Mannes. Ivans Armen. Russland hielt die schmale Gestalt des ehemaligen Preußen mit seiner Umarmung aufrecht und allmählich spürte Gilbert auch die warme Hand, die durch seine Haare fuhr und ihm den kalten Schweiß von der Stirn wischte. Zu kraftlos und müde, sich dessen zu erwehren, ließ er es geschehen und über sich ergehen. „Das war gerade ziemlich gemein von dir“, hörte er die Stimme des Russen durch die Dunkelheit zu sich sprechen. Zuerst war sich Gilbert nicht sicher, ob er noch genug Energie hatte, um eine Antwort aus seiner Kehle zu zwingen, aber er versuchte es trotzdem, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. „Er kann das ab. Er ist schließlich mein Bruder.“ Selbst das Sprechen war anstrengend für den Albino, aber noch wollte er sich der Ohnmacht nicht hingeben, brachte mühsam einige weitere Worte über die Lippen. „Es ist.. besser .. so..“ „Du weißt...“ „Ich weiß“, unterbrach ihn Gilbert matt. Er musste die Fakten nicht aus dem Mund des Russen hören, war sich ihrer selbst gut genug bewusst. Dieser Zaun war der letzte Ausweg. Der letzte verzweifelte Akt und Versuch, Gilberts Landleute von einer Flucht aus ihrem eigenen Staat abzuhalten – einer Flucht, die schon so viele vor ihnen unternommen und somit die DDR und ihre Wirtschaft an den Rande des Abgrunds gebracht hatten. Gilbert spürte, wie er jeden Tag weniger wurde und etwas mehr von dem schwand, was ihn ausmachte. Wenn dies auch nur noch ein klein wenig länger andauerte, dann würde dem Albino das gleiche Schicksal wiederfahren wie schon so vielen anderen Nationen vor ihm, an die man sich jetzt nur noch in Geschichtsbüchern erinnerte. Gilbert hatte Angst. Er wollte das nicht. Wollte nicht sterben. „Ich bring dich nach Hause.“ Ivans Stimme klang weit entfernt – der Albino spürte, wie die Dunkelheit am Rande seines Bewussteins erneut wuchs und lauernd darauf wartete, ihn in sich aufzunehmen. Gilberts Brustkorb erzitterte unter einem tonlosen Lachen, das voller Ironie gewesen wäre, hätte es seine Lippen verlassen. Für den Russen war es vielleicht ein zu Hause, aber für Gilbert... Doch das war etwas, das Ivan niemals verstehen würde, es hatte keinen Sinn, seine Energie auf einen Widerspruch zu verschwenden. Und so, wie er wusste, dass seine Bevölkerung fortan in einer einzigen Lüge leben würde, so gab auch er sich der Lüge hin und stimmte den Worten des Russen mit einem schwachen Nicken zu. Es war ohnehin längst zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, ob es richtig oder falsch war, was sie hier taten, denn ein Zurück gab es nicht mehr. Nicht nach diesem 13. August 1961. Gilbert hatte an diesem Tag sprichwörtlich den Grundstein zu etwas gelegt, was die Trennung zu seinem Bruder und seine Zugehörigkeit zur Sowjetunion endgültig besiegelt hatte. Der Albino spürte, wie dieser Gedanke an ihm nagte, aber er war des Grübelns müde. Er war so unglaublich müde, wollte nur noch schlafen. Schließlich ergab er sich der Finsternis und glitt langsam in ihre sanfte Umarmung. Entfernt nahm er noch wahr, wie Ivan ihn auf seine Arme bettete und von hier fort trug. Nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)