Herz aus Stein von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Ein Pseudo-Elf und ein dreckiger Barbar -------------------------------------------------- I. Ein Pseudo-Elf und ein dreckiger Barbar Die Steine standen in exakt gezogenen Reihen nebeneinander, die Abstände zwischen ihnen präzise vermessen. Einige waren sehr klein, reichten ihm gerade bis zum Knie, andere überragten ihn fast um die doppelte Körpergröße. Sie waren unbehauen, nur in wenigen Oberflächen zeichneten sich verwaschene spiralförmige Ritzungen von Menschenhand hineingearbeitet ab. Vielleicht waren sie einmal bemalt gewesen, wer wusste das schon. Einige der größeren waren umgefallen, doch die Ordnung zerstörte das kaum, zu viele waren es, einer nach dem anderen bis sie sich irgendwo in der Ferne verloren. Jetzt im späten Sommer blühte die Vegetation hier so üppig, dass das befremdliche Szenario fast heiter wirkte. Wilder Mohn stand neben aus der Form geratenen Brombeerbüschen, überall lugten Gänseblümchen hervor und die Bienen seiner Stöcke schwirrten zwischen ihnen umher. Steinfelder wie dieses gab es mehrere in der Gegend, Überreste einer längst vergangenen Zeit. Hinkelsteine nannten die deutschen Besucher sie, ihr Asterix-Wissen herauskramend. „Menhire“ erklärte ihnen der Reiseführer. Niemand wusste, warum die Menschen vor so vielen Jahrtausenden sich die Mühe gemacht hatten, die Steine von fern her anzutransportieren und nach diesem System in endloser Folge zu ordnen. Grabsteine waren es nicht, obwohl so mancher bei ihrem Anblick zunächst an einen Friedhof dachte. Erinnerungen? Geschenke an die Götter? Zeichen der Macht? Eigentlich war es längst gleichgültig geworden. Niemand erinnerte sich mehr. Vielleicht mochte er das Steinfeld deswegen so gerne. Es brauchte keine Bedeutung mehr, um zu existieren. Genauso wenig wie er. Jeden Tag ging er hierher, wanderte zwischen den Reihen auf und ab, dann besuchte er die Stöcke, sah da nach dem Rechten. Gelegentlich verjagte er ein paar besonders vorwitzige Touristen, die sich an den Schildern vorbei geschlichen hatten, die das Betreten des Privatgrundstückes verboten. Ab und an musste er Vertreter der Denkmalschutzbehörde Einlass gewähren, so wollte es das Gesetz, aber sie konnten ihn nicht dazu zwingen, das Feld öffentlich zugänglich zu machen. Ihm gehörte das Land, er wohnte hier allein. Und genauso sollte es bleiben, er wollte keine Bildungsreisenden durch seinen Vorgarten stapfen haben. Nur er und die Bienen, das reichte ganz und gar. Die Steine brauchten keine Besucher und er erstrecht nicht. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, ein leichter Wind kam aus Richtung des Meeres, die Luft roch frisch nach Salz und Gräsern. Er lehnte sich an einen der größeren Menhire, die raue Oberfläche war angenehm kühl auf der nackten Haut seines Oberarms. Er musste stets acht geben, sich nicht zu verbrennen, obwohl es im Laufe der warmen Monate besser geworden war. Statt Bräune hatte er lediglich eine Flut von Sommersprossen zuwege gebracht, die ihn ein wenig aussehen ließen, als habe ihn eine Horde Aktionskünstler im Drogenrauch mit Farbe bekleckert. Es hatte Zeiten gegeben, da war er stolz gewesen auf seine zarte, natürlich gemusterte Haut. Zeiten, in denen er noch nicht begriffen hatte, was für ein Vollidiot er war. Jetzt wusste er es. Das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Deswegen war er hier. Außer dem Sirren der Insekten war es still hier. Er schloss die Augen, lauschte dem vielstimmigen Summen. Keine Menschen. Nur er. Er ließ es auf sich wirken, atmete ruhig, ließ die Zeit verrinnen. Noch ein wenig. Die Lebensmittel würden heute geliefert werden, er hatte Anweisungen gegeben, sie auf der Eingangstreppe zu hinterlassen. Das kannten sie schon. Er zahlte, das wussten sie, auch dafür, dass er sie nie zu Gesicht bekam und sie ihn nicht. Sie waren immer pünktlich, doch er ließ sich sicherheitshalber noch ein wenig mehr Zeit. Die Sonne stand schon ein wenig tiefer, als ein Geräusch ihn aus seinem Dämmerzustand riss, dass da nicht hingehörte. Er fuhr zusammen. Touristen? Schon wieder?! Konnten die nicht lesen! Was erdreisteten die sich ständig! Musste er sein Zuhause etwa ausstatten wie Dagobert Duck seinen Geldspeicher? Ein wenig war es bereits ja schon so. Aber das Gelände war zu groß, um es komplett abzuriegeln, auch ging eine öffentliche Straße hindurch, deren Bau sein Großvater einst zugestimmt hatte. Das ließ sich leider nicht wieder rückgängig machen. Angespannt lauschte er. Da rief jemand… nach ihm. Eine Männerstimme. Er fühlte, wie sein Herz anfing, hastig zu schlagen. Ganz ruhig… Das ist bestimmt nur wieder irgendeiner von der Denkmalbehörde oder der Stadtverwaltung oder sonst irgendwer, der ärgerlicherweise das Recht hatte, ihn zu stören. Er schluckte, zwang sich dazu, sich zu beruhigen und lauschte. Schritte kamen näher. Das war nur einer… gut. Einer ging. Ab zwei wurde es kritisch. „Monsieur Kalteis?“ rief dieser jemand in einem fürchterlich ausgesprochenen Französisch. Ein Deutscher, jede Wette. Er selbst war zweisprachig aufgewachsen, seine Mutter stammte aus Aachen, sein Vater von hier. Diesen die Schönheit der französischen Sprache vergewaltigenden Akzent würde er überall erkennen. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Von der Straße her kam ein Mann in Richtung des Feldes heran marschiert. Er trug eine weit geschnittene beige Armee-Hose, ein dunkelblaues schlabberiges Hemd und schleppte einen zerschlissenen hellbraunen Stoffrucksack in der Hand mit sich. Er mochte Mitte Zwanzig, vielleicht ein wenig älter sein. Er war verflucht groß und kräftig, gar nicht gut. Blond, garantiert auch blauäugig. So ein richtiger Bilderbuch-Germane wie aus einem feuchten Traum Eva Brauns. Pfui Deibel. Und der brüllte jetzt ständig nach ihm und sah sich suchend um. Wer zur Hölle war das?! Woher kannte er seinen Namen, und vor allem: Was wollte der von ihm? Er sollte verschwinden. Tat er aber nicht. Leider waren seine Bienen auch keine Killerbienen, die er ihm auf den Hals hätte hetzen können. „Monsieur Kalteis? Sind Sie hier irgendwo? Die am Haus sagten, Sie seien wahrscheinlich hier spazieren oder bei den Bienenstöcken?“ rief der Vorzeige-Teutone. Sieh an. Die Liefertruppe war also bestens informiert über seine Gewohnheiten. Er konnte wetten, dass die im Dorf über seine Spleenigkeiten herzlich rumspekulierten und lästerten. Es war ihm egal, Hauptsache sie nervten ihn nicht damit. Was tun? Einfach weiter verstecken? Der würde ihn nie finden, wenn er das nicht wollte. Aber dann würde der hier noch länger rum brüllen und die Pflanzen platt latschen. Und auf einmal sogar wieder kommen. Vielleicht dann auch noch in Begleitung… nein. Besser gleich erledigen, dann hätte er endlich wieder seine Ruhe. Trotzdem wurde ihm etwas schwummerig bei dem Gedanken. Es war ja nur einer… und er war schnell und kannte das Terrain… notfalls… Dass seine Gedankengänge ziemlich irrational waren, war ihm leider mehr als bewusst. Dummerweise half ihm diese Selbsterkenntnis nicht. Die Panik setzte nun einmal ein, ohne vorher die Vernunft um Erlaubnis gefragt zu haben. Da half nur zu versuchen, sich zusammen zu reißen. Diese Atemtechnik, die ihm einer der Therapeuten, die seine Eltern ihm auf den Hals gehetzt hatte, beigebracht hatte, half auch ein wenig, aber wahrscheinlich war das nur Autosuggestion. Wie auch immer – bloß nicht anzweifeln! Der Rest hatte leider gar nichts gebracht, und etwas war in jedem Falle besser als gar nichts. Ganz tief einatmen…. durch die Nase langsam wieder raus… aufrecht stehen… es ist alles in Ordnung… „Monsieur Kalteis?“ rief der andere erneut. Er war näher gekommen, war gerade mal noch zwanzig Meter entfernt. Falls er mal eine Frisur besessen haben sollte, hatte der über die Fläche blasende Wind sie jetzt auf dem Gewissen, die blonden Haare umgaben sein Gesicht in einem einzigen Chaos. Er schluckte und trat vor, als sei das das Selbstverständlichste der Welt, kreuzte die Arme vor der Brust und blickte den anderen so finster wie möglich an. Wenn der ihm an den Kragen wollen sollte, würde ihn das wenig beeindrucken, er war leider nicht gerade die imposanteste Erscheinung. Der andere Mann erspähte ihn und starrte ihn verdattert an. „Huch!“ entfuhr ihm auf Deutsch. „Angenehm – Kalteis. Was wollen Sie von mir?“ fragte er unhöflich. „Äh… Sie sind Monsieur Kalteis?!“ fragte der andere etwas aus dem Konzept gebracht. „Ja“, raunzte er, „höchstpersönlich. Was hatten Sie denn erwartet?“ „Äh… Ich dachte, Sie seien älter und…?“ entfuhr dem anderen. Er konnte sich schon denken, was das „und“ zu bedeuten hatte. Und kein Bubi mit Sommersprossen und rotbraunen Haaren, den kleine Mädchen ganz supersüß fänden. Leider nicht nur kleine Mädchen. Und leider mochte er auch keine kleinen Mädchen. Und er war fünfundzwanzig und nicht fünfzehn. „Tja. Überraschung“, konstatierte er. „Entschuldigen Sie… Ich hatte eigentlich Alain Kalteis gesucht…?“ fragte der Eindringling. „Der liegt zwei Meter unter Grund bei der Dorfkirche und wartet auf’s jüngste Gericht. Ich bin sein Enkel, Cedric Kalteis“, stellte er klar. Er hatte seinen Großvater gemocht, dieser hatte ihm auch das Grundstück vererbt, aber was das unfeierliche Ende allen Seins anging, hatten sie beide keine hochtrabenden Vorstellungen vertreten. „Oh… dann… Verzeihen Sie, ich bin unhöflich. Ich bin Kunibert Lerchenfels und ich…“ „Wie bitte?!“ Okay… verscheißern konnte er sich auch alleine. Kunibert Lerchenfels?! Der andere zwang sich zu einem etwas gequälten Lächeln, das seinen eher scharfen Zügen etwas ein wenig Freundlicheres verlieh. Der schien nicht das erste Mal zu erleben, dass jemand ein wenig irritiert auf diese Vorstellung reagierte. „Ich weiß, das klingt ein wenig… altmodisch. Aber meine Eltern hatten gedacht, ich würde ein Mädchen, kleiner Irrtum. Und als ich da war, war mein Vater so von der Rolle, dass er zum Arzt gesagt hat, dass er keine Ahnung habe, wie er mich nennen solle, Hauptsache es sei alles in Ordnung mit mir, da könne man mich ja vielleicht einfach nach dem netten Arzt benennen – und der hieß nun mal Kunibert.“ „Aha“, erwiderte Cedric, dem gar nicht recht einleuchten wollte, was er von dieser Geschichte zu halten hatte. Immerhin war sie so bescheuert, dass seine Panik kein Futter bekam. „Und was wollen Sie von mir – außer mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen?“ „Ich schreibe meine Doktorarbeit über die bretonischen Steinfelder. Ich wollte Sie fragen, ob ich dieses hier, das sich ja auf Ihrem Grundstück befindet, neu vermessen und dokumentieren dürfte? Die letzten Aufzeichnungen sind über hundert Jahre alt und sehr lückenhaft, auch Fotos gibt es kaum welche…“, erklärte Kunibert. Ganz super. Einer von diesen Stein-Heinis. Immerhin kein Esoteriker, die nervten ihn auch ab und an. „Nein“, sagte er bestimmt. Der andere musterte ihn mit offenem Mund. Auf seinem Gesicht stand die Enttäuschung gemischt mit Verblüffung. Was hatte der denn bitte geglaubt? Er hatte blaue Augen. Hellblaue. Aber wenn man „Kunibert“ hieß, ging das wahrscheinlich auch nicht anders. „Ich… ich bitte Sie!“ versuchte es Kunibert erneut mit flehentlichem Unterton. „Das hier ist… fantastisch!“ Er deutete hinüber auf die langen Reihen der Steine. „Unglaublich! Bitte… Es steht auf Ihrem Grund, ich weiß, und Sie haben jedes Recht… Aber es… es gehört doch auch allen Menschen… Es geht auch ganz schnell, ein Vermessungsteam…“ „Nein!“ wiederholte Cedric noch schärfer. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Eine Horde Menschen… Männer… Kunibert ließ die breiten Schultern hängen. „Man hat mich ja gewarnt. Im Dorf die… dass der Besitzer es nicht zulassen würde…“ „Da hatten die verdammt recht“, nickte Cedric und atmete tief durch. Gleich wäre er weg… und dann wäre wieder Ruhe hier… zurück zu den Steinen, den Bienen… „Warum nicht?“ wollte der andere wissen, der aussah, als würden gerade seine Träume wie Seifenblasen platzen. Irgendwie tat er Cedric ja schon etwas leid, aber das kam gar nicht in Frage. Sein Refugium… nein. Und außerdem, warum sollte er ihm trauen? Da musste der andere sich gedulden, bis er ins Gras gebissen hätte und das stand wahrscheinlich nicht gerade direkt bevor. Physisch ging es ihm bestens, die körperlichen Wunden waren verheilt, nur ein paar Narben waren noch da, die bei Wetterumschwüngen juckten. Hier war er und hier blieb er. Ende. „Weil ich hier meine Ruhe will, ganz einfach“, erwiderte er störrisch. „Ruhe… okay… Ich verstehe… Aber wenn ich…“, setzte Kunibert an und machte blaue Kulleraugen, was gar nicht recht zu seinem Supergermanen-Aussehen passen wollte. Das konnte der ganz sauber vergessen. Er war der Letzte, der sich einwickeln ließ. So dämlich war er kein zweites Mal. „Nein! Nein, nein, nein! Kapiert?“ fuhr er ihm dazwischen. „Schon gut! Himmel… Was ist denn mit Ihnen los… Ich würde Sie kaum stören…“, ließ der andere nicht locker. „Schon längst geschehen! Vergessen Sie’s, das wird nichts. Es gibt genug andere Menhire in der Bretagne, die Sie für den Rest Ihres Lebens von oben bis unten vermessen, fotografieren und interpretieren können. Aber diese hier nicht“, blieb Cedric hart. „Ich verstehe das nicht…“, entgegnete Kunibert und musterte sehnsuchtsvoll die Steine. „Müssen Sie auch nicht“, stellte Cedric klar. „Wenn Sie jetzt bitte mein Grundstück verlassen würden…?“ „Schon gut. Wie kann man nur so…“, murmelte Kunibert und gab sich geschlagen. Ein paar Mal drehte er sich noch um, ließ seinen Blick über das Feld wandern, dann war er außer Sichtweite zwischen den Bäumen an der Straße verschwunden. Wieder allein. Endlich. ………………………………………………………………………………………………… Benommen schüttelte sich Kunibert, während er den Wagen startete, den er am Straßenrand zurück gelassen hatte. Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Sicher, die hatten ihn gewarnt im Dorfgasthaus, dass der Grundstückseigner ein wenig verrückt sei und keinen freiwillig rein lasse. Er hatte sich auf einen alten, bockigen Zausel eingestellt, den er mit ein wenig Vernunft und Beharrlichkeit schon rumkriegen würde – aber garantiert nicht auf so etwas. Cedric Kalteis war garantiert kein zänkischer Opa, aber ein Rad schien er doch abzuhaben. Er hatte sich fast ein wenig erschrocken, als der wie aus dem Nichts plötzlich zwischen den Steinen aufgetaucht war. Ein sehr irrationaler Teil von ihm, der zu häufig „Der Herr der Ringe“ gelesen hatte, hatte kurz gedacht, er sei einem wütenden Elfen in die Arme gelaufen. Elf stimmte wohl nicht, wütend traf es aber schon eher. Der andere war nicht nur ausgesprochen unkooperativ gewesen, sondern auf eine aggressiv abweisende Art und Weise angespannt wie ein Flitzebogen. Er hatte ihm doch gar nichts getan oder tun wollen! Aber das war wohl kein Argument, wenn einer eine Vollmacke hatte. Jemand wie Cedric Kalteis war ihm noch nie über den Weg gelaufen. Seine Haut hatte nur so aus Sommersprossen unterschiedlichster Farbintensität bestanden, nur die Seitenpartien seines Gesichtes und der Bereich unter den Augen waren etwas heller gewesen. Sein Haar hatte in der Sonne in einem satten rotbraun geleuchtet, seine Augen waren giftig hellgrün gewesen. Er sah aus wie der Gegenbeweis zur Vererbungslehre, ein ganzes Bündel rezessiver Merkmale auf einem Haufen. Groß war er nicht gewesen, vielleicht knapp einssiebzig. Aber dass mit kleinen Leuten nicht zu spaßen war, hatte er mehr als deutlich gemacht. Er hatte seine Argumente nicht mal richtig angehört, sondern sich sofort auf sein Nein versteift. Er war extra bis hier her gefahren besonders auch wegen dieses Steinfeldes, quer durch Deutschland und Frankreich von Kiel her kommend, wo er promovierte. Und dann das. Weil ein verrückter Pseudo-Elf ihn nicht auf sein Grundstück lassen wollte! Was hatte der davon? Seine Ruhe?! Okay, er hatte eine Meise – aber er hätte ihn schon nicht weiter gestört. Oder hockte der den ganzen Tag allein zwischen den Steinen und sprach mit ihnen? War das so einer? Von solchen Spinnern gab es viel zu viele, Arsen für die etablierte Wissenschaft. Aber die Steine gehörten nicht bloß ihm, auch wenn sie auf seinem Grund und Boden standen. Es gab doch auch hier eine Denkmalschutzbehörde, die für sie zuständig war? Die hätte er vielleicht schon mal früher kontaktieren sollen, aber mit derartigen Widerständen hatte er nun nicht gerechnet. Da hatte ein Cedric Kalteis dann vielleicht doch keine Aktien drin. …………………………………………………………………………………………………... „Was zur Hölle machen Sie denn schon wieder hier?! Ist ihnen das Wort „Nein“ auf Französisch nicht geläufig?“ fuhr Cedric den blonden Mann an, der stoisch neben einem der größten Menhire stand und diesen in aller Seelenruhe abfotografierte. Er war so empört, dass er nicht mal anständig Panik schieben konnte, obwohl sie unterschwellig in ihm bebte. Zwei Tage war Ruhe gewesen, er hatte den Vorfall schon fast wieder vergessen gehabt – und nun stand der schon wieder dreist hier rum und fotografierte sogar! Das war Hausfriedensbruch! „Hier“, erwiderte der andere seelenruhig. „Die Erlaubnis der Denkmalschutzbehörde. Ich darf das in ihrem Auftrag.“ Cedric starrte auf den ihm hingereichten Zettel. Sah offiziell aus, den Briefkopf kannte er. Aber nehmen konnte er ihn nicht, dazu müsste er näher ran. Das ging nicht. Aber das glaubte er auch ungesehen. Die konnten das. Und warum sollten sie auch nicht, wenn jemand zu ihren Gunsten die Sachen hier bearbeitete? Aber er würde vorsichtshalber noch Mal da anrufen. Das durfte doch nicht wahr sein! Das konnten die ihm doch nicht antun! Leider wahrscheinlich doch, elende Scheiße… Ab und an musste er sie ja ertragen, mal ein paar Stunden, aber der Fremde mit dem blödsinnigen Namen hatte da ganz andere Pläne angedeutet. Das hielt er nicht durch! Nicht sein Steinfeld! Seine armen Bienen! „Ich schau nur mal… Auch wegen des Vermessungsteams, dass es schnell geht, ich will Sie ja nicht länger stören als notwendig“, machte Kunibert klar und deutete mit seinem goldbraun gebrutzeltem Muskelarm auf das Areal. Zu seinen Füßen stand sein grässliches Gepäck. „Nein!“ flüsterte Cedric heiser. „Nein! Kein Team!“ „Ich befürchte, da haben Sie keine Wahl. Aber wie gesagt, ich drücke auf die Tube“, blieb Kunibert hart. Cedric fühlte es in sich aufsteigen. „Nein!“ konnte er nur wiederholen, den zunehmend hysterischen Unterton in seiner Stimme nicht unterdrücken können. Oh Gott… warum war er nur so schwach? „Nein! Kein Team! Können… können Sie das nicht auch alleine…?“ „Schwierig. Das würde länger dauern, deutlich. Und für einige Sachen muss man zu zweit sein“, gab Kunibert zu bedenken und schulterte seinen Lodder-Rucksack. Heute trug er ein quietschgelbes T-Shirt mit dem Logo irgendeiner Band, von der Cedric noch nie etwas gehört hatte. Aber das war auch kein Wunder, er hasste Musik, sie überdröhnte nur… Aber wusste der nicht, dass man als Blondine in Gelb aussah wie eine Banane?! Geschmack war ja nicht jedermanns Sache… Cedric schluckte. „Egal! Hauptsache kein Team!“ Der andere musterte ihn verhalten. Hielt ihn garantiert für verrückt. Das stimmte ja wahrscheinlich auch, wenn man es realistisch betrachtete. Demzufolge war er auch so freundlich, nicht nachzufragen. Erstaunlich. Irren sollte man ja nicht widersprechen… „Und wer macht dann den zweiten Mann bei den Messungen? Sie etwa?“ fragte Kunibert mäßig begeistert. „Wenn’s sein muss!“ erwiderte Cedric, obwohl ihm bei dem Gedanken graute. Aber alles war besser, als dass hier ein ganzer Trupp einfiel. Und notfalls… er konnte laufen, bis zum Haus würde reichen… und er kannte hier jedes Versteck… „Mmm… ungern. Aber ich will Ihnen hier auch nichts aufnötigen, das sich nicht auch verhindern lässt. Meinetwegen. Aber es wird dann halt länger dauern“, erklärte sich Kunibert einverstanden. Die Bienen umsurrten ihn, diese Verräter. Hielten ihn wahrscheinlich für eine dicke, fette Sonnenblume. Diese Vorstellung erfreute Cedric auch nicht gerade. Aber er hatte die Wahl zwischen zwei Übeln und dieses war das geringere. Trotzdem saß es ihm eisig im Nacken. Dieser Typ da… dieser baumlange Kerl, der aussah, als könne er Menhire schleppen wie Obelix, würde hier rumhängen. Ständig. Bis er endlich fertig war. Schon allein diese Oberarme, oh Graus, wenn der ihn festhielt…! Aus solange mit der Ruhe. Stattdessen der da. Oh Gott… Warum konnte es nicht zumindest eine Frau sein! Oder ein klapperiger Greis, bei dem selbst Viagra nichts mehr brachte! Sie hatten ja ewig an ihm rumtherapiert. Aber es hatte einfach gar nichts gebracht, kein Stück. Es gab nur noch diesen Ort. Und selbst da ließ man ihn nicht in Ruhe, weil so ein dämlicher Pseudo-Barbar ihn partout der Wissenschaft opfern wollte! Der hatte ja keine Ahnung, was er ihm damit antat! Aber eines wusste er: Es brachte gar nichts, das nicht verdient zu haben. Irgendwie würde er das schon überleben. Und wenn nicht, neben seinem Opa war ja noch Platz. Aber das wollte er nicht! Es ging ihm gut, solange man ihn in Frieden ließ! Aber dieser Drecks-Kunibert tat das einfach nicht! Er konnte es ihm nicht mal sagen, warum das so schrecklich war. Zum einen wollte er es um nichts in der Welt verbalisieren müssen, zum anderen wollte er nicht, dass irgendwer es wusste. Das ging einfach nicht. Sonst wäre es noch mehr… da. Außerdem dürfte es dieses Arschloch auch nicht die Bohne scheren, der würde wahrscheinlich denken, dass er genau das bekommen hatte, das er verdiente. Wie so viele. Zudem hatte er es ja auch provoziert, irgendwie, auch wenn die Therapeuten etwas anderes behauptet hatten. Aber, wie gesagt: das half nichts, solange es sich so falsch anfühlte. Schadensbegrenzung… Er musste Schadensbegrenzung betreiben. „Okay. Ich packe bei den Messungen mit an. Abgesehen davon gilt: Sie bleiben mir vom Leibe. Sprechen mich nicht an. Und halten sich vom Haus fern. Um fünf Uhr nachmittags sind Sie hier verschwunden!“ stellte er tief atmend klar. Dann hätte er wenigstens noch ein wenig Zeit auf dem Feld für sich, bevor die Sonne unterging… Kunibert nickte, dass sich seine hinters Ohr geklemmten Strähnen lösten. „In Ordnung… wie Sie wollen. Kann ich Sie irgendwie erreichen, um die Termine abzusprechen?“ „Legen Sie am Tag davor einen Zettel unter die Steine da drüben. Ich werde da sein“, orderte Cedric. Er wollte nicht angerufen werden, niemand hatte seine Nummer. Wenn, dann rief er an. Wenn man etwas von ihm wollte, dann musste man ihm schreiben. Die allwöchentlichen Briefe seiner Eltern öffnete er nie. Er nahm sie aus dem Kasten und legte sie in die Schublade im Arbeitszimmer. Jeden Montag kamen sie, seit zwei Jahren, seit er hier war. Er hatte ihnen nie geschrieben, obwohl er wusste, wie weh es ihnen tat, bis auf das eine Mal, als er ihnen mitgeteilt hatte, dass er sie nicht sehen wolle. Er konnte nicht. Am Anfang hatte auch Etienne noch geschrieben. Auch diese Briefe lagen ungelesen in der Schublade. Aber Etienne schrieb schon lange nicht mehr, ein Wunder, dass er es überhaupt ein paar Mal noch versucht hatte. Aber mit ihm war nichts mehr anzufangen. Cedric, sein Freund, Geliebter, Spielgefährte, existierte nicht mehr, wer also hätte antworten können? „Okay… dann, danke?“ erwiderte Kunibert. Komischer Kerl. Musste ganz versessen darauf sein, den Steinen ihre Geheimnisse zu entlocken. Herzerfrischend naiv und ekelerregend optimistisch, da halfen auch keine akademischen Würden. Die größten Idioten waren die Fachidioten, die im Unwichtigen Wichtiges sehen wollten. Aber eigentlich war es egal. Wenn es nichts Wichtiges gab, dann gab es wahrscheinlich auch nichts Unwichtiges. Die Steine schwiegen, gerade das war ihre wahre Qualität. Dumm nur, dass Kunibert seinen Blödsinn ausgerechnet hier verüben musste. Ihn dazu zwingen. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Aber immerhin ließ sich erkennen, dass der dusselige Deutsche ihm sein Leben eigentlich nicht mehr vermiesen wollte als unbedingt nötig. Dankbarkeit stellte sich bei Cedric deswegen aber noch lange nicht ein. Hauptsache, das ganze ging schnell über die Bühne. ………………………………………………………………………………………………… Nachdem er das Wesentliche geklärt hatte, verschwand Cedric einfach grußlos zwischen den Steinen und entfernte sich in Richtung des Hauses, in dem er wohl residierte und das für Kunibert tabu sein sollte. Er konnte es aus Entfernung sehen an der südlichen Grenze des Feldes am Waldrand, ein typisches bretonisches Haus aus grauen Feldsteinen, das Touristen als besonders romantisch angepriesen werden würde. Es war ziemlich groß, viel zu groß für eine Person, und war von einer übermannshohen Mauer umgeben, auf der eingelassene Glassplitter funkelten. Das Ganze sah eher aus wie eine Festung als wie ein Wohnhaus. War es wahrscheinlich auch, so wie Cedric sich verhielt. Hatte der einen Verfolgungswahn? So etwas in der Richtung musste es wohl sein. Komischer Kauz, irgendwie aggressiv und ängstlich zugleich. Und dann dieses merkwürdige Äußere wie eine Gestalt aus einem surrealistischen Gemälde – aber auch dort hielt der Wahnsinn gern Hof. Nun gut, das könnte recht interessant werden mit dem… Hoffentlich packte er mit an, obwohl er das offensichtlich nur tat, um sich noch mehr Leute vom Halse zu halten. Wahrscheinlich noch eine Psychose. Oder ein Trauma? Er war kein Nervenarzt, hoffentlich bekam der nicht irgendwann einen Anfall und schlachtete ihn ab. Er musste das ja nicht tun, er hatte ja die Genehmigung… Aber wenn der andere psychisch krank war, wäre es nicht recht, sein Leiden noch zu verschlimmern, indem man auf seinen Ängsten herum hämmerte. Zum einen erledigte er solche Sachen, auch die Vermessungsarbeit, die Fotos, eigentlich auch lieber selber, auch wenn er kein Profi war. Aber so lernte er, verstand jeden Schritt, entdeckte Zusammenhänge… Zum anderen hatte er es nicht sonderlich eilig, nach Hause zu kommen. Der Haussegen hing richtig schief. Jakob und er zickten sich nur noch an, außerdem wurde er den Verdacht nicht los, dass sein Herzallerliebster krumme Touren hinter seinem Rücken machte. Sie hatten sich für eine monogame Beziehung entschieden, waren verliebt gewesen… lang, lang war’s her. Aber ihn zu bescheißen mit dem Risiko, ihn obendrein mit allem Möglichen zu infizieren… Jakob leugnete vehement. Aber was bitteschön sollte er denken, wenn er plötzlich einen Typen am Telefon hatte, von dem er noch nie gehört hatte, der ihn aber für Jakob hielt und ihm erzählte, dass er „Dich geiles Stück Dreck noch einmal richtig fertig machen“ wolle? Das war nicht gerade vertrauenserweckend gewesen. Wenn Jakob immerhin geständig wäre! Aber vielleicht lag er trotzdem falsch… Konnte ja auch ein Missverständnis sein, eventuell tat er ja Jakob unrecht und wurde einfach nur schleichend paranoid. Aber diese Abende, an denen Jakob angeblich Überstunden in der Bank geschoben hatte, was er zuvor nie getan hatte… wie in einem schlechten Film. Dieser Handabdruck auf Jakobs Hintern war auch etwas befremdlich gewesen… Und warum hatte er Kondome in der Hosentasche…? Nee… der verscheißerte ihn. Dieser Drecksack. Er war auch gefahren, um sich über diese Sache in Ruhe klar zu werden. Liebte er Jakob noch? Er wusste es einfach nicht. Und das war kein gutes Zeichen. Die Märchen-Liebe war es sowieso nie gewesen, aber die gab es auch nur für Teenager, da waren sie sich einig gewesen. Aber sie waren auf einer Wellenlänge, hatten ähnliche Vorstellungen von der Welt und vom Leben, konnten wirklich Spaß miteinander haben… Es war nicht das Schlechteste, sein Leben mit so jemand zu teilen, gerade am Anfang war er da schon ziemlich euphorisch gewesen. Aber so? Wenn das Vertrauen ziemliche Risse bekam? Wollte er das? Einfach wegzulaufen wäre doch auch feige… Ließ sich das noch kitten? Warum rückte Jakob nicht mit der Sprache raus?! Vielleicht bekam er hier zwischen den Menhiren einen klaren Kopf. Mit dieser irren Pusteblume als Assistent. Das konnte ja heiter werden. Kapitel 2: Zwei Verrückte ------------------------- II. Zwei Verrückte Leise sirrte es in der Luft… es war dunkel, keine Bienen… dann setzte er ein, ein hämmernder Beat, der einem sofort ins Blut ging, mitriss, alles andere erlöschen ließ, bis es nur noch diesen Ort gab. Lichter rasten durch die Finsternis wie irre gewordene Glühwürmchen: Rot, Gelb, Grün, Violett… von unten stieg Nebel auf… und überall blitze kaum bedecktes Fleisch im Schein auf. Die Meute johlte, das Toben begann wie jeden Samstag im „Hannibal“. Er stand auf der Empore, spürte die Blicke. Er war nicht der König, er war der Prinz – wer wollte denn schon einen König, wenn es auch den jungen Prinzen zu haben gab? Etienne stand hinter ihm, flüsterte in sein Ohr, deutete und lachte… sein Paladin, seine Leibgarde, sein unkeuscher Berater. Den, den er herrschen ließ von seinen Gnaden, bevor er ihn wieder auf seinen Platz verwies. Dies hier war ihr Schlachtfeld und die Beute pries sich voller Sehnsucht selber an. Fleisch… er war der Herrscher dieses Dschungels. Er wählte aus, er verstieß, er entschied, wer ihn genießen durfte – und er sprach das Urteil, das in den Himmel hob oder zerstörte. Nur Etienne hatte ihn mehr als ein Mal berührt, doch Etienne existierte auch außerhalb dieses Molochs. Etienne war sein Freund, mit ihm sprach und lebte und studierte er – und Etienne liebte ihr Spiel so sehr wie er. Er wusste, wie er aussah, zart auf den ersten Blick, doch sein Ruf sagte da ganz andere Dinge. Das zog sie an wie die Fliegen – und je größer, je muskulöser und wilder sie waren, desto größer waren ihre Chancen, erhört zu werden. Sie konnten ihm gar nichts, außer ihm zu Willen sein. Er stand oben, auch wenn er unten lag. Und Etienne war stets dabei, heizte an, hatte ein waches Auge auf sie – und beriet ihn in seiner Kritik. Er sah die Straße vor sich, er hatte nur kurz den Müll herunter gebracht, Etienne schlief schon, es war spät, aber er war noch zu aufgeputscht, konnte nicht schlafen. Morgen hatte ein Besuch bei den Eltern angestanden, Etienne und er in braven Sakkos, eifrige Stundenten, die Boheme, ein Herz und eine Seele. Eltern mussten nicht alles wissen. Doch sie erfuhren es, noch bevor er es ihnen hätte selber sagen könnten. Die Polizei hatte längst herausgefunden, wie er seine Nächte füllte, bevor er aus dem Koma erwacht war. Da war er bereits tot gewesen, die Person, die er bis dahin gewesen war. Sie hatten es trotz allem versucht, ihm nicht einmal Vorwürfe gemacht, um seine Gesundung nicht zu gefährden, aber er wusste, was sie dachten. Ihr Sohn war ein perverses Flittchen, das dieses Unheil selbst auf sein Haupt beschworen hatte. Sie wollten es nicht denken, sagten sie, sie wollten bloß verstehen – aber sie verstanden nicht und dachten es doch, es stand in ihren Gesichtern. Sie waren nicht entkommen, die ihm das angetan hatten, die Beweise waren drückend gewesen. Er hatte nicht einmal aussagen müssen, das hätte er auch nicht gekonnt. Man hatte sie verurteilt. Vorsatz. Schwere Körperverletzung. Und andere Dinge… Es hatte mehr als gereicht, und die Strafe war nicht milde gewesen. Doch das half gar nichts, es war längst getan. Sie waren ihm gleichgültig. Hochmut kommt vor dem Fall… Wie häufig war ihm dieses elende Sprichwort schon durch den Kopf gegangen? Aber so war es doch… Jetzt herrschte er über die Steine und die Bienen, und das war gut so. ………………………………………………………………………………………………. Kunibert saß mit überkreuzten Beinen auf dem wackeligen Holzhocker an dem noch wackeligeren Holztisch des Pensionsbalkons und versuchte im duffen Licht der Außenbeleuchtung die Pläne zu studieren. Eigentlich kannte er sie in und auswendig, aber jetzt konnte er sie mit etwas in Einklang bringen, das er bereits vor Augen gehabt hatte. Sie waren rissig und wiesen Schimmelflecken auf, während des Zweiten Weltkrieges hatte es einen Wasserschaden gegeben, der viele Jahre später noch seine Folgen zeigte. Er hatte die Bibliothekarin ziemlich beknien müssen, um sie mitnehmen zu dürfen. Auf das Ansinnen nach einer Fotokopie oder einer Blitzlichtaufnahme hatte sie noch allergischer reagiert – Todfeinde der Bücher. Da lieber normales Licht und seine sorgfältig faltenden Finger. Hier hatte er gestanden im östlichen Drittel. Und hinter diesem Stein hatte Cedric Kalteis gelauert. Er hatte sich umgehört, aber besonderes Geschick war dazu nicht mal vonnöten gewesen. Man erzählte ihm gern und voller Inbrunst von dieser lokalen Absonderlichkeit. Cedric Kalteis war der jüngste Spross der alten Familie, denen dieses Stück Land gehörte. Vieles war von vorherigen Generationen verkauft worden, einst waren sie die Herren über die ganze Gegend hier gewesen. Man erinnerte sich an ihn als an ein lachendes, sommersprossiges Kind, das von allen gelobt und bewundert wurde ob seiner Niedlichkeit. Dann war er plötzlich, viele Jahre später, wieder da gewesen nach dem Tod seines Großvaters, den man hier sehr gemocht hatte, obwohl auch er seine Spleenigkeiten aufgewiesen hatte. Er war erwachsen gewesen und hatte sofort nach seiner Ankunft über seinen Anwalt die Verfügung verlautbaren lassen, dass das Betreten des Privatgrundstückes von nun an nur noch mit seiner Erlaubnis gestattet sei – und diese gedenke er nicht zu geben. Dann hatten die Bauarbeiten begonnen, während derer Kalteis verschwunden blieb. Das Haus war zu einer Festung hinter hohen Mauern ausgebaut worden, überall waren Verbotsschilder erschienen. Dann war ein Möbelwagen aufgetaucht. Erst nachdem dieser am Horizont verschwunden war, hatte man Cedric Kalteis wieder gesehen. Das Dorf lag etwas erhöht, so dass man von hier ab und an einen Blick auf das Gelände erhaschen konnte, wenn man sich in einem der oberen Stockwerke aufhielt. Kalteis hatte die Bienenstöcke seines Großvaters wieder in Schuss gebracht, tagsüber wanderte er scheinbar ziellos über das Gelände, wenn er sich nicht gerade um die Insekten kümmerte. Auch der Winter hielt ihn nicht auf. Cedric Kalteis lief und lief, ganz langsam, mal ruhte er, doch bei Einbruch der Dämmerung verschwand er in seiner Festung. Die wenigen, die es je direkt mit ihm zutun bekommen hatten, beschrieben ihn als unwirsch bis an die Grenze der Angriffslustigkeit, zugleich aber stets panisch auf einen möglichen Fluchtweg bedacht. Mit anderen Worten: Sie hielten Cedric Kalteis für verrückt. Der Eindruck hatte sich ihm ja auch irgendwie aufgedrängt. Aber warum hatte ihm Kalteis nachgegeben? Hatte er… Angst gehabt? Ja, ganz offensichtlich. Vor ihm? Anscheinend schon. Aber noch mehr Angst hatte er vor der Aussicht gehabt, dass er mit einem Team einfallen könne. Kunibert schluckte. Er wollte niemandem Angst einjagen. Er wusste, dass das zuweilen der Fall war, zu sehr sah er aus wie Adolf Hitlers persönliche Kampfmaschine, da weckte er leider ziemlich ungute Assoziationen. Es lag ihm leider in den Genen – sein Aussehen, nicht das Nazi-Monster – da ließ sich wenig machen. Seine Mutter sah genauso aus, die konnte seinem eher zierlichen Vater locker über den Kopf spucken oder ihn niederringen, was sie allerdings seines Wissens nie tat. Sein Vater hatte sich an ihm bereits einen Bruch gehoben, als er noch im Kindergarten gewesen war – seine Mutter allerdings nicht. Man hatte ihn Zeit seines Lebens schon genug verarscht mit seinem Aussehen und seinem Namen, das war er schon gewöhnt. Seine Sportlehrer waren da allerdings leuchtende Ausnahmen gewesen, hatten ihn immer bekniet, doch eine Athletenkarriere ins Auge zufassen, aber das war nie so ganz sein Ding gewesen, obwohl er gerne Sport trieb. Aber professionell? Nein danke, da interessierten ihn andere Dinge dann doch zu sehr, als dass das ihn auf Dauer glücklich gemacht hätte. Die Steine… die machten in glücklich. Nicht bloß das Wissen und Grübeln um sie, sondern ihre schiere Gegenwart im Licht dieses Landes. Und deswegen nahm er in Kauf, diesen komischen Kauz zu verstören? Schlechtes Gewissen regte sich in ihm. Cedric Kalteis war anscheinend irgendwie psychisch krank. Er hatte ein Recht darauf, nicht unnütz gequält zu werden. Aber was er vorhatte, war nicht unnütz. Sicher, es gab Sinnvolleres auf Erden, zumindest Dinge, die mehr Menschen für sinnvoller hielten – aber das war nicht unbedingt das Kriterium. Viel mehr Menschen als er fanden auch Diether Bohlen klasse. Aber gab ihm das das Recht Kalteis zu schikanieren, auch wenn es mit den besten Absichten geschah? Ihm ein Opfer abverlangen, das er nicht zu bringen bereit war? Oder gar in der Lage? Misshandelte er diesen Menschen in seinem Forscherdrang, in seiner Sehnsucht nach den Steinen? Was hatte es auf sich mit Cedric Kalteis? War er von Natur aus daneben? So etwas gab es. Oder war im irgendetwas zugestoßen, das ihn aus der Bahn geworfen und zu seinem ewigen Marsch durch die Steine getrieben hatte? War er hoffnungslos verloren? Oder tat es ihm vielleicht sogar gut, wenn jemand seine Routine durchbrach? Das wäre eine billige Entschuldigung… Kunibert starrte gen Osten. Durch die mageren Kiefern schien von fern her Licht. Kalteis’ Haus musste hellauf erleuchtet sein. Ertrug er keine Dunkelheit? Hatte er Angst vor dem Monster unterm Bett? Kunibert schämte sich des Gedankens. Er blickte hinunter auf die Karte. Versuchen… Er konnte, musste es versuchen. Vielleicht ging es ja. Aber er konnte keinen Verrückten quälen, weil er selber verrückt nach den Steinen war. ………………………………………………………………………………………………… Cedric drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Sie war blau, das beruhigte. Sie könnte auch grün sein oder rosa – Hauptsache nicht weiß mit bröckelndem Putz. Oder dunkel. Es mochte gegen zwei Uhr nachts sein. Wie immer war er mitten aus dem Tiefschlaf hinauf geschossen und lag da mit klopfendem Herzen. Er lauschte. Es war ruhig. Er war allein. Alles war in Ordnung. Das Steinfeld würde morgen da sein wie immer seit so vielen Jahrtausenden. Aber darin würde Kunibert Lerchenfels herumlatschen und seinen Frieden stören. Er hatte eingewilligt, ihm bei seiner Vermessungs-Scheiße zu helfen! Aber die Alternativen waren noch schlimmer gewesen. Was für ein beknackter Name. Warum nicht gleich Siegfried? Das hätte gepasst wie Arsch auf Eimer. Der Typ war garantiert zwei Meter groß! Der könnte mit ihm Bowling spielen, wenn er wollte! So etwas sollte sich nach Amiland verpissen und Football-Idiot werden! Der wäre steinreich und alle Weiber würden ihm ans Eingemachte wollen! Stattdessen hing der hier rum! Verfluchter Mist. Aber er würde verschwinden, sobald er hatte, was er wollte. Wie jeder, klar. Der eine geilte sich intellektuell an Menhiren auf, der andere weniger intellektuell an… Die Menschheit war bodenlos. Er war bodenlos. Die Typen… waren bodenlos. Und Kunibert Lerchenfels war das auch. ………………………………………………………………………………………………….. Tau lag noch auf den Gräsern, als Kunibert zur festgelegten Zeit das Steinfeld betrat. Von Cedric Kalteis keine Spur. Gut, heute wollte er auch in aller Ruhe die Lage sondieren, erste Fotos machen, Pläne schmieden, sein weiteres Vorgehen austüfteln. Die Sonne stand noch tief, die Steine warfen lange Schatten, überall schwirrten bereits die Bienen. Er würde garantiert gestochen werden, wie er sich kannte. Hoffentlich hatte Kalteis in seinem Irrsinn keine Pitbull-Bienen gezüchtet. Er lud seinen Rucksack auf einem der umgekippten Steine ab, wo er halbwegs trocken lag, dann machte er sich an die Arbeit. …………………………………………………………………………………………………. Das blonde Monster wütete bereits durch seinen Vorgarten, das konnte Cedric vom Fenster des Dachgeschosses aus erspähen. Aus die diffuse Hoffnung, dass der doch einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Er latschte auf seinen langen Muskelbeinen kreuz und quer durch die Reihen, kritzelte wie ein Irrer in sein Notizbuch, schoss Fotos und schien wild vor sich hin zu grübeln. Der war doch verrückt. Und der hatte nicht einmal eine anständige Entschuldigung dafür. ………………………………………………………………………………………………… Kunibert hätte fast vor Schreck aufgeschrieen, als ein… Etwas sich vom Haus aus näherte. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass irgendein Star Wars-Monster ihm an den Kragen wolle, dann kam ihm der Gedanke, dass Kalteis noch ausgeflippter war, als er gedacht hatte, und ihn in einer Ninja-Kampfmontur erledigen wollte. Schließlich sickerte die Realität wieder ein. Das war eine Imkerbekleidung. Klar, die Bienen… die Stöcke an der Südseite des Feldes… ganz schön viele… Vorsichtig zog er sich zurück und ließ Kalteis passieren, der ihn keines Blickes würdigte. Dann war ja alles gut. Kapitel 3: Etienne ------------------ III. Etienne Ein merkwürdiges Frösteln rann über Kuniberts Schulterblätter, obgleich der Herbsttag Sonne gebracht hatte. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, aber er fühlte sich beobachtet. Er wusste, dass er da irgendwo war, Cedric Kalteis, verborgen von den Steinen. Die letzten anderthalb Wochen hatte Kunibert sich damit befasst, sich durch die Steinreihen zu arbeiten, Positionen und Größe der Menhire mit seinem Plan abgleichend und diesen ergänzend und korrigierend. Die alten Aufzeichnungen waren recht ungenau und teilweise gar falsch hatte er festgestellt, da gab es viel zu tun. Er würde erst Ende Oktober wieder in Kiel sein müssen, da blieb hoffentlich genug Zeit, eine neue Dokumentation in Grundzügen zu erarbeiten und sich über Interpretationsmöglichkeiten Gedanken zu machen. Die Steine im Süden und im Osten würden problematisch werden, bei den einen drohten das ohrenbetäubende Dröhnen von zahllosen, latent angriffslustigen Bienen, über die anderen warf Kalteis‘ Festung ihre düsteren Schatten. Aber irgendetwas würde ihm da bestimmt noch einfallen, fragte sich allerdings noch was. Seinen unfreiwilligen Gastgeber zu erweichen dürfte nicht unbedingt einfach werden. Kunibert achtete peinlich genau darauf, sich an Kalteis‘ Spielregeln zu halten in der vagen Hoffnung, dass diesen das eventuell ein wenig kooperativer stimmen könnte, wenn es darauf an kam. Auch verzichtete er vorerst darauf, ihn zu belangen, noch war das nicht zwingend nötig, vielleicht würde Kalteis sich derweil zumindest ein wenig an seine Gegenwart gewöhnen. Er sah ihn regelmäßig, wenn auch nur aus größerem Abstand. Schon früh morgens schritt Kalteis in seiner Imkeruniform zu den Stöcken, verweilt ein wenig dort, dann ging er, ohne auch nur ein Mal in Kuniberts Richtung zu blicken, zurück zum Haus. Aber er wusste, dass er da war, seine Haltung war angespannt, solange er in Sichtweite war. Gegen Mittag trat er erneut durch das in die Steinmauer eingelassene gusseiserne Tor, das oben mit äußerst unfreundlich und ziemlich ernst gemeinten Spitzen versehen war, und verschwand zwischen den Steinen. Kunibert sah ihn nie, wenn er irgendwo im Schatten der Menhire lauerte. Aber er musste irgendwo dort sein, und Kunibert wusste es. Wahrscheinlich fühlte er sich deshalb so beobachtet, da Kalteis theoretisch hinter jedem Stein lauern konnte, ohne dass er ihn bemerken würde. Kalteis musste das Steinfeld wie seine Westentasche kennen, jede Ecke, jeden Winkel, was für ein Gewinn wäre es gewesen, wenn er ihm freiwillig geholfen hätte. Aber davon war er Lichtjahre entfernt. Um fünf Uhr nachmittags zog sich Kunibert wie abgesprochen zurück, ohne dass er den anderen zurück zum Haus hätte laufen sehen. Was er wohl trieb in den langen Stunden seiner Einsamkeit? Drehte sich sein Hirn in ewig gleichen Schleifen oder heckte er irgendetwas aus? Auf jeden Fall hatte er nie etwas bei sich, kein Buch, keine Kopfhörer, keine Gartenschere, nichts. Er trug rustikale Kleidung, dicke Pullover, die sich gegen den Anflug herbstlicher Kühle behaupten konnten, Jeans oder olive Army-Hosen und Turnschuhe oder Wanderstiefel. Auf Mode schien Kalteis nicht viel zu geben, alles schien lediglich nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählt zu sein. Aber eigentlich machte das nichts. Die Gewöhnlichkeit seiner Kleidung schien nur die Ungewöhnlichkeit seiner sonstigen Erscheinung zu betonen. Abends konnte Kunibert von seinem Balkon aus erahnen, dass das Haus Nacht für Nacht hell erleuchtet war. Hatte Kalteis Angst im Dunklen? Oder konnte er lediglich nicht schlafen? ………………………………………………………………………………………………….. Cedric sah mit brennenden Augen über die Buchrücken in den langgezogenen Regalen. Proust… Zimmer-Bradley… Kafka… Groschenromane, die wöchentlich erschienen… Kant… Comics… alles, er las alles, wahllos sammelte er es sich bei Amazon und andernorts zusammen. Es war ihm eigentlich auch egal, ob von den höchsten Weihen oder totaler Schund. Letztlich blieb es sich gleich. Früher hatte er die Nase hoch gehalten, hatte Hochgelobtes mit Wonne zerrissen, ewig gestöbert und gewühlt, bis er etwas seiner Aufmerksamkeit für Wert befunden hatte. Doch das war inzwischen völlig sinnlos geworden. Er konnte nicht schreiben, und alles war wahr, und alles war falsch. Irgendwann würden ihm davon die Augen zu fallen und er könnte ein wenig schlafen, bis der nächste Tag begann. Oder der vorherige. Oder der übernächste. Es spielte keine Rolle. Aber der übernächste lag näher an dem Termin, da Kunibert Steinfummler-Arschloch endlich wieder abdampfen würde. ………………………………………………………………………………………………….. Überrascht sah Kunibert hoch, als er das Geräusch eines nahenden Autos vernahm. Der Motor klang nicht nach einem der groben Lieferwagen, die hier von Zeit zu Zeit aufkreuzten, um ihre Fracht vor dem Tor zu entladen und dann zu verschwinden. Dieser Wagen röhrte rau, verspielt und aggressiv. Er spähte um den nächsten Stein und konnte sich ein Aufseufzen nicht verkneifen. Ein Lancia Fulvia Cabriolet in Dunkelgrün rauschte da heran, ein echtes Liebhaberstück, ein top restaurierter Oldtimer. So etwas würde ihm ja auch liegen, aber er würde mit seiner Körpergröße in dem zierlichen Gefährt aussehen wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein. Mal ganz abgesehen davon, dass ein solcher Wagen definitiv sein Bujet sprengte. Der Fahrer war ebenfalls eine Nummer zu groß für seinen Flitzer, was ihm allerdings durchaus stand. Kunibert konnte sich ein Starren nicht ganz verkneifen. Schwarzhaarig und fast provozierend männlich in einer schwarzen Lederjacke mit einer lässig-selbstbewussten Körperhaltung sah er aus wie einer, dem die Herzen – und die Begehrlichkeit – anderer nur so zu flogen. Kunibert kniete sich vorsichtig hin und verfolgte, was denn da kommen mochte. Eigentlich war er nicht übermäßig neugierig, aber nach fast zwei Wochen allein auf dem Feld nahm er die überraschende Abwechslung dankend an. Außerdem musste er Ohren und Augen offen halten, um Cedric Kalteis soweit zu begreifen, dass er einigermaßen kooperierte, redete er sich ein. Der Schwarzhaarige parkte und erhob sich in einem eleganten Schwung aus dem Auto. Er straffte sich, dann ging er entschlossenen Schrittes auf die Eingangspforte zu. Da würde er nicht viel Glück haben, Kalteis verbarg sich schon wieder im Schatten der Menhire. Die Herbstblumen blühten wild, die Bienen schwirrten, es war kurz nach Mittag – keine Chance auf Kalteis in seinem unheimlich abgeschotteten Heim. Der Neuankömmling klingelte ein paar Mal, bevor er einsah, dass es wohl vergeblich war, dann trat er unwillig zwei lange Schritte zurück. „Cedric?“ rief er in einer angenehm warmen, aber durchaus befehlsgewohnten Stimme. Niemand antwortete ihm. „Cedric!“ fuhr der andere fort. „Ich weiß, dass du hier irgendwo steckst! Die im Dorf haben offensichtlich nichts Besseres zu tun, als über dich im Bilde zu sein. Du latscht hier wie ein Beknackter zwischen diesen dämlichen Steinen herum und züchtest Bienen! Du! Cedric… bitte…“, kam es fast flehend. „Soll das ewig so weiter gehen? Du beantwortest keinen Brief, telefonisch zu erreichen bist du auch nicht… Ich weiß, du brauchst Zeit… Aber fast zwei Jahre?! Ich kann nicht ewig auf dich warten! Ich habe dich geliebt – und du hast nicht zugelassen, dass ich für dich da war, als es passiert ist. Und ich habe Rücksicht genommen. Deine Eltern haben mir zumindest ein wenig erzählt… aber hast du überhaupt für eine Vorstellung, wie weh es getan hat, im Krankenhaus zu stehen und zu hören, dass du mich nicht sehen willst? Nie wieder? Ich war die ganze Zeit dort… und ich schwöre dir, ich habe gebetet, Atheismus hin oder her, und du warst nicht schuld an dem, was geschehen ist, sondern sie! Und dann das… Ich habe versucht, es zu verstehen, dass du Abstand brauchtest, um wieder zu dir selbst zu finden – und dann warst du plötzlich weg! Alles, was du hinterlassen hast, war ein Schreiben, dass du fort müssest, für immer. Wir waren doch… wir! Und wieder musste ich aus zweiter Hand erfahren, wohin du dich geflüchtet hattest. Und wieder habe ich gewartet… gehofft… und ein wenig hoffe ich auch jetzt noch. Ein Teil von mir wird dich immer lieben. Aber ich kann so nicht für immer leben… Bitte, Cedric, wenn es uns noch gibt, irgendwo, nur einen kleinen Funken… dann komm jetzt raus!“ Atemlos sah der Mann sich um, blickte über das Steinfeld, zum Haus, in alle Richtungen – doch nichts geschah. Cedric Kalteis blieb unsichtbar, obwohl er diese Rede gewiss gehört hatte. Der andere lauschte, drehte sich spähend im Kreis, dann ließ er die Schultern hängen. Kurz verweilte er so, schien die Augen zu schließen, dann straffte er sich wieder. „Leb wohl, Cedric“, sagte er schließlich müde. „Du lässt sie gewinnen, kannst du das nicht sehen? Ich hoffe inständig, dass du irgendwann hinaus findest. Wann auch immer das sein wird, ich werde für dich da sein, das verspreche ich. Aber wenn du jetzt kein „wir“ mehr siehst, dann muss ich fortfahren zu leben. Mein Leben. Nicht mehr unseres. Es tut mir leid.“ Er schien zu seufzen, dann drehte er sich um und schritt zurück zum Wagen. Kunibert hörte den Motor starten, während er vollends in Deckung ging. Ein paar Fragmente… oder Puzzelsteine… Der Mann war anscheinend Cedric Kalteis Geliebter gewesen, sein Freund, Lebensgefährte, wie auch immer, bis irgendetwas vor etwa zwei Jahren geschehen war. Kalteis war also nicht pathologisch verrückt, sondern jemand hatte ihm das angetan. Er war auf der Flucht, dies war sein sicherer Rückzugsort, aus dem ihn nichts mehr hinaus lockte. Stattdessen war er hier eingebrochen. ………………………………………………………………………………………………….. Cedric kniete hinter einem der größeren Menhire. Er hatte jedes Wort, das Etienne gerufen hatte, gehört. Es gab kein „uns“ mehr, mochte Etienne sein Leben leben. Es gab keinen Cedric mehr, wie Etienne ihn zu kennen meinte. Etiennes Auftritt traf das, was er jetzt war, nicht einmal, es fiel in ein bodenloses, leeres Loch in ihm. Es tat nicht mal weh. Etienne war Etienne, er liebte es zu spielen, er liebte das Leben und seine Genüsse – mochte er ihn auch noch so sehr lieben, einen Seelenkrüppel würde er nicht überstehen bei allem guten Willen, das wusste Cedric. Etienne konnte nicht begreifen, egal wie sehr er es versuchen mochte, daher hatte er ihn nicht mehr in seiner Nähe dulden können, nicht nur wegen seiner selbst. Wurde einem das Rückenmark durchtrennt, gab es Rollstühle, aber für das, das bei ihm durchtrennt worden war, gab es nichts. Etienne hatte einen endgültigen Schlussstrich gebraucht, und den hatte er ihm geben können. Es gab keinen Weg zurück. Kapitel 4: Der Puma ------------------- IV. Der Puma Ein leichter Wind wehte zwischen den Steinen, als die Gestalt, statt wie gewöhnlich in größtmöglicher Distanz abzudrehen, in direkter Linie auf ihn zu kam. Kalteis lief langsam, aber sehr aufrecht, dennoch mochte er Kunibert mit viel Glück gerade mal bis zur Schulter reichen. Er sah nicht gen Boden, sondern starrte ihn mit seinen Giftaugen direkt an, als sei er ein Matador, der sich dem tobenden Stier zu stellen gedächte in einem Kampf auf Leben und Tod. Gestern hatte er den Zettel unter den Stein gelegt, so knapp und höflich wie irgend möglich formuliert und jetzt war es so weit. Cedric Kalteis hielt sein Wort und kam ihm zu helfen, falls man das „Hilfe“ nennen mochte, da sie nicht gerade freiwillig erfolgte. Kunibert beschlich bei diesem Anblick das Gefühl, es mit einem dieser Pferde zu tun zu bekommen, von denen seine Schwester immer so gern träumte. Wild und ungezähmt, schön, aber lebensgefährlich und gnadenlos, weil es ihre Natur war. Die lahmen Shetland-Ponys, die Frieda stattdessen auf ihrem Reiterhof züchtete, konnten dagegen nicht wirklich anstinken. Kunibert mochte die Tiere, auch wenn sie bei seinem Anblick immer etwas panisch aus der Wäsche guckten. Aber wenn er versuchen würde, so ein Viehzeug zu reiten, könnte er links und rechts mitlatschen, nicht gerade ein Ritt auf einem Araberhengst. Cedric Kalteis war definitiv kein Shetland-Pony auch wenn er größenmäßig zu einem gepasst hätte. Er baute sich in etwa zweianderthalb Metern Abstand vor Kunibert an, fixierte ihn ohne zu blinzeln mit zusammengekniffenen Lippen und fragte dann grußlos: „Was soll ich machen?“ „Das hier halten“, erwiderte Kunibert ruhig und hielt ihm den betreffenden Gegenstand am langen Arm entgegen. „Was ist das?“ fragte Kalteis tonlos. „Gehört zum Messgerät. Der Teil, den ich habe, sendet einen Impuls, der darauf trifft und errechnet dann die Daten auch unter Berücksichtigung von Winkeln ganz präzise“, erklärte Kunibert immer noch mit ausgestrecktem Arm. „Verstehe“, erwiderte Kalteis ungerührt. „Legen Sie es da hin, ich hole es mir“, forderte er ihn auf. Kunibert tat wie geheißen und trat, unwillkürlich die Handgelenke zeigend, zurück, als müsse er beweisen, dass er ohne Waffen gekommen war. Kalteis hatte sich ja nicht gerade hier verkrochen, weil er auf menschliche Nähe stand, sondern weil er offensichtlich davon Anfälle bekam. Sah verflixt nach dem Opfer irgendeiner Gewalttat aus, darauf wies auch alles, was der andere Mann in der vorletzten Woche gerufen hatte. Aber gab es da nicht Behandlungsmöglichkeiten? Er schien ja auch Familie zu haben… Warum war er hier? Kalteis schnellte vor und griff sich das Gerät, ihn nicht aus den Augen lassend. In der Tat… wie ein wildes Tier, aber nicht gerade ein Puschelhäschen oder eine Blaumeise, sondern etwas mit verflixt scharfen Zähnen. „Sagen Sie mir, was ich machen soll und trödeln Sie nicht. Wir können am Mittag kurz Pause machen, um etwas zu essen, aber mehr Zeit werde ich nicht verschwenden“, stellte Kalteis klar. Verschwenden? Was hatte er denn sonst vor – außer seine besessene Tour durch die Steine? Wahrscheinlich gerade das, und er wollte den normalen Rhythmus schnellstmöglich wieder aufnehmen können, ohne ihn dabei umgehen zu müssen. Gesund war das nicht… aber was redete er da, die Meinung teilte wahrscheinlich fast jeder, eventuell Kalteis eingeschlossen. „In Ordnung“, nickte Kunibert und sah zu, den anderen möglich genau anzuweisen. Lahm von Verstand war Kalteis nicht, ohne nach zu fragen setzte er seine Anweisungen absolut treffend um. Er hatte noch nie mit jemandem gearbeitet, der derartig effizient gewesen war, aber Spaß brachte das nicht, sondern war höllenanstrengend. Nicht nur das forsche Tempo, der unausgesprochene Zwang, bloß nichts Überflüssiges zu machen, auch dieser Blick, der ständig auf ihm ruhte, als wolle er ihn röntgen. So hatte ihn noch nie jemand angesehen. Es stand keine Neugierde darin, kein Kommunikationsbedürfnis, keine Freundlichkeit, aber auch keine Aversion, sondern etwas Lauerndes, das er nicht einzuschätzen wusste. Es war nicht drohend, aber es kam ihm vor, dass es jederzeit umschlagen könne in jede Richtung, Angriff oder Flucht. Auch die kleinste seiner Bewegungen wurde genau registriert, es war, als gehe er mit einem Puma Gassi. Aber auch Pumas waren Katzen, spielten, schnurrten, das erschien ihm undenkbar bei Kalteis. Wie der wohl ausgesehen hatte, bevor ihm was auch immer zugestoßen war? Als er noch mit seinem schönen Freund zusammen gewesen war? Hatte er da gespielt, geschnurrt und das hier war nur ein… Rest von irgendwem? Er war wahrscheinlich umwerfend gewesen in seiner Exotik. Jetzt war er nur noch umwerfend gruselig. Erst Stunden später richtete Kalteis die nächsten Worte an ihn, die nicht der Bestätigung der aktuellen Messung dienten. „Pause“, sagte er und legte das Messgerät auf einem niedrigeren Stein ab. „Dreißig Minuten.“ Dann war er weg. Sprachlos starrte Kunibert um den hohen Stein herum, um den er blitzartig verschwunden war, aber da war keine Spur mehr von ihm zu sehen. Nur das etwas platt gedrückte Gras verriet, dass er sich nicht einfach in Luft aufgelöst hatte. Der war wirklich fix. Kunibert spähte auf die Uhr, prägte sich die Zeit ein, um keine Herzattacke zu erleiden, wenn sein unfreiwilliger Gefährte wahrscheinlich genauso abrupt wieder auftauchen würde, wie er verschwunden war. ………………………………………………………………………………………………….. Tief durchatmend ließ sich Cedric im Schatten eines schief stehenden Menhirs auf die Knie sinken. Er war nah an den Stöcken, konnte das Summen hören. Lerchenfels‘ Bewegungen in den letzten zwei Wochen war zu entnehmen, dass er diese Ecke des Feldes mied. Hatte wahrscheinlich Schiss vor den Insekten, obwohl die einem nichts taten, wenn man sie nicht gegen sich aufbrachte. Er saß gerne direkt bei ihnen, drückte sein Ohr an das Holz, fühlte das betriebsame Brummen im Inneren, erschaffen von unzähligen der kleinen Tiere, jedes seiner Aufgabe für das Ganze folgend, ohne Namen, ohne Identität, nur Funktion und dennoch Leben. Zuweilen verärgerte er sie schon mit seiner Zudringlichkeit, aber im Inneren der alten Imkertracht seines Großvaters war er sicher – nicht nur vor den Bienen. Lerchenfels hielt sich an die Abmachungen, immerhin, kam ihm nicht zu nahe, kam dem Haus nicht zu nahe und strengte sich an, sich sehr zurückhaltend zu geben als habe er Angst, dass er ihn in einem Wahnsinnsanfall an die Kehle gehen würde. Verrückt, dieses Monster konnte ihn wahrscheinlich mit dem kleinen Zeh zerquetschen. Denn eins war ihm klar geworden: Manchmal war intellektuelle oder soziale Überlegenheit völlig unbedeutend, nur ein Schein, Selbstbetrug, manchmal ging es nur um schiere physische Kraft. Wer sie hatte, siegte, wer sie nicht hatte, unterlag und musste zahlen, was immer gefordert wurde. Es ging nur um das schiere „Mehr“. Mehr Muskeln, mehr Männer, mehr Gier, mehr Skrupellosigkeit. Da hatte ein Cedric Kalteis, halbe Portion, der er war, nichts zu melden. Da half ihm weder Bildung, noch Geld, noch Herkunft, noch Geist. Aber Lerchenfels wollte ihm nicht an die Gurgel, folgte brav den Regeln der Zivilisation, aber die Grenzen waren sehr brüchig, wenn Antrieb und Gelegenheit da waren. Und niemand war dagegen immun, das konnte man ihm nicht erzählen. Wer waren die damals gewesen? Wohlbeleumdet. Ein Busfahrer. Ein Schreiner. Sogar ein Zahnarzt war dabei gewesen. Das dürfte denen im Knast auch nichts helfen, aber Justitia mochte vielleicht eines Tages verzeihen, waren sie doch eigentlich immer ein Gewinn für die Gesellschaft gewesen – bis auf die Sache mit dieser perversen, arroganten kleinen Schwuchtel, die ihnen auf den Nasen herum getanzt war. Gruppendynamik, darauf war die Verteidigung herum geritten, aber der Richter hatte es von sich gewiesen. Ihr Pech. Gerechtigkeit? Was sollte das sein. Aug um Aug, Zahn um Zahn? Selbst das brächte keine Gerechtigkeit. Mochten sie ihre Jahre absitzen oder nicht, es machte keinen Unterschied. Sie würden ihn nicht finden hier, niemand würde ihn finden… bis auf diesen dämlichen blonden Spacken! Aber der hatte auch nicht nach ihm gesucht, sondern hampelte hier herum, weil er es auf das Feld abgesehen hatte, auf dem er ungünstigerweise saß. Lerchenfeld arbeitete konzentriert, notierte rasch, gab präzise Anweisungen, so ging das. Er versuchte immerhin nicht, ihn vollzulabern, hatte wahrscheinlich eins und eins zusammen gezählt und gefolgert, dass das nicht bringen würde. Dem dürfte inzwischen mehr als klar sein, dass er es mit jemandem total Gestörtem zu tun hatte. Wie der sich schon bewegte… als sei er ein verfluchtes Viehzeug! Solange er ihm kein Zuckerstückchen vor die Nase hielt… Cedric überschlug den am Morgen gemachten Fortschritt. Sie hatten viel geschafft, aber sonderlich weit waren sie angesichts der Vielzahl der Steine nicht gekommen. Das würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie fertig waren. Aber so war es durchzuhalten, es würde ja irgendwann zu Ende sein. Und irgendwann musste Lerchenfels doch garantiert wieder heim zu Mami. Oder sonst wohin. Verheiratet war er wohl nicht, er trug keinen Ring. Aber ewig würde er so oder so nicht bleiben können. Wenn er promovierte, würde er wohl auch mal an seiner Uni aufschlagen müssen. Garantiert nicht München. Der sah eher nach der Heinrich Himmler-Gedächtnisuni Haithabu aus. Der Typ war echt gestraft, so wie der aussah, wie ein wandelndes Scheiß-Klischee der eher ungünstigen Sorte. Aber wenn der kein Revival-Nazi war, dürfte ihm das nicht gerade schmeicheln. Aber statt einer Streitaxt trug der dieses dämliche Vermessungsgerät mit sich herum und diese abgewarzte Tasche, die ein paar Nummern zu klein für ihn wirkte. Aber für den wirkte wahrscheinlich alles zu klein. Wie Scheiße musste es sein, XXL tragen zu müssen, ohne auch nur fett zu sein? Er könnte abnehmen, aber Lerchenfels wohl kaum schrumpfen. Aber inzwischen wäre es ihm persönlich auch egal, wenn er verfettete, aber dazu fehlte ihm schlichtweg der Appetit. Früher hatte er sich selbst gegeißelt, um ja in Form zu sein und knackig zu erscheinen. Heute war er wahrscheinlich in der Form seines Lebens, ohne Genussmittel außer einem morgendlichen Kaffee und der ständigen Bewegung an der frischen Luft - und es war ihm scheißegal. Das letzte, was er wollte, war in irgendeiner Form sexy zu wirken. Ironie des Lebens. Ironie des Lebens auch, dass hier und jetzt ein Typ auftauchte, bei dem er sich früher zu Tode gesabbert hätte, Klischee hin oder her – und alles, was er von ihm wollte, war, dass er abhaute. Stattdessen durfte er sich jetzt mit ihm vergnügen. So wie es aussah über mehrere Wochen. Aber Typen wie der da waren gewöhnlich Heten, war garantiert so ein grundsolider Vorbilddeutscher mit einem innigen Wusch nach einer Bilderbuchfamilie und Vorstadthäuschen im Herzen. Früher hätte er das ziemlich fix gewusst – aber nach der… Sache, funktionierte sein Gaydar nicht mehr, hatte sich doch alles als anders entpuppt, als er dachte, dass es sei. Früher wäre es ein Leichtes gewesen, das herauszubekommen, ein paar Signale, antesten – aber heute fiel ihm das im Traum nicht ein. Er hoffte vielmehr inständig, dass sein „Gast“ von dicken fetten Möpsen träumte und nicht von seinem Arsch. Bei ihm hatte es sich ausgearscht. Sein Arsch war nur noch zum drauf sitzen und für die Entsorgung der letzten Mahlzeit zuständig. Möge er in Frieden ruhen. Sex hatte sich sowieso erledigt. Schon bei dem Gedanken daran tauchten sofort die Scheiß-Erinnerungen auf, dann verging ihm sofort alles. All die Sachen, die er davor getrieben hatte… keine erotische Wehmut, nur das kalte Kotzen bei dem Gedanken daran. Ab und an verselbständigte sich sein Körper im Schlaf, dann hieß es wegwischen und runterspülen. Cedric kramte in seiner Tasche und förderte die beiden Knäckebrote mit Honig und den Apfel hervor, die seine Mittagsmahlzeit darstellten. Nahe der Stöcke war eine Pumpe, aus der er trank. Das reichte völlig, um auch den Nachmittag zu überstehen. Um fünf wäre der Budenzauber vorbei. Dann könnte er noch ein wenig laufen und sich bei Anbruch der Dunkelheit über den Stapel „John Sinclair“-Groschenhefte her machen, die er bei Ebay ersteigert hatte. Das sollte Horror sein? Die hatten keine Ahnung von Horror, das war Schlaflektüre. …………………………………………………………………………………………………... Kunibert starrte den Stein an. Ein, zwei… und wups, da war er wieder, fixierte ihn kurz, ob er auch brav regungslos auf Abstand blieb, dann griff er seinen Teil des Vermessungsgeräts und verkündete: „Weiter geht’s.“ Kunibert nickte nur und begann, weiter seine Order zu geben. Kalteis flitze schweigend hin und her, ab und an einsilbig verkündend, dass er in Position sei. Der brachte wirklich kein Wort zu viel über die Lippen. Stattdessen gab es giftgrüne Bohr-Blicke. Auch Jakob daheim hatte grüne Augen, ein hübschen, tiefes Grün, ein bisschen geheimnisvoll und irgendwie warm, auch wenn er log. Dieses Grün hier hätte jeden toxischen Amazonasfrosch vor Neid erblassen lassen. Ob der auch freundlich gucken konnte? Wahrscheinlich… „konnte“. Jetzt wohl nicht mehr. Aber eine herzliche Ausstrahlung dürfte der da nie besessen haben, ihm haftete irgendwie etwas Kaltes an trotz all der Sommersprossen, die man ja normalerweise mit Niedlichkeit assoziierte. Auch die feinen Züge und der zierliche Körperbau gäben das wohl her, aber nicht dieses Auftreten, dieser Augenausdruck. Scharf, das war er – und das nicht im Sinne von sexy, sondern im Sinne einer Damaszenerklinge. Hatte dem deswegen irgendwer so gewaltig etwas verpasst, weil er so enervierend war? War er das schon vorher gewesen? Oder war das neu? Was für ein merkwürdiger Kerl, irgendwie schon faszinierend. Fast wie die Steine. War Cedric Kalteis zu einem seiner Steine geworden? Ewig gleich, seine Geheimnisse niemals preis gebend, egal, wie lange man ihn analysieren mochte? Oder hatte er selbst schon zu lange die Steine angestarrt, dass er sie in ihrem Herr wieder zu erkennen meinte? Aber dieser Stein hier konnte reden. „Der Abstand zwischen den Steinen ist absolut gleich“, verkündete er die vorläufigen Ergebnisse. „Nur im hinteren Drittel variiert er, wird ein wenig enger, aber pendelt sich dann wieder ein.“ Es blieb ruhig, Kalteis hielt sein Gerät und starrte ihn an wie gehabt. Kunibert hatte bereits eine innere Notiz an sich gesandt, dass das wohl verlorene Liebesmüh war, dass der andere nicht antworten werde, wenn es nicht direkt der Arbeit diente, als ein gleichgültiges „Ich weiß“ erklang. Kunibert riss sich zusammen, um ihn nicht perplex anzuglotzen. Klar wusste er das, wenn er tagein tagaus hier hindurch lief und nicht völlig verblödet war. Kalteis mochte außerdem noch viele andere Dinge wissen… „Ich wäre schneller wieder weg, wenn Sie mich an Ihrem Wissen teilhaben lassen würden“, lockte er. „Sie würden länger bleiben, wenn Sie wüssten, was ich weiß“, erwiderte Kalteis. „Aber kommen Sie nicht in Versuchung, mich damit zu nerven. Das hier ist ihr Job. Ich assistiere Ihnen nicht aus freien Stücken. Und je schneller Sie wieder weg sind, desto besser.“ „Es geht hier nicht bloß um mich!“ protestierte Kunibert und ließ das Gerät in seiner Hand sinken. „Machen Sie weiter!“ forderte Kalteis ihn gnadenlos auf. „Es geht immer erst einmal ums Ich. Sie wollen das hier aus welchen Gründen auch immer. Der Rest ist nur Rechtfertigung.“ Kunibert konnte nur fassungslos vereinend den Kopf schüttelnd. „Das ist zynisch“, meinte er. „Es gibt mehr als bloß das „Ich“.“ Kalteis zog nur gleichgültig die Schultern hoch. „Wenn Sie das gerne glauben möchten“, erwiderte er. „Machen Sie weiter. Die Welt wird es Ihnen danken…“ Kunibert richtete das Gerät aus und überprüfte die Peilung. „Die Welt vielleicht nicht. Aber ein paar Menschen schon. Nicht nur ich“, widersprach er. „Ich jedenfalls nicht“, bügelte Kalteis ihn ab. „Daher wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich mit ihrer altruistischen Mission etwas sputen würden.“ „Das ist doch kein Widerspruch“, murmelte Kunibert. Kalteis ließ ihn im Unklaren, ob er es gehört hatte. Es war warm geworden, die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind kühlte trügerisch, dennoch fühlte Kunibert, wie ihm immer wärmer wurde. Gegen drei Uhr war er völlig durchgeschwitzt. Der Schatten der Steine bot ein wenig Schutz, aber Cedric Kalteis kannte dagegen keine Gnade. Zäh wie Ziegenleder hätte Kuniberts Großmutter zu so einem gesagt. Er sah aus, als strenge ihn das Ganze nicht die Bohne an, außerdem war er hochmotiviert, wenn auch nicht gerade aus eigenem Enthusiasmus. Nix Elf, Sklaventreiber, das traf die Sache besser. Himmel, hatte der eine Kondition von seiner Dauerlatscherei. So mochte es mit den Errichtern dieser Steine gewesen sein. Ewig in Bewegung, die Energien genau einteilend und nicht sinnlos beim „Sport“ verpulvernd. Weiter, einfach immer weiter. Sein T-Shirt klebte eklig, vom Wind in eine eisige, schleimige Masse verwandelt, an seiner Haut. Ohne viel nachzudenken streifte es Kunibert sich über den Kopf. Lieber einen Sonnenbrand auf dem Rücken als sich zu fühlen, wie von einer toten Nacktschnecke umarmt. „Was soll das!“ fuhr Kalteis ihn an, dass er vor Schreck zusammen zuckte. „Mir ist warm“, stammelte er. „Wenn Sie strippen wollen, suchen Sie sich einen Job im Nachtklub!“ kam es in einem Tonfall der zeigte, dass der Puma die Krallen ausfuhr. Kalteis war doch offensichtlich schwul, wie der Auftritt seinen knackigen Ex‘ recht deutlich gemacht hatte. Und bisher hatte sich noch nie einer beschwert, ob Männlein oder Weiblein, wenn er sein Oberteil von sich geworfen hatte. „Sah das aus wie strippen?“ fragte er, bevor er sich bremsen konnte. „Sie scheinen ja gar nichts gewöhnt zu sein – oder viel zu viel, wenn sie gleich an sowas denken!“ Kalteis fletschte die Zähne. Nicht im übertragenen Sinne. Er fletschte wirklich die Zähne, dass Kunibert das Zahnfleisch und die weißen, graden Zähne sehen konnte und ihn eine Gänsehaut überkam. Himmel, dieser Typ war echt unheimlich. Er mochte zwar nur eine Handbreit über einem Ferkel groß sein, aber Intelligenz und Willen reichten manchmal auch für ein Blutbad. Abrupt glättet sich das Gesicht wieder, als habe ihm jemand den Stecker heraus gezogen. Er sog Atem ein und schloss die Augen, atmete tief ein, schien sich zu konzentrieren, dann sagte er, wieder ruhig und ziemlich steif: „Tut mir leid.“ „Schon gut“, winkte Kunibert ab und beschloss, die Skurrilität der Situation einfach mal zu ignorieren. Irgendwie musste er voll in die Kerbe gehauen haben. Kalteis starrte gen Boden, mied zum ersten Mal an diesem Tag, ihn anzuschauen. „Ich ziehe es wieder an, okay?“ verkündete er vorsichtig. Kalteis nickte nur, sagte aber nichts. Kunibert schüttelte sich innerlich, während er den klammen Stoff wieder über sich stülpte. Es galt nun allgemein nicht unbedingt als anstößig, wenn ein Mann sich beim Sport oder bei körperlicher Arbeit oben herum entblößte. Beim Managertreffen war das eventuell nicht angebracht, aber die meisten Manager gaben oben ohne wahrscheinlich nicht viel her. Geld scheffeln machte keine Muckis. Er war in dieser Hinsicht von der Natur begünstigt, aber er bewegte sich auch gern. Fitness-Studio fand er öde, aber Mannschaftssport oder Leichtathletik im Verein, das lag ihm. Er hielt nichts von schwuler Selbstghettoisiierung, obwohl ihn Jakob immer damit aufgezogen hatte. Er musste es ja nicht jedem unter die Nase reiben, er kam ja zum Training, nicht zum Flirten. Der Rest ging die anderen nichts an. Aber warum reagierte Kalteis derart darauf? Er hatte nun wahrlich nicht eindeutig vor ihm posiert, sondern nur das getan, was wohl fast jeder Mann, ob schwul oder hetero, in dieser Situation getan hätte. Und der dachte gleich ans Strippen? Hatte er eine derart sexualisierte Sicht auf die Welt? Aber die Reaktion war keinesfalls positiv gewesen. Ein übler Verdacht keimte in Kunibert auf. …………………………………………………………………………………………………... Erschöpft ließ sich Cedric auf einen seiner Lieblingssteine nahe des Hauses fallen. Lerchenfels war weg. Schlag fünf Uhr hatte er ihm sein Vermessungsgerät hingelegt, und der andere hatte gewusst, was das bedeutete und hatte sich mit einem „Bis Morgen!“ verabschiedet. Aber bis Morgen waren ja noch viele Stunden. Diese beschissene Brust hatte genau das gehalten, was die Arme verhießen. Kraft. Schiere, brutale Muskelkraft. So einen Waschbrettbauch hatte Cedric noch nie live zu Gesicht bekommen, und er hatte gewiss schon so Einiges gesehen. Nicht so eine angepumpte, künstliche Masse, sondern die natürlichen Formen eines Athleten – oder eines Kriegers. Welcher Vollidiot hatte diesen Typen zusammen geklont? Das ging doch echt auf keine Kuhhaut. Der hatte bestimmt einen Schwanz wie Napoleon, die Nummer kannte er, außen hui, innen – in der Hose – pfui. Viel mehr hatte da auch nie eine Rolle gespielt, solange er mit Etienne im Gefolge dem Tier im Menschen gehuldigt hatte. Nichts weiter als sich für intelligent haltende Affen waren sie, sie mochten denken zu denken, aber die Grundbedürfnisse forderten ihren Tribut und ihnen wollte gehuldigt werden. Essen, schlafen, trinken, ficken, Primitivität in höchster Raffinesse, das war ihr Credo gewesen. Und dann zog sich dieser Strunz-Germane, Abbild simpelster Bedürfnisse, einfach vor ihm aus und zeigte ihm seinen Traumkörper, der nur den Schrecken wieder rief. Er fand ihn nicht scharf, er fand gar nichts scharf – aber er hätte ihn scharf gefunden, und in diesem „hätte“ lauerte die Vergangenheit, der ganze Mist. Aber der hatte gleich gespurt, sich wieder eingepackt, um ihn armen Irren nicht fertig zu machen, was auch immer er sich dabei denken mochte. Er dürfte Etiennes Abschiedsvorstellung mitbekommen haben, wahrscheinlich dachte er, dass das das wirre Gelabere einer neben der Spur hängenden Schwuchtel sei. Zumindest letzter Punkt schien ihn nicht gestört zu haben, aber heutzutage war so manche Hete über dämliche Vorurteile erhaben, vielleicht traf das nur auf ihn zu. Vor ihm rumgewackelt wie eines dieser Disco-Hühner von einst hatte er jedenfalls nicht, das hatte er nicht gemacht, um ihn anzumachen. Gut für ihn. Warum war das keine Tussi oder ein hässlicher Familienpapi, dann wäre das alles nur halb so schlimm. Er lehnte sich zurück und ließ sich den salzigen Wind fühlen. Dazu war sein Körper noch gut. Keine Raffinesse. Nur die Natur wie sie eben war. Dazu gab es ihn noch, das war noch gut. Als eine Böe ihn traf, erlaubte er sich ein leichtes Schnurren. Kapitel 5: Besuch mit Bimmel ---------------------------- V. Besuch mit Bimmel Sie hatten einen rasch eine gewisse Routine gefunden. Kalteis stand jeden Morgen pünktlich auf der Matte und peitschte ihn durch das Programm, indem er wieselflink alles umsetzte, mitdachte, ohne zu reden, sondern nur in seinem Handeln zu erkennen. Um Schlag zwölf verschwand er, eine halbe Stunde später tauchte er blitzartig wieder auf. Um Fünf Uhr, keine Sekunde später, forderte er stumm Kuniberts Rückzug, den dieser kommentarlos antrat. Vier Tage waren vergangen. An Smalltalk war nicht zu denken, Kalteis redete nur aus pragmatischen Gründen, seine giftgrünen Augen stetig auf Kunibert gerichtet. Grüßen tat er prinzipiell auch nicht, wäre von seiner Warte aus betrachtet wahrscheinlich ebenfalls Zeitverschwendung gewesen. Kunibert erfuhr nichts über ihn, was er nicht sowieso schon zu wissen meinte, Kalteis Gesicht verriet genauso wenig über ihn wie seine spärlich geäußerten Worte. Kalteis schien nicht wie jeder andere seine Gefühlslage in seiner Mimik auszudrücken, ob gewollt oder unbewusst – oder diese Gefühlslage schwankte wirklich nie, war immer bestimmt aus von einer verwirrenden Mischung aus lauernd, ängstlich und zornig. Und abweisend wie ein verwunschenes Märchenschloss. Aber Kunibert hatte arge Zweifel daran dass in Kalteis‘ Inneren eine Prinzessin schlummerte. Ein Drachen erschien ihm deutlich wahrscheinlicher, und der mochte gerne bleiben, wo er war. Irgendwie kam ihm der andere inzwischen vor wie eine der Bienen, die sie stetig umsummten. Er machte ungerührt und mit fast manischem Eifer seine Aufgaben, ohne sich nur einen Fatzen dafür zu interessieren. Wie konnte man nur nicht fasziniert von den Steinen sein? Das mochte Kunibert gar nicht einleuchten. Aber vielleicht war das, was er hier trieb, für Kalteis ja wirklich nur Kinderkacke, Dinge, die er längst wusste, aber nicht preis gab. Doch Kalteis war nicht hier, um die Steine zu begreifen, sondern um zu vergessen, oder? Ihr wirklicher Sinn mochte keine Bedeutung für ihn haben. Abends im Hotel hatte er sich via Internet schlau gemacht. Er war nun wirklich kein Psychologe und wollte sich das auch gar nicht anmaßen, aber Kalteis Verhalten in Kombination mit den Informationen, die er über ihn hatte, deuteten auf eine nicht bewältigte traumatische Erfahrung hin. Auslöser konnte vielerlei sein, jeder Mensch war da anders, was den einen für sein Leben zerstörte, steckte der andere nach einer Weile weg. Aber nach letzterem sah Kalteis nicht aus. Er hatte sich hier verkrochen und den Kontakt zu allen abgebrochen, die ihm einst nahe gestanden hatten, war fern ab der Orte, an denen er einst gelebt hatte, und tat anscheinend nichts von dem, was er vorher getan hatte. Die Wirtin der Pension hatte ihm geflüstert, dass Cedrics Großvater vor seinem Tod erzählt habe, dass sein Enkel Literatur in Paris studiere, Journalist, Schriftsteller werden wolle. Jetzt studierte er definitiv nicht mehr. Ob er noch las oder schrieb in den langen Stunden der Nacht, in denen das Haus hell beleuchtet da lag? Cedric Kalteis hatte alle Brücken hinter sich abgerissen und wirkte nicht so, als plane er, neue zu bauen. Traumatische Erfahrungen konnten Psychosen auslösen, Depressionen, die ganze Persönlichkeitsstruktur auf den Kopf stellen, da die Welt Sinn und Logik verloren zu haben schien. Warum nahm Kalteis keine professionelle Hilfe in Anspruch? Lehnte er auch die ab, oder hatte sie an ihm versagt? Aber man konnte nur dem helfen, der sich helfen lassen wollte, und danach sah das hier eher nicht aus. Kalteis‘ Reaktion darauf, als er sein Hemd ausgezogen hatte… Eine völlig unschuldige Geste, was ihn anging, aber Kalteis hatte sie nicht so wahr genommen. War es das? Hatte man ihm Gewalt angetan? Kunibert wusste, wie er aussah, ein Gewaltopfer mochte seine Muskeln als verstörend empfinden. Oder war da mehr? Kalteis hatte gleich auf eine sexuelle Komponente verwiesen… hatte man ihn nicht nur geschlagen, überfallen, sondern war das, was man ihm angetan hatte, noch erniedrigender gewesen? Könnte sein, aber er mochte auch total falsch liegen. Auf jeden Fall war zu meiden, irgendetwas zu tun, was Kalteis in den falschen Hals bekommen könnte. Vorsichtig bewegen, nichts tun, was aggressiv wirken mochte, bedeckt halten, Abstand wahren, ruhig und langsam sprechen… Kunibert hatte aus den Tiefen seines Gepäcks die schlabberigste Klamotten zu Tage gefördert, die er zu bieten hatte und die seinen Körper am wenigsten betonten. Mehr als zwei Ensembles der Marke Kartoffelsack hatte er nicht zusammen bekommen, da hieß es abends brav waschen. Im Schutz des Balkon trocknete die Kleidung in der Herbstsonne rasch, solange kein Regen drohte. Aber Kalteis Problem zu respektieren bedeutete nicht, dass er gewillt war, alles zu akzeptieren. Kalteis mochte sich zwar kein „Guten Morgen“ raus quetschen, aber so viel Normalität musste sein, das dürfte der eventuell überleben. Er würde ihn grüßen und sich verabschieden und auch sonst alles tun, was unter normalen Umständen als rudimentäre Höflichkeit bezeichnet wurde, auch wenn er keine Antwort bekommen mochte. Kalteis Welt mochte Kopf stehen, aber es gab immer noch Morgen und Abend und andere Menschen, die selbiges auch angemessen würdigten. Und da Cedric Kalteis trotz allem auch ein Mensch war, wurde er auch gegrüßt. Basta. ………………………………………………………………………………………………… Cedric sah ihn schon vom Eingangstor aus. Wie drei Sack Mehl sah er aus in seiner Gruselmontur. Der machte hier einen auf dezent, das war kaum zu übersehen, so blöde war er schließlich auch nicht. Trug extra seine formlosesten Klamotten, damit er armes Opfer keine Kreischkrämpfe bekam, wie ober-liebenswürdig. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass Cedric keinesfalls vergessen hatte, was unter dieser Kotz-Klamotte steckte. Aber so ließ es sich wenigstens halbwegs ignorieren. Lerchenfels hielt sich echt ran, ihn nicht auf die Palme zu bringen, was nicht unbedingt von Doofheit zeugte. Aber er könnte auch drauf scheißen und ihm ein externes Team aufzwingen, nun ja, wenn der sich für so edel halten wollte, nur gut so. Aber einen auf Oberlehrer machte er dennoch mit seiner dämlichen Grüßerei. „Guten Morgen“ – pah! Was sollte das sein? Abgedroschene Phrasen, die nicht der Wahrheit entsprachen. Und was sollte „gut“ denn da eigentlich heißen? Schön sonnig? Das stimmte. Superstimmung? Von wegen. Ein aufrichtiger Wunsch? Ha ha. Wenn er ihm den ernsthaft erfüllen wollte, würde er sich brav verpissen. Tat er aber nicht, insofern mochte er sich sein falsches Gelabere sonst wohin schieben. Höflichkeit war nur eine weitere Abart der Lüge. Er griff sich seinen Teil des Vermessungsgerätes und starrte den anderen abwartend an. Immerhin war der nicht so durchgeknallt, ihn auch noch anzulächeln, als hätten sie ernsthaft vor, sich einen „Guten Morgen“ an der frischen Luft zu machen. Stattdessen startete Lerchenfels sein Programm, und er rannte los. ………………………………………………………………………………………………. Kurz nach der Mittagspause erstarrte Kalteis plötzlich. Kunibert konnte förmlich sehen, wie er die gepunkteten Ohren spitzte. „Was ist los?“ fragte er verwundert. „Da ist ein Geräusch!“ zischte Kalteis. „Das hier nicht hingehört!“ Kunibert seufzte schicksalsergeben und erwiderte: „Ich höre nichts…“ Der andere kniff nur die Lippen zusammen. „Dann lassen Sie sich mal die Ohren reinigen! Da ist etwas – und, nein! Nicht bloß in meinem Kopf.“ Für jemanden, der so latent panisch war, war der ganz schön frech. War das einfach seine Art? „Soll ich mal nachsehen?“ bot Kunibert an. „Sehe ich aus wie drei?“ wurde er angefahren. „Aussehen – nein. Benehmen: ja! Wenn da etwas ist, ist es im Zweifelsfall nie schlecht, zu zweit nachzusehen, oder?“ stellte Kunibert klar, bevor er den Mund halten konnte. Was sollte schon sein… eine Hunnen-Invasion? Eher nicht. Kalteis sah ihn an, als wolle er ihn mit Blicken auf Maikäferformat schrumpfen, dann schloss er wieder kurz die Augen, atmete tief – irgend so eine Meditation? – dann sagte er, immer noch ein wenig scharf, aber nicht mehr ganz so gifttriefend: „Wenn Sie darauf bestehen. Vielleicht geht es so ja schneller, und wir können wieder an die Arbeit.“ „Genau!“ nickte Kunibert, als sei das völlig brillant und total sein Gedankengang. „Und woher kam das Geräusch?“ „Norden. Gehen Sie voran“, orderte Kalteis. Kunibert raffte die Ausrüstung hoch, dann setzte er sich in Bewegung. Dass Kalteis es gar nicht mochte, wenn jemand hinter ihm ging oder stand, war ziemlich selbsterklärend, da spurte er besser ohne rumzumeckern. Es war ganz schön anstrengend, sich ständig so zusammen zu reißen, aber Kalteis war eben kein normaler Mensch. Wenn das hier weiter laufen sollte, musste er sich da wohl mit abfinden. Kalteis dirigierte ihn einsilbig vorwärts, bis auch er etwas hörte. Ein Bimmeln. Ein dumpfer, langgezogener Ton. Noch bevor sie die letzten hohen Steine passiert hatten, war mehr als deutlich geworden, mit was sie es hier zu tun hatten. Er blieb im Angesicht des Problems stehen und spähte nach hinten. Kalteis holte auf und positionierte sich etwa zwei Meter neben ihn. „Merde!“ fluchte er. „Was soll das denn bitte?“ „Fragen Sie sie doch“, schlug Kunibert vor. „Oh, natürlich… Bon jour. Verzeihen Sie, Madame, was bringt mich in die erfreuliche Lage Ihrer Gegenwart?“ grüßte Kalteis die Kuh und machte eine elegante Verbeugung in Richtung des ihn blöde anglotzenden Wiederkäuers. Toll, jetzt grüßte der – aber nicht ihn, sondern eine fette Milchkuh. Aber die Kuh hatte offensichtlich nicht dieselbe Wirkung auf ihn wie Menschen. „Ah… Sie geben sich geheimnisvoll… wie entzückend…“, redete Kalteis wie das Klischee eines Franzosen auf das Tier ein. „Ähm… die hat sich wohl verirrt“, folgerte Kunibert. „Ach was“, murmelte Kalteis. Dann machte er eine merkwürdig kommandierende Geste und sagte: „Okay, Bessi, verzieh dich! Geh heim zu Herrchen! Zisch ab!“ Die Kuh dachte gar nicht daran, sondern beugte lediglich den Nacken, um weiter über das Grün herzufallen. „Vielleicht hätten Sie „bitte“ sagen sollen?“ schlug Kunibert vor. „Verarschen kann ich mich allein. Mist. Die ist garantiert von einer der Weiden des Dorfes getürmt“, grübelte Kalteis, die Kuh jetzt anstarrend, wie er sonst Kunibert fixierte. Die kratzte das allerdings wenig. „Wenn Sie nicht von irgendwelchen Möchtegern-Druiden zwecks Opferung hierher getrieben wurde, dann wohl ja“, gab Kunibert zu. „Pfft, Gnade! Nein, das hätte ich gemerkt. Glauben Sie mir, das geschähe nicht das erste Mal. Und die kommen nicht mit einem Schreiben der Denkmalschutzbehörde mit der Nummer durch. Die Kuh muss weg!“ stellte Kalteis klar. „Hast du gehört Kuh?“ sprach Kunibert das Viehzeug an. „Monsieur Kalteis will dir keine Gastfreundschaft gewähren. Tragisch, aber wahr.“ „Das wundert Sie doch nicht ernsthaft, oder? Das Biest gehört doch garantiert wem, der kommt die noch suchen“, sinnierte Kalteis düster. „Ja ja, schon kapiert. Ich kann ins Dorf und fragen, okay?“ bot Kunibert an. Solange das muhende Problem da war, war wohl an Arbeit nicht zu denken. Kalteis nickte nur, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren. Kunibert stellte die Tasche vor ihm ab. „Ich laufe kurz rüber, passen Sie so lange auf die Sachen auf?“ fragte er. „Jaaaaa“, murmelte Kalteis nur, spähte aber einigermaßen kooperativ auf Kuniberts Gepäck. „Wenn Sie das motiviert…“ Kunibert rollte innerlich mit den Augen. Trauma hin oder her… Der Typ war echt ein Kotzbrocken, auch wenn da vielleicht andere dran schuld waren. Etwa eine dreiviertel Stunde später war er zurück, schwer atmend und ziemlich durchgeschwitzt. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, in der zu seiner Unterkunft gehörigen Gaststube den möglichen Besitzer auszumachen, da wohl nur einer der lokalen Bauern überhaupt Viehwirtschaft betrieb. Kalteis saß immer noch da zwischen Tasche und Kuh, der es gut zu schmecken schien, da sie sich nicht sonderlich vom Platze gerührt hatte. Vielleicht hielt sie Kalteis Augen auch für besonders saftigen jungen Klee, den sie sich zum Dessert gönnen wolle. Das würde wohl so nicht hinhauen… Er rannte geübt hinüber zum Herrn der Steine, als es plötzlich merkwürdig glibberig unter seinem Fuß wurde. Überrascht schnappte er nach Luft, aber da war es schon zu spät. Er war so auf sein Ziel fixiert gewesen, dass er die großzügig gegebene Hinterlassenschaft des milchgebenden Eindringlings übersehen hatte. Er sauste vornüber, dann klatschte er frontal mit dem Gesicht voran in die nächstgelegene Ladung. Es gelang ihm, sich so halbwegs mit den Armen abzufangen, auch war der Boden hier weich, aber das verhinderte nicht, dass er eine ausgesprochen unschöne Gesichtsbehandlung mit frischem Kuhfladen bekam, dass es nur so spritzte. ………………………………………………………………………………………………… Zunächst war Cedric ob der jähen, heftigen Bewegung zusammen gefahren, dann krachte der blonde Hüne auch schon mit voller Kraft voraus recht elegant mitten in den Dung, dass es ein ziemlich ekelerregendes feuchtes Platschen gab. Entgeistert starrte er ihn an, in der reflexartigen Fluchtbewegung verharrend. Lerchenfels kam benommen hoch, sein Gesicht war fassungslos – und voller Kuhscheiße. Nur die hellblauen Augen leuchteten aus dem Modder. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Cedric auf. Dieses riesige Gruselmonster – zu Fall gebracht von einem Haufen verdautem, von Fliegen umschwärmten Gras. Die Kuh muhte, als stieße sie einen Triumphschrei aus. Das war doch völlig… ………………………………………………………………………………………………….. Kunibert meinte, seinen Ohren nicht trauen zu können, als dieses Geräusch erklang. Er war wieder halbwegs auf die Knie gekommen und schüttelte sich vor Ekel und Demütigung. Und was machte dieser schockgefrorene Kerl von Kalteis? Oh, schön, er war doch zu Gefühlsregungen in der Lage. Schadenfreude war doch ein Gefühl, oder? Er lachte, dieser miese, kleine Dreckskerl beömmelte sich über sein Missgeschick, dass ihm nur widerfahren war, um Rücksicht auf seinen Dachschaden zu nehmen! Das Lachen war heiser, klang ein wenig eingerostet, als sei es ewig nicht benutzt worden. Er sollte unter die Therapeuten gehen, er hatte Cedric Kalteis nach weiß der Himmel wie langer Zeit zum Lachen gebracht, indem er ihm einen unfreiwilligen Slapstick vorgeführt hatte. Der Ausdruck in Kalteis Augen war aber nicht nur hämisch, er war verblüfft, was ihm ein wenig die Schärfe nahm. Er hielt sich die Seiten, drehte ab und verschwand rasend schnell hinter den höheren Menhiren. Aber verstecken half da nichts, das Lachen war immer noch zu hören. Kunibert kam wieder auf die Beine, würgte leise vor sich hin, dann sah er zu, sich ein wenig notdürftig mit Gras abzuwischen, während das Lachen langsam sporadischer wurde und in einen leichten Schluckauf überging. Kalteis erschien wieder, das Gesicht wieder glatt, aber weiter hicksend. „Entschuldigen Sie“, murmelte er steif. „Gern geschehen“, grollte Kunibert. „Die Kuh wird abgeholt, wir müssen sie nur bis zur Straße treiben, dann übernimmt sie der Bauer – ist das genehm?“ „Ja“, antwortete Kalteis und schien die Luft anzuhalten, um den Schluckauf zu bekämpfen. „Tja… dann machen wir das mal… und dann gehe ich duschen, meine Wirtin wird sich freuen, wenn ich so da einmarschiere“, stöhnte Kunibert. „Die denkt wahrscheinlich, ich hätte Sie in einem Anfall von Wahn in die Gülle geschubst“, murmelte Kalteis. „Würden Sie das denn tun?“ wollte Kunibert wissen. „Wenn ich muss und dabei auch kann“, murmelte Kalteis nur. „Wie… beruhigend. Okay, zurück zur Kuh…“, versuchte Kunibert sie wieder auf Kurs zu bringen. „Mmm, wie geht das? Komm Kuh? Oder wie?“ überlegte Kalteis und starrte wieder das Tier an, das gemütlich weiter graste. „Öhm… wohl weniger. Wie müssen sie antreiben oder locken oder so glaube ich“, sinnierte Kunibert. „So vollgefressen, wie die ist, ist die mit Essen garantiert nicht zu bewegen. Antreiben… da muss man wohl näher ran…“, machte Kalteis mit und sah wieder normal aus, wenn ihn auch immer noch ein leichtes Hicksen quälte. „Mit Pferden kenne ich mich ja aus, meine Schwester hat einen Reiterhof – aber Kühe?“ überlegte Kunibert. „Ist doch fast dasselbe… Los, ran da!“ kommandierte Kalteis. Der hatte vielleicht einen Tonfall drauf… „Außerdem mag die Sie bestimmt, so wie sie riechen.“ „Würden Sie jemanden mögen, der von Kopf bis Fuß mit ihrem Darminhalt verziert wäre?!“ wandte Kunibert ein. „Weniger, aber ich bin keine Kuh“, stellte Kalteis klar. Das vielleicht nicht… aber ein fieses Frettchen vielleicht… hatte nicht mal gefragt, ob er sich verletzt hatte. Aber so war das wohl mit Geisteskranken, in ihrer Welt existierten nur sie selbst, Empathie war da Fehlanzeige, das durfte man nicht persönlich nehmen. Aber der da war schon ein Spezialfall… na warte… „Okay, ich versuch’s. Aber bei Pferden macht man das so, dass einer vorneweg geht und freundlich auf sie einredet, das mögen Kühe bestimmt auch… Machen Sie das – und immer schön nett sein, rückwärtsgehen – Achtung, da sind noch Fladen – dann haben Sie uns im Blick“, empfahl Kunibert im Brustton der Überzeugung. So wie er aussah, hielten ihn die meisten für so tumb, dass sie auf so etwas herein fielen. „Sie haben wohl ein Rad ab!“ protestierte Kalteis. „Wollen Sie die Kuh nun loswerden oder nicht? Ich will doch nur helfen!“ bestand Kunibert auf dem Plan. Kalteis stöhnte. Dann sagte er: „Okay. Wenn’s sein muss. Mach‘ ich eben den Kuhflüsterer. Mir ist sowieso nichts mehr peinlich.“ Kunibert trat zögerlich auf das Huftier zu, dass ihn gut gelaunt anmuhte, und griff nach dem Band, an dem auch die Glocke hing. Er hatte null Ahnung von Kühen, hoffentlich war die da trotzdem kooperativ. Kalteis stand fünf Metern vor ihnen, guckte sauertöpfisch und begann. „Oh komm zu mir, du Kuh aller Kühe, das Leben liegt vor dir – und dann ab in die Brühe!“ deklamierte er, als sei er Gast bei einem mittelalterlichen Minnewettstreit. Seine Stimme klang nicht so spröde wie sonst, sondern hatte plötzlich ein warmes Timbre wie bei jemandem, der gelernt hatte, professionell vor Menschen zu reden. Die Kuh bewegte sich in der Tat, auch wenn das wohl eher an Kuniberts resolutem Gezerre lag. „Du fraßest die Blumen, die Gräser in meinem blühenden Garten, drum geh jetzt, sonst bist du Morgen beim Rotwein mein Braten!“ reimte Kalteis weiter. Kunibert bete inständig, dass die Kuh auf den Tonfall herein fiel und nicht zufällig Antennen für Veraschung hatte. Dennoch konnte er nicht anders, als ziemlich fassungslos den Kopf schütteln. Der Wahnsinn hatte ganz offensichtlich eine neue Ebene erreicht. Fast wäre ihm der chronisch schweigende Kalteis lieber gewesen, aber zugleich war das hier höchst interessant. Das war keine von Kalteis Routinen, sondern ein Stückchen Kalteis – in Lyrik. „Deine Scheiße verlieh meinem Rasen den richtigen Schmelz, drum stürzte sich rein Monsieur Kunibert Lerchenfels!“ Wie schön… Ein Gedicht über ihn… war aber nicht gerade romantisch. Der Kuh schien es zu gefallen, sie muhte zustimmend. „Jetzt erinnert er nicht mehr an einen Traum Eva Brauns, sondern eher an das Schicksal einen glücklosen Clowns!“ lockte Kalteis. „Hey!“ protestierte Kunibert. Wer austeilen konnte, konnte auch einstecken. „Es lachte darüber wie eine meckernde Geiß, der völlig beknackte Monsieur Cedric Kalteis!“ giftete er zurück, bevor er sich eines Besseren besinnen konnte. Kalteis Nase kräuselte sich ein wenig, sein Gesicht bekam Mimik. „So sprach der Verdreckte, die Kuh an der Leine, der nichts im Sinne hatte außer dusslige Steine!“ bekam er zurück. „Auf den Steinen da saß, fort von Raum und von Zeit, ein Wesen aus Stein, zu nichts mehr bereit. Nur Böses sah es, weil ihm Böses geschah, doch das ist nur Glaube und deshalb nicht wahr!“ steuerte Kunibert zurück, allmählich der guten Vorsätze verlustig gehend. „Steine sind wahr, Steine sind gut, sie brauchen kein Wissen und auch keinen Mut. Sie müssen nicht reden – und auch nicht grüßen, und scheißen auf jeden zu ihren Füßen!“ haute Kalteis zurück. „Steine sind Steine für den, der nichts sieht, für den, der nie lachte und auch jeden mied. Die Welt ist noch da, wenn auch manchmal bitter, doch das sieht man nicht durch verriegelte Gitter!“ gab Kunibert Retour. „So spricht jemand, dem die Sonne nur lacht, der niemals erfahren hat der Düsternis Macht. Der niemals sah die eigene Schuld, der niemals schmeckte das eigene Blut, der niemals gefällt, sondern einfach nur steht, der mag vielleicht glauben, das alles sei gut!“ presste Kalteis ihm entgegen, die untere Zahnreihe zeigend. „Hierauf gibt es so manche Plattitüde, doch der, der sie kennt, scheint ihrer recht müde. Die Ohren verstopft und nichts geht mehr rein, bleibt er einsam mit einem Herzen aus Stein!“ zischte Kunibert und zerrte die Kuh vorwärts, von Fliegen gepiesackt. „Stein ist ewig, Stein ist gut, Stein weiß gar nichts, weder Freude noch Wut. Wenn ich ein Stein bin, dann soll das so sein, die Welt geht weiter mit einem Herzen aus Stein!“ schloss Kalteis. Ein Hupen riss sie aus ihrem Dichter-Duell. Ohne es recht bemerkt zu haben, waren sie mit der inzwischen ziemlich ignorierten Kuh unter die Alleebäume an der Straße gelangt. Ein seines Anstrichs verlustig gehender blauer Transporter stand da mit einem freundlich winkenden bretonischen Bauern in blauer Latzhose darin. Kunibert winkte zurück, Kalteis machte auf dem Absatz kehrt und türmte in einem Affenzahn in Richtung des Feldes. Die offene Fläche ermöglichte Kunibert, den Abgang genauer zu verfolgen. Kalteis hatte eine Wahnsinns-Schnellkraft wie ein Karnickel, fehlte eigentlich nur noch, dass er Haken schlug. Seine Beine mochten bedeutend kürzer sein als seine, aber Kunibert hatte Zweifel, dass er ihn zu fassen bekommen würde, wenn er es darauf anlegte, so wendig, wie der war. „Hallo?“ grüßte der Bauer, den dieser Abgang nicht ernsthaft zu irritieren schien. Aber als Ortsansässiger dürfte er Kalteis gewohnt sein. „Hallo!“ grüßte Kunibert zurück. Der andere stieg aus und lachte, aber durchaus sympathisch. „Beauchamp, angenehm. Ich gebe Ihnen mal nicht die Hand, Himmel, hat das Chloé angerichtet?“ fragte er. „Ja, bin ausgerutscht. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, erwiderte Kunibert, während der andere die Kuh in Empfang nahm. „Tut mir leid. Sie ist ausgebüchst, war immer schon ein Abenteurer. Ich danke Ihnen, dass Sie sich darum gekümmert haben, so dass ich mich nicht mit Kalteis herum schlagen muss!“ „Mmm“, murmelte Kunibert nur, etwas mitgenommen von diesem merkwürdigen Zwiegespräch. „Er war so ein liebes Kind, hat immer nur gelacht. Wir waren alle völlig verzaubert von ihm. Und dann… das. Was auch immer ihm zugestoßen ist. Die Großstadt… aber jetzt ist er ja hier. Und er weiß gewiss warum. Möge der Herr ihm gnädig sein“, nickte Beauchamp traurig. Kunibert blickte nur in Richtung der Menhirreihe, hinter der Kalteis verschwunden war. Nein, er war nicht immer so gewesen. Ein liebes Kind… ein Student… ein Freund… ein Enkel, ein Sohn… und er war ganz und gar nicht dumm. Was um Gottes Willen hatte ihn dazu getrieben, ein Stein zu werden? Schuld… Blut… ………………………………………………………………………………………………… Lerchenfels war gnädiger Weise abgedampft nach der Nummer mit der Kuh. So wie der stank, dürfte er den Rest des Tages duschen wollen. Aber er hatte etwas da gelassen. Einen Zettel unter dem Stein. „Einen schönen Abend!“ stand da. Und: „Bis Morgen.“ Cedric schloss die Augen. Was war das gewesen? Okay, er hatte gelacht, obwohl ihm doch gar nicht nach lachen war. Aber das hatte wirklich so schreikomisch ausgesehen, wie dieser Bilderbuchgermane ungläubigen Blickes in die Kacke gedonnert war. Gar nicht bedrohlich, einfach nur zum Wegwerfen dämlich. Aber das wirklich Absonderliche war ihr gereimtes Kuh-Gespräch gewesen. Warum zum Teufel hatte er ihm diese Sachen gesagt? Okay, Lerchenfels hatte also Schlüsse gezogen, Schlüsse, die keinesfalls völlig danebenlagen. Aber das ging ihn nichts an, warum kam er ihm damit? Das änderte nichts an der Tatsache, dass er etwas zustande bekommen hatte. Dämliche Schüttelreime, gewiss, aber warum hatte er nicht einfach das Maul gehalten? Weil dieser Scheißer derart getroffen hatte? Weil es einfach so aus ihm raus geblubbert war? Das war seit zwei Jahren sein erstes halbwegs freiwillige Gespräch gewesen. Kein reiner Informationsaustausch, sondern ein echtes Zwiegespräch. Super-Blondi war nicht so doof, wie er aussah, erschreckend. Typen wie der sollten nur Grunzen dürfen. Aber er promovierte, wenn auch nicht gerade in einem Allerweltsfach, so bescheuert konnte er nun doch nicht sein. Aber für ein paar Minuten… hatte er total vergessen, dass der andere ihn mit einer seiner Riesenhände killen könnte. Oder Schlimmeres. Da war er einfach nur ein Typ gewesen, der in Kuhkacke klatschte und ihm dumm kam. Ihm!!! Nein… nein, das war der Cedric von früher. Er hatte nichts zu melden gegen einen Kunibert Lerchenfels, wenn der ihm wirklich krumm kommen wollte. Auch der Scheiß-Beschluss von der Denkmalschutzbehörde bewies das. Und wie der diese arme Kuh hinter sich her geschleift hatte… von wegen, man müsse die locken. Der hatte ihn sauber verarscht. Der hätte sich das fette Viehzeug wahrscheinlich locker auf den Buckel laden können wie Obelix Höchstselbst. Stattdessen hatte er gereimt… Herz aus Stein. Ja, das war er. Den Steinen konnte niemand was, die standen seit Jahrtausenden, egal, was geschehen war. Kapitel 6: Die Monsterbanane ---------------------------- VI. Die Monsterbanane „Guten Morgen, Monsieur Kalteis!“ bretterte der Herr Teutone ihm entgegen. Er war ja arg versucht, es zu ignorieren wie immer – aber der sollte ja nicht glauben, dass er so berechenbar war! Oder so leicht zu provozieren! War doch ganz einfach… war doch immer so leicht gewesen… alle waren immer hin und weg gewesen… so charmant… ………………………………………………………………………………………………. Kuniberts Kinnladen fiel ihm beinahe auf die Kniescheiben, als sich in Kaltes‘ Gesicht etwas tat. Die Mundwinkel hoben sich, ein Hauch von Grübchen bildete sich auf seinen Wangen. Er lächelte. Zuckersüß. Wenn nicht dieser Augenausdruck dabei gewesen wäre, wild entschlossen, wütend, hoch konzentriert. „Guten Morgen, Monsieur Spatzenfels!“ grüßte er ihn freundlicher Stimme. An die Wand klatschen… diese kleine Mistmade an die Wand klatschen… Nein! Exakt das war ja bereits geschehen! Allerdings war die Frage, ob der da drüben bereits vorher eine Mistmade gewesen war oder das das Ergebnis war. „Lerchenfels“, korrigierte er sanft. „Wie der Singvogel – und nicht wie die Größe des Humorsektors in Ihrem Hirn…“ Kalteis blitze ihn an. Himmel, wie konnte man nur so grüne Augen haben wie - Absinth. „Mehr brauche ich hier ja auch nicht, ich Glückspilz““, säuselte er, als habe er ihm gerade ein hinreißendes Kompliment gemacht. „Waff?“ erwiderte Kunibert. „Tut mir leid. Tumber Deutscher nicht verstehen französische Diffizilität. Tumber Deutscher will messen! Messen! Messen! Nein, nicht essen. Das vielleicht später, oder wenn ein Wildschwein oder so aufkreuzen sollte.“ Kalteis glotzte ihn an. „Da hat ja wer seinen „Asterix“ gelesen“, zischelte er. „Ja ja, ich weiß – klein, aber: O ho! Fehlt uns eigentlich nur noch Idefix, die Hinkelsteine sind ja auch schon da. Dann wollen wir mal. Obelix will zu seinen Steinen!“ „Schon gut“, murmelte Kalteis und streckte die Hand nach dem bereits ausgelegten Messgerät aus. Haha! Da hatte er ihn fein dran gekriegt, bätsch! ………………………………………………………………………………………………….. Cedric starrte seinen ungebetenen Gast an. Mehr als sowieso. Der war wirklich nicht so blöde, wie er aussah. Der war nicht aufs Maul gefallen. Der hatte ihn wirklich kurz sprachlos gemacht! Ihn!!! Und dabei wollte er doch gar nicht sprechen! Erstrecht nicht mit dem da! Hatte ihn mit dem eigenen Klischee aufs Glatteis geführt. So einen Grobklotz wie den da hätte er früher dermaßen klein bekommen, dass er heulend zu Mami gerannt wäre… mit brennendem Schwanz und lodernden Depressionen… Tja, das Ende vom Lied kannte er ja inzwischen. Manchmal kommen sie wieder. Wie Zombies. Und Zombies mochten zwar bratzblöde sein, aber sie waren immer in der Überzahl und hörten niemals auf… bis man auch ein Zombie war… War er so eingerostet? Dass er sich schon von so einem Typen ins Bockshorn jagen ließ? Wahrscheinlich? Aber wie der aufs Maul gefallen war… Er spürte schon wieder dieses Prusten in sich aufsteigen. Auf welchem Niveau bewegte er sich da plötzlich, dass er es lustig fand, wenn jemand in Kuhscheiße klatschte? Er hatte lange nichts mehr zu lachen gehabt, deswegen vielleicht. Aber das stimmte nicht… Er hatte viele „lustige“ Sachen gelesen. Aber das war nur Fiktion gewesen, dies hier war die Realität. Dieser Riese war von einem Haufen Scheiße zu Fall gebracht worden und hatte dermaßen dämlich dabei ausgesehen… Dieses fassungslose Gesicht… Früher oder später fielen sie. Alle. Aber irgendwie fand er ihn jetzt nicht mehr so Angst einflößend, obwohl das Blödsinn war. Der konnte ihn immer noch zerquetschen. Aber so schien er nicht drauf zu sein… aber das war nur eine Sache der Situation. Dieser Zahnarzt hatte wahrscheinlich auch nicht damit gerechnet, wegen eines Sexualdelikts und schwerer Körperverletzung im Kittchen zu landen. Der Richter war hart gewesen, hatte keine Einwände gelten lassen. Hatte vielleicht auch daran gelegen, dass seine Familie so wohlhabend und einflussreich war – und er kein namenloser Stricher. Justitia war blind… auf dem Auge, das nicht nach Geld und Status schielte, auch in einem Rechtsstaat. Er hatte eben eine Macke, arme Familie, wozu die auch noch bestrafen? Da lieber streng durchgreifen, das kam immer gut in der Presse. Aber Lerchenfels wähnte sich garantiert über so etwas erhaben. Außerdem, warum sollte der ihm etwas wollen sollen? Nicht jeder Mann in der Welt außerhalb der Szene war schwul. Ganz und gar nicht. Nur eine Minderheit. Und eine noch viel kleinere Minderheit tendierte dazu, völlig auszurasten. Er wusste selbst, dass es paranoid war, Lerchenfels deswegen zu beargwöhnen. Aber er war paranoid, was das anging, so war das. Er sähe nur Böses, weil ihm Böses geschah… Pfft, der hatte echt keine Ahnung. Und einsam? Jeder Mensch war einsam, aber nur die wenigsten gestanden es sich ein. Nein, er war ehrlich. Vielleicht neben der Spur, wie das die Allgemeinheit definierte – aber ehrlich. Mochte sich Lerchenfels nur fröhlich selber belügen, solange er ihn in Ruhe ließ. Er war eventuell nichts weiter als eine biedere Hete im Barbaren-Kostüm, auch wenn der irrationale Teil seiner Selbst, der das Ruder an sich gerissen hatte, etwas anderes behaupten mochte. ………………………………………………………………………………………………….. Kalteis flitzte wie gehabt zwischen den Steinen hin und her wie ein Elf auf Speed. Er kapierte schnell, meist musste Kunibert gar nichts sagen, Kalteis stand bereits am richtigen Ort und durchbohrte ihn mit Blicken, warum er nicht endlich in die Pötte käme. Er besaß eine wahnsinnige Agilität. Kunibert konnte sich inzwischen gut ausmalen, wie der zu einem Freund wie diesem superheißen Etienne mit seinem mondänen Cabriolet gekommen war. Kalteis war helle, Kalteis war die exotischte Erscheinung, die ihm je über den Weg gelaufen war – und Kalteis konnte wahrscheinlich, wenn er denn wollte und einen nicht damit verarschte, der Charme in Person sein. Die Kuh hatte es zwar nicht zu schätzen gewusst, aber das war auch blanker Hohn gewesen. Und wenn der mal wirklich einen auf lieblich machen sollte... Mickrig… vielleicht, aber neben ihm war fast jeder mickrig. Kalteis war nicht mickrig im Geist, das war einigermaßen klar geworden. Allerdings auch nicht mickrig im Wahn… Auch Jakob mit seinen eins achtzig war kleiner und zierlicher als er. Er war chronisch auf Diät, wenn er nicht gerade heimlich Schokolade mampfte, hatte aber genauso chronisch ein paar Gramm zu viel auf den Hüften. Kunibert hatte das nie gestört, er war sein Partner, es gab mehr als einen Waschbrettbauch, davon hatte er selber mehr als genug, das langte für zwei. Aber Jakob war immer am Jammern gewesen, das hatte viel mehr gestört. Dass er abnehmen müsse, dass er mehr Sport machen müsse, und wie ungerecht es sei, dass Kunibert das so leicht falle. Hör auf zu jaulen und beweg deinen Arsch, wenn dich das so stört! Mir ist es egal, Hauptsache du bist… mein Jakob. Aber das war wohl nicht wirklich angekommen. Stattdessen der ganze Scheiß. Brauchte Jakob Bestätigung von außen? Er war doch ein hübscher Mann mit seinen braunen Augen und aschblondem Haar und dem schönen Lächeln und der Stupsnase… reichte es nicht, ihm das immer und immer wieder zu ihm sagen? Und dass er ihn liebte? Anscheinend nicht. Inzwischen war er sich da auch nicht mehr so sicher, wenn es ständig auf taube Ohren stieß. Und wenn Jakob mit einem anderen – oder gar mehr – rumfickte und ihn obendrein noch belog... Denn das tat er. Garantiert. Der vergackeierte ihn – dieses Riesenarschloch! Wie konnte er nur… verdammter Kloß in der Kehle… Lügner! Betrüger! Warum?! „Spa… Lerchenfels! Sind Sie eingepennt!“ holte ihn Kalteis in die Gegenwart zurück. „Entschuldigung“, murmelte er. „Musste gerade an etwas denken.“ „Gisela daheim? Mag sie Sie nicht mehr?“ spottete Kalteis, dieses dämliche… „Nein!“ fuhr Kunibert ihn an. „Jakob heißt er! Wir sind seit vier Jahren fest zusammen. Und er bescheißt mich und lügt auch noch darüber!“ Kurze Stille. Dann kam ein dünnes: „Sie sind schwul?“ „Ja! Und dessen schäme ich mich garantiert nicht vor allen nicht vor Ihnen! Das war doch neulich ihr Ex-Freund, oder? Ich kann erahnen, dass Ihnen in der Hinsicht etwas Grauenhaftes passiert ist. Und Sie haben mein volles Mitgefühl! Aber das war nicht ich, kapiert! Unterstehen Sie sich, das auf mich zu projizieren! Ich bin kein degenerierter Gewaltverbrecher, auch wenn ich aussehe wie – wie haben Sie es so schön formuliert? – ein feuchter Traum Eva Brauns? Das verbitte ich mir! Ich bin weder ein Nazi noch gewalttätig. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden geschlagen! Gewalt ist für Primitivling und ich bin - verzeihen Sie die Korrektur Ihres Weltbildes – nicht primitiv!“ ging Kunibert ihn an. „Jeder ist primitiv“, kam nur zurück. „Klar, wir sind alle nichts als Affen. Warum hocken wir beide dann eigentlich hier – Sie mit Ihrem wahrscheinlich Trauma, ich mit meiner Doktorarbeit, wenn wir eigentlich nur Bananen fressen, schlafen und ficken wollen und können?“ herrschte Kunibert ihn an. „Der Deckmantel der Zivilisation…?“ murmelte Kalteis und sah gen Boden. „Damit können Sie sich wahrscheinlich mich erklären, obwohl Sie falsch liegen. Aber Sie sich selbst? Was ist daran bitte zivilisiert? Was sind Sie, nichts mehr als ein verstörter Affe?“ haute Kunibert ihm um die Ohren. „Ich bin kein Affe!“ fauchte Kalteis ihn an. „Wenn Sie keiner sind, dann respektieren Sie gefälligst, dass ich auch keiner bin! Auch wenn meine Lieblingsfarbe gelb ist!“ forderte Kunibert. „Gelb steht Ihnen nicht“, flüsterte Kalteis fast unhörbar. „Was?!“ bohrte Kunibert. „Ich sagte: Gelb steht Ihnen nicht!“ wiederholte er lauter und sah auf. „Blondinen in Gelb – grauenhaft! Tragen Sie Blau oder Braun oder Schwarz…“ Kunibert konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich weiß. Ich sehe aus wie eine Monsterbanane. Aber das ist mir scheißegal. Ich mag Gelb. Auch wenn es mir nicht steht. Ist mir Wurst! Ist doch kotzegal, was die Anderen denken, wenn es einem gefällt! Wenn ich eine Monsterbanane sein will, dann werde ich das auch tun! Genau wie Sie das tun… was immer Sie hier tun.“ Kalteis kniff nur wieder die Lippen zusammen. „Ich werde von einer Monsterbanane zum Vermessungsdienst genötigt, das tue ich. Dann bin ich anscheinend doch sehr wohl ein Affe – auf Koks. Möchte die Monsterbanane jetzt langsam mal weiter machen?!“ ……………………………………………………………………………………………….. Lerchenfels war schwul… Lerchenfels war schwul… gar nicht gut… gar nicht gut… Der mochte sich noch so sehr etwas auf sein Wesen und seine Moral einbilden, das alles ging schneller Hopps als er sich denken mochte. Der Auslöser mochte bei jedem anders gesetzt sein… aber es war da… es war da… egal für wie lammfromm sich jemand halten oder geben mochte. Wenn der auch nur eine schiefe Bewegung in seine Richtung machte…! Tat er bisher nicht, glotzte stattdessen in sein billiges Notizbuch, das er in der Schreibwarenabteilung irgendeiner Drogerie aufgegriffen haben mochte. Da war ein flammendes, mit Schlangen umwundenes Herz drauf abgebildet, wie… geschmacklos. Und er gab ihm noch Modetipps… Das war wahrscheinlich ein völlig hoffnungsloser Fall. Aber immerhin stand er dazu… trotzdem grässlich… Als wüsste er nichts selbst, dass sich die Menschheit nicht chronisch gegenseitig abschlachtete! Dass ein nicht geringer Teil der Menschheit in der Tat ihr Lebtag nichts sonderlich Krummes machte. Aber auch sie könnten… Die Frage war nur: unter welchen Umständen? ……………………………………………………………………………………………….. „Was ist das?!“ schreckte Kunibert hoch. Aber Kalteis war bereits von der Bildfläche verschwunden, was Wunder. Er meinte ihn ein: „Schon wieder! Scheiß Pferde-Tussis!“ murmeln gehört zu haben. Hektisch sah er sich um, die Steinreihen in Richtung des Geräusches entlang laufen. Diesen Laut konnte er in der Tat leicht zuordnen. Aus dem Schatten hervortretend sah er sie. Pferde, immerhin keine weitere Kuh, und darauf ein Rudel jauchzender Frauen. Die Stimmen verrieten, dass es Landsmänninnen von ihm waren, der Dialekt klang nach Hessen. Er spurtete auf sie zu, sie hatten ihn bereits entdeckt, bremsten und sahen ihn ein wenig schuldbewusst an. „Moinmoin!“ grüßte er, was gewisse Heiterkeitsanfälle auslöste. „Ein Nordlicht!“ freute sich die Frau ganz vorne, eine etwas untersetzte Mittvierzigerin mit vor Aufregung geröteten Wangen. Ob das an ihm lag oder an der freudigen Erfahrung des Reitens ließ er Mal dahin gestellt. „In der Tat“, erwiderte er höflich. „Aber Sie befinden sich hier auf einem Privatgrundstück, der Besitzer möchte nicht, dass hier Leute durchkommen“, erklärte er ihnen. Sie sahen ihn ein wenig bedröbbelt an. „Tut uns leid…“, gestand eine Andere, ziemlich lang Gewachsene im roten Landsend-Flies-Pullover. „Aber es sah hier so verlassen aus und die Steine… da sind wir ein bisschen von der Straße ab… das sah so… interessant aus hier“, meinte sie und nickte in Richtung des Feldes. Kunibert seufzte: „Kann ich verstehen. Aber der Grundbesitz befindet sich nun einmal in privater Hand, und der Besitzer lehnt Besuch ab.“ „Kommt nicht wieder vor!“ versprach die Kleinere. „Aber was machen Sie denn dann hier, Sie sind doch anscheinend auch nicht der Besitzer?“ wollte sie neugierig wissen. „Ich… bin Wissenschaftler und bin wegen der Menhire hier. Aber dazu war eine Sondergenehmigung nötig“, erklärte er. „Der Besitzer hört sich ja recht eigen an“, grübelte sie. „Das hier wäre doch so eine Touristenattraktion! Da ließe sich viel Geld mit verdienen!“ „Mmm… wahrscheinlich. Aber das liegt nicht in meinem Ermessen“, murmelte Kunibert, innerlich ein wenig verärgert darüber, dass die Leute da immer gleich ans Geld dachten. Aber das war wahrscheinlich ungerecht, die Stätte zu öffnen, würde mehr bedeuten… Aber das würde Kalteis nicht im Traume einfallen. Und von seinem Standpunkt aus war das auch nachvollziehbar, auch wenn der Rest der Menschheit dabei in die Röhre sah, aber das würde er wahrscheinlich überleben. Wie auch immer, das Land gehörte Kalteis, ob es der Menschheit diente oder nicht, das war da wohl kaum das Kriterium. Die Frauen winkten ihm zu und begannen, brav in Richtung der Straße trabend, wieder plaudernd von der Landschaft, dem Ritt, ihrem Urlaub zu schwärmen – und von den leckeren Meeresfrüchten hier, dem Wein, dem Käse… von all den schönen Sachen, die die Touristen eben hierher zog. Er wandte sich wieder um und joggte retour, die Kuhfladen von gestern großflächig umgehend. Noch einmal würde er Kalteis diesen Gefallen nicht tun, auch wenn ihn das gegen alle Gewohnheit noch so sehr erheitert haben mochte. Außerdem schien sein Publikum außer Sichtweite zu sein, obwohl er sich da nie so ganz sicher sein konnte, hinter welchem Stein der andere gerade lauerte. „Kalteis?“ brüllte er. „Los, kommen Sie angewieselt, geht weiter, die „Pferde-Tussis“ sind weg“, rief er, kurz das Bild seiner Schwester vor Augen, was die mit ihm anstellen würde, wenn sie ihn beim Aussprechen des Wortes „Pferde-Tussi“ erwischen würde. Nichts Angenehmes auf jeden Fall. Schicksalsergeben verharrte er und musterte die Steine im Radius um sich herum, innerlich mit sich Wetten abschließend, hinter welchem er diesmal auftauchen würde. Der da links sah gut aus, der Schatten stand gerade so, dass er ein abruptes Erscheinen wie aus dem Nichts begünstigte. Allmählich entdeckte er ein gewisses System hinter Kalteis Verschwinden und Erscheinen. Er kannte nicht nur die Steine in und auswendig, sondern nutzte auch den Stand der Sonne, die Blickrichtung seines Gegenübers sowie das Überraschungsmoment, nicht unbedingt das zu tun, was man ganz offensichtlich erwartete. Jetzt glänzte er jedoch mit Abwesenheit, ganz neue Taktik. „Kalteis…? Huhu? Keine Zeit verschwenden, schon vergessen? Sonst schlägt die Monsterbanane hier noch Wurzeln!“ wiederholte Kunibert seinen Lockruf, doch wieder verrannen Minuten, ohne dass etwas geschah. „Kalteis? Kommen Sie… put put…Die Steine vermessen sich nicht von alleine! Kalteis…? Ist irgendetwas…?“ rief er erneut und fühlte einen Funken Besorgnis in sich aufsteigen. Kalteis war doch sonst immer so zuverlässig…? Er setzte sich in Bewegung und umrundete die nahe gelegenen Steine, schaute sogar hinauf auf zu den Spitzen der hoch aufragenden, falls er da hocken sollte, ihn stumm anstarrend wie ein Bergluchs… Warum auch immer… Aber den Blick hätte er gespürt, mit Gewissheit… der war nicht hier. „Kalteis? Was ist los? Doch nicht wegen der Reiterinnen, oder? Nein… die haben Sie bloß sauer gemacht, oder? Sind Sie ins Haus, um sich telefonisch zu beschweren oder was? Dann sagen Sie doch etwas, eh ich hier stehe wie Piek Blöd!“ beklagte er sich und sah in Richtung des Hauses. Es lag verrammelt und verriegelt da, aber er hätte es auch nicht mitbekommen, wenn der andere derweil hinein gewuselt wäre. Eine Klingel gab es nicht, so viel hatte er schon spitz bekommen, und sich brüllend vor Kalteis Haustür aufzustellen war auch nicht gerade der genialste Plan. Da half wohl nur zu warten. Er kramte seine Wasserflasche und ein belegtes Brötchen aus dem Lunchpaket hervor, das er sich am Morgen gebastelt hatte. Dieser bretonische Käse… da musste er den Touristinnen von eben durchaus recht geben… lecker… Fünfzehn Minuten später war immer noch nichts geschehen. Der telefonierte doch nie im Leben so lange… oder hatte der sich gleich bis zum Fremdenverkehrsministerium durchstellen lassen…? Oder war noch etwas anderes passiert, während er vom Feld fort gewesen war? Er rappelte sich erneut auf. „Kalteis!“ brüllte er jetzt mit voller Kraft. „Machen Sie keinen Blödsinn, Mann! Ich bekomm hier echt allmählich Schiss! Wo sind Sie hin? Ist was?!“ Nichts, nur der Wind und das Summen der Bienen. Scheiße. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Kunibert. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht. Kapitel 7: Die Erdanziehungskraft gilt für alle ----------------------------------------------- VII. Die Erdanziehungskraft gilt für alle Die Sonne hatte ihren Zenit schon überschritten, als Kunibert systematisch die Steinreihen ablief, beginnend mit der Ecke, an der sie sich getrennt hatten. Er zwang sich langsam zu gehen und immer wieder von links nach rechts zu blicken. Sicher, Kalteis mochte irgendeine Krise bekommen haben, über deren Ursache er nicht mal ernsthaft spekulieren konnte, denn seines Erachtens war eben nichts geschehen, was sie ausgelöst haben mochte, aber was wusste er schon. Außerdem hatte er Kalteis für eine Weile nicht im Blick gehabt. War er im Haus oder versteckte sich irgendwo? Dann würde er ihn in der Tat niemals finden und ging Kalteis mit seinem Gerufe wahrscheinlich gerade gehörig auf den Sack. Aber daran war nichts zu ändern. Nicht nur hatten sie eine Abmachung, über deren Einhaltung oder auch nicht Kunibert doch ganz gerne informiert wäre, auch bestand die Möglichkeit, dass hier wirklich etwas im Argen hing, wie seine innere Stimme ihm zuflüsterte. Oder bekam er jetzt auch schon Wahnvorstellungen? Nein, das war sein Bauchgefühl, vielleicht nicht besonders rational, aber ihn selten täuschend. War Kalteis Angst eventuell durchaus konkreter, als er gedacht hatte, und jemand war wirklich hinter ihm her – und hatte ihn jetzt gefunden? Eventuell hatte der sich an die Fersen von Kalteis‘ Ex-Freund geheftet und ihn dann hier ausgemacht? Es mochte gegen drei Uhr sein, es war immer noch recht warm, doch der sonnige Frieden des Feldes erschien ihm trügerisch. Hoffentlich war Kalteis nicht in die Fänge irgendwelcher Möchtegern-Druiden geraten, die ihn zum Stargast ihrer nächsten Opferzeremonie machen wollten. Ach, was für ein Blödsinn, sie waren ja nicht bei Stephan King. Oder zielte Kalteis Dilemma etwa darauf ab, dass auch er etwas ziemlich Gruseliges getan hatte, als man ihn an seine Grenzen getrieben hatte? Er hatte von Schuld geredet… worin bestand seine Schuld? Wenn er die Internetseiten richtig verstanden hatten, fühlten sich Opfer von Gewalttaten häufig an dem mitschuldig, was ihnen widerfahren war – etwa aufgrund ihres provokanten Auftretens. Und nicht selten gab die spießbürgerliche Doppelmoral der meisten Mitmenschen solchen Ideen nur Vorschub, dachte man nur an all jene vergewaltigte Frauen auf Erden, die obendrein für das, was man ihnen angetan hatte, auch noch von ihren Familien, Clans, Gesellschaften verstoßen und bestraft wurden. Ein Schuldeingeständnis mochte obendrein zumindest eine Erklärung bieten, wo es eigentlich keine gab… War es das – oder hatte Kalteis vielleicht einen auf Rächer gemacht und jetzt hatte ihn die Gegenrache oder die Polizei ereilt? Nein… das hätte er doch irgendwie mitbekommen, so weit weg war er auch nicht gewesen, oder? Dass Kalteis jemanden in die Weißglut getrieben haben mochte, konnte er sich durchaus vorstellen – diese spitze Zunge, diese außergewöhnliche Erscheinung und wohlhabend schien er ja auch zu sein von Geburt an, das gönnte einem auch nicht jeder – aber gleich so etwas…? Etwas mit solchen Folgen…? „Kalteis… Kalteis… bitte antworten Sie! Meinetwegen auch, dass ich mich verpissen soll, bis es wieder geht… aber sagen Sie irgendetwas, wenn Sie mich hören können… Kalteis…“, hörte er sich selber rufen. Er fühlte sich merkwürdig allein, wie er da so zwischen den Steinreihen entlang schritt auf der Suche nach seinem unfreiwilligen Gefährten. Aber das Feld wirkte seltsam leer ohne die fühlbare Präsenz seines Herren. „Kommen Sie… bitte… ich will nur wissen, ob alles in Ordnung mit Ihnen ist! Bleiben Sie meinetwegen, wo Sie sind, aber sagen Sie etwas!“ forderte er etwas verzweifelt. Was sollte er machen, wenn Kalteis verschwunden blieb? Die Polizei anrufen? Aber was, wenn er verschwunden sein wollte…? Aber Rücksichtnahme kannte ihre Grenzen, gerade bei so etwas, da mochte sie mehr schaden als nutzen. „Kalteis… Kalteis… Kalteis?! Ach du Scheiße!“ fuhr Kunibert hoch, als er in die nächste Steinreihe trat. Der andere lag bäuchlings auf dem Boden, kaum sichtbar im tiefen Gras, friedvoll von Insekten umschwirrt, die sich an den üppigen Blühten rings um seinen Körper delektierten und an... Er raste auf ihn zu und griff ihm reflexartig an die Schulter, während sein Geist überschlug, was hier vorgefallen sein mochte. Kleine Süden bestraft der Liebe Gott sofort, pflegte seine Großmutter immer zu behaupten – und in diesem Falle schien sie Recht behalten zu haben. Cedric war wie er gestern aufs Maul gefallen, war wohl doch nicht immer so geschickt, wie er sich gab, aber wer war das schon. Er knallte selber schließlich auch nicht jeden Tag in den Dreck. Anders als er war Kalteis aber keinem Kuhfladen zum Opfer gefallen, sondern einem hervor rankenden Brombeergestrüpp, in dem sein rechter Fuß immer noch fest hing. Und anders als er war er nicht weich gefallen, sondern frontal gegen einen der Menhire gekachelt, bevor er den Grund geküsst hatte. Und das offensichtlich mit vollem Tempo, wie ein ziemlich unschöner Blutfleck auf dem ungerührt dastehenden Stein verriet, um den bereits die Fliegen schwirrten. Genauso wie um Kalteis Kopf, wie ihm jetzt klar wurde, wo es noch deutlich mehr zu holen gab, von wegen Idyll. Kunibert durchlief ein leichtes Würgen, während er nach dem Puls tastete. Eine Woge der Erleichterung klatschte über ihm zusammen. Nein, Kalteis hatte sein Leben nicht damit beendet, dass er seinen eigenen Steinen und seiner eigenen Flucht zum Opfer gefallen war. Aber wenn das passiert war, als er vor der Reiterinnen-Invasion in Deckung gegangen war, dann lag er hier schon ziemlich lange mehr oder minder besinnungslos, das war ganz und gar nicht gut. Mit zitternden Fingern griff Kunibert nach seinem Handy. Wie um Himmels Willen lautete der französische Notruf? Er hatte keine Ahnung. Die einzige brauchbare Nummer, die er hatte, war die der Pension im Dorf, also probierte er es dort, beschrieb so rasch wie möglich, was zu tun sei und wo sie seien, dann streifte er das Hemd ab, das war nun wirklich auch egal, und warf es als Markierung über den höchsten erreichbaren Menhir. Da mochte noch einer über sein Knallgelb lästern… aber der lästerte momentan nicht, ganz und gar nicht. Kunibert verjagte die Fliegen und blickte den anderen zähneknirschend an. Was tun? Der hatte eine Kopfverletzung, Gott sei Dank war er mit dem Kopf zur Seite gedreht gelandet, sonst wäre er zu allem Überfluss wahrscheinlich noch erstickt. Aber so jemanden bewegte man tunlichst nicht unprofessionell, vielleicht war auch noch etwas mit seinen Wirbeln. Sah übel aus, so wie das geblutet hatte, aber Platzwunden am Kopf wirkten häufig dramatischer, als sie waren. Die rostroten Haare waren völlig durchtränkt, das sommersprossige Gesicht hatte eine gruselige Bemalung erhalten. Er sah gar nicht mehr aus wie dieses giftspritzende Etwas, sondern wie jemand, den es wirklich übel erwischt hatte. Wahrscheinlich sah er jetzt nur auch äußerlich so aus, wie er auch innerlich war: völlig zermust und niedergestreckt. Er tat ihm einfach nur leid und machte ihm eine Scheiß-Angst. Es stimmte wohl, er hatte keine Ahnung, wie das sein mochte, sich so zu fühlen wie Kalteis. Irgendwie verging die Zeit gar nicht und rasend schnell. Immer wieder kontrollierte Kunibert den Herzschlag, aber da tat sich nichts, sein Herz schlug immer weiter, er würde nicht drauf gehen – aber ob ihn das ernsthaft freuen würde? Was war, wenn er irgendwelche Schäden davon tragen sollte? Irgendwann hörte er die nahende Sirene, rief, damit sie sie nur schneller fänden, dann lag Kalteis plötzlich auf einer Trage, eine Notarzt war über ihn gebeugt. Kunibert wurde gefragt, was er über den Vorfall wisse, während er sich zurück in sein Hemd zappelte. Einer der Sanitäter wandte sich an ihn. „Kommen Sie mit?“ fragte er ihn, während Kalteis durch die Gegend geschleppt wurde, als sei er aus Porzellan. So sah er auch aus. Wie kaputtes Porzellan. „Ich…“, stotterte Kunibert leidlich überfordert. „Wenn nicht Sie, dann sollten Sie schnellstmöglich jemanden informieren, der ihm nahe steht. Jemand muss Auskunft geben – und Gegebenenfalls da sein, wenn er aufwachen sollte“, wurde er informiert, während er sich auf sich verselbständigenden Beinen dem Tross anschloss. „Äh…“, stammelte er nur. Nahe stand? Nein, er stand Kalteis ganz gewiss nicht nahe. Das Problem war nur: niemand tat das anscheinend. Kalteis hatte sie alle fort gejagt. Und niemand war hier außer ihm. Was wusste er schon über Kalteis… Nichts als Vermutungen. Garantiert nicht seinen Versicherungsstatus oder seine Blutgruppe. Und er bezweifelte auch stark, dass Kalteis sich freuen würde, wenn er aufmunternd grinsend an seinem Bettchen säße, wenn… falls… er aufwachte. Aber irgendwer musste doch… eigentlich nicht er… Aber anders als Kalteis glauben mochte, ließ ihn nicht jeder kaltschnäuzig am Boden liegen und ging dann Fußball gucken. Er konnte sich nun wahrhaft Schöneres vorstellen, aber Kalteis einfach seinem Schicksal zu überlassen… das könnte dem so passen. Außerdem war der noch immer der Herr der Steine, auch wenn die seiner Autorität nicht gewichen sein mochten. Nein, da musste er wohl ran vorerst. „Okay“, murmelte er. „Aber… er hat ein Trauma oder so, glaube ich… Er kann die Gegenwart Fremder nicht ertragen.“ „Gut. Dann kommen Sie!“ wurde er aufgefordert. Nein, gut war das gewiss nicht. Bei Cedric Kalteis war gar nichts gut. ……………………………………………………………………………………………… Schmerzen… Licht, das weh tat… oh, Gott… nein… neinneinnein… aber da war Licht… eine Frauenstimme… der Geruch… Krankenhaus… Krankenhaus… schon wieder… hörte das denn nie auf… ……………………………………………………………………………………………….. „Herr…?“ fragte der Arzt. Kunibert erhob sich, sich völlig deplatziert fühlend, von einem der zu kleinen, festmontierten Plastikstühle im Wartebereich. Hatten sie Kalteis versehentlich in die Kinderabteilung gesteckt? Wie ein Kind sah er nun wirklich nicht aus, auch wenn er so groß sein mochte, wie Kunibert selber mit zwölf. Aber er hatte auch immer in der letzten Reihe stehen müssen auf allen Klassenfotos – neben der Bank. „Lerchenfels“, stellte er sich vor, wohl wissend, dass dieser Name eine Zumutung war für französische Zungen. Kalteis sprach ihn immer korrekt aus… aber sein eigener Name wirkte auch nicht gerade urfranzösisch, da mochten seine Wurzeln breit gestreut sein. „Sie sind ein Freund von Monsieur Kalteis?“ wollte der Arzt wissen. „Äh… eigentlich nicht. Ich habe auf seinem Grundstück mit seiner Hilfe Vermessungsarbeiten im Auftrag der Denkmalschutzbehörde durchgeführt. Monsieur Kalteis Grund beherbergt ein neolithisches Steinfeld, ich bin Prähistoriker von der Universität Kiel in Norddeutschland und promoviere darüber“, erklärte er etwas weitschweifig. „Wissen Sie, wie wir jemanden ihm nahe Stehendes kontaktieren können?“ wollte der Arzt wissen. „Nein“, gab Kunibert zu. „Soweit ich weiß, meidet Herr Kalteis jeden Kontakt, aber ich weiß auch nicht besonders viel. Ich bin kein Psychologe, aber er scheint sich ziemlich verkrochen zu haben, hat Angst vor anderen Menschen und meidet sie, weil ihm irgendetwas zugestoßen ist.“ Der Arzt nickte bedächtig, als würde für ihn plötzlich etwas Sinn machen. Kunibert wurde mulmig. „Kann ich irgendetwas tun?“ fragte er ein wenig hilflos. „Sieht nicht so aus… Wir bräuchten seine Krankenunterlagen…“, grübelte der Arzt. Kunibert schluckte. „Wie… wie geht es ihm?“ fragte er vorsichtig. „Ich kann Ihnen keine genaue Auskunft darüber geben, das tut mir leid. Er wird es überstehen. Haben Sie irgendeine Idee, wo wir nachfragen könnten?“ fragte der andere Mann. Kunibert zwang sich nachzudenken. Wer wusste etwas über Kalteis? Die Leute im Dorf, sicher, die Familie, zumindest Teile davon, waren dort schon lange ansässig. Er räusperte sich und teilte dem Kittelträger seine Vermutung mit, ihm gleich die Nummer der Wirtin mit aushändigend. Dessen Miene hellte sich ein wenig auf, auch wenn er erschöpft aussah. „Und was soll ich jetzt…?“ fragte Kunibert ratlos. Der andere musterte ihn kurz. „Sie mögen zwar kein Freund Monsieur Kalteis‘ sein – aber ein Bekannter sind Sie, wenn auch flüchtig, sehe ich das richtig?“ hakte er nach. Kunibert nickte. „Wäre es in Ordnung für Sie, wenn wir sie kontaktierten, wenn er aufwacht und bis dahin niemand anderes hier auftaucht? Wenn er Probleme mit Fremden hat, wäre das eventuell eine Erleichterung für ihn?“ meinte der Arzt. „In Ordnung“, stimmte Kunibert zu. „Kann ich machen.“ Musste er nicht. Aber konnte er. Was wäre wohl, wenn Kalteis wieder aufwachte und sich hier wieder fand? Weckte das dann Erinnerungen an einen anderen Krankenhausaufenthalt…? Was hatte der Arzt so komisch verstehend geschaut…? Kalteis mochte zwar ganz und gar nicht scharf darauf sein, ihn zu sehen – aber er wäre immerhin ein nicht völlig unbekanntes Gesicht, das in jenem eventuellen vorherigen Szenario keine Rolle gespielt hatte. Hoffentlich sähe Kalteis das genauso… Aber bis dahin… Hier hatte er wohl nichts mehr zu tun… Abwarten, Tee trinken, Steine fotografieren… Die würden sich schon melden… oder auch nicht… aber Kalteis würde wieder werden, immerhin. Zumindest physisch. …………………………………………………………………………………………… Ihm war übel. Kotzübel. Kotzspeiübel. Irgendwie schaffte er es, sich auf die Seite zu rollen, bevor es losging. Er hörte Schritte, Stimmen, jemand griff nach ihm… eine Frau… Gott sei Dank… nicht dass Frauen weniger übel waren… aber sie waren es nicht gewesen… sie konnten nicht… „Monsieur Kalteis?“ wurde er angesprochen. Er konnte nicht antworten, war leider zu sehr mit reihern beschäftigt, die Welt drehte sich, als sei er im Vollsuff, ein Riese kloppte fröhlich mit einem Hammer auf seine Rübe ein. Ein Riese… hatte etwa… nein… Was war…?! Ein kühler, nasser Lappen legte sich auf sein Gesicht, er wurde sauber geputzt wie ein Breilein sabbernder Zweijähriger und wieder zurück in die Horizontale befördert, ohne dass er sich hätte zur Wehr setzen können. Aber das kannte er ja schon. Sie dokterten an ihm herum, während er da lag und sich fragte, was der Quatsch denn solle. Die Mühlen des Systems, wer hier landete, wurde wieder zusammen geflickt, ob er wollte oder nicht. Allerdings wollte er keine Schmerzen haben… und er wollte auch nicht abnippeln, er feiger Blödmann. Dann musste er das wohl einfach durchstehen. Einfach auf Durchzug schalten hieß da die Devise, solange es irgend ging. „Monsieur Kalteis?“ kam es erneut. „Wasispassiert?“ krächzte er mit trockener Kehle, während die Welt weiter mit ihm Schlittschuh lief, und er sich nicht ganz schlüssig war, ob er es überhaupt wissen wollte. Aber dieses Mal tat ihm nur die Rübe weh, nicht der… Rest. „Sie sind gestürzt“, wurde er informiert. „Sie haben eine Wunde am Kopf, die wir nähen mussten, und wahrscheinlich eine ziemliche Gehirnerschütterung. Damit hatten Sie wahrscheinlich noch Glück im Unglück.“ Aufs Maul gefallen, na klasse. Wie denn, was denn? Er konnte sich nicht erinnern, beim Denken wurde ihm nur noch übler. Das letzte, was er erinnerte, war der Gedanke: „Scheiß-Pferde-Tussis“. ………………………………………………………………………………………………. Zwei Tage waren verronnen, ohne dass Kunibert von seinem Gastgeber gehört hatte. Sie hätten sich gemeldet, und er war kaum in der Position vor Kalteis Zimmer herum zu lungern wie ein Familienmitglied oder Freund und stündlich nach seinem Wohlergehen zu fragen. Mal vorbei schauen würde er gewiss, aber wenn er gebraucht würde, würden die sich schon melden. Aber für Cedric Kalteis waren in erster Linie andere verantwortlich, die dieser jedoch offensichtlich nicht um sich haben wollte – wie eben niemanden. Aber würde es sie wirklich abhalten…? Bisher waren sie anscheinend ganz gut damit klar gekommen, immerhin versauerte Kalteis schon seit zwei Jahren hier. Oder war Kalteis so rabiat gewesen? Oder… kamen sie auch einfach nicht damit klar, was immer es auch sein mochte…? Sie sollten für ihn da sein, zumindest dieser Ex-Freund hatte das ja nach wie vor angeboten, und nicht er, ein Fremder. Fast wäre er vor Entsetzen eingegangen, als plötzlich eine Stimme hinter ihm erklang. Einen Herzschlag lang war er fast der Überzeugung, dass Kalteis eine Wunderheilung hingelegt hatte – oder aus dem Krankenhaus getürmt war – und schon wieder hinter ihm stand wie eine nächtliche Erscheinung bei Tageslicht. Aber die Stimme war weiblich. „Wer sind Sie, und was treiben Sie hier?“ wurde er angefahren. Bibbernd blickte er hinab gen Grund. Eine zierliche Frau stand vor ihm, die vielleicht gerade mal eins fünfzig groß sein dürfte. Sie war nicht mehr die Allerjüngste. Ihre Kleidung sprach von gediegenem Wohlstand. Eine Flut von Sommersprossen zierte ihr zartes Gesicht, ihre Haare schienen hellbraun gefärbt, aber Kunibert wäre jede Wette eingegangen, dass auch sie einst rostrot gewesen sein mussten. Ein Paar giftgrüner Augen starrte ihn verdrossen an, verstörend, sie in einem anderen Gesicht zu sehen. Da hatte Kalteis das also her… seine Mutter, jede Wette. „Lerchenfels! Kunibert Lerchenfels!“ stellte er sich vor und bemerkte, dass er kurz davor war zu salutieren wie vor seinem Offizier beim Bund. Aber der war persönlich ganz freundlich gewesen, was er von dieser Frau irgendwie nicht vermutete. Sie hatte eine merkwürdige Ausstrahlung, irgendwie kalt. „Ich bin mit offizieller Beauftragung der Denkmalschutzbehörde hier!“ rechtfertigte er sich automatisch und begann hektisch in seinem Rucksack zu wühlen, um ihr das Schreiben vor die Nase zu halten. Sie ließ ihn gewähren mit dem kritischen Blick einer sehr strengen Grundschullehrerin – oder eines Flottenadmirals. Wortlos schnappte sie sich das Schreiben, von der Ängstlichkeit ihres Sprösslings keine Spur. Teure Ringe blitzten an ihren schlanken Fingern. Ein Smaragd von der Farbe ihrer Augen blinkte an ihrer rechten Hand. Die war es gewohnt, dass jeder nach ihrer Pfeife tanzte, ohne sich auch nur Fragen erlauben zu dürfen. Der Tonfall kam ihm doch bekannt vor… aber hier diente er nicht in erster Linie der Fassade. „Nun gut“, beschloss sie nach eingehendem Studium. „Estelle Kalteis. Sind Sie das, der meinen Sohn ins Krankenhaus gebracht hat?“ Er überging die Doppeldeutigkeit ihrer Frage. Wollten die ihn hier etwa beschuldigen oder was? Das konnten die sich sauber abschminken. „Ich habe ihn gesucht, gefunden und den Notarzt gerufen, nachdem er verunglückt war“, erwiderte er so ruhig, wie er konnte. „Dennoch wird es meinem Sohn kaum recht sein, dass Sie sich ihm aufgezwungen haben“, entgegnete sie ungerührt. „Er ist… empfindlich. Er möchte keine Gesellschaft“, stellte sie klar. Kunibert zog die Augenbrauen zusammen. Das wusste er ja durchaus. Und auf eine Gesellschaft wie diese Dame da hätte er an Kalteis Stelle auch gut verzichten können, aber vielleicht bekam er das nur in den falschen Hals. Dennoch hatte er Probleme, sich diese Frau als eine Mutter vorzustellen, die ihren Sohn im Arm hielt und tröstete – vielmehr als eine, die ein paar teure Therapeuten bezahlte, die das für sie erledigen sollten. Wahrscheinlich war er da ungerecht – aber sie war ihm grundunsympathisch, Punktum. So ähnlich sie ihrem Sohn erscheinen mochte, ihr fehlte dessen Zwiespältigkeit, Verletzlichkeit. War Kalteis vor seinem Unglück etwa auch so gewesen? „Ich respektiere seinen Wunsch nach Zurückgezogenheit“, sagte er steif. Zumindest graduell… Aber wenn er Kalteis in Ruhe gelassen hätte, hätte er weder gelacht noch gereimt… und wäre eventuell auch gegen den Stein geklatscht, ohne dass ihn jemand gefunden hätte. Okay, das mochte eine billige Rechtfertigung sein für das, was er hier trieb, aber deswegen ließ er sich noch lange nicht als Grobian charakterisieren, das hing ihm nämlich ziemlich zu den Ohren raus. Sie sah ihn sinnend an, irgendwie merkwürdig prüfend. „Wie geht es ihm überhaupt?“ fragte Kunibert tastend. „Der Arzt sagt, es hätte schlimmer sein können. Platzwunde, Blutverlust, Gehirnerschütterung. Wenn Sie mit meinem Sohn zu tun hatten, wissen Sie wahrscheinlich, dass er… psychische Probleme hat?“ fragte sie bohrend. Er nickte nur stumm. „Er lebt hier ganz allein… Es wäre besser, wenn er Hilfe bekäme…“, fuhr sie vorsichtig, etwas lauernd fort. „Sie wollen ihn einweisen lassen?“ fragte er direkt, innerlich in Habachtstellung. Mal wieder typisch… Warum hielt er nicht einfach mal das Maul? „Ich möchte, dass das Beste für meinen Sohn getan wird. Freiwillig wird er nicht gehen…“, fuhr sie fort. Kunibert schluckte. Ihm dämmerte, dass sie versuchte, ihn vor ihren Karren zu spannen. Sollte er etwa behaupten, Kalteis sei mit blutunterlaufenen Augen mit einer Axt hinter ihm her übers Steinfeld gejagt? Nein, so deutlich würde die sich nie ausdrücken. Aber da war es wieder, das Bauchgefühl. Sie mochte ernsthaft das Beste für ihren Sohn wollen – aber doch nicht so! Das ging ihn doch alles gar nichts an… Die Steine für ihn, Cedric Kalteis dafür sicher und warm in der Klapse? Nein, so lief das nicht. „Dann sollte man ihm vielleicht seinen Willen lassen, denn er ist frei“, sagte er nur. „Natürlich!“ bestätigte sie, als sei da nie etwas im Busche gewesen. Hatte er sich das etwa doch nur eingebildet? Zu viel Kalteis auf einmal war ansteckend? Nein… Bauchgefühl war Bauchgefühl. „Wann kommt er denn… nach Hause?“ fragte er, wieder das Niveau einer harmlosen Konversation ansteuernd. „Schwer zu sagen. Er wird noch ein paar Tage im Krankenhaus liegen müssen… aber dann… schwierig… er will sich ja nicht helfen lassen…“, seufzte sie. „Na ja“, murmelte er und lächelte sie möglichst sonnig an. „Das dauert ja noch. Schön, dass er auf dem Wege der Besserung ist! Bis dahin kann Ihr Sohn sich ja auch selber etwas überlegen! Grüßen Sie ihn von mir!“ Sie kniff die Lippen zusammen. Hatte er es sich doch gedacht, Kalteis wollte Mama nicht an seinem Krankenbettchen sitzen haben. Und irgendwie konnte er ihm das nicht einmal verdenken. Kapitel 8: Ein echter Schocker ------------------------------ VIII. Ein echter Schocker „Es ist Besuch für Sie da“, informierte ihn die Krankenschwester äußerst vorsichtig ihre Nase in sein Krankenzimmer reckend, als laufe sie in Gefahr, dass er sie ihr dann abbeißen werde. Sicher, er war ja der mit der Klatsche in dem sauteuren Einzelzimmer, da kam er endlich mal wieder so ordentlich zum Prassen wenn schon kein Armani. Zumindest das Problem hatte er nicht, die Portokasse war dick gefüllt, wenn die Wirtschaftswelt nicht durchdrehte, hatte er für sein Leben ausgesorgt, ohne auch je einen Finger dafür krumm machen zu müssen, Opas Erbe inklusive der Konten, Wertanlagen und Pachteinnahmen sei Dank. Wenn schon verrückt, dann mit Stil. „Ich will niemanden sehen“, informierte er sie möglichst gelangweilt. War garantiert seine Mutter – und die wusste haargenau, dass er sie nicht rein lassen wollte. Mondän, wie sie war, hatte sie ihn in seiner Kinder- und Jugendzeit Horden von amerikanischen Au pair-Mädchen überlassen, bis es Zeit fürs ritualisierte Gute Nacht-Küsschen gewesen war. Sie war ja schließlich keine Rabenmutter, sondern ganz innig mit ihrem Sohnemann… Oh, sie hatte ihn in der Tat gelehrt zu leben, allerdings nicht, auf die Fresse zu fallen, das war im Plan nicht drin. Dennoch hatte sie sich um ihn bemüht, auf ihre Art… aber auf ihre Art konnte er verzichten, erinnerte sie ihn doch ziemlich unangenehm an seine eigene. Und er war nicht mehr Mamas Mini-me, aus die Maus. Die wollte ihn garantiert wieder damit auf den Ohren liegen, dass er in die Psychiatrische solle, aber das war völlig sinn- und zwecklos – außer, dass es sich „so gehörte“, wenn man durchgedreht war. Irgendwie liebte sie ihn wohl schon, was das in ihren Kreisen eben so bedeutete… schrieb ihm immer stur diese ungeöffneten Briefe… und würde niemals damit aufhören, niemals. Wenn sie ihn liebte, dann ließe sie ihn in Ruhe, er wollte nicht zurück und die Regeln von einst waren ihm schnuppe. Dann hatte sie eben einen beknackten Sohn, dessen unmoralischer Lebenswandel ihn in einen – mental – zotteligen Einsiedler verwandelt hatte, das würde sie schon mit Haltung ertragen wie eben … alles, auch wenn es ausnahmsweise mal nicht nach ihrer Nase lief. „Der Herr da draußen sagt… also er sagt…“, holte ihn die Krankenschwester stotternd wieder in die Gegenwart zurück. Herr? Wie… Herr? War sein Vater etwa auch da? Oder Etienne? Oh bitte nicht auch das noch… Gepriesen seien die Erfinder abschließbarer Türen und der Krankenhausregeln. Das war das Letzte, das er mit seinem verpflasterten Brummschädel jetzt noch brauchte. Die hatten ihm stellenweise die Haare abrasiert, um ihn nähen zu können, er sah aus wie ein sehkranker Mönch… War auch egal, nur fürs Protokoll… „Was?“ würgte er hervor – ihm war immer noch übel, wenn auch nicht mehr chronisch zum Kotzen. „Also… er sagt… er habe ihr Grundstück für Globetrotter-Touristen frei gegeben, Teile davon zur Kuhweide umfunktioniert, feiere in ihrem Vorgarten Grillpartys mit Pferde-Tussis und Möchtegern-Druiden und habe die Steine von Graffiti-Künstlern verschönern lassen. Und zwar alle“, quetschte sie ängstlich heraus. Zu recht. Die Überbringer schlechter Neuigkeiten lebten traditionell gefährlich. Aber dennoch atmete er auf. Das war nur dieser blöde Heini von Lerchenfels, das ging ja noch, der hatte mit alledem immerhin herzlich wenig zu tun. Was wollte der denn? Dass er sich jetzt bedankte oder was? Wäre ja nicht ganz unverdient, ohne Lerchenfels hätten ihn jetzt wahrscheinlich schon die Hasen gefressen. Hasen? Fraßen die Aas? Zombie-Hasen garantiert. Zombie-Hasen… er war echt verrückt… aber zumindest in diesem Grad war er es wahrscheinlich schon vorher gewesen. Oder wollte der nur wieder etwas wegen seiner Kack-Steine? Hatte seine Mutter ihn etwa vom Grundstück gejagt? Zuzutrauen wär’s ihr. Aber das war sein Grundstück – und nicht ihrs. „Okay“, murmelte er. „Schicken Sie ihn rein.“ Die Krankenschwester schaute zwar verblüfft, aber spurte brav. Lerchenfels kam kurz darauf einmarschiert, recht geschmeidig für so einen Kasten von Mann, was ihn Cedric auch nicht wirklich sympathischer machte. „Hier!“ verkündete er und hielt Cedric ein ziemlich schiefes, buntes Bündel entgegen. „Das gehört sich doch so!“ Cedric starrte ihn wortlos an. Dieser Scheißer hatte ihm Blumen mitgebracht. Und nicht irgendwelche Blumen, nein, seine Blumen aus seinem Garten alias Steinfeld, eigenhändig ausgerupft, die armen Dinger. Ein Florist war an Lerchenfels definitiv nicht verloren gegangen. Aber immerhin rochen sie… nach zu Hause. Munter griff sich Lerchenfeld eine Krankenhaus-Vase – eventuell war das gar keine Vase… - goss Wasser aus dem Waschbecken im Bad in das Gefäß und stopfte seinen „Strauß“ hinein wie die Katze in den Sack. Wirklich ein ideales Geschenk für ihn, sie spiegelten seinen Zustand perfekt wieder, nur dass sie nicht kotzen konnten. „Danke“, murmelte er. „So etwas Scheußliches und Geklautes hat mir noch nie jemand geschenkt…“ „Aber gerne doch!“ strahlte Lerchenfels. „In Anbetracht der Tatsache, dass ich erst vor ein paar Tagen mit Volldampf gegen einen Menhir gebretzelt bin, wäre ich dankbar, wenn Sie sich kurz fassen würden“, würgte er heraus. „Klaro!“ nickte Lerchenfels und machte mal wieder einen auf tumber Barbar, aber die Nummer kaufte er ihm nicht mehr ab. „Wer kümmert sich eigentlich um Sie, wenn man Sie hier wieder rausschmeißt?“ fragte er freundlich. Cedric kniff die Lippen zusammen. „Ich komme allein klar, ich bin nicht drei!“ zischte er, so gut es sein Zustand erlaubte. „Sie sind ein wahres Wunder der Natur! Also mich hat vor zwei Jahren ein Pferd abgeworfen, dass ich einen Doppelsalto rückwärts gemacht habe – allerdings war die Landung nicht ganz olympiaverdächtig. Ein Shire-Horse, aber das ist Ihnen wahrscheinlich schnuppe. Jedenfalls mochte es mich nicht. Da hatte ich so ziemlich das, was Sie jetzt haben – mit dem Unterschied, dass ich zu Hause wen hatte, der mir etwas zu essen gemacht hat und notfalls den Arzt rufen konnte, wenn es kritisch geworden wäre.“ „Ihren untreuen Liebsten?“ presste Cedric hervor. Pfft… Treue… Heten-Gewäsch… aber er hatte gut reden, ihn ging das nichts mehr an. „Was wollen Sie überhaupt von mir?“ „Damals war er das noch nicht. Aber ich“, begann Lerchenfels zögerlich, während er brav schön weit weg blieb, „hatte das Vergnügen mit Ihrer Mutter.“ Cedric seufzte. „Sie hat kein Recht, Ihnen den Zugang zum Feld zu verwehren – genauso wenig wie ich…“, hob er an. „Nein, das ist es nicht!“ unterbrach ihn Lerchenfels. „Ich… muss völlig beknackt geworden sein… aber… Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie… dass sie Sie… nicht da lassen will, wo sie sein möchten. Auf ihrem Feld…“ Cedric schloss innerlich stöhnend die Augen. Eine weitere Woge des Kopfschmerzes klatschte über ihm zusammen. Seine Mutter hatte wirklich keine Zeit verloren. So direkt hatte sie das Lerchenfels garantiert nicht gesagt, aber sie war wohl deutlich genug gewesen, dass dieser eins und eins zusammen gezählt hatte. Und das konnte nur eines bedeuten, seine Mutter verplapperte sich nicht sinn- und zwecklos: Sie hatte Lerchenfels für ihre Ziele einspannen wollen. Ein Unbeteiligter, der vor Gericht bestätigte, dass er völlig verrückt und hilflos und latent gefährlich sei… perfekt, um ihm ihren Willen aufzuzwingen. Aber statt einen Deal zu machen, war Lerchenfels hier angedackelt gekommen… Warum? Um ihn in eine Falle zu locken… blöde irrationale Angst… Lerchenfels hätte ihn schon tausend Mal fertig machen können, keiner hätte es gemerkt. Vielleicht hätten sich die Leute im Dorf ein wenig gefragt, warum Kalteis nicht mehr über sein Feld lief, aber die hätten wahrscheinlich gefolgert, dass er abgedampft oder einer weiteren irren Idee gefolgt war… Stattdessen hatte ihn Lerchenfels artig ins Krankenhaus geschafft. „Das geht Sie doch alles gar nichts an!“ stemmte sich Cedric dagegen. Am besten sollte er jetzt die Schwester rufen und diese blonde Heimsuchung raus schmeißen lassen… Was mischte der sich ein, bitteschön? War doch nicht sein Bier. Und der trank garantiert nur Bier. „Stimmt. Tut es nicht“, gab Lerchenfels zu. „Aber… Ich weiß nicht, es stinkt mir, wenn jemand gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden soll. Ich habe ja eigentlich keine Ahnung… aber Sie kommen mir nicht wie jemand vor, der das nicht selber entscheiden kann, oder? Wenn sie auf ihrem Feld sein wollen, dann können Sie das doch machen… Vielleicht begehe ich hier auch gerade eine Riesendummheit… Aber ich kann nicht einfach danebenstehen…“ Cedric musterte ihn misstrauisch. Die blauen Augen waren auf ihn gerichtet und sahen ihn zögerlich an. „Was wollen Sie?“ fragte er erschöpft. „Ich… naja, ich brauche ja jemanden für die Vermessungen…“, murmelte Kunibert. „Und Sie haben den Dreh echt raus.“ „Das ist doch Blödsinn! Sie brauchen mich kein Stück! Sie tun das nur, weil Sie anscheinend wirklich so beknackt sind, wie Sie es gerade erläutern! Ich will kein Mitleid!“ protestierte Cedric, Übelkeit in sich aufwallen fühlend. „Tut mir leid… Ich meine das nicht herablassend… und Mitleid hat noch nie jemandem geholfen, das ist es nicht. Ich biete Ihnen meine Hilfe. Schieben Sie es auf egoistische Gründe: der wahnsinnige Wissenschaftler will eben weiter machen, wie wär’s damit? Oder schlechtes Gewissen: Ich nerve Sie wegen der Steine, da habe ich noch was gut zu machen?“ schlug Lerchenfels vor. Fassungslos starrte Cedric ihn an. Der war echt übergeschnappt, klarer Fall! Das brachte dem doch gar nichts, oder? Hilfe… erwuchs aus Verpflichtungen… und Lerchenfels war ihm in nichts verpflichtet. Heckte der irgendetwas aus? Aber was denn, das machte doch überhaupt keinen Sinn! Und außerdem… war der immer noch ein schwuler Riesenkerl… „Nein“, erwiderte Cedric und schloss die Augen. Lerchenfels atmete tief durch. „Ich… mache Ihnen Angst…?“ fragte er vorsichtig – statt einfach abzuhauen. Cedric kniff die Lippen zusammen und schwieg. Er wusste selber, wie irrational das war, Lerchenfeld hatte nichts getan, das das begründet hätte – eher in Gegenteil. Aber diese Erkenntnis brachte rein gar nichts. „Ich weiß… dass es egal ist, wenn ich das von mir weise… Das bringt nichts, oder…? Aber was wird aus Ihnen? Gibt es vielleicht jemand, dem Sie vertrauen, den ich rufen kann?“ fragte Kunibert. Cedric schüttelte erschöpft den Kopf. Sicher, sie würden kommen und ihm helfen – nach ihren Vorstellungen, nicht nach seinen genau wie seine Mutter. Und Etienne… das wäre noch unerträglicher als dieser fremde Typ da drüben. Aber das reichte nicht… „Sie… könnten doch eine Pflegerin bezahlen…?“ versuchte sich Kunibert weiter. Der Gedanke war ihm natürlich auch schon gekommen. Aber das wäre wie ein Eingeständnis. Schlimmstenfalls wartete seine Mutter nur darauf. „Ich will niemanden“, sagte er dumpf. Lerchenfels atmete tief durch. „Kalteis… Wenn Sie alle Hilfe verweigern, liefern sie nur Munition für die Kanonen derer, die Sie von Ihrem Feld jagen wollen. Und Sie riskieren ihre Gesundheit, Ihr Leben, wenn nachts etwas ist und Sie es nicht schaffen, Alarm zu schlagen oder so…“ Dieses Arschloch! Dieses dämliche Wildblumen klauende Arschloch! Wenn er nicht so verflucht Recht hätte! Er war im Eimer, er musste das Bett hüten, und es konnte immer etwas sein, bei dem er es nicht zum Telefon schaffen würde… und wenn, dann würden wieder Fremde kommen… in sein Heim… und er wäre noch hilfloser… und die Klapse wäre nicht mehr fern… Was sollte das? Was kümmerte den das so sehr? Die Befindlichkeiten Fremder waren doch egal… so hatte er es immer gehalten… und siehe, wohin ihn das geführt hatte. War das so einer, über den Etienne und er sich früher kringelig gelacht hatten…? „Ich will nicht in die Anstalt. Und ich will auch nicht verrecken. Alles, was ich will, ist endlich wieder meine Ruhe!“ stellte er so beherrscht dar, wie es ging. „Und ja, Sie haben Recht, Sie machen mir zuweilen Angst – wenn Sie nicht gerade in Scheiße fallen – und das ist nicht besonders logisch, denn Sie haben mir nichts getan nach landläufiger Auffassung. Aber… Sie wissen ja, mir ist etwas passiert… Etienne hat es ja laut und deutlich übers Feld gebrüllt, als Sie ihre Lauscher offen hatten, und meine Mutter hat das bestimmt auch nicht übergangen. Und das waren… ganz „normale“ Leute… Männer… von Ihrem Kaliber, wenn auch nicht ganz so. Nicht Sie. Aber wie Sie. Sie erinnern mich an Sie. Ich kann das nicht…“ „Das waren… Fremde?“ fragte Lerchenfels vorsichtig. „So halbwegs“, murmelte Cedric. „Ich kannte sie… oberflächlich…“ „Mmm…“, überlegte Lerchenfels. „Dasselbe trifft wohl auch auf mich zu… Ich kann nun mal nicht schrumpfen… Aber ich kann… was fänden Sie witzig?“ „Was?!“ fragte Cedric verdattert. „Sie fanden es doch saukomisch, als ich in die Scheiße gedonnert bin. Was fänden Sie noch komisch?!“ wollte Lerchenfels wissen. „Weiß nicht…“, nuschelte Cerdric planlos. „Ich bin eigentlich nicht so der Slapstick-Fan…“ „Na kommen Sie… Schadenfreude ist doch die beste Freude… Warten Sie… können Sie das?“ meinte Lerchenfels, fing plötzlich fürchterlich an zu schielen und parallel mit den Ohren zu wackeln. Der war wirklich vollkommen bescheuert… Himmel… sah das Scheiße aus… der wollte ihn doch nur ködern, damit er sich in Sicherheit wiegte… Aber das war doch Quatsch, die anderen hatten ihn einfach rückwärts in ein Auto gezerrt und ihn gefesselt, und Lerchenfels hatte auf dem Feld tausend Möglichkeiten gehabt… solange der Auslöser nicht kam… und den durfte er nicht bieten, nie wieder irgendwem… dennoch… die schiere Präsenz des anderen… „Bringt nicht viel, oder?“ fragte Lerchenfels, wieder geradeaus guckend. „Geht so“, murmelte Cedric. „Ich bin doch sowieso da… auf dem Feld“, grübelte Lerchenfels. „Kann ich nicht irgendetwas machen…? Was wäre… wenn Sie die Oberhand hätten…?“ „Häh?“ fragte Cedric ratlos. „Wenn Sie wüssten, dass ich Ihnen nichts kann… nicht bloß theoretisch, sondern praktisch?“ puzzelte Lerchenfels weiter. „Wie zum Geier soll das denn gehen?“ fragte Cedric irgendwo zwischen der Erkenntnis, dass der andere ihm an Wahnsinn graduell offensichtlich in nichts nachstand, und einem Hauch von Neugierde. „Naja… würde es Sie beruhigen, wenn Sie mir eins verpassen könnten, wenn Sie das für angemessen hielten?“ brütete Lerchenfels weiter. Cedric war versucht zu lachen, aber davon würde ihm schlecht werden. „Sicher, ich lasse mich zum Ultimate Fighting-Champion ausbilden über Nacht, kein Problem. Mir ist sowieso gerade total nach Training…“ „Nein, das meine ich nicht. Aber ich könnte was basteln… sowas kann ich gut… ein Knopfdruck von Ihnen und ich bekomme einen Schlag?“ schlug Lerchenfels allen Ernstes vor. „Wer sind Sie? Dr. Mabuse? Das ist doch völlig hirnrissig!“ stellte Cedric klar. „Würde es denn helfen?“ fragte Lerchenfels. „Öh… na ja… Sind Sie Masochist oder so…?“ erwiderte Cedric, allmählich das Gefühl habend, in einem völlig irren Schwank gelandet zu sein. „Nein. Und wenn Sie das nutzen sollten, um mit mir „Greenhorn spring!“ zu veranstalten, kann ich immer noch abhauen. Aber wenn Sie… Probleme mit meiner physischen Präsenz haben, dann wäre das vielleicht eine Möglichkeit…?“ blieb Lerchenfels weiter auf Kurs. „Sie sind ja völlig des Irrsinns!“ protestierte Cedric. „Und was ist, wenn ich schlafe und Sie deswegen zeitweise nicht rösten kann?!“ „Wir könnten etwas Offizielles hinterlassen, dass jemand informiert ist, dass ich mich um Sie kümmere? Der das regelmäßig kontrolliert, dass alles in Ordnung ist… ein Anwalt oder so, der regelmäßig angerufen wird? Okay… die absolute Sicherheit lässt sich so auch nicht erzielen, aber die gibt es nicht im Leben…“, sann Lerchenfels weiter. Cedric konnte ihn nur anglotzen. Der meinte das ernst. Er kannte sich wirklich aus mit Lügnern und Leuten, die ihn bequatschen wollten – aber der da meinte diesen ganzen Schwachsinn wirklich ernst. Von welchem Planeten kam der bitteschön?! Das war seine Alternative zur familiär verordneten Klapse?! Was hatte er dem Schicksal bloß getan… Lerchenfelds Aussehen schlug genau in die Kerbe… sein Verhalten weniger, das passte irgendwie zu gar nichts, das Cedric kannte. Klar denken… was war schlimmer… Anstalt oder der da… Anstalt war real, Lerchenfels im Killer-Modus weniger, aber das bekam sein Hirn nur partiell hin… Wer war Lerchenfels? Oder eher: Was war er? Konnte er das? Wäre es das Risiko wert…? Die Psychiatrische war eine konkrete Bedrohung, bei Lerchenfels war er sich nicht sicher, da kämpften Vernunft und Gefühl. Leute, die sich von ihren Gefühlen leiten ließen, hatten früher auch auf den ersten Plätzen seiner Spott-Liste gestanden, aber jetzt wusste er nur zu gut, wie das war. Er hatte diese alles beherrschende Panik und konnte sie nicht stoppen, wenn sie ausbrach. Lerchenfels hatte es bisher nicht fertig gebracht, ihn total ausrasten zu lassen, wessen Verdienst war das? Wenn er ihn doch immerhin irgendwie zu fassen bekäme… aber bei Lerchenfels passte irgendwie nichts so recht zusammen, zumindest so, wie er das kannte. Konnte natürlich sein, dass Lerchenfels auch eine Störung hatte – der mit seinem Steine-Fetischismus… aber auf jeden Fall war er damit bisher wohl durch gekommen. Aber wenn er das zuließe, würde er ihn mehr oder minder an sich heranlassen müssen… Er würde in Reichweite sein müssen, falls etwas wäre… Er konnte ihn schlecht im Keller einsperren – oder sich – das würde im Ernstfall ziemlich kontraproduktiv sein… Jemand in seinem Haus… der da… war der so ein Ich-Kämpfe-für-die-Gerechtigkeit-Supergermane oder ein Ich-hau-dich-ganz-besonders-raffiniert-in-die-Pfanne-Supergermane? Weder Gefühl noch Verstand kamen da zu Schlussfolgerungen. Er sah zu ihm hinüber. Lerchenfels stand ruhig da und musterte seinen Horror-Strauß. Cedric räusperte sich. „Ich… weiß nicht“, sagte er wahrheitsgemäß. „Ich will das nicht, aber ich habe auch gerade nicht die Wahl zwischen Nektar und Ambrosia. Vor allem weiß ich nicht, ob ich das kann – ihre Irrsinnsvorschläge mal zur Seite lassend.“ Lerchenfels nickte. „Denken Sie drüber nach. Ich gebe Ihnen meine Handynummer, dann können Sie mich erreichen, wenn Sie zu einer Schlussfolgerung gekommen sind, oder ich noch irgendetwas anderes für sie tun oder organisieren soll.“ „Okay“, nuschelte Cedric und sank benommen in die Kissen, als der andere endlich wieder durch die Tür trat. ………………………………………………………………………………………………. Kunibert konnte nur über sich selber den Kopf schütteln, während er die Krankenhausgänge in Richtung Ausgang durchschritt. Was tat er da eigentlich? Sich einmischen… aber leider tat er das gerne, war ja nicht das erste Mal, dass er irgendwo die Nase hinein steckte, das ihn direkt nichts anging, das er aber dennoch nicht einfach ignorieren konnte. Kalteis mochte zwar auf den ersten Blick eine ziemliche Giftspritze sein, aber ihm war Unrecht widerfahren… und jetzt sollte es wieder geschehen, indem man ihm noch das wenige nahm, das er noch hatte. Eine Therapie oder so dürfte ihm vielleicht wirklich guttun, aber darüber musste er doch selber entscheiden, so daneben war er doch nicht, dass er das nicht konnte? Oder maßte er selber sich hier etwas an, weil er das gar nicht beurteilen konnte? Doch eines wusste er schon: helfen konnte man nur dem, der auch Hilfe wollte. Kalteis in irgendeine Anstalt zu stecken würde da wohl gar nichts bringen – und er tat ja niemandem etwas dort auf seinem Feld, konnte sich sehr wohl selber versorgen, wenn er nicht gerade krank war… Aber das galt für viele Menschen, nicht nur für die psychisch lädierten. Sicher wäre das kein Herkulesakt für ihn, ein Auge auf den anderen zu haben und ihn ein paar Tage zu versorgen, schließlich hing er sowieso da rum. Doch für Kalteis dürfte es das sehr wohl sein. Da half es wahrscheinlich gar nichts zu beteuern, dass er keine Gefahr darstellte – warum sollte Kalteis ihm das schon abnehmen? Das war wahrscheinlich keine Frage der Logik, sondern des Vertrauen-Könnens, und um das schien es bei Kalteis nicht gerade gut bestellt zu sein. Mehr als das, was er gerade tat, konnte er wohl nicht machen. Es ihm anbieten… Himmel, war er bescheuert geworden…? Was hatte ihn geritten, dass mit dem Elektroschock-Teil vorzuschlagen? Irgendwie war er so in der Sache drin gewesen, dass es aus ihm heraus geblubbert war. Vielleicht wäre es doch besser, wenn Kalteis ihn zur Hölle jagte… Kapitel 9: Freundschaft geht durch den Nagetierkäfig ---------------------------------------------------- IX. Freundschaft geht durch den Nagetierkäfig Als Cedric die Augen wieder aufschlug, war erneut jemand da. Jemand, der nicht um Einlass gebeten hatte. Jemand, den er nicht kannte. Und seine Mutter. Am liebsten hätte er sich einfach weiter schlafend gestellt, aber dazu war es zu spät, sie hatten bereits mitbekommen, dass er die Augen geöffnet hatte. „Cedric!“ stieß seine Mutter aus. Er starrte sie an. Gediegener Schick vom Feinsten, die Frisur wie mit Zement fixiert… wie immer. „Was willst du hier!“ wollte er mir rauer Stimme wissen. „Ich denke, ich war deutlich! Warum haben die vom Krankenhaus dich rein gelassen… und wer ist das da überhaupt?“ wollte er wissen, in Richtung der unbekannten Frau schielend. Ihn beschlich ein äußerst ungutes Gefühl, wenn sein verdammter Kopf nicht so brummen würde… „Das ist Richterin Leclerc“, stellte seine Mutter ihm die Fremde vor. Das ungute Gefühl verwandelte sich in eine ungute Gewissheit. Die hatte wirklich keine Zeit verloren, verdammt. Er grüßte sie murmelnd, während seine Gedanken Tango tanzten. „Monsieur Kalteis. Ihre Familie scheint sehr besorgt um Sie… Mir liegt ein Antrag vor, dass Sie zunächst vorübergehend gegen Ihren eigenen Entschluss in eine psychiatrische Klinik überwiesen werden sollen. Bevor ich dergleichen in Erwägung ziehe oder ein Gutachten einfordere, wollte ich mich aber zunächst selber von der Situation in Kenntnis setzten – und mir ein Bild machen. Ich wurde auf die Dringlichkeit aufgrund ihres Zustandes hingewiesen – meinen Sie, dass Sie in der Lage sind, mir ein paar Fragen zu beantworten?“ Cedric nickte verbissen. Was blieb ihm auch. „Ich möchte, dass meine Mutter das Zimmer verlässt“, presste er hervor. „Aber…“, protestierte sie, doch die Richterin ließ sie nicht zu Worte kommen. „Wenn Monsieur Kalteis das möchte, dann müssen Sie seinem Willen entsprechen. Sein Rechtsstatus steht zwar zur Disposition, ist aber zur Zeit nicht eingeschränkt“, informierte sie sie nüchtern. Seine Mutter nickte mit ausdruckslosem Gesicht und erhob sich: „Ich will doch nur dein Bestes, Cedric…“, warf sie ein, doch er schenkte sich die Antwort. Kaum war die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen, wandte sich Leclerc wieder zu ihm. Sie hatte eine ganz schön spitze Nase. „Nun, Monsieur Kalteis, was sagen Sie denn zu dem Ansinnen Ihrer Familie?“ wollte sie wissen. Er seufzte. „Sie wollen mich standesgemäß wegschließen“, erwidere er. „Sie sind informiert, was die Vorgeschichte angeht?“ Gnädigerweise nickte sie nur, ohne es auszusprechen. „Ich habe beschlossen, mein Leben zurückgezogen zu führen. Ich war ja in Behandlung… aber das hat nichts gebracht. Hier ist es… in Ordnung. Kann sein, dass ich einmal meine Meinung ändere, das weiß ich nicht. Aber ich gefährde niemanden und störe niemandem in einem Maße, dass die geschätzte Allgemeinheit Maßnahmen ergreifen müsste“, machte er klar. „Was ist mit Ihnen selber?“ bohrte sie nach. „Ich kann mich selbst versorgen, das ist kein Problem. Was das andere angeht… das kann man nicht erzwingen, indem man mich einfach in eine Anstalt steckt. Ich bin, wo ich sein will – und kann“, erklärte er. „Und was ist jetzt? Sie leben isoliert, bräuchten aber Pflege?“ wandte sie fast sanft ein. Cedric schluckte. Hieran hing es, verdammt. Ein alles weg beißender Irrer, der sich so selbst lebensunfähig machte, hatte keine guten Karten in diesem Spiel. „Na ja“, hob er an. „So allein bin ich ja gar nicht. Vor meinem Unfall habe ich gemeinsam mit einem deutschen Prähistoriker Vermessungsarbeiten an den Menhiren auf meinem Grundstück durchgeführt. Sie können das gerne überprüfen, er wird das bestätigen, und die Leute aus dem Dorf dürften uns auch gesehen haben… Bauer Beauchamps zum Beispiel.“ Gepriesen sei die Kuh! Überrascht sah sie ihn an. Gut… das hatte seine Sippschaft nicht auf dem Plan gehabt. Dass dieser Sozialkontakt nicht gerade freiwillig zustande gekommen war, mochte zwar auf einem anderen Blatt stehen – doch das würden die nicht zu sehen bekommen. „Und wie sieht das mit ihrer Versorgung nach dem Krankenhausaufenthalt aus?“ fragte sie ihn. Cedric knirschte innerlich ein wenig mit den Zähnen. Keine… das ging nicht. Professionelle gegen Geld… das war schon ein Zeh in der Anstalt… aber… „Öh… Herr Lerchenfels… der Historiker… wir haben uns ein wenig angefreundet“, hörte er sich lügen. „Er ist so nett, mir da zu helfen, er ist ja sowieso die ganze Zeit da.“ „Aha“, nickte sie. „Das werden wir leider überprüfen müssen“, stellte sie klar. „Verstehe“, murmelte Cedric. Scheiße, was band er sich denn da gerade ans Bein… das ging doch niemals, ohne in einer Riesenkatastrophe zu enden… aber die Alternative war wahrscheinlich noch deutlich realer als seine verdammte Angst… Er würde eingehen, wenn die ihn da hin schleppten… Und Lerchenfels… selbst wenn seine Panik Recht hatte… lieber kurz und schmerzvoll als endlos und ebenfalls schmerzvoll in einer Anstalt dahin zu vegetieren… oder? Einmal da drin würden die ihn garantiert nie wieder raus lassen… oder bildete er sich das auch nur ein? Genauso wie Lerchenfels sinistere Motive? Stell dir einfach vor, wie er in die Scheiße gefallen ist… so ähnlich wie das mit der Atemtechnik… einfach das Bild beschwören… Aber so einfach war das auch nicht. Es mochte gehen, wenn Lerchenfels brav blieb. Das allerdings konnte keiner garantieren, auch Lerchenfels selbst nicht. Aber klein bei geben? Die Angst alles diktieren lassen? Hatte er jetzt schon Angst vor der Angst? Er war doch nicht nur das… er konnte doch auch noch denken… ein wenig… und entscheiden… noch… das wollten die ihm aber fort nehmen. Wenigstens wäre Lerchenfels seine eigene Entscheidung – die zwischen Teufel und Beelzebub. Warum konnten die ihn nicht einfach alle in Ruhe lassen? Weil er leider nicht allein auf der Welt war, deshalb wohl. Und sein Grundstück mit dem Steinfeld lag leider mittendrin und nicht in einer anderen Dimension, auch wenn einige Esoteriker das vermuten mochten. Egal, wie weit man laufen mochte, weit genug war es nie… Die Richterin verabschiedete sich, er rief die Schwester und wies sie an, seine Mutter ja nicht noch mal rein zu lassen, dann langte er erschöpft nach dem Telefon. Zwei Jahre Frieden… und jetzt das. ………………………………………………………………………………………………… „Lerchenfels?“ meldete sich Kunibert und setzte sich auf einen der in der Sonne liegenden kleinen Menhire am Rande des Feldes. „Kalteis“, kam es von der anderen Seite. „Oh“, konnte Kunibert nur überrascht erwidern. „Ich hab’s mir überlegt“, fuhr der andere fort, bevor er sich recht besinnen konnte. „Können Sie nachher vorbei kommen, wenn Sie auf dem Feld fertig sind?“ „Sind da nicht schon die Besuchszeiten vorbei?“ wandte Kunibert irritiert ein. „Nicht, wenn man in der Luxus-Suite liegt. Bis später“, sprach’s und legte auf. Verwundert starrte Kunibert das Telefon an. ………………………………………………………………………………………………… Mit etwas gemischten Gefühlten trat Kunibert kurz nach halb sechs Uhr in Kalteis Krankenzimmer. Der Patient war wach und starrte ihm bereits entgegen, als wolle er ihn röntgen. „Was? Keine Blumen?“ beschwerte er sich. „Nicht gierig werden…“, mahnte Kunibert und blieb der Tür stehen. „Also, was ist los?“ wollte er wissen. Cedric nagte kurz an seiner Lippe, dann sagte er: „Ich nehme Ihr Angebot an.“ „Ah…“, erwiderte Kunibert. „Ich muss, verstehen Sie? Wollen ist etwas ganz anderes. Meine Mutter hat mir bereits die Justiz an den Hals gehetzt. Wenn ich denen nicht klar machen kann, dass sich mein… Problem im Rahmen hält und dass ich nicht als arme, einsame Wurst stur vor mich hin verrecke deswegen, dann war’s das. Wie schön, dass wir beide so dufte Kumpels sind“, brachte Cedric stöhnend hervor. Kunibert ließ sich auf den Besucherstuhl in gebührendem Abstand sinken. „Okay“, sagte er. „Ich habe es Ihnen angeboten, und ich ziehe das Angebot nicht zurück. Versuchen wir uns soweit zu arrangieren, dass das irgendwie geht. Ich kauf schon mal Teile für den Schocker…“ „Nein!“ fuhr Cedric auf. „Wenn das raus kommt, geht’s ab in die Klapse – und zwar für uns beide! Gibt es nicht irgendetwas anderes…“ „Eine Sonde im Hirn? Da bin ich dann doch überfordert“, gab Kunibert zu bedenken. „Wovor haben Sie Angst?“ wollte Cedric wissen. „Uff… das Übliche… dass meiner Familie etwas passiert… und vor Nagetieren“, beichtete Kunibert. „Nagetiere?“ wiederholte Cedric entgeistert. „Mir wird ganz anders, wenn ich die sehe. Ekel, Panik, ich weiß nicht. Schon der Gedanke, einen Hamster zu kraulen… arg!“führte Kunibert aus. „Hamster sind auch Einzelgänger, die mögen es auch nicht, angetatscht zu werden“, belehrte ihn Cedric. „Da bestand sowieso nie die Gefahr. Oder Mäuse! Ratten! Chinchillas… davon rollen sich mir die Zehennägel hoch, keine Ahnung warum. Ich weiß, das klingt albern, aber das ist einzig Greifbare, dass mir den kalten Schweiß aus die Stirn treibt und Fluchtreflexe bei mir auslöst“, gruselte sich Kunibert. „Aber vergleichbar ist es dennoch wohl kaum…“ „Elefanten haben ja auch Schiss vor Mäusen… Besser als nichts. Aber ich will das prüfen!“ forderte Cedric. „Wollen Sie mich über Nacht versuchsweise in einem Kellerverließ voller Hamster einsperren?! Nur über meine Leiche!“ protestierte Kunibert bleich. „Nein… das wohl besser nicht. Nagetiere… also wirklich… Aber ich muss sicher sein, dass Sie mir keine Märchen erzählen… mmm…“, grübelte Cedric. „Moment!“ unterbrach ihn Kunibert. „Haben Sie einen Internetanschluss hier im Zimmer?“ „Äh, ja…“, antwortete Cedric verwirrt. Kunibert langte in seinen Rucksack und zog seinen Laptop heraus. Er schaltete ihn an und begann zu hantieren. Cedric ließ sich derweil in die Kissen fallen, innerlich etwas betäubt. So skurril das hier auch sein mochte, er fühlte sich von der ganzen Sache überrollt wie von einem laut tuckernden Zug, vor den er sich selbst gestellt hatte, um mal zu schauen, ob der wirklich anhalten würde statt einen zu überrollen, wenn man nur fröhlich genug winkte. Er zuckte kurz zusammen, als aus den billigen Lautsprechern des Gerätes eine Stimme erklang. Sie war weiblich, und sie sprach Deutsch. „Was‘n los, Bruderherz?“ sagte sie. „Äh, hallo Frida, gut dass ich dich erwische“, erwiderte Kunibert. Frida? Immerhin nicht Freya… „Könntest du dich kurz mit jemand unterhalten…? Mag dir komisch vorkommen, aber antworte ihm einfach ohne Rücksichtnahme auf mich, okay?“ „Was ist denn bei dir kaputt?“ kam die Stimme wieder. „Ist dir einer deiner Steine auf die Birne gefallen?“ „Tu’s einfach, okay?“ bat sie Kunibert. „Okay…“, antwortete die Frau mäßig überzeugt. „Meinetwegen – aber ich erwarte beizeiten eine Erklärung von dir, die halbwegs Sinn macht.“ „Ich werde mich bemühen… okay…“, murmelte Kunibert, angelte aus größtmöglichen Abstand den von Rollen getragenen Nachttisch heran, platzierte den Laptop darauf und schubste die ganze Angelegenheit zu Cedric hinüber. „Meine Schwester kann allerdings nicht so gut Französisch“, merkte er an. Cedric rappelte sich auf so gut es ging. Einfach mal mitmachen… „Ich kann auch Deutsch“, murmelte er und griff sich das Gerät. Er war zweisprachig aufgewachsen, aber sein Deutsch hatte dennoch einen leichten Akzent, gerade wenn er abrupt wechselte. Die Frau, die auf dem Bildschirm zu sehen war, sah aus wie eine weibliche Version von Kunibert. Sie trug ein weites Männerhemd, ein dicker blonder Zopf baumelte über ihre rechte Schulter herab, fehlte eigentlich nur noch die Mistgabel. Das war also eine richtige Hardcore-Pferdetussi. Mit dieser Spezies hatte er es noch nie zu tun gehabt, aber er war ja stetig dabei, seinen Horizont zu erweitern. „Äh… hallo“, grüßte er. „Hallo“, grüßte sie ihn zurück und musterte ihn mit scharfem Blick. Oben am Laptop war eine Kamera eingelassen, sie dürfte ihn also wohl auch sehen. „Schicker Verband“, kommentierte sie. „Ja“, murmelte er. „Bin gegen einen Stein gerannt.“ „Das kommt vor“, sagte sie ungerührt. „Ich bin Frida Lerchenfels“, stellte sie sich vor. „Cedric Kalteis… mir gehört das Steinfeld, an dem Ihr Bruder gerade arbeitet… öhm... Okay, das hier ist total gaga, aber was soll’s: Was würde passieren, wenn ich ihrem Bruder eine Ratte in die Frühstücksbrotbox packen würde. Eine lebende Ratte“, setzte er an. Kurz sah sie ihn entgeistert an, dann begann sie zu lachen, als tränke sie ausschließlich Whiskey. „Sagen Sie mir um Himmels Willen Bescheid, wenn Sie das machen, das muss ich sehen! Nicht, dass ich sadistisch veranlagt wäre – aber Sie hätten ihn mal sehen sollen, als er beim Werkeln ein Mäusenest in der Garage gefunden hat. So süße Mäusebabies… und so ein großer, kreischender Kerl… Geht es darum? Dass Sie Kunibert nicht abnehmen, dass er diese total alberne Macke hat? Verständlich, so sieht er auch nicht aus. Schubsen Sie ihn im Zoo ins Tigergehege, kein Problem – aber bloß nicht in den Kleintier-Streichelzoo! Sieht zwar lustig aus, aber er beginnt echt zu hyperventilieren und grün zu werden. Nie konnte ich einen Hamster haben, weil er so eine Nager-Memme ist. Ich glaube, er denkt immer, die würden ihm die Zehen abknabbern, wenn sie nur die Chance bekämen… oder planen eine Invasion der Erde… oder so. Habe ich ihn jetzt genug blamiert?“ „Äh… schon ganz gut“, bedankte sich Cedric. „Aber was zur Hölle treiben Sie beide da eigentlich, dass Sie mir deswegen auf den Keks gehen?“ wunderte sie sich. „Das ist… kompliziert… Ich gebe Sie mal zurück… Tschüß!“ drückte sich Cedric. „Nun gut, auf die Geschichte bin ich echt gespannt! Gute Besserung Ihnen… beiden“, verabschiedete sie sich. Cedric legte den Laptop wieder ab. „Okay“, sagte er. „Das kann natürlich auch Fake sein…“ „Sicher“, erwiderte Kunibert erschöpft. „Aber sonst fällt mir auch nichts mehr ein, tut mir leid. Was Angst angeht, spiele ich da wohl in einer anderen Liga. Der Deppen-Liga wahrscheinlich.“ „Sie glauben echt, die würden Sie annagen?“ hakte Cedric nach. „Ja“, murmelte Kunibert. „Einige tun das echt – so fette Ratten… Aber der Rest… auch die haben diese fiesen Zähne. Machen einen auf niedlich, aber…“ „Schon kapiert. Wenigstens etwas, das ich nicht habe. Nager-Angst… pfft“, sann Cedric. „Und wie… machen wir das jetzt?“ fragte Kunibert. Cedric ließ sich in die Kissen sinken. „Übermorgen komme ich hier raus, wie es aussieht. Ich muss natürlich weiter zur Kontrolle, der Verband muss gewechselt werden, ansonsten brauche ich meine Ruhe.“ „Klar“, nickte Kunibert. „Ich kann Sie fahren, kein Ding.“ „Aber ansonsten… Sie müssen ja in der Nähe sein, falls etwas ist… und dann… dürfen die Türen auch nicht zu sein“, würgte Cedric zwischen Pragmatismus und dem Schrecken der Erkenntnis heraus. „Sie sagen, wo ich hin darf und wo nur, wenn ein Notfall vorliegt“, bestätigte Kunibert. Das würde im Ernstfall zwar auch nichts bringen, aber das hier würde nur funktionieren, wenn er nicht chronisch vom Verrat in jeder Sekunde ausging. Leichter gesagt als getan. „Sie bleiben… im Erdgeschoss. Da ist ein Zimmer… wird nicht benutzt… ist aber kein Bett drin“, murmelte Cedric, sich zur Planung zwingend. Oh Gott, er war wirklich im Begriff, den da in sein abgesichertes Refugium zu lassen… „Aber… ich mache eine Liste und gebe Ihnen Geld, damit Sie die notwendigen Sachen besorgen…“ Davor, beklaut zu werden, hatte er ausnahmsweise keine Angst. Selbst wenn – das konnte er verschmerzen. „Wie kriege ich denn mit, wenn oben etwas ist?“ fragte Kunibert vorsichtig. Cedric überlegte kurz, während sein Schädel fröhlich brummte. Das hier war auch nicht gerade die Ruhe, die er brauchte, aber ansonsten bekäme er mehr Ruhe, als er sich wünschte – in einem schicken Anstaltszimmer. „Babyfon“, sagte er schließlich. „Okay“, stimmte Kunibert zu. „Ich… ich mache eine Liste und organisiere Kohle und gebe sie Ihnen… besorgen Sie den Kram, bevor Sie mich hier aufsammeln… und dann… machen wir noch einen Halt im Zooladen“, meinte Cedric. „Oh Gott“, stöhnte Kunibert. „Sie müssen das nicht tun“, wies ihn Cedric hin. „Ich weiß. Aber es ist schon… okay. Solange ich sie nicht um mich habe“, ächzte Kunibert. „Wenn alles glatt läuft, bekommen Sie sie nie zu sehen“, versprach Cedric. „Hoffentlich“, murmelte Kunibert. „Und noch etwas… Ich habe denen gesagt, dass wir uns… angefreundet haben… als Erklärung“, beichtete Cedric. „Klar doch… Cedric“, begriff Kunibert. „Sympathie von der ersten Sekunde an… Kunibert“, erwiderte Cedric seufzend. „Nennt man S… äh, dich wirklich Kunibert?“ wollte er wissen. „Ja!“ machte der Angesprochene klar. „Das kommt aus dem Althochdeutschen und bedeutet: der durch die Sippe Glänzende“, wurde Cedric belehrt. „Ein echter Familienmensch also…“, kommentierte Cedric. „Also nix Berti oder Kuni!“ bestand Kunibert. „Und wie ist das bei… dir, wenn das hier plausibel rüber kommen soll?“ „Was mein Name bedeutet, ist unklar – könnte „der Freundliche, Liebenswerte“ bedeuten – oder auch „Herrscher des Krieges“, da gehen die Meinungen auseinander. Aber dennoch Gnade dem, der meinen Namen verballhornt!“ stellte Cedric klar. „Garantiert nicht – sonst lässt du noch die Hamster auf mich los!“ schwor Kunibert. Kapitel 10: Burg Kalteis ------------------------ X. Burg Kalteis Mit einem leichten Würgen in der Kehle versuchte Kunibert sein Bestes, sich auf die Straße zu konzentrieren. Cedric saß in der von ihm am weitesten entfernten Ecke der Rückbank und hielt eine Plastiktransportbox in der Hand, in der es entsetzlich rumorte. Der Herr der Steine, da saß er, die halbe Portion, ziemlich bleich um die Nase mit einem fetten Kopfverband und ins Leere starrenden Giftaugen. Trotz seines arg angeknacksten Zustands hatte er es sich nicht nehmen lassen, sich mit bezahnter Munition auszustatten. Cedric hatte schon vom Krankenhaus aus im Zooladen alles geordert, so dass die Verkäuferin ihnen einfach die Biester und Ausstattung ins Auto hatte reichen können, auch wenn die sich wahrscheinlich nicht schlecht gewundert hatte. Der Rest des Rücksitzes wurde vom neue erworbenen Käfig, einem Strohsack und Rattenspielzeug sowie –futter eingenommen. Das, was da raschelte, waren nach Cedrics Auskunft zwei Farbratten. Schon allein der Gedanke an diese ekelhaften fleischigen langen Schwänze… Hoffentlich büchsten die nicht aus! Cedric wirkte auf ihn auch nicht gerade wie der Heimtierkönig… Warum tat er sich das nochmal an? Ach ja, Cedric helfen… sich helfen zu lassen. Und Ratten waren eventuell besser als die Axt im Schädel, die Cedric schlimmstenfalls vielleicht auch zu bieten hatte… Nein, Cedric war nicht irre in dieser Form, er hatte bloß Angst… tausendmal mehr Angst vor den Schatten seiner Vergangenheit, als er vor den Ratten… und vor den Zeichen der Zukunft, die ihm auch noch seine Selbstbestimmung rauben wollten. Da konnte er auch mal diese grässlichen Viecher ertragen, wenn das Cedric ein wenig Sicherheit und Kontrolle vermittelte. Dennoch… Ratten! Trotzdem nicht besonders vernünftig – aber das war seine Faszination für die Hinterlassenschaften längst vergessener Kulturen auch nicht im landläufigen Verständnis. Und Cedric und die Steine… sie hingen irgendwie zusammen für ihn. Außerdem brachte ihn diese merkwürdige Erscheinung ein ums andere Mal zum Staunen, wie so etwas überhaupt möglich war. Cedric war wie eine Zeichnung von Escher – unglaublich detailreich, irgendwie surreal und nach den normalen Naturgesetzen eigentlich gar nicht möglich. Und bei Escher… gingen Treppen ins Leere, über Kopf, verschlangen sich illusorisch zu unmöglichen Kreisen, über die unermüdliche Armeen ziellos schlurften… so erschien ihm Cedric. Aber nichtsdestotrotz war er real, auch wenn er in seiner eigenen Welt zu leben schien. Ein Labyrinth ohne Eingang, ohne Ausgang, in das es ihn geworfen hatte. War er einmal gewesen wie seine kalte Mutter? Wer weiß… jetzt war er es nicht mehr. Das Auto war voll beladen, er hatte eine billige Matratze besorgt, Gott sei Dank litt er nicht an Rückenproblemen, und Babyfone, ein paar Nahrungsmittel – Cedric war noch auf Schonkost. Es war gegen elf Uhr vormittags, als sie schließlich den Pfad zum Haus einschlugen. Ein Auto, ein teurer dunkelblauer Mercedes, parkte bereits vor der verschlossenen Eingangspforte, die Cedric jetzt mit einer Fernsteuerung in seiner Tasche öffnete. Kunibert fuhr langsam hinein, fast hätte er erwartet, einen mit Drachen vollgestopften Burggraben zu Gesicht zu bekommen. Als er ausstieg, hörte er, wie leichte Schritte sich näherten. Er drehte sich um und erkannte Madame Kalteis, auch heute ein Abbild gediegener Eleganz. Kunibert trat diskret zurück, ohne gänzlich zu verschwinden, während der angeschlagene Cedric mit der Rattenbox in den Händen auf die Beine kam. Es mochte zwar angebracht erscheinen, ihm zu helfen, aber ihn anzufassen eher nicht. Er musste schleunigst wieder ins Bett, ein ungünstiger Zeitpunkt für eine Konfrontation. „Cedric, mein Liebling!“ sprach sie ihn an. Etwas Flehentliches lag in ihrer Stimme, so dass Kunibert sie fast doch wieder mochte. Völlig am Arsch vorbei ging ihr ihr Sprössling keineswegs. „Nein!“ sagte er nur etwas kraftlos ohne sie direkt anzusehen. „Nein!“ Dann drehte er sich um und schleppte sich zur Eingangstür. „Cedric, sei doch vernünftig! Du brauchst Hilfe! Lass dir helfen, bitte! Lass es heilen…“, versuchte sie, hilflos die schlanken Arme ausbreitend. „Nein!“ wiederholte er nur, ohne sich umzudrehen. „Was war, war. Es gibt keinen Weg zurück. Lasst mich in Ruhe, wenn euch an mir gelegen ist. Es geht mit gut hier, begreift das endlich.“ „Und wer hilft dir jetzt? Der da etwa?“ wollte sie wissen und deutete nicht gerade herzlich auf Kunibert, der das elegant an sich abprallen ließ und stattdessen den hoch fliegenden Schwalben zuguckte. „Ja“, antwortete Cedric kurz angebunden, während er begann, zittrig das Schloss zu öffnen. „Das ist ein Fremder! Und deine eigene Familie verstößt du! Lernst du denn gar nicht aus deinen Fehlern?“ rief sie ihm hinterher. Ganz kurz drehte er sich noch einmal um. „Du doch auch nicht“, erwiderte er nur, bevor er im Halbdunklen des Hauses verschwand. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Dann fuhr sie ruckartig zu Kunibert um. „Wenn Sie ihm etwas antun!“ zischte sie. „Bringe ich Sie um!“ Kunibert merkte, wie sich die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Das meinte die bierernst. Langsam schüttelte er den Kopf. „Ich weiß nicht, was hier geschehen ist“, sagte er langsam. „Und es geht mich auch nichts an. Ich will nur helfen. Und er lässt mich, zumindest ein bisschen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Sie haben es auf sein Geld abgesehen!“ beschuldigte sie ihn. War Cedric reich? Okay, ihm gehörte das Land, und er arbeitete auch nicht… „Ich bin kein armer Schlucker“, sagte er einigermaßen würdevoll, obwohl „reich“ auch etwas anderes war. Er brauchte ja auch nicht viel. „Und ich bin auch nicht sein neuer Freund, falls Sie das denken. Ich bin einfach nur… da.“ Sie fixierte ihn, dass Kunibert kurz überlegte, ob es jetzt angemessen sei, sich in Stein zu verwandeln. Vielleicht war das das Geheimnis der Steine… die Vorfahren der Kalteis‘ hatten hier Leute erstarren lassen, die ihnen nicht passten… Dann griff Sie in ihre exquisite Handtasche, zog etwas hervor. „Wenn etwas seien sollte… rufen Sie mich an!“ orderte sie, ihm ihre Visitenkarte in die Hand drückend. Er nickte verhalten. „Gnade Ihnen, wenn Sie meinem Sohn etwas antun. Er hat genug gelitten“, flüsterte sie, bevor sie sich grußlos fort drehte. Mit dem Grüßen schien es Familie Kalteis wirklich nicht so zu haben. Er seufzte innerlich, leicht den Kopf schüttelnd, um wieder halbwegs klar zu sehen, dann schritt er langsam in Richtung der Eingangstür, während irgendwo hinter den Bäumen das Auto verschwand, das sich nach ziemlich vielen Pferdestärken anhörten. Die ließen sich offensichtlich auch nicht gerade lumpen. Er trat ein und wurde fast von der grellen Beleuchtung geblendet. Cedrics Stromrechnung wollte er nicht haben, reichte wahrscheinlich für einen mittelgroßen Freizeitpark. Das Haus war in der Tat riesig, karg möbliert und vollgestopft mit Leuchtkörpern und Büchern. Schon allein das Wohnzimmer, in das er jetzt hinein linste, jede freie Wand war voll gepflastert mit Regalen, selbst auf dem Boden türmte es sich. Einen Fernseher gab es nicht, jedenfalls nicht hier. Cedric hatte Literatur studiert… aber sonderlich wählerisch schien er nicht zu sein. Das absonderlichste Zeug lag hier herum, kitschige Liebesschnulzen und Werke der Weltliteratur völlig wahllos übereinander getürmt. Es gab Bücher auf Französisch, Deutsch und Englisch, aber auch andere Sprachen tauchten ab und an auf, Italienisch, Spanisch… ob er das alles konnte? Das also trieb Cedric in den eigenen vier Wänden: Er hortete Bücher, eventuell las er sie sogar. Das würde er wohl schon noch erfahren. „Groß… aber mein“, kommentierte Cedric und ließ sich aufs Sofa sinken. Er sah scheiße aus, die Stippvisite seiner Mama dürfte ihn auch nicht gerade aufgeheitert haben. Irgendwie konnte Kunibert sie auch verstehen. Es musste grässlich sein, so vom eigenen Kind zum Teufel gejagt zu werden. Gab Cedric ihr irgendeine Schuld? Oder konnte er einfach nichts und niemanden ertragen, der ihn an sein altes Leben erinnerte? Das würde natürlich erklären, warum er hier war – im Gegensatz zu Madame Kalteis. „Soll ich dir… was holen?“ fragte er ein wenig planlos. „Wasser“, seufzte Cedric. „Die Küche ist gleich gegenüber. Ich bin müde…“ „Dann bleib kurz sitzen, sammel dich und dann geh pennen, ich sortier solange meine Unterlagen hier drüben, ist das okay?“ fragte er ihn. „Mmm“, murmelte Cedric. Er sah aus wie eine Marionette, der man die Fäden durchgesäbelt hatte und der mittlerweile fast alles egal war. So ungefähr dürfte er sich auch fühlen. „Kannst dir auch dein Zimmer einräumen…“ „Mmm, nachher, erst mal Ruhe“, antwortete Kunibert. Cedric hatte sein Schlafzimmer im ersten Stock, der für Kunibert tabu war, es sei denn, der Notfall trat ein. Wahrscheinlich würde ein solcher, via Babyfon ausgelöster Rettungseinsatz Kuniberts Ende bedeuten, eventuell hatte Cedric den Flur mit vietnamesischem Buschfallen vermient. Außerdem gab es noch so einen gruseligen Panik-Raum direkt im Flur. Aber ein Fremder erschien Cedric vertrauenserweckender als die eigene Sippe, erschreckend. Und es gab garantiert noch mehr davon als die Mutter… „Ich bin oben… Muss erst den Rattenkäfig fertig machen“, murmelte Cedric und verschwand rumpelnd im Flur. Wenigstens waren die Viecher dann außer Hör- und Sichtweite. Widererwarten erschien Cedric kurz danach erneut im Wohnzimmer. Wollte der ihn kontrollieren? Nein… er schlich die Bücherreihen entlang, zog Bände heraus und setzte sich mit dem Stapel auf dem Schoss auf den Sessel ganz weit weg von Kunibert. Dort blieb er sitzen und starrte auf seine Beute. Eine weitere seiner Routinen? Kunibert machte es sich im Schneidersitz auf dem Teppichboden bequem. Ein offener, von Fliesen gesäumter Kamin nahm die halbe Wand hinter ihm ein, wie es wie in Häusern wie diesen üblich war, aber er sah nicht so aus, als sei er in Betrieb. Dennoch war es recht warm hier, Cedric musste die Heizung laufen haben, aber nachts wurde es inzwischen ja auch durchaus kühl. Cedric mochte zwar alles technisch auf den neusten Stand gebracht haben, dennoch roch es leicht nach altem Gemäuer. Das also war Burg Kalteis – und der Drachen pennte gerade völlig erledigt weg und wahrscheinlich ganz und gar nicht freiwillig. Aber auch dem größten Ungetüm ging mal die Puste aus. ……………………………………………………………………………………………….. Cedric fuhr hoch, sein Herz wummerte, sein Kopf schmerzte, und es hing ihm etwas in der Speiseröhre, das eine Etage weiter unten deutlich besser aufgehoben wäre. Er quetschte sich über die Sofalehne und ließ ihm seinen Willen. Jetzt kotzte er schon auf den eigenen Teppich wie so ein verkackter Stubentiger - wie diese ewig unschuldig-fies glotzenden Türkisch Angora-Biester seiner Mutter. Oh Gott, da war jemand, da war echt jemand, und es roch… nach Essen. Ihm wurde noch schlechter. Schnelle Tritte, die ein gehöriges Körpergewicht verhießen, näherten sich ihm. Lerchenfels… Kunibert… das war nur dieser Idiot… mit dem noch idiotischeren Namen… den hatte er sich aufgehalst… dass hatte man davon, wenn man sich zu einem Dachschaden noch einen weiteren davon holte, indem man gegen einen Stein klatschte… Der tobte jetzt hier herum… und er hatte ihn rein gelassen… war er von allen guten Geistern verlassen? Leider ja. „Cedric?“ fragte der andere besorgt. „Alles klar hier!“ krächzte er. „Mir war nur gerade nach ein wenig kotzen – und der Teppich konnte auch echt mal ein neues Muster vertragen…“ „Ich hol mal nen Eimer und nen Lappen“, erwiderte Kunibert pragmatisch und dampfte wieder ab. Okay… der wischte sein Erbrochenes weg… statt… Ja, ist ja gut! Er wusste ja selber, wie irrational seine Reaktionen waren und dass Kunibert ihm anscheinend wirklich nicht an die Gurgel – oder sonst wohin - wollte. Und dass es auf den anderen ungerecht wirken mochte, dessen bezichtigt zu werden, zu entschuldigen nur durch seine Macke. Und solange er selbst bei Sinnen war, mochte es gehen. Musste es gehen, denn bei so einer Nummer wie eben… wenn ein Vogel an die Scheibe donnerte… oder einfach nur so… Aber es war trotzdem zum Kotzen, auch im übertragenen Sinne. „Äh… kannst du aufstehen… ich komm sonst nicht ran, ohne zu nah zu kommen?“ wurde er vom wieder erschienen und mit Putzkram aus seiner Küche beladenen Kunibert gefragt. Ächzend schob er sich nach oben. Er war hier echt eingepennt, obwohl dieser Typ hier rumsprang, er musste wirklich total im Arsch sein. Die Welt wackelte ein wenig, aber sie kippte nicht erneut um. „Ich geh nach oben“, presste er hinaus. „Babyfon steht angeschaltet auf dem Treppenabsatz“, wurde er informiert, während er sich wackelig hochstemmte. „Okay. Das Zimmer am Ende des Gangs ist deins“, hechelte er irgendwie, bevor er sich an den Gewaltmarsch – oder eher Gewaltkriech – Richtung Bett machte. Wonach roch das hier…? Irgendwie war er gleichzeitig hungrig wie geschüttelt vor Ekel vor etwas Essbaren. Irgendwie fettig…? Bratkartoffeln? Das wäre dem zuzutrauen… Als er wieder zu sich kam, ging es ihm etwas besser. Draußen war es stockfinster, dieselbe nervige Eule wie immer schrie nahe des Hauses, so dass man sie sogar noch dumpf hier drinnen hören konnte. Das Zimmer war hell erleuchtet, das hatte er gerade noch geschafft, bevor er wieder umgefallen war. Auf dem Nachtisch blinkte das blöde Babyfon, aber auf genau dem Niveau bewegte er sich wahrscheinlich gerade physisch. Unten war es still. Kunibert schnarchte wahrscheinlich wie ein Holzfäller und träumte von Burgen und Drachen. Er rappelte sich auf und ging mit knurrendem Magen und irrem Durst hinab gen Küche. Auf dem Treppenabsatz stand ein Tablett. Eine Flasche Wasser und eine Schüssel mit etwas, das stark wie ein Babybrei aussah. Na, ganz großes Kino. Wollte der ihn verarschen? Ne… er war doch auf Schonkost… Und es war bestimmt bedeutend angenehmer, diesen Kram wieder auszukotzen als ein paar Spare Rips – wegzuwischen wahrscheinlich auch. Mühsam hob er es hoch. Es sah aus wie weißer Schleim, aber es roch nach Banane. Scherzkeks. Als er seinen Durst gestillt und seine demütigende Mahlzeit in sich hinein gemümmelt hatte, legte er sich wieder aufs Bett. Er war dröhnig vom ständigen Liegen, nicht wirklich müde, eher döselig. Die Ratten schnarchten tief und fest. Toll, jetzt hatte er Haustiere. War ihm nie nach gewesen, aber diese hier hatten ja eine Funktion wie Drogensuchhunde oder Arbeitselefanten. Von der Bourgeoise geknechtet, wie sollte er sie nennen… Marx und Engels? Gewohnheitsmäßig griff er nebens Bett und hätte am liebsten laut gestöhnt, wenn das nicht so sinnlos und anstrengend gewesen wäre. Seine neuste Bücherlieferung von Ebay, die er mit sich nach oben geschleift hatte, eine wild zusammen gewürfelte Sammlung aus irgendeiner Haushaltauflösung. Und was lag oben? „Conan, der Barbar“! Nein Danke, davon hatte er schon live mehr als genug. Obwohl Kunibert kein Schwert schwang, sondern nur ein Vermessungsgerät, aber ein Schwert wäre bei ihm auch als passend durchgegangen. Und bei ihm? Eine Schleuder? Nein, wohl nicht, er war keine biblische Figur, jedenfalls keine besonders positiv besetzte. Er befand sich wahrscheinlich direkt neben Lots Frau in der Ecke für die Sünder, die das bekommen hatten, was sie verdienten. Dabei gab er auf den ganzen Kram herzlich wenig, dennoch fühlte es sich so an. Jetzt. Früher, solange er damit durchgekommen, weniger. Da war es lediglich ein Beweis dafür gewesen, dass man treiben konnte, was man wollte – und man schön blöd war, wenn man es aus irgendwelchen kleinkarierten Gründen ließ. Die kleinkarierten Gründe konnten ihn nach wie vor, aber irgendein atavistischer Impuls in ihm pochte unverdrossen darauf: Das ist deine Strafe! Schon die alten Griechen kannten die Hybris. Genug kamen damit durch. Er aber nicht. Er war einer von denen, von denen man nie dachte, dass man zu ihnen gehören würde: der, den es erwischt hatte. Der das, was in aller Augen genau das war, was er verdiente, bekommen hatte, wonach er geschrien hatte in seiner Arroganz und Überheblichkeit, Amoralität und auf alles scheißenden Kälte. Das hatten die, die ihm das verpasst hatten, auch gedacht. Wenn schon keine überirdische Macht eingriff, dann wenigstens sie, nach dem, was er mit ihnen veranstaltet hatte, ohne einen Deut darauf zu geben. Und dann hatte sich die Sache verselbständigt, weil er, gefesselt und verschleppt, immer noch nicht hatte das Maul halten können, ohne kapiert zu haben, dass es ihm sehr wohl trotzdem passieren konnte. Er war nur eine halbe Portion von nicht Mal einem Meter siebzig, bewegungsunfähig – und immer noch genau das, was sie hassten, gewesen. Hätte er wenigstens ein Mal die Klappe halten können, dann wäre er eventuell noch mit einem blauen Auge davon gekommen. Aber nein, er doch nicht, warum auch, ihm konnte doch keiner was, er war doch Cedric Kalteis, bildhübsch, reich, gebildet und aus guter Familie – was konnten die ihm schon… Die Antwort kannte er jetzt. Einer der Punkte, die die Sache so unerträglich machten, war der, dass er das auch der eigenen Blödheit zu zuschreiben hatten. Klar konnte ihm ein Rudel muskelbepackter Kerle was nach den Gesetzen der Natur. Und die, so hatte er in seiner pseudo-Kultiviertheit vergessen, galten für jeden. War es jetzt genauso blöd, Schiss vor Kunibert zu haben, nur weil er auch so aussah – aber sich ihm gegenüber gar nicht so verhielt? Eher wie eins der Au pair-Mädchen, aber da endete die Ähnlichkeit recht rasch. Er war keiner seiner Ex-Stecher, und er warf ihm auch keine feuchten Blicke zu, das wäre auch das sofortige Ende aller Erträglichkeit. Der tat das einfach aus ziemlich ominösen Gründen. Ob Kunibert laut kreischen würde, wenn er behauptete, die Ratten seien ausgebrochen, weil sie Hunger auf Zehen hätten…? Kapitel 11: Erdbeerbrei und Kartoffelgau ---------------------------------------- X. Erdbeerbrei und Kartoffelgau Cedric spitzte die Ohren. Da unten sprach jemand… nicht jemand, Kunibert. Führte er etwa Ferngespräche von seinem Anschluss aus? Nein, das Telefon war im Arbeitszimmer, in dem nicht gearbeitet wurde, im Obergeschoss – und da war das lange Elend nicht gewesen. Wenn der nur einen Zeh auf seine Treppe stellte, dürfte die knirschen wie eine marode Hängebrücke, das hätte er wahrscheinlich mitbekommen. „Hör zu! Ich kann hier jetzt nicht weg!“ schnauzte Kunibert auf Deutsch in sein Handy. „Nein… hör zu, ich muss wirklich über die Sache nachdenken. Uns beide. Du hast mir nicht gerade viel Grund in letzter Zeit gegeben, dir zu vertrauen – und ich bin nicht paranoid! … Zumindest Ehrlichkeit kann ich von dir erwarten! Oder sind dir meine Gefühle und meine Gesundheit so scheißegal, dass du lieber einfach alles leugnest, davon geht es aber nicht weg! … Jakob, ich bin nicht bescheuert! Erzähl das deiner Großmutter. Oder, lieber nicht, ich mag deine Großmutter… Ich weiß, das ist in letzter Zeit nicht so optimal mit uns gelaufen, und das ist gewiss nicht nur deine Schuld. Aber wir sollten uns darüber klar werden, was wir wollen. Ob wir „uns“ noch wollen. Aber – beides geht nicht. Entweder ich, oder du tobst durch die Betten, wenn dir das lieber ist, wenn es das ist, was du aktuell brauchst. Aber ich mache hier nicht einen auf gehörnten Idioten, vergiss es! Und ich bin mir gerade auch nicht sicher, wie ich überhaupt zu „uns“ noch stehe. Aber so, wie es jetzt läuft, kann es nicht weitergehen! Werde dir klar, was du willst – und ich auch. Ich bin hier noch eine Weile… Nein, ich habe keinen Neuen! Und du bist auch nicht fett, hör gefälligst auf mit dieser Scheiße! Wie häufig soll ich dir das denn noch sagen! Oder fickst du deshalb rum?! Nimmst du mir das etwa nicht ab?! Was soll ich denn noch tun?!... Das ist doch überhaupt nicht das Kriterium!... Jakob, das bringt nichts, jetzt, am Telefon... Das haben wir doch alles schon durchgekaut… Nein, ich komme nicht nach Hause, um das zu klären, ich habe hier zu tun, und solange wir uns sowieso nur im Kreis drehen, bringt das wenig! … Okay, ich denke nach, du denkst nach, und dann sehen wir weiter… Jakob, bitte… Glaubst du etwa, mich macht das glücklich? Vier Jahre, Mann… Nein, ich will das nicht einfach wegwerfen, ich denke nur, dass es besser wäre, wenn wir jetzt erst einmal beide wieder einen klaren Kopf bekommen, ohne uns dabei in einer Endlosschleife zu zanken wie ein altes Ehepaar… Ja, mir tut es auch leid… Grüß deine Mutter…“ Cedric machte eine halbwegs elegante Kurve gen Küche, von wo ihm bereits verführerischer Kaffeeduft in die Nase drang. Kein Kaffee für ihn hatte der Arzt gesagt, Mist. Er ließ sich an den Frühstückstisch sinken. Als Kunibert forschen Schrittes kurz danach hinein gesaust kam, war eher er es, der sich erschrak. „Mo…Morgen“, stammelte er. „Momorgen“, erwiderte Cedric. Kunibert sah ziemlich aufgewühlt aus. Das hatte man eben davon, wenn man einen auf schwules Eheglück machte, dieselben Scheiß-Probleme wie die Heten. Etienne und er waren da anders gewesen, wozu Eifersucht, wenn man gemeinsam spielen konnte, mit alles und jedem…? Aber fast jedes Spiel kannte Verlierer – und das waren nicht selten auch die Favoriten. „Äh… Pfefferminztee?“ bot Kunibert an, brav auf Abstand bleibend. Cedric murmelte zustimmend, obwohl ihm ein Kaffee bedeutend lieber gewesen wäre. Kunibert machte sich stumm ans Werk, dann trat er zurück, die dampfende Tasse auf der Theke hinterlassend. Cedric sah ihn an, die Tasse, sich – und kam sich plötzlich wie ein ziemlicher Trottel vor. Dann wie ein Trottel von einem Trottel, dass er mit dem Gedanken spielte… dann wie der König der Trottel, dass er das schon wieder dachte… Er räusperte sich. „Du kannst… äh… sie mir rüberbringen“, murmelte er. „Danke, Euer Gnaden“, nuschelte Kunibert, schnappte sich die Tasse und schlurfte im betont zufälligen Schneckentempo damit zu ihm rüber, sie ihm mit spitzen Fingern auf die Ecke des Tisches stellend, als füttere er einen bissigen Tiger. Er trug heute Morgen ein verwaschenes T-Shirt mit Bedruck vom „Roskilde Rock-Festival“, schien nicht gerade ein Fan aserbaidschanischen Jazzes zu sein. Rasieren könnte er sich auch mal wieder, sonst würde ihn noch eine Crew Wikinger zwangsrekrutieren. Cedric zwang sich zu einer halbwegs freundlichen Miene. „Ist schon okay!“ stellte er klar. „Es… geht.“ „Ich will nur keine Bissspuren in der Hand!“ zögerte Kunibert. „Keine Panik, obwohl der Zahnarzt meine Beißerchen schon ganz ordentlich wieder hin bekommen hat“, beruhigte ihn Cedric halbherzig. „Die sind unecht? Hab mich schon gewundert, warum die so gerade und weiß sind“, erwiderte Kunibert und ließ sich langsam auf den ihm gegenüber stehenden Stuhl möglichst weit weg von der Tischkante entfernt sinken. „Wie nett. Nein, ohne die Wunder der modernen Zahnchirurgie sähe ich den Steinen jetzt wahrscheinlich deutlich ähnlicher. Ich habe mehr Metall und Kunststoff in der Fresse als ein durchschnittlicher Borg“, klärte Cedric ihn auf. „Solange du keinen klingonischen Zahnanspitzer brauchst…“, erwiderte Kunibert. „Ich hab auch einen falschen Schneidezahn… eins der Pferde meiner Schwester“, erklärte er und tippte sich gegen den Übeltäter. „Huftiere scheinen dich ja echt zu mögen“, entgegnete Cedric und pustete in seinen Tee. „Oh, eigentlich schon, aber manchmal reagieren sie schreckhaft, wenn ich um die Ecke komme“, erläuterte Kunibert und nippte unter Cedrics neidischen Blicken an seiner Tasse. „Die denken, du setzt sich auf sie drauf – und dann sind sie platt?“ vermutete Cedric. Kunibert lachte ein wenig gequält. „Das trifft es wohl ganz gut. Sag mal… Ich würde gerne ein wenig arbeiten, das Babyfon hat ordentlich Reichweite und ich bleibe nah am Haus, wenn etwas ist, okay?“ „Mmm, sicher, ist ja dein Tag. Vielleicht setzte ich mich nachher auch raus, wenn es geht, auf die Steine direkt am Haus“, stellte er in Aussicht. „Apropos widerspenstiges Viehzeug. Was ist eigentlich mit deinen Bienen…?“ fragte Kunibert etwas ängstlich. „Die kommen allein klar“, meinte Cedric. „Du bist doch sonst jeden Morgen…?“ fragte Kunibert verwirrt. „Mmm, das hat andere Gründe. Außerdem bin ich allergisch“, entgegnete Cedric. „Äh… okay. Du züchtest Bienen, obwohl du allergisch bist?“ fragte Kunibert verwundert, erhob sich und schnappte sich irgendetwas neben dem Kühlschrank. Der Geruch verriet, was es war: der verdammte Brei… Aber er hatte schon Hunger… Und nach Steak war ihm auch nicht gerade… „Nur ein bisschen. Die haben meinem Großvater gehört, ich habe sie… geerbt. Da ist Honig von ihnen oben im Küchenschrank, kannst dich gerne bedienen, mir quillt das Zeug schon zu den Ohren raus. Habe sogar etwas davon im Internet verscherbelt, mit dem Postholservice ging das, um nicht endgültig dran zu ersticken“, erzählte Cedric. Komisches Gefühl mit jemandem zu reden… hier… beim Frühstück… der ihm Breilein kochte… konnte er schon mal üben fürs Altenheim… da wollte er aber eine Einzelzelle! „Honig ist lecker und gesund – und gelb!“ dozierte Kunibert. „Danke, ich nehme mir. Und ich geh nachher zum Bäcker, dein Instant-Brot, nichts für ungut, ist ekelhaft. Soll ich noch was mitbringen?“ „Nein, Breilein ist aktuell schon okay. Aber nächstes Mal bitte Erdbeere“, forderte Cedric. „Du magst Erdbeeren?“ wollte Kunibert wissen. Von Etienne lecken… einst… „Lieber als Bananen“, antwortete er kurz. Kunibert hielt inne, dann grinste er. „Rot steht dir aber nicht!“ behauptete er mit einem gewissen Mutwillen in der Stimme. „Darin siehst du aus wie eine Monstertomate voll Blattläuse!“ Cedric schluckte. So ein rotzfrecher… …………………………………………………………………………………………………... Kunibert erspähte ihn gegen Mittag in einigem Abstand auf einem der umgekippten, sonnenbeschienen Steine nahe dem Haus. Das Babyfon hatte ihn mutmaßen lassen, dass Cedric vormittags drinnen gelesen hatte, ab und an war neben dem Atmen auch ein Rascheln zu hören gewesen – oder ein Plätschern gefolgt von der Klospülung, aber leider kippte man gerade im Bad gerne um. Naja, auf öffentlichen Toiletten war da deutlich weniger Diskretion angesagt. Gesprochen hatte Cedric kein Wort, wäre auch eine arg einseitige Konversation gewesen. Jetzt lag er da, ausgerüstet mit Decke und Kopfkissen, in der Sonne und starrte über das Feld, über das er wahrscheinlich deutlich lieber gelaufen wäre. Ab und zu schien er einzunicken. Gegen fünf näherte sich Kunibert ihm langsam. Cedric war wach und blickte ihm mit unbewegter Miene entgegen. „Soll ich ins Haus?“ fragte er ihn zögernd. „Damit du noch ein wenig allein hier sein kannst?“ Cedric nickte unmerklich, und er verdrückte sich. Es machte ihm nichts aus. Cedric war krank in mehr als einer Hinsicht. Während aus jeder Warze normalerweise ein Riesendrama gemacht wurde, wurde mit psychisch Kranken noch immer recht ruppig umgegangen. Sie galten als verrückt oder verweichlicht, weil man ihre Wunden nicht sah – oder sehen wollte. Und das, was Cedric hatte, war wahrscheinlich wie ein hochkompliziertes bösartiges Geschwulst, das fest mit ihm verwachsen war. Dennoch war Cedric nicht wirklich wahnsinnig, fand Kunibert – das, was er machte, hatte irgendwie durchaus Sinn und Ursachen. Einen anderen Sinn, aber Sinn. Er spähte über seine Schulter. Eine zarte Gestalt, übergossen von einem Meer von Sommersprossen und mit trotzigem Blick, provozierend, aber vielleicht auch für jemanden, der mit der wortwörtlichen Keule kam, ein leichtes Opfer. Cedrics Mutter hatte erahnen lassen, dass er aus einem Umfeld stammte, das auf Status und Kultiviertet viel gab, jedenfalls unter Ihresgleichen. Wie mochte es auf ihn gewirkt haben, wenn ihn irgendein Barbar wirklich geschlagen hatte und Schlimmeres? Cedric war, objektiv betrachtet, wirklich sehr hübsch. Zwar gar nicht sein Typ, aber einen „Typ“ wie Cedrics gab es wahrscheinlich gar nicht, und momentan bescherte ihm Jakob genug Kopfschmerzen - außerdem war er kein Hallodri, der immer die Antennen draußen hatte, aber Cedric mochte auf so manchen sehr anziehend gewirkt haben. Zu anziehend? So anziehend, dass ihm jemand seinen Willen aufgezwungen hatte? Für Frauen, denen das geschah, war es grauenhaft, aber bei Männern war es obendrein noch hochgradig tabuisiert und wurde als soziales Stigma wahrgenommen, auch in der sich so offen und tolerant wähnenden westlichen Gesellschaft. Als würden Männer immer die Sieger sein und immer oben liegen. Scheiß-Klischees. Aber welche Hilfe, welches Verständnis hatte man zu erwarten, wenn einem so etwas passiert war? Null, vermutlich. Man war nicht nur verletzt, gedemütigt, traumatisiert, sondern auch noch das Allerletzte, ein Schwächling, dem der Stempel aufgedrückt worden war, und, weil man seine Mannesehre nicht hatte verteidigen können – schuld. Egal, ob das totaler Schwachsinn war oder nicht. Auch ihn könnte man, groß hin oder her, von hinten niederschlagen, knebeln und fesseln und sonst was mit ihm machen – wer war davor schon sicher, wenn das wirklich einer mit einem tun wollte? Wer rechnete mit so etwas? Er nicht. Und Cedric hatte das gewiss auch nicht getan. Und es wäre eine logische Erklärung für Cedrics Verhalten, ein immer wieder kehrendes Motiv in seinen Reaktionen. Wer hat Angst vorm großen Mann? Cedric. Der kleine, freche, hübsche Cedric. So sehr, dass er ihn unterm Bett, hinter jedem Stein, in jedem Geräusch, in der Dunkelheit – und in ihm - wähnte. Und er war hier einfach so rein gelatscht… Aber irgendetwas tat sich hier. Was ihn betraf, schien Cedrics zwischen Aggressivität und Fluchtinstinkt schwankende Panik langsam zu schmelzen, wenn sie auch sehr wohl noch vor sich hin köchelte. Er war hier rein marschiert in dieses Katastrophenszenario wie Hans im Glück. Und auch, als es sich abgezeichnet hatte, war er einfach weiter. Er war nicht Cedrics Vergangenheit, das schien diesem irgendwie langsam zu dämmern. Aber vielleicht war er der Stachel in seinem Fleisch, der ihn da etwas raus zerrte, weil er sich durch irgendeinen Zufall und sein verdammtes Bauchgefühl darin verhakt hatte. Er wollte Abstand von Jakob - und die Steine wollte er auch. Nun, hier bekam er reichlich davon. Und etwas, um das er nicht gebeten hatte und das ihm auch ein wenig unheimlich war… aber er konnte hier etwas bewirken. Für einen völlig verstörten jungen Mann, der ihm auch nicht gerade herzlich begegnet war – aber wie hätte er auch. Hoffentlich irrte er da nicht, aber er war in üblicher Manier schon mittenrein geflutscht. Und jetzt hatte er Cedric Kalteis am Hals, genauso wie der ihn. ………………………………………………………………………………………………… Die Sonne verschwand langsam hinter den Wipfeln der Bäume, der Mond zeichnete sich bereits als fahle Sichel ab und das ferne Summen der Bienen wurde immer schwächer, als Cedric sich etwas fröstelnd wieder aufraffte. Ihm ging es zwar nach wie vor ziemlich mau, aber er brauchte den freien Himmel über sich, keine Stadt, keine Mauern und Decken und Gedröhn und Gebrüll. Kunibert war drinnen verschwunden, sortierte wahrscheinlich irgendetwas oder briet irgendwelche fettigen Köstlichkeiten, die der wahrscheinlich mit links wegsteckte, ohne anzudicken. Sein Freund schien da ja Komplexe zu haben, aber wer hätte die nicht neben so einem Bilderbuch-Hünen? Nun gut, er nicht. Zum einen war das nicht mehr seine Welt – zum anderen musste er sich gewiss vor einem wie dem nicht verstecken. Die ganze Pariser Szene war auf den Knien vor ihm gerobbt, und das nicht nur wegen seiner gelegentlichen Charme-Attacken, die er wie Köder oder Belohnungen verteilt hatte als seien sie Hunde. Waren sie in gewisser Weise für ihn ja auch gewesen. Aber jetzt stand die Welt Kopf, schon allein beim Gedanken an Sex, Berührungen, bekam er Kotzkrämpfe, und der Bilderbuch-Hüne war nicht zum Ficken da, sondern zur Pflege. Echt wie im Altersheim. Er bewegte sich auch schon ganz wie ein Opa, so wie er hier voran schlurfte. Eines Tages würde er das auch sein, dann wären alle anderen längst tot oder vergessen. Irgendwann würde er abkratzen, und dann würde irgendwer viel später seine mumifizierte Leiche finden. Aber das konnte ihm dann auch scheißegal sein. Es roch gut, als er eintrat. Ohne groß nachzudenken raffte er sich gen Küche auf. Ein weiträumiger Raum mit unverputzten Wänden aus pittoreskem Bruchstein, eigentlich für eine Großfamilie gedacht, den er technisch auf den neusten Stand hatte bringen lassen. Doch in diesem Format gab es keine Single-Küchen, eigentlich war viel zu viel von allem da. Ebenso wie von dem, das sich in seiner nie benutzten Auflaufform befand. Kunibert stand andachtsvoll vor ihrem qualmenden Inhalt und blickte hingerissen darauf hinab. „Wasn das?“ fragte Cedric, dass der andere kurz zusammen zuckte. Himmel, war der schreckhaft – er war doch nicht der mit dem paranoiden Verfolgungswahn! Oder doch? Ach, Quatsch, der hatte nur schlechte Ohren und war etwas memmig. Oder vielleicht waren seine Ohren auch zu weit oben, um das, was unten vor sich ging, mit zu bekommen. Oder er verwechselte ihm in einem seiner eingebildeten Killerhamster, weil der für ihn dasselbe Format hätte… „Kartoffelbreiauflauf mit Kapern, Muskat und mit Käse überbacken!“ verkündete Kunibert stolz. Das Zeug war doch schon wieder gelb… langsam übertrieb der das wirklich… oder war das Zufall? „Leicht verdaulich und super lecker!“ schwor er. Was der wohl für „nicht gut verdaulich“ hielt? Ein kandiertes Kamel? „Kannst du das schon essen? Ansonsten habe ich dir auch Erdbeerbreilein mitgebracht – lecker, lecker…“, lockte Kunibert. „Nein! Kein Brei! Ich nehme diesen Kartoffelgau! Wo hast du denn kochen gelernt?“ fragte Cedric, sich auf seinen Stuhl am Esstisch senkend. Das waren alles seine Stühle, korrigierte er sich. Ein anderer war nur zeitweise anderweitig okkupiert. „Papa“, erwiderte Kunibert. „Dein Vater kocht…?“ bohrte Cedric in einem Anfall von Neugierde. „Ja. Meine Mutter würde sich eher den Arm abhacken, das passt nicht in ihr emanzipatorisches Weltbild“, erklärte Kunibert und löffelte auf. „Ist dein Vater… auch so ein Klopper wie du…?“ fragte Cedric, allmählich auf den Geschmack gekommen. „Nö“, erwiderte Kunibert und servierte im Stil eines Schiffskochs, „mein Vater ist nur ein wenig größer als du. Ich komme nach meiner Mutter.“ Vor Cedrics innerem Auge erschien eine Walküre mit Flügelhelm, blonden Zöpfen wie Seilen und Kettenrüstungskleid. Da kochte man doch besser als Heten-Ehemann, statt sich mit der anzulegen… Wahrscheinlich hatte sie ihn mit gezogenem Schwert zum Jawort gezwungen, nachdem sie ihm auf einer Plündertour auf dem Rücken tragend verschleppt hatte… „Wie… groß bist du eigentlich…?“ fragte Cedric vorsichtig. „Ohne Stöckelschuhe eins siebenundneunzig“, erwiderte Kunibert und kramte nach Besteck. Der war mal sauber dreißig Zentimeter größer als er… jeder im Kino würde den hassen. „Guten Appetit!“ verkündete Kunibert und machte sich über seine Ladung her, die auch für einen mittelgroßen Elefanten gelangt hätte. Kein Wunder, dass dieser Jakob gefrustet – und verfettet – war. ………………………………………………………………………………………………… Als Cedric nach dem Klogang ziemlich satt mit nach wie vor dröhnender Birne ins Wohnzimmer trat, hatte sich Kunibert bereits rund um den Kamin breit gemacht. Eine riesige, verwitterte Karte des Steinfeldes von anno Schnee lag vor ihm, sein Laptop surrte, und er starrte in sein grässliches Notizbuch. „Wo ist der Stein hin? Wo ist der Stein hin?“ murmelte er weggetreten vor sich her. Cedric kippte aufs Sofa und ließ ihn murmeln. War ein wenig wie die Bienen, auch wenn Kunibert ein ziemlich fetter Brummer war. Aber farblich kam das meist auch hin. Mit dem Bild von Kunibert in schwarz-gelbem Biene Maja-Outfit wurde er zunehmend schläfrig. Er trat sich, hier konnte er kaum bleiben – und Marx und Engels wollten mit Rattenfutter für ihre Dienste entlohnt werden. Kapitel 12: Wut tut nicht gut ----------------------------- XI. Wut tut nicht gut Es war nicht einmal sieben Uhr, als es an der Tür hämmerte. Cedric war längst wach, das Geräusch drang ihm durch Mark und Bein. Sein Herz klopfte wie verrückt, auch seine Blessuren meldeten sich. Was war das?! Geht weg… geht weg… geht weg… sonst lass ich die Hu… meinen Privat-Barbaren auf euch los… Unten tat sich etwas, Kunibert musste munter geworden sein. „Lass sie klopfen!“ zischte er durchs Babyfon. Kunibert konnte nicht antworten, ein deutlicher Fehler dieser Konstruktion. Aber wo sollte man auf die Schnelle irgendwelche Walkie-Talkies herbekommen, die rund um die Uhr liefen und nicht rauschten? Und normalerweise wollte er ja Kunibert auch gar nicht hören… oder sehen etwa übers Internet, das wäre ja noch schöner. Das Klopfen hörte nicht auf. Cedric rappelte sich hoch und schlich mit zusammen gebissenen Zähnen zur Treppe. Kunibert stand schon unten. Cedric wäre beinahe krepiert, als er entdeckte, dass Kunibert einen Spongebob-Pyjama trug. Sowas gab es in XXL – oder war das eine Sonderanfertigung?! Kunibert brachte es immer wieder fertig, dass er sich fragte, wer hier das Rad ab hatte, Glückwunsch. Aber früher hatte er auch gerne Spongebob gesehen – besonders bekifft… „Machen Sie auf!“ erschallte von draußen. „Wir haben eine amtliche Verfügung!“ „Scheiße!“ flüsterte Cedric. „Meine Mutter!“ Kunibert starrte mit halb geöffnetem Mund zu ihm hinauf und sah dabei eher aus wie Patrick. „Die will dich immer noch zwangseinweisen lassen?“ flüsterte er entsetzt. „Wäre mein erster Tipp, wenn sich da nicht gerade jemand einen oberüblen Scherz erlaubt. Wie sind die überhaupt bis zur Tür gekommen…?“ fragte sich Cedric atemlos. „Du hast keine Klingel… Vielleicht dürfen die dann das Tor knacken…?“ rätselte Kunibert. „Kacke!“ würgte er hervor, während eine eisige Hand nach ihm griff. „Ich will nicht in die Klapse! Das überleb ich nicht!“ ………………………………………………………………………………………………….. Kunibert starrte die Treppe empor. Cedric trug einen Schlafanzug aus grüner Wildseide, dagegen sah er aus wie der letzte Vollidiot. Okay… in seinem Outfit hatte man da wohl nicht viel zu erwarten. Aber er mochte Spongebob – und er war auch ein Experte! Sowas von! Aber leider kein Experte in solchen Situationen. „Cedric Kalteis!“ erschallte erneut von draußen. „Öffnen Sie bitte die Tür! Wir haben einen offiziellen Beschluss!“ „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ keuchte Cedric von oben. Er sah grünlich aus, fast wie eine Comicfigur, der schlecht war, passte gut zu seinem Schlafanzug. Und das hier war schlecht, in der Tat. Kunibert straffte sich. Er hatte das hier angefangen, er würde jetzt nicht kneifen. „Okay, Cedric“, flüsterte er. „Das kriegen wir hin, okay? Du bist nicht allein. Ich und Spongebob helfen dir.“ „Scheiße… bitte nicht… Scheiße…“, kam es nur von oben. „Cedric! Kneif die Backen zusammen und plünn dir was an! Du willst hier nicht weg – und du gehst hier nicht weg. Du bist nicht unzurechnungsfähig, zumindest nicht in meinen Augen. Vielleicht könntest du Hilfe gebrauchen, aber keine erzwungene. Das kriegen wir hin!“ stieß er hervor. Er fühlte, wie sich ihm die Härchen aufstellten. Cedric so auf die Pelle zu rücken… also wirklich! „Wer bist du?“ keuchte Cedric. „Ritter Kunibert in seinem glänzenden Spongebob-Pyjama?!“ „Exakt das bin ich! Und Spongebob gewinnt immer, auch wenn er verrückt ist! Kommt gar nichts anderes in Frage. Er ist bloß dreist und beharrlich genug. Bist du bereit?!“ fragte er. Cedric stöhnte: „Ich bin bereit…“ ………………………………………………………………………………………………… Spongebob?! Was lief denn hier?! Er hörte Kunibert unten in heiterster Stimme rufen: „Moment. Moment, wir kommen ja! Himmel, in aller Herrgottsfrühe! Warten Sie bitte kurz!“ Dann flüsterte er: „Klamotten an! Und immer schön aufrecht! Ich bespaße sie solange, du bist noch lädiert!“ Cedric sah zu, dass er der Order schnellstmöglich nachkam. Socken nicht versehentlich auf den Kopf ziehen, das käme nicht gut… Während er sich noch in eine seiner besseren Hosen strampelte, die das Feld noch nicht ganz so mitgenommen hatte, hörte er von unten Kunibert in bester Laune: „Kommen Sie doch rein. Herr Kalteis gesellt sich gleich zu uns. Er hat eine Gehirnerschütterung, muss sich schonen.“ Mäßig höfliches Gebrummel war zu hören. Das waren Männer! Aber Kunibert war ja auch noch da… Aber wieso sollte das etwas ausmachen, vielleicht verbündeten sie sich nur… Hör auf! Kunibert ist Kunibert, und die da sind… irgendwelche Amtslaffen und Gutachter… Himmel, wenn er das einst geahnt hätte, hätte er sich in sein nicht vorhandenes Schwert gestürzt – dass ihm jetzt schon solche Leute zu Leibe rückten! Aber jetzt wollte er hier bleiben, weiter leben… Andere Zeiten, andere Ziele. Muttern hatte wirklich nicht lange gefackelt, wahrscheinlich hatte sie alles bereits von langer Hand vorbereitet gehabt, um bei erster Gelegenheit zuschlagen zu können. War ja nicht einmal so, dass er ihr unterstellen konnte, dass sie ihm wirklich etwas Übles wollte. Sie wollte ihm helfen – aber nach ihren Vorstellungen und ihren Regeln wie immer. Solange die noch im Wesentlichen deckungsgleich mit seinen eigenen gewesen waren, hatten sie sich zwar schon ab und an in die Haare gekriegt, aber eher um das Wie nicht um das Was. Jetzt allerdings unterschieden sich ihre Zielsetzungen gehörig. Er wolle in Ruhe sein beknacktes Eremitenleben leben – aber das ging doch nicht… für so etwas gab es teure „Sanatorien“… dann hätte sie wenigstens etwas zu antworten, wenn ihre schadenfrohen Freundinnen nach ihm fragten, die sich gerade ein Kopf an Kopf-Rennen über den besten Abschluss, den besten Job, die beste Traumhochzeit ihrer Sprösslinge lieferten… Okay, das war jetzt doch etwas ungerecht, aber ihm war nicht nach Fairness. Auch nicht im Anbetracht der Tatsache, dass er früher wahrscheinlich an ihrer Stelle genauso gehandelt hätte. Hätte er das… ja, wahrscheinlich wirklich. Aber dass das genetisch verankert war, schien nicht zu stimmen, ansonsten hätte ihn die Sache wohl nicht so völlig aus der Bahn geworfen. Cedric Kalteis, Estelles Sohn, war mausetot, stattdessen… ja was… blieben die Reste vom Feste? Quatsch, er war immer noch da. Aber wer war er dann jetzt überhaupt…? Niemand…? Da unten hockten jetzt Leute, die ihn zurückschleppen sollten in die Form von Leben, aus der es ihn hinaus gekegelt hatte und in der es für ihn dort nur noch einen Platz gab: in der psychiatrischen Luxus-Anstalt. Eventuell wollten die ihn frei nach Thomas Mann auf den Zauberberg verschicken. Er streifte sich ein schwarzes Sweatshirt mit Rollkragen über. Jetzt sah er aus wie die Karikatur eines Bohemiens – war er wahrscheinlich vorher auch schon gewesen, ohne es zu merken. Kaffeeduft drang nach oben. Kunibert schien den Gastgeber raushängen zu lassen, um sie hinzuhalten. Wie sollte das gehen… a la Spongebob?! Verrückt, dreist und beharrlich? Aber Spongebob log nicht… Er hingegen konnte das sehr wohl. Theoretisch. Früher war er darin nicht übel gewesen… jede Wahrheit ließ sich relativieren, wenn man die richtigen Argumente fand. Die konnten ihm nicht einfach einen Sack über den Kopf stopfen und ihn wegzerren – zumindest nicht, solange er als mündig galt und in der Lage, auf sich selber aufzupassen. Kunibert allein reichte da nicht, bei weitem nicht. Es lag an ihm. Es mochte sein, dass er wegen eines körperlichen, vorübergehenden Schadens kurzzeitig Hilfe brauchte… und sie auch bekam, aber das sagte noch nichts über seinen Geisteszustand aus. Kunibert war nicht gerade das, was man einen „alten Freund“ nannte, das konnte er ihnen auch nicht unterjubeln. Nein, es lag größtenteils an ihm. Und er war nicht Spongebob. Er war Thaddäus. Er streckte sich gerade hoch und fühlte sich wie ein Olympia-Kandidat im Startblock des Hundertmeterlaufes. Die Übelkeit hatte etwas nach gelassen, aber Kopfweh hatte er noch immer – und eigentlich müsste er sich schonen. Aber das konnte er sauber vergessen. Das! Sind! Nur! Behörden-Heinis! Aber das machte sie auch nicht ungefährlich, wenn auch auf eine andere Art. Eine deutlich konkretere Art als seine imaginären Verfolger. Du musst das durchhalten! Nur ein bisschen! Sieg oder Tod! Oder so ähnlich… Die wollten ihn nicht mit Fäusten und Fesseln und… zu Leibe rücken, sondern mit Paragraphen und Beschlüssen. Ihm, dem armen, wehrlosen, doofen kleinen Cedric. Komm zu Mama, Cedric… Das ist ja so schrecklich… Mama macht das wieder gut… Fragte sich nur für wen. Kunibert hatte recht, die wollten ihn zur Minna machen gegen alles, was er wollte. Angst? Sicher. Aber auch etwas anderes. Er wandte sich um und erlaubte sich noch ein paar Mal, tief durchzuatmen. Ruhe… die Welt tickt im „normalen“ Takt, auch wenn vielleicht nicht für dich. Aber das reibst du denen garantiert nicht unter die Nase! …………………………………………………………………………………………………. Kunibert wurde zunehmen nervöser, tat aber sein Bestes, den „Besuch“ bei der Stange zu halten, während Cedric sich fertig machte. Hoffentlich nicht im wortwörtlichen Sinn. Nein, Cedric war kein totaler Aufgeber, sonst wäre er nicht hier, sonst würde er auch nicht bleiben wollen. Das hier war kein beliebiger Fluchtort, der gegen ein lauschiges Plätzchen in einer geschlossenen Anstalt austauschbar war, sondern exakt der Ort, an dem Cedric sein wollte. Und zu dem er irgendwie auch gehörte? Es waren zwei Männer und eine Frau. Ein psychologischer Gutachter, eine Richterin und ein Assistent in irgendeiner Form. Immerhin war ein weibliches Wesen dabei, das mochte von Vorteil sein – auch wenn die Dame nicht gerade lieblich aussah. Insgesamt wirkten die nicht so, als brächte ihnen ihr Job sonderlichen Spaß, aber das wäre wahrscheinlich auch eher bedenklich gewesen. Er lotste sie ins Wohnzimmer und positionierte sie taktisch richtig, so dass ein einsamer, recht weit an der Tür stehender Sessel frei blieb. Während sie warteten, nutze das hochoffizielle Überfallskommando gleich die Chance, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Er blieb bei der Wahrheit, auch wenn er sie ein klein bisschen schönte, indem er plangemäß behauptete, dass er und Cedric sich über der Arbeit an den Steinen ein wenig angefreundet hätten. Da er ja sowieso hier den ganzen Tag im Auftrag der Denkmalschutzbehörde herumwurstelte, helfe er da auch gerne seinem neuen Kumpel, das sei doch selbstverständlich, gar kein Problem. Merkwürdiges Verhalten? Ach, ein bisschen, aber jeder habe so seine Macken, das gehe schon, da habe er ganz andere erlebt… Während er noch sein Bestes gab, möglichst unbefangen und klischeegerecht rüberzukommen, wurde er innerlich immer nervöser. Wo zum Geier steckte Cedric? Hatte der etwa einen Anfall bekommen und die Flatter gemacht?! Nein, so beknackt war der nicht… aber „Anfall“ würde das Aussetzen der Logikfähigkeit beinhalten… Und würde er das durchstehen…? Irgendwo zwischen erleichtert und selber etwas paralysiert atmete er auf, als schließlich Cedrics leichte Schritte etwas schleppend die Treppe hinunter kamen. Cedric hatte die Zeit nicht vertan, sondern war gediegen angezogen und derart ordentlich rund um seinen Kopfverband gekämmt, wie Kunibert ihn noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Der hatte sich so viel Zivilisiertheit aufgetragen, wie er auf die Schnelle hatte greifen können, aha. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte Cedric gepresst, aber höflich. „Eigentlich muss ich das Bett hüten. Und Sie kommen nicht gerade angemeldet…“ „Wir hätten ja geklingelt!“ behauptete der Assistent. „Aber es war ja keine da…“ War der Typ etwa der Mann fürs Grobe? Das musste aber kleines Grobes sein… wie Cedrics Tor?! „Ich bin postal ohne Weiteres zu erreichen“, sagte Cedric kalt, wieder mit diesem ausdruckslosen Gesicht, das Kunibert mittlerweile nur allzu gut kannte. Aber seine Augen leuchteten… irgendwie komisch. Sehr langsam trat er näher und ließ sich in den bereitgestellten Sessel sinken. Kunibert ahnte, was ihn das kosten mochte. Ein winziger Schweißtropfen löste sich von Cedrics Schläfe, obwohl es nicht besonders heiß war, den er rasch fort wischte. „Uns wurde die Brisanz der Situation dargelegt. Es lag ja bereits ein Antrag vor, der aber zur Prüfung ausgesetzt wurde, doch ihre Familie hat erneut auf Dringlichkeit geklagt“, meinte die Richterin scharf, nachdem sie und ihre Gefolgschaft sich kurz vorgestellt hatten. „Das kann ich mir gut vorstellen. Meine lieben Eltern kennen da ja Mittel und Wege…“, murmelte Cedric und starrte die Frau mit Argusaugen an. Auf die anderen mochte er überraschend fidel wirken – aber was Cedric hier hinlegte, war ein Kraftakt, physisch und mental. „Aber eines möchte ich klar stellen: Ich bin hier aus freiem, eigenem Entschluss. Wenn ich allein in diesem Haus leben möchte, dann ist das meine Entscheidung und mein Recht. Oder wollen sie alle Alleinstehenden prophylaktisch einweisen lassen, sie könnten ja sich unbemerkt etwas tun? Das passiert ständig. Und wie Sie sehen – ich krepiere hier nicht einsam vor mich hin. Meine Entschlüsse oder mein Verhalten mögen einigen Leuten nicht gefallen – allen voran meinen Eltern, aber solange ich weder für mich noch für andere eine unzumutbare Gefahr darstelle, geht sie das schlichtweg nichts an.“ Jetzt dämmerte Kunibert, was Cedrics Augenausdruck zu bedeuten hatte. Entschlossenheit… Konzentration… aber vor allem Wut. „Auch wenn für ihr körperliches Wohl gesorgt ist, was ist mit…“, mischte sich der Gutachter ein. „Wiederum: meine Entscheidung. Ich kann zur Therapie gehen oder mich einweisen lassen, wenn ich das für sinnvoll halte. Tue ich aber nicht. Die psychiatrische Behandlung hat mir nicht geholfen, daher habe ich sie abgebrochen. Vielleicht sehe ich das irgendwann anders. Ich kenne meine Rechte gut genug, um zu wissen, dass Sie mir meine Grundrechte nur entziehen können, wenn der Extremfall vorliegt. Was immer für Informationen Sie haben: Mir dröhnt zwar der Schädel, weil ich beim Joggen über eine Ranke gestolpert und unglücklich gefallen bin – und ich lebe hier, weil mir unschöne Dinge geschehen sind, die meinen Glauben in die Menschheit nicht gerade gestählt haben, aber ich bin weder unzurechnungsfähig noch verrecke ich einsam vor mich hin, noch stellt Herr Lerchenfels eine Bedrohung für mich – oder das Familienvermögen - dar. Das haben Sie so hinzunehmen, solange ich nicht bedenklich aus der Rolle falle“, stellte Cedric in einem Tonfall klar, der zugleich sanft wie brodelnd war. Die drei sahen sich an. Kunibert fühlte sich ziemlich deplatziert. Dann sagte die Richterin: „Da haben Sie wohl recht. Der Notfall, der uns angezeigt wurde, liegt so anscheinend nicht vor. Meine Kollegin Leclerc hatte mich in der Hinsicht schon informiert, aber die Rechtsschritte wurden eingeleitet. Herr Lerchenfels versorgt Sie?“ „Jau!“ bestätigte Kunibert und ließ den fröhlichen Krautfresser raushängen. „Ich kann alleine aufs Klo, mir etwas zu Essen besorgen, meine Steuererklärung machen – und selber entscheiden, ob ich Hilfe brauche – und von wem. Herzlichen Dank für Ihre Besorgnis, aber jetzt wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jemand anderes beehren gehen – und nicht alle zwanzig Minuten wieder kommen würde, weil meiner Familie irgendwo Druck macht. Ich vermute für das Türschloss komme ich selber auf?“ fragte Cedric und erhob sich steif, wahrscheinlich, um nicht zu wanken. „Es ist nicht kaputt, ich habe es nur geknackt!“ verkündete der Assistent stolz. „Gut zu wissen“, murmelte Cedric düster. „Aber…“, hob der Gutachter an. „Sie sollten vielleicht doch in Erwägung ziehen, sich wieder in Behandlung zu begeben bei ihrer Vorgeschichte…“ „Mache ich!“ versprach Cedric zähneknirschend. Besorgt verfolgte Kunibert, wie er immer blasser um die Nase wurde. Die wussten also, was los war… nur er nicht. Aber es war ja auch nicht seine Aufgabe. Kaum waren die drei aus der Tür hörte Kunibert ein Ächzen aus dem Wohnzimmer. Er hastete zurück und fand Cedric auf den Knien in der Ecke nahe des Kamins, wohin er sich zurückgezogen hatte, indem er vorgab, aus dem Fenster blicken zu wollen. Keine Spur mehr von dieser gefassten, souveränen Person von eben. Die musste Cedric mit aller Gewalt aus den Tiefen seines Seins hervor gezerrte haben. Befeuert von seiner Wut hatte er es zumindest kurzzeitig geschafft, die Panik aus seinem Auftreten zu verbannen angesichts der fremden Menschen, die in sein Haus eingedrungen waren. Das war wohl zu viel für seinen Gesundheitszustand gewesen. Fast wäre er direkt auf ihn zu gerast, bremste sich aber im letzten Moment. „Cedric?!“ fragte er jetzt auch ziemlich neben der Rolle. Cedric blinzelte benommen. „Scheiße“, murmelte er und ließ sich auf die Seite fallen. „Scheiße, in der Tat! Soll ich den Krankenwa…“, hob Kunibert an. „Nein“, keuchte Cedric. „Geht gleich wieder… Wasser…“ Kacke, was jetzt? Klar wäre das äußerst ungünstig gerade jetzt noch einen Notfall hinzulegen, ihre Besucher waren ja eben erst aus der Haustür. Aber Cedrics Gesundheit ging vor. Aber was nutzte Cedrics Gesundheit jetzt mehr?! „Kein Krankenwagen!“ stieß Cedric erneut hervor. „Oh Gott, Cedric… du siehst Scheiße aus!“ protestierte Kunibert. „Besser als bildschön in der Klapse!“ kommentierte Cedric und hielt sich den Kopf. Das war allerdings wahr…. Gerade eben hatte Cedric die Bevormundung zum Teufel geschickt – aber was war, wenn er wirklich im Eimer war… Kapitel 13: Danken für Anfänger ------------------------------- XII. Danken für Anfänger Ratlos starrte Kunibert auf den auf dem Boden zusammen gerollt daliegenden Cedric hinab. Es war ja schön und gut, wenn Cedric sich nicht bevormunden lassen wollte, das konnte er ja nur unterstützen. Aber er war auch hier, um darauf Acht zu geben, dass er sich gesundheitlich hielt und genas. Mit diesem Überfall war zumindest von seiner Warte aus nicht zu rechnen gewesen, und Cedric hatte offensichtlich alle ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen mobilisiert, um ihn abwehren zu können. Doch bei allem Respekt – es gab auch so etwas wie unterlassene Hilfeleistung. „Cedric“, sprach er ihn so ruhig wie möglich an. „Das hier ist Oberscheiße, ich weiß, gerade da sie dir ja ans Leder wollen. Aber es gibt auch so etwas wie ärztliche Schweigepflicht! Und du kannst auch darauf bestehen, dass deiner Familie die Auskunft verwehrt wird, das geht, solange du nicht im Koma liegst. Und dazu sollte es wohl besser nicht kommen. Du brauchst Hilfe, und der Arzt war ziemlich deutlich, dass es eine Notwendigkeit sei, dass du dich behandeln lässt, wenn dein Zustand sich verschlechtern sollte. Dein Gesundheitszustand, hörst du! Lass dir helfen! Zumindest bei dieser Sache, um wieder flott zu werden. Wir sehen zu, dass die, die es gegen dich verwenden könnten, nichts davon erfahren?“ Cedric stöhnte. „Scheiße… meine Rübe… wir ist total schlecht… Kein Krankenwagen! Das kriegen die mit! Vielleicht ist meine Mutter auch da draußen!“ „Okay, okay…“, ruderte Kunibert. „Ich kann dich hinbringen, mein Auto parkt ja auf der Einfahrt. Ich fahr es so hin, dass man von außen nicht sieht, dass du einsteigst?“ „…kay…“, brachte Cedric hervor und versuchte, sich aufzurappeln. Weit kam er nicht, auf allen Vieren wurde er noch einen Stich grüner und begann zu würgen. Kunibert hockte sich vorsichtig hin, noch immer Abstand wahrend, während Cedric wieder, ungute Laute von sich gebend, gen Boden sank. Er fühlte sein Herz wummert, zugleich hatte er dasselbe Gefühl wie bei einem Basketballspiel oder einem Vortrag. Hier musste er alles geben und nicht alles ließ sich planen, aber er konnte das, es geschah, einfach voran, konzentrieren… „Hör zu“, sagte er ruhig. „So wird das nichts. Du kannst nicht wie ein kotzender Wurm bis zum Auto kriechen. Das macht die Sache nicht besser und dauert zu lang.“ „Ich…“, hechelte Cedric verzweifelt. „Nicht du. Ich mache das. Man sagt zwar, schlimmer geht immer – aber das muss echt nicht sein – es sei denn, jemand kriegt das hier spitz, oder du bleibst da, wo du jetzt bist. Ich hol mir jetzt diese Luxus-Kaschmir-Decke vom Sofa, da rollst du dich drin ein – und dann schlepp ich dich zum Auto wie eine Wurst im Schlafrock – oder meinetwegen auch Kleopatra im Teppich. Ich weiß, du kannst Berührungen nicht ausstehen, die Decke verhindert das Unangenehmste. Aber die Ärzte und Schwestern und so haben dich ja auch angefasst, du kannst das. Ich mag zwar aussehen wie eine Figur aus deinen Alpträumen, aber das hier ist die Realität. Ich bin Kunibert Lerchenfels, Prähistoriker, Spongebob-Fan und kann mit den Ohren wackeln, okay, bitte? Und ich bringe dich jetzt zum Arzt, nicht gegen deinen Willen, denn du willst höchstwahrscheinlich nicht hier zum Teufel gehen. Du kannst nicht laufen, also wirst du geschleppt. Irgendwelche Einwände?“ Cedric lag schwer atmend bäuchlings auf dem Boden und schien verzweifelt zu versuchen, geradeaus zu sehen. Kurz schwieg er, Kunibert hatte schon Angst, er habe es nicht mitbekommen oder stellte sich trotzdem quer, dann kam ein geschlagenes: „Mach…“ Kunibert wetzte los, schnappte sich die Decke und warf sie über Cedric, der sein Bestes gab, sich einigermaßen hinein zu strampeln. Mit sehr mäßigem Erfolg, aber immerhin. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer und schnell. „Gut“, lobte ihn Kunibert. „Ich hol jetzt das Auto ran, dann geht’s ab zum Onkel Doktor...“ ………………………………………………………………………………………………… Irgendwer hatte ihm die Batterien heraus genommen, ganz bestimmt… Wie konnte man nur so schlapp sein… Er fühlte sich, als habe er den weltgrößten Kater und sei zugleich immer noch stockbesoffen. Ihm war kalt, zugleich schwitzte er. Kunibert hatte recht, natürlich, er war im Arsch. Er brauchte Hilfe – und diese Hilfe wollte er auch. Aber jetzt… Er fühlte die Schritte auf dem Boden mehr als er sie hörte, dann beugte sich etwas über ihn… nicht etwas, jemand. „Bereit, Cedric?“ wurde er gefragt. Er konnte nur unkoordiniert murmeln, während er in sich hinein lauschte. Panik…? Nein… aber vielleicht war ihm gerade auch einfach zu schlecht dafür. Warum auch Panik schieben, er konnte eh nicht weglaufen, und es ging ihm sowieso schon beschissen. Dennoch fühlte er ein unkontrolliertes Zittern in sich, als sich ein Arm unter seinem Rücken durchquetschte und ein anderer unter seinen Kniekehlen. Aber diese Berührungen waren nicht rabiat, sondern eher… sachlich. Schwester Kunibert bei der Arbeit. Er wurde hochgewuchtet, als sei er eine Lumpenpuppe – nix war mit Kleopatra – dann drückte ein warmer Körper gegen ihn durch die Stoffbahnen hindurch. Er hing an Kunibert wie so eine beschissene Baby-Puppe oder die Braut beim Einmarsch ins neue Daheim. Entweder folgte er dem Reflex und ließ sich schlapp kopfüber nach hinten durchhängen, so dass er noch schwerer zu schleppen war, oder er sah zu, sich nicht total affig zu benehmen. War doch eigentlich auch egal. Ob er das war oder ein Sack Zement, Kunibert schleppte eben. Er spannte sich, so gut es ging, Kunibert ging in die Knie und ruckelte ihn in Position, dann klatschte sein Kopf gegen die Schulter des anderen. „Okay, los geht’s“, murmelte Kunibert ziemlich nah an seinem Ohr. ………………………………………………………………………………………………… Cedric mochte zwar klein und zierlich sein, eine Feder war er jedoch nicht, so benommen, wie er jetzt da hing. Es war seltsam, irgendwie roch Cedric wie das Steinfeld, nach Wildblumen und Gras und Steinen in der Mittagssonne, obwohl er heute noch gar nicht draußen gewesen war. Sein Gesicht war käsebleich, dass die Sommersprossen umso stärker hervor stachen, er hielt die Augen geschlossen und schien sich aufs Atmen zu konzentrieren. Von so nah betrachtet fiel auf, dass sogar seine Wimpern und Augenbrauen diese seltsame rostrote Farbe hatten. Sein ebenfalls völlig gepunkteten Hände waren in die Decke gekrallt. Kunibert unterdrückte ein Ächzen und marschierte los. Es war alles andere als leicht, den Angeschlagenen auf die Rückbank zu bugsieren, so dass er zusammengeklappt lag. Das mit dem Anschnallen konnte man so sauber vergessen, doch Kunibert ging stark davon aus, dass sie hier am Arsch der Heide nicht zu allem Überfluss noch von einer Polizeikontrolle angehalten würden. Auf jeden Fall konnte man Cedric so von außen nicht sehen und liegend war er deutlich besser dran. „Geht’s?“ fragte er, bevor er den Wagen startete. „Mmm“, murmelte Cedric von hinten. ………………………………………………………………………………………………… Schon wieder Krankenhaus, wie er die Dinger hasste. Es war schon komisch, denn sie waren ja dazu da, einem zu helfen… Aber immer, wenn er eins betreten hatte beziehungsweise hineingeschleppt worden war, war es ihm ziemlich beschissen gegangen. Krankenhäuser waren Orte, an denen man sich Kacke fühlte – und wer tat das schon gern? Er fühlte die Narben auf seinem Rücken jucken, während er auf eine Untersuchungsbank gewuchtet wurde. Das Ende vom Lied war, dass er erneut hier bleiben durfte. Juhu. Als er Stunden später im abgedunkelten Krankenzimmer aus seinem Dämmerzustand erwachte, fand er einen Zettel auf dem hässlichen Nachttisch vor. Kuniberts Handynummer, falls er etwas brauche oder abgeholt werden müsse. Das war ja toll, Multifunktions-Kunibert, ein Kunibert für alle Fälle, Super-Kuni in Aktion… Aber wie tief in der Scheiße würde er ohne diesen Typen stecken? Wahrscheinlich so tief, dass man nicht mal mehr die Luftbläschen an der Oberfläche erkennen könnte. Dabei kannte der ihn doch kaum! Das konnte Kunibert doch alles total am Arsch vorbei gehen. Aber ihm dämmerte, dass das wohl nicht Kuniberts Art war. Merkwürdig, so einen Menschen hatte er noch nie getroffen, jedenfalls nicht bewusst für voll genommen. Für Naivlinge hatte er derartige Personen gern gehalten. Tja, was wäre die Welt – und er selber – ohne die einst so Verlachten, beziehungsweise diesen einen Vertreter dieser Sorte? Falls Kunibert nicht doch irgendwie von langer Hand… Quatsch! Lass das! Da konnte er mal wieder sehen, was für ein blasierter Idiot er gewesen und wahrscheinlich partiell auch immer noch war. Wer nicht zynisch war, war ein Volltrottel und verdiente es, verarscht zu werden, so war die Gleichung gewesen. So benahm man sich selber nur, um jemanden in die Pfanne zu hauen. Aber Kunibert gingen Zynismus und Modegeschmack völlig ab, ebenso wie einige andere Dinge, die er und seinesgleichen zu ihrem Credo erhoben hatten. Aber Kunibert war dennoch nicht doof. Was für eine seltsame Gestalt. Freiwillig hätte er sich den nie ans Bein gebunden, aber er war wohl gerade nicht in der Situation, wählerisch sein zu können. Kunibert selbst konnte sich wahrscheinlich auch einen angenehmeren Umgang als ihn vorstellen. Was für Leute hingen mit einem Kunibert rum? Er hatte eine Pferdetussi-Schwester, eine Walküren-Mama, einen kochenden Vater und einen komplexbeladenen, untreuen Freund. Er stammte aus Norddeutschland, dort konnte Cedric ihn sich auch gut vorstellen. Vor Jahren hatte er mit Etienne mal einen Kurzurlaub an der Ostsee gemacht, er erinnerte das platte Land, die etwas schnodderige Art der Leute, die frische Seeluft. Kunibert half, wenn er helfen konnte, ohne dass dabei vordergründig egoistische Gründe fassbar wurden. Kunibert forderte Treue und Ehrlichkeit von seinem Freund. Kunibert stank es, wenn jemand zu etwas gezwungen werden sollte. Mit anderen Worten: Kunibert hatte ziemlich hehre Prinzipien, die der tristen Realität nicht gerade entsprachen. Der Unterschied zu ihm war wohl, dass Kunibert das keinesfalls so sah – und wenn es nicht hinhaute, dann handelte er, um die Sache wieder ins Lot zu bekommen. Kunibert glaubte, dass das ging. Er nicht. Das blöde war nur, dass es ihm deswegen keinesfalls besser ging, auch wenn er recht haben mochte. Für ihn waren die Menschen wohl tendenziell alle schlecht, für Kunibert tendenziell gut. Die alte Geschichte mit dem Wasserglas. Kuniberts war halb voll – mit Bier vermutlich, seins halb leer – mit Arsen, seinem Lieblingsgetränk, wie’s aussah. Kunibert war Glücksmarie, er war Pechmarie. Spongebob und Thaddäus. Don Camillo und Peppone. Dick und Doof. Gustav Gans und Donald Duck. Kunibert war nicht der Wolf im Schafspelz, das ging ja langsam in seinen Geist – zumindest hoffte er es aus unerfindlichen Gründen, dass es so ein mochte. Aber Kunibert war auch nicht das Schaf. Kunibert war eine Figur aus einer fremden Welt. Die, die er selber kannte, hatte ihn rausgeschmissen, und er wollte und konnte nicht wieder in sie zurück. Aber sie schien nicht die einzig existierende zu sein, doch blöderweise die einzige, in der zu leben er gewohnt und geübt war. Im Kuniversum hingegen war kein Platz für Cedrics der alten Schule. Er konnte sich lebhaft vorstellen, dass dort über Gestalten wie ihn einst genauso herzlich gelacht oder verständnislos mit dem Kopf geschüttelt wurde wie anders herum. Doch wer war er jetzt überhaupt? Cedric kaputt? Oder Cedric anders? Wie anders? Was war er, was konnte er überhaupt sein? Konnte er überhaupt noch etwas sein? Im Moment nicht. Aber immerhin konnte er sich eingestehen, dass Kunibert ihn zwar verwundern mochte – aber richtige Angst…? Irgendwie nicht mehr so wirklich nach der ganzen Sache hier. Klar, wenn Kunibert brüllend auf ihn zugerast käme, dann… aber das tat er ja nicht, warum auch, er wusste ja… und dass es nicht… Eigentlich wusste Kunibert gar nichts. Er vermutete, sicher – aber die Wahrheit, nein. Und er bohrte auch nicht, welch Segen. Kunibert laberte nicht, er machte einfach. Er selber war es gewohnt, dass alles bis zum Erbrechen bequatscht wurde, bis von der Substanz gar nichts mehr übrig geblieben war – und bis der Beweis erbracht war, dass die Welt genauso war, wie sie sein sollte, warum das ändern, wenn man es auch ausnutzen konnte? Falsch, es war falsch gewesen, irgendwie… nicht nur aufgrund des Ergebnisses, sondern irgendwie… sogar das Anstarren der Bienenstöcke gab ihm mehr als seine Auftritte von einst, aber vielleicht lag das auch nur an seiner Hirnverdrehung. Aber die Bienen waren echt… Hatte es ihn selbst vielleicht gar nicht gegeben? War er nur ein Hampelmann gewesen, der glaubte, die Fäden in der Hand zu haben? Er wusste es einfach nicht. Damals war er sich so sicher gewesen. Vielleicht war das echt, was sich auch so anfühlte? Er schon mal nicht. Aber ein paar Dinge… und dieser beknackte Kunibert war es auch merkwürdiger Weise… redete ihm sein wirres Hirn zumindest gerade ein… vielleicht ein weiterer Schritt in den totalen Realitätsverlust. Seine Gedanken marschierten quälend im Kreis, ohne dass er zu einer Schlussfolgerung kam. Nur eine Sache schien ihm recht plausibel: Wenn Kunibert jetzt schon durch sein Leben latschte, vielleicht würde das ihn ein paar Dinge klarer sehen lassen. Jetzt stand nicht mehr Sartre auf dem Programm, sondern Lerchenfels. ………………………………………………………………………………………………… Cedric saß brütend neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er selber hatte sich dort kommentarlos hingesetzt. Zwar hing er ziemlich Richtung Tür, aber er sprang auch nicht raus. Sie hatten ihn eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus gelassen, aber sein Zustand hatte sich rasch wieder gefangen. Gott sei Dank, sonst hätte er noch die Ratten füttern müssen. Solange Cedric niemand dazu zwang, sich anzustrengen, er selber eingeschlossen, dürfte es gehen. Sein Kopfverband war durch ein opulentes Pflaster ersetzt worden, um das die Haare ziemlich unkoordiniert abstanden. Als sie eine halbe Stunde nach Verlassen des Krankenhauses die Kleinstadt passierten, von der aus die Straße Richtung des heimatlichen Dorfes abbog, räusperte sich Cedric plötzlich. „Willst du ein Eis?“ fragte er. Kunibert glotzte ihn ziemlich verwirrt an. Das waren ja ganz neue Töne?! „Äh…?“ stammelte er. „Da vorne ist eine Eisdiele. Die haben sehr leckeres Eis, das weiß ich von… früher. Du könntest… kurz halten, und dir eins holen…?“ murmelte Cedric und blickte uninteressiert gen Horizont. „Äh… Willst du ein Eis…?“ stocherte Kunibert. Cedric zuckte mit den Schultern. „Warum nicht“, erwiderte er, als sei das Kuniberts Idee gewesen. „Cedric“, seufzte er. „Wenn du ein Eis möchtest – und dich in der Lage fühlst, kurz allein im Auto zu warten, dann kann ich gerne ein Eis holen.“ „Lass aber das Fenster einen Spalt weit offen, sonst erstick ich noch. Du willst ein Eis. Ich will ein Eis. Also holen wir – äh du – uns jetzt eins. Du kannst hinten parken, da ist niemand, ich komme schon klar“, orderte Cedric. „Das ist… schön. Aber nicht die Polster zerbeißen, während ich weg bin. Was willst du?“ fragte Kunibert und bog links ein. „Erdbeere“, erwiderte Cedric kurz angebunden. „Nur eine Kugel?“ hakte Kunibert ungläubig nach. „Mmm… drei: Erdbeere, Stracciatella und Haselnuss“, murmelte Cedric und spähte misstrauisch aus dem Fenster, aber hier war wirklich nicht viel los. Eichhörnchen, diese als puschelig getarnten Ratten, hopsten durch die angrenzenden Bäume, Fliegen surrten um einen blauen Müllcontainer. „Sehr wohl, der Herr. Bis gleich“, sagte Kunibert, während er ausstieg. Innerlich schüttelte er den Kopf. Was war das denn? Cedric wollte ein Eis?! Bot ihm an, sich eins zu holen?! Oder wie war das jetzt zu verstehen? Er schielte über die Schulter. Cedric saß stocksteif auf seinem Sitz und starrte die Eichhörnchen nieder. Geschah ihnen recht. Was zum Teufel war denn in den gefahren, dass er plötzlich etwas so… Normales machte? Okay, auf seine Art natürlich… aber war das derselbe Typ, der sich vor einiger Zeit noch vor den Lebensmittellieferanten versteckt hatte? Der wollte jetzt ein Eis aus der Eisdiele? Auf Gefahr hin, dass hier wirklich wer Fremdes entlang kam? Sollte er das nicht besser… nein. Das mochte zwar ziemlich komisch sein, aber Cedric dürfte schon wissen, was er da tat. Bekam er eben ein Eis. Braver Cedric. Zehn Minuten später war er wieder da. Er hatte kurz anstehen müssen, aber dann hatte die Verkäuferin unter seinem strahlensten Lächeln die Waffeln ordentlich vollgestopft. Es kleckerte ihm bereits über die Finger, vielleicht hätte er nicht ganz so gierig sein sollen… Aber wenn man sich zwischen so vielen leckeren Sorten entscheiden sollte, war es doch am leichtesten, einfach alle zu nehmen… Cedric hockte immer noch da wie ausgestopft, kam aber in Bewegung, als er ihm seine Waffel vor die Nase hielt. „Hier, ein Kalteis für Kalteis“, kommentierte er. „Haha, der Witz ist so lahm, der läuft fast rückwärts“, ätzte Cedric routiniert, nahm aber mit spitzen Fingern die Tüte entgegen. Erneut konnte Kunibert nur verdattert starren. Hatte der letzte Zusammenbruch Cedric den Rest gegeben? Er hatte sich schon Sorgen gemacht, wie die Übergabe funktionieren sollte. Das Messungsgerät hatte er ja immer hingelegt und Cedric hatte es sich dann abgeholt, sobald wieder Distanz herrschte. Und jetzt saß der auf dem Beifahrersitz und nahm sogar eine Eistüte aus seiner Hand entgegen?! Und seine Finger waren trotzdem alle noch dran?! Toll, jetzt hielt er Cedric schon verrückt, wenn der mal Ansätze zu normalen Verhaltensweisen aufzeigte, nicht gerade fair. Aber was zum Teufel hatte das ausgelöst? Cedric schaute zur Seite aus dem Fenster über die abgeernteten herbstlichen Felder, während Kunibert sich voll damit beschäftigt fand, sein Eis zu essen, zu lenken und sich nicht von Kopf bis Fuß einzusauen. „Haben die eigentlich sofort geschlossen, nachdem du raus bist?“ fragte Cedric spitz mit einem kurzen Blick zu ihm hinüber. „Oder hast du etwa eine Höflichkeitskugel zurück gelassen?“ „Hey, ich bin ein großer Junge! Ich muss essen, sonst falle ich vom Fleisch!“ protestierte Kunibert. Okay… sieben Kugeln waren schon ein wenig übertrieben… schon jetzt war seine Zunge so gefroren, dass er nichts mehr schmeckte. „Ich sag dem Lieferanten Bescheid wegen der halben Kuh für morgen“, stichelte Cedric. „Aber bitte nicht Chloe!“ wandte Kunibert ein. „Wer zur Hölle ist Chloe?!“ wollte Cedric wissen. „Die Kuh von neulich…“, erklärte Kunibert. „Oh, verstehe, Bessi, Lola und Linda sind okay, weil du sie nicht persönlich kennst. Aber Chloe… das wäre Mord! Ich werde es ausrichten…“, versetzte Cedric. „Dir geht es offensichtlich besser“, bemerkte Kunibert stoisch. „Mmm, ja, Onkel Doktor hat mich wieder heil gemacht. So halbwegs“, gab Cedric zu. „Freut mich“, murmelte Kunibert, während seine Nasenwurzel vor Kälte begann zu schmerzen. „Danke!“ sagte Cedric abrupt, wieder aus dem Fenster starrend. „Äh… was?“ fragte Kunibert verdattert. „Danke… für die Hilfe… das macht man doch so… wie auch immer… Auf jeden Fall: Danke!“ presste Cedric hervor. „Schon okay“, erwiderte Kunibert verwundert. „Ich bin das nicht gewohnt“, murmelte Cedric. „Danke zu sagen?!“ stutzte Kunibert, der sich das in Hinsicht auf Mama Kalteis nicht vorstellen konnte. Die hatte ihrem Sprössling garantiert Manieren beigebracht. „Nein! Dass mir… jemand hilft… der das gar nicht muss“, nuschelte Cedric. Kunibert sah ihn nachdenklich an, während er in den Weg zum Haus einbog. „Ich muss aber. Nicht nur wegen dir, sondern irgendwie auch wegen mir. Weiß auch nicht so recht“, erklärte er. „Das meinte ich“, erwiderte Cedric. Kapitel 14: Im Dunklen ---------------------- XIII. Im Dunklen Cedric schoss senkrecht aus dem Bett. Drei Tage waren mit Herumhängen und Genesen vergangen, während Kunibert tagsüber über das Feld gewuselt war. Heute hatte er selbst sich auch wieder hinaus wagen können, alles war irgendwie gegangen. Noch mehr Erdbeerbrei… Aber jetzt… war es dunkel. Scheißdunkel. Es war Neumond, auch von draußen kam kein Licht. Und all die Lampen, die das Haus gewöhnlich erleuchteten, waren verloschen. Mit wummerndem Herzen griff er zum Nachttisch, wo er eine Taschenlampe deponiert hatte. Zumindest ging die noch, aber dieses funzelige Licht… oh Gott… wie… Aber da war ein Blinken, ein rotes Licht… das Babyfon… Zitterig schnappte er es sich. „Kunibert!!!“ brüllte er hinein. „Oh Gott?!?!?!“ ertönte von unten so laut, dass es sogar durch die dicke Decke dröhnte. Er war nicht allein… „Das Licht ist aus!“ brachte er zustande. Stattdessen nur diese Funzelbeleuchtung… wie… wie… Unten waren Schritte zu hören. „Stromausfall?“ brüllte Kunibert vom Fuß der Treppe aus. Cedric merkte, wie sein ganzer beschissener Körper von kaltem Schweiß bedeckt war. Scheiße… nicht schon wieder… Er gab sich irgendwie Schwung und kam auf die Füße, raste benommen aus dem Schlafzimmer den Flur entlang dorthin, wo er die Treppe vermutete. „Cedric? Alles klar?“ kam von unten. „Nein! Nicht alles klar!“ brachte er hervor und stellte fest, dass er kurz davor war zu kreischen. „Das Licht ist weg! Das Scheiß-Licht ist weg!!!“ „Ja, ist dunkel wie im Affenarsch hier… das kannst du gar nicht ab…?“ fragte Kunibert. Cedric spürte, wie er zitterte wie verdammtes Espenlaub. „Nein!“ kreischte er jetzt wirklich. „Das kann ich in der Tat gar nicht ab!“ „Okay… Hast du… Kerzen?“ fragte Kunibert pragmatisch, was ihn wieder ein wenig auf den Boden der Tatsachen zurück beförderte. „N… nein… mir war nicht so nach Romantik“, keuchte er. „Der Kamin!“ schoss es aus Kunibert. „Was?“ fragte Cedric etwas blöde, während er die brüllende Panik irgendwie versuchte im Zaum zu halten. „Kamin! Feuerstelle! Wohnzimmer! Großes, flackerndes Feuer! Warm! Licht!“ gab Kunibert durch. „Ich…“, brabbelte Cedric. „Ich aber. Das Holz unter dem Kamin ist gut getrocknet – ich folgere, dass du den nie an hattest. Wenn du mit deiner Taschenlampe da runter kommst, schaffe ich es, es anzuzünden – ein Feuerzeug habe ich, reise nie ohne. Ich kann sogar mit zwei Ästchen Feuer machen! Habe ich beim Live Rollenspiel gelernt!“ gab Kunibert durch. „Was?!“ stotterte Cedric. „Live Rollenspiel. Und bevor du fragst: Ich war ein Zwerg. Lachen darfst du, sobald du wieder kannst. Schaffst du es runterzukommen mit der Lampe?“ wollte Kunibert wissen. Er hatte es irgendwie raus, mit seiner dunklen Stimme so langsam zu sprechen, dass Cedrics Ohren ihn irgendwie hörten. „Ja…“, quetschte er hervor und torkelte abwärts. So dunkel… überall... gleich… „Und schwups, da bist du“, kommentierte Kunibert. „Dann wollen wir mal. Niemand hier, nur wir. Mann, liegt mir der Pfannkuchen von vorhin noch schwer im Magen. Ich habe vielleicht Kram geträumt, als du mich wach gebrüllt hast! Meine Schwester wollte mich mit vorgehaltener Schrotflinte zwingen, eine ihrer ewig gefrusteten Single-Freundinnen zu heiraten. Doch in Wirklichkeit war die eine Kuh namens Chloe, doch das konnte nur ich sehen“, quasselte Kunibert auf ihn ein. Der wollte ihn ablenken… half nicht viel, war immer noch scheiß-dunkel, aber immerhin… „der Pfannkuchen“ – pah!!! Hätte der mal nicht eine halbe Wagenladung davon gefressen, dann würde er jetzt auch nicht von heiratswütigen Kühen träumen… dunkel… sie waren da… dunkel… das Warten war das Schlimmste… dachte man, bevor es erneut begann… zwei Tage… Millionen von Jahren… Irgendwie war er ins Wohnzimmer gelangt. Die Taschenlampe zitterte so stark in seiner Hand, dass Kunibert sie ihm schweigend abnahm. Das ging wie die Eistüte… Kunibert war nicht da gewesen… hatte damals gar nicht existiert… und passte auch nicht hinein… „Ganz ruhig, Cedric“, kam es, als sei er ein durchdrehendes Pferd. „Gleich wird es wieder hell. Wie bei den Höhlenmenschen… bei allen Menschen vor der Erfindung der Elektrizität, und das ist historisch gesehen nur ein Wimpernschlag. Zwerg Kunibert macht jetzt Feuer…“ Zwerg Kunibert?! Was denn noch?! Der hatte sie doch nicht alle!!! Da befand er sich allerdings in guter Gesellschaft. Wer wäre er dann… der Riese Cedric? Nein, er war und blieb ein Zwerg… oder eher Hobbit, fehlten eigentlich nur die behaarten Riesenquanten. Aber es half nichts, er konnte es fühlen… die Fesseln an seinen Gelenken… die Hilflosigkeit, den Schmerz, die Fassungslosigkeit, die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit… lasst mich sterben… lasst mich endlich, endlich sterben… habt ihr denn immer noch nicht genug… ………………………………………………………………………………………………… Kunibert durchschoss ein Gefühl der tiefsten Begeisterung, als die Flammen begannen, hoch zu züngeln. Großer Mann hat Feuer gemacht, juhu! Das musste wohl doch etwas Genetisches sein… Er zuckte zusammen, als er von hinten ein Geräusch vernahm. Erschrocken fuhr er herum. Oh Gott, schon wieder…? Cedric saß zusammen gekrümmt auf dem Boden, die Hände schützend über dem zwischen die Knie gesenkten Kopf gefaltet, obwohl ihm das weh tun musste, und japste leise gequält vor sich hin. Kunibert richtete vorsichtig den Lichtkegel der Taschenlampe auf ihn, was ihn jedoch nicht zu erreichen schien. Nein, das war nicht die Kopfverletzung, das war… das andere, das, was Cedric dazu veranlasst hatte, sein Haus auch bei Nacht zu beleuchten, als warte er auf den Weihnachtsmann. „Cedric…“, versuchte er es vorsichtig. „Ist doch alles gut. Alles in Ordnung… Es ist wieder Licht da, sieh nur… alles in Ordnung.“ „Aufhören!“ stöhnte Cedric. „Es soll aufhören! Bitte… bitte… bitte…“ „Cedric, bitte“, sagte er hilflos. „Es hat aufgehört. Das ist die Vergangenheit, nicht die Gegenwart. Du bist sicher… Es ist Licht da, es ist warm, ich tue dir nichts, ich will dir… nur helfen…“ „Mir kann niemand helfen!“ stieß Cedric hervor. Okay, irgendetwas von dem eben Gesagten musste angekommen sein. Giftgrüne Augen richteten sich abrupt weit aufgerissen auf ihn. „Ich bin im Arsch!“ keuchte Cedric. „Ich kann nicht mehr… Ich will meine Steine! Die Bienen! Lesen! Nichts!“ „Das stimmt doch nicht… nicht ganz… du wolltest ein Eis!“ wandte Kunibert ein. „Ich kann dir helfen, zumindest ein bisschen… beim Eis holen… und…, dann können das auch andere. Da, wo du es zulässt. Bei vielen Sachen auch nicht, das gebe ich zu. Ich weiß ja auch nicht, was dir überhaupt angetan wurde. Aber egal was, das hast du wohl kaum verdient.“ „Doch!“ stieß Cedric hervor. „Habe ich!“ „Niemand hat das“, behauptete Kunibert. Cedric stieß ein Lachen aus, dass Kuniberts Haare dazu verleitete, sich aufzustellen. „Wenn du mich damals gekannt hättest… Ich war ein Riesenarschloch in deinen Augen, garantiert, und dafür hätten sich binnen Sekunden Millionen von Unterzeichnenden gefunden! Und es wäre mir scheißegal gewesen! Nein mehr als das noch…“ „Mmm“, murmelte Kunibert. „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Aber auch ein Riesenarschloch hat nicht unbedingt das verdient, was immer man dir zugefügt hat. Hast du Hundebabies vergiftet?“ „Nein!“ fuhr Cedric auf. „Die Koreaner mit Atomwaffen versorgt?“ „Weniger…“ „Den Regenwald im Alleingang abgeholzt?“ „Sehe ich so aus?! Das wohl eher du!“ „Osteuropäern die Nieren geklaut?“ „Nein! Hör auf mit der Scheiße!“ Cedric kam, etwas orientierungslos blickend, aber immerhin, wieder hoch. „Oh Gott, was ist das denn schon wieder…“, stöhnte er. „Meinst du mein Nachtgewand? Habe ich selber genäht: lauter kleine Enterprises…“, erklärte Kunibert mit einem Hauch von Stolz. „Dafür gehörst du in die Hölle, nicht ich!“ ächzte Cedric in seinem feinen Zwirn. „Da siehst du, wie das mit Schuld ist… Bist du nicht sicher, dass dir das nur so vorkommt, damit es irgendwie Sinn ergibt?“ bohrte Kunibert unerbittlich. Er wusste, dass er sich hier auf wackeligem Gelände bewegte, und er sich wahrscheinlich auch nur so leidlich schlug, und eigentlich war es nicht die Neugier, die ihn trieb, sondern… ja, was eigentlich? Das Bedürfnis zu verstehen? Dieses Gefühl, dass das, was in Cedric Vergangenheit geschehen war, von diesem gewaltsam im Zaum gehalten wurde, so dass er es ertrug, aber dabei völlig erstarrt war…? Und dass dahinter… etwas war… das nicht tot war…? Cedric seufzte tief auf. Er zitterte immer noch, aber er hatte sich zumindest ein wenig gefasst. „Zum Teil… wahrscheinlich. Haben die Therapeuten auch behauptet, aber es zu begreifen bedeutet nicht, dass man es… kann“, gab er zu, dann verfiel er in Schweigen. Das Feuer prasselte, draußen schrie ein Käuzchen, sonst war es still in dieser Einsamkeit. Kunibert verharrte und sah zu Boden. Er hatte keine Ahnung, wie lange es gedauert hatte, bis Cedric erneut mit emotionsloser Stimme zu sprechen begann: „Ich war damals… wie sagt der Engländer… „the king of fucking everything“ in der Pariser Schwulenszene. Außerdem der Superstudent. Der mit dem piekfeinen Hintergrund. Der, der alles hatte, alles durfte. Und der sie alle hat kriechen lassen“, erzählte er in die Flammen starrend. „Und was war… mit deinem Freund?“ wollte Kunibert vorsichtig interessiert wissen und setzte sich nahe dem Kamin in den Schneidersitz. „Etienne… kommt aus ganz ähnlichen Verhältnissen wie ich. Man könnte sagen, wir hatten eine… offene Beziehung. Die Welt war unser Spielplatz… der Rest nur hohles Nichts, das man benutzte, über dessen Wohl und Wehe wir entschieden, gemeinsam… Aber die gar nichts bedeuteten, nur Fleisch…“, murmelte Cedric wie zu sich selbst. Kunibert hatte zwar eine diffuse Idee, aber diese Welt war ihm fremd. Zur Szene hatte er nie gehört, dazu war er zu… unangepasst, wahrscheinlich. Kein Ort für die Monsterbanane. Außerdem war Kiel auch nicht gerade Paris. Er wusste, dass andere promiskuitive Beziehungen führten, aber das war für ihn nie in Frage gekommen. Vielleicht, weil man ihm nie das Gefühl gegeben hatte, anders zu sein, so dass er die gängigen Normen einfach angenommen hatte? War er ein spießiger Trottel? Wenn ja, dann war das okay für ihn. „Aber das „Fleisch“ hat zurück geschossen?“ mutmaßte er ins Blaue hinein. Hastig biss er sich auf die Lippe. Vielleicht war das doch zu viel… Cedric zog die schlanken Beine weiter vor die Brust und umschlang sie, weiterhin ins Feuer blickend, als sähe er etwas in den Flammen. Er wirkte etwas ruhiger, aber immer noch angespannt und geschafft. War das jetzt unangemessen taktlos gewesen nachzufragen? Wahrscheinlich. Aber irgendwie… redete Cedric. „Ja“, erwiderte er langsam. „Das hat es wohl.“ „Rache ist dennoch ein niederes Motiv“, bestand Kunibert. Cedric seufzte erneut und schloss die Augen. „Am Anfang… wollten sie sich wohl nur rächen… mir Angst einjagen… für die Demütigung… die Degradierung… aber ich habe die Klappe nicht halten können… und dann… sind sie ausgetickt… waren auch auf Droge… Gruppendynamik und bla… und haben es wahr gemacht…“ „Scheiße“, meinte Kunibert nur. „Ich habe mit dem Feuer gespielt… die Größten, Stärksten, Dominantesten, nur um sie hinterher durch den Dreck robben zu lassen… wehe, wenn sie losgelassen…“, fuhr Cedric fort. Kunibert hielt die Luft an und schwieg, ließ ihn reden. Er war sich auch nicht ganz sicher, ob Cedric überhaupt gerade mit ihm sprach oder zu sich selbst. „Zwei Tage lang… konnte ich hinterher errechnen, aber es hat sich viel länger angefühlt. Ich kann gar nicht sagen, was sie mit mir angestellt haben… vieles erinnere ich auch kaum, am Schluss war ich längst ohnmächtig… irgendwann sind sie wieder zu sich gekommen, waren größtenteils zugleich auf Koks und sonst was… und dann haben sie Panik geschoben… haben mich in einem Elendsvorort in einen Müllcontainer gestopft, dachten, ich sei tot. Ein schlauer Müllmann hat’s gemerkt, sonst wäre ich durch die Walze gegangen. Im Krankenhaus haben sie mich in ein künstliches Koma gesteckt. Und als ich wieder zu mir kam… war nichts mehr…“, flüsterte Cedric. „Und es war dunkel, als sie mich holten, dunkel in dem Raum, ein Loft, wenn sie sich ausruhten und aufputschten für die nächste Runde… und ständig Musik oder der Fernseher…“ „Scheiße, Cedric“, stammelte Kunibert hilflos. „Aber das hast du nicht verdient gehabt. Es gibt kein „verdienen“, was so etwas angeht. Okay, das ist leicht gesagt, wenn man das nicht erlebt hat… Ich weiß nicht… als meine Oma gestorben ist… Sie hat immer gesagt, dass ich sie mit meiner Nerverei noch ins Grab bringe… und als sie dann gestorben ist, habe ich mich total schuldig gefühlt, dabei war das nur so ein Spruch aus der alten Schule… Sie hatte eine Lungenentzündung… Habe mich trotzdem gefühlt wie der letzte Dreck, sogar heute noch manchmal… Schuld ist nicht… aufrechenbar. Aber egal was für ein blödes Arsch du warst, das rechtfertigt das auf keinen Fall! Und macht dich auch nicht mitschuldig!“ „Das sah der Richter ähnlich… Aber das macht nichts ungeschehen“, erwiderte Cedric regungslos. „Und jetzt bin ich hier… und nichts ist mehr… dennoch sind Dinge… dieser Ort… und komischerweise auch du, nicht wahr? In deinem blödsinnigen Pyjama, das bist du, oder?“ Kunibert schluckte. Cedric starrte ihn aus seinen merkwürdigen Augen heraus an. „Ja, das bin ich. Vielleicht bin ich echt ein Barbar, geschmackstechnisch gesehen – aber dieser ganze Kram… Outfits…Spielereien… ist mir – verzeih – Banane. Mag angesagt sein, aber interessiert mich nicht. Ich will ich sein, auch wenn andere dann über mich lachen. Das ist mir wirklich wurschtegal.“ „Komisch“, sinnierte Cedric. „Das war immer das Wichtigste… was andere denken… und das Unwichtigste zugleich. Und fühlst du dich… gut dabei?“ „Naja“, seufzte Kunibert und genehmigte es sich, sich vor dem Kamin etwas auszustrecken. „Das ist keine Garantie auf Glück. Mit meinem Freund, Jakob, hängt es echt im Argen, und ich weiß echt nicht… ich kenne ihn so gut, wir sind schon so lange Partner, aber irgendwie… ich weiß nicht…“ „Du willst Treue, und er bescheißt dich, obwohl er dasselbe behauptet?“ fragte Cedric, seine im Kaminfeuer seltsam gemusterten Füße greifend. Kunibert nickte stumm. Er war sich nicht sicher, ob Cedric das wirklich interessierte… aber wenn er fragte…? „Ich will nicht lügen. Ich habe Treue immer für überbewertet und eine Fiktion gehalten. Sex ist eine körperliche Funktion, die in den primitivsten Regionen unseres Hirn ihren Widerhall hat und mit Intelligenz gewürzt werden kann – aber nicht muss. Davon kann ich ein Lied singen. Es bedeutet nichts, nichts… und ich kann es sowieso nicht mehr ertragen, nicht einmal daran denken, ohne dass mir übel wird“, erzählte Cedric dumpf. Kunibert sah ihn nachdenklich an. „Ich weiß nicht… Ich hoffe, dass du irrst, aber… Aber das… ist auch nicht alles. Nicht jede Konversation, nicht jede Berührung zielt darauf. Ganz und gar nicht. Es gibt so viel mehr… Freundschaft, Gemeinschaft, Familie, eine erfüllende Arbeit… oder einfach nur Spaß beim Rollenspiel oder Spongebob gucken oder so… Aber wenn du bei allem… bei allem immer daran denkst, wirst du immer das bleiben… aus Stein…“, wagte er sich vor, fürchtend, dass das doch endgültig zu viel sei. Doch Cedric schien bloß zu grübeln und wippte in sich verknotet hin und her. Minuten vergingen. Kunibert war sich nicht sicher: zehn? Eine Viertelstunde? Eine halbe? Doch weniger? Oder mehr? Cedric machte einfach immer weiter, und er selber wagte nicht, sich zu rühren. Was bloß jetzt in ihm vorging? Was er erlebt hatte… oh mein Gott… wie konnte man damit leben…? So wie Cedric…? Dann blickte Cedric abrupt aus schweren Augen auf und straffte sich. Er hob zitterig den Arm in Kuniberts Richtung, der ihn gebannt ansah. „Nimm meine Hand!“ stieß er hervor, als befehlige er eine Armee. Kunibert starrte ihn an, dann bewegte er sich sehr vorsichtig in Cedrics Richtung und streckte die Hand aus. Cedric nagte an seiner Unterlippe, dann griff er zu. Seine Hand war kalt und ein wenig verschwitzt in Kuniberts, feingliedrig und zögerlich, dann gewann sie plötzlich Kraft, fast hätte Kunibert aufgekreischt, aber dann biss er die Zähne zusammen. „Hand…“, murmelte Cedric mit geschlossenen Augen und lang ausgestrecktem Arm. Kunibert ließ ihn. Cedric mochte nicht die Lieblichkeit in Person sein… aber er war eine verlorene Seele. Das Bisschen, das er hier tat, das machte ihm ja nichts. Nur ein wenig Vertrauen. Er hielt die Klappe und ließ Cedric einfach mal machen. Auf Cedrics Zügen zeichnete sich nach einer Weile ein merkwürdiges Lächeln ab. „Weißt du eigentlich“, flüsterte er, „wie erbärmlich das hier ist?“ „Das ist doch völlig egal. Solange es gut ist – wer, bitteschön urteilt darüber? Ich sehe keinen hier. Nur uns. Und für mich ist das okay. Wenn es dir hilft.“ „Aber was“, wollte Cedric wissen und sah ihn an, „bringt dir das?“ Kunibert zuckte mit den Schultern. „Ich bin da… und ich kann. Was für ein Mensch wäre ich, wenn mich dein Leid kaltließe?“ „So einer wie ich“, antwortete Cedric düster. „Jetzt? Oder früher?“ wollte Kunibert wissen. „Ich weiß es nicht“, flüsterte Cedric kaum hörbar. Kapitel 15: Lord Grummel will Mohnbrötchen ------------------------------------------ XIV. Lord Grummel will Mohnbrötchen Kunibert blickte entlang der Steinreihen. Cedric hockte in eine Luxus-Decke gewickelt auf seinem Stein, beziehungsweise dem Stein, auf dem er, lädiert, wie er war, aktuell zu thronen pflegte, und las. Charles Dickens, wie Kunibert beim Vorbeigehen aufgeschnappt hatte, Geschichten von verlorenen Kindern, die dennoch aufgrund der Anständigkeit einiger Leute ihr Glück fanden. Sah er sich selbst in diesen Geschichten, oder war das Zufall? Um ihm bei den Messungen zu helfen, war Cedric nach wie vor zu angeschlagen, aber er schien inzwischen wirklich auf dem Weg der Besserung zu sein. Von Seiten seiner Mutter war nichts mehr erfolgt, nachdem ihre Sendboten nicht das Szenario vorgefunden hatte, dass sie ihnen anscheinend weisgemacht hatte – vielleicht auch ein wenig sich selbst. Aber Cedric schien nicht zu vermuten, dass sie langfristig Ruhe geben werde, da seine Anwesenheit und sein Lebensstil hier offensichtlich nicht ins familiäre Konzept passten. Dennoch dürfte er, gesundheitlich wiederhergestellt, damit klar kommen. Momentan verlustierte Kunibert sich damit, Fotografien zu machen und diese systematisch in ein Computerprogramm einzuordnen, dass er eventuell so das Feld virtuell würde rekonstruieren können, wenn er wieder daheim war. Ewig lange würde er nicht mehr bleiben können, obwohl noch so viel zu tun war. Der freundliche Teil des Herbstes verrann langsam, bald würde das Wetter umschlagen. Es war sowieso schon ein rechtes Wunder, dass es hier zu dieser Jahreszeit noch so viel Sonnenschein hatte. Daheim in Kiel erwartete ihn der übliche graue Nieselregen, seine Familie, seine Freunde – und Jakob. Innerlich seufzte er. Er hatte sich Zeit erbeten für sie beide, aber zu einer rechten Schlussfolgerung mochte er einfach nicht kommen. Jakob war sein Freund, sein Vertrauter, so sehr Teil seines Alltags, dass er kaum wegzudenken war. Andererseits hatte er ihn belogen und betrogen, was das Ganze doch ziemlich ins Wanken brachte. Aber die Menschen waren nun einmal nicht so einfach gestrickt, wie es irgendwelche Daily Soaps darstellten, vielleicht war das nur eine Phase, etwas, das Jakob durchmachen musste – wäre es übertrieben kleinkariert, da nicht ein wenig Toleranz aufzubringen? Wenn er wenigstens nicht gelogen hätte… dann vielleicht. Aber der Gedanke, dass jemand mit seinem Liebsten schlief, während er daheim die Spülmaschine ausräumte, behagte ihm ganz und gar nicht. Das wollte er definitiv gar nicht wissen – den Gefallen hatte Jakob ihm ja getan. Und das war auch wieder falsch. Und Jakob… er war gerne mit ihm zusammen… es war schön, mit jemandem gemeinsam zu leben, Pläne zu machen, über Kleinigkeiten zu lachen und zu lästern und manchmal auch ein wenig zu streiten… Jakob war ein Teil seines Zuhauses, nicht nur, weil sie eine Wohnung teilten. Okay, Jakob konnte manchmal auch ein wenig jammerig sein, aber jeder hatte so seine Macken. Und er sah gut aus in Kuniberts Augen, roch so vertraut nachts im Bett neben ihm… Alles schön und gut, aber liebte er ihn denn noch? War das überhaupt so wichtig? Und was war Liebe überhaupt? Nicht der Rausch der Verliebtheit, aber der echote darin nach… Vertrauen? Heimat? Ließ sich das wieder kitten…? Ach, verdammter Mist, er wusste es einfach nicht. Vielleicht würde er klarer sehen, wenn er ihm einfach wieder gegenüber säße, nachdem jetzt ein wenig Wasser den Bach hinab gelaufen war… Derweil hatte er hier noch einiges wegzuschaffen. Ob Cedric einverstanden wäre, wenn er im Frühjahr wieder käme, um den Rest zu erledigen…? Irgendwie gewöhnte man sich an fast alles, Daumenschrauben eventuell ausgenommen, selbst an Cedric Kalteis. Und dem schien es auch nicht anders zu gehen, kroch er doch ein wenig aus seinem Schneckenhaus. War wahrscheinlich ein ziemlicher Schritt gewesen für ihn, so viel Vertrauen aufzubringen, ihm von seiner Vergangenheit zu erzählen und dann wild entschlossen seine Hand zu fordern. Schon eine komische Sache, Cedrics Hand gehalten zu haben, während der stumm einfach da gesessen hatte und immer wieder dorthin gestarrt hatte, wo sie sich berührten. Aber das war kein Händchenhalten wie im Kino, sondern eher der Griff nach jemandem, der bis zum Hals im Treibsand steckte. Im Rauszerren war er gut, das hatte er bereits mehrfach beweisen können… Karotten, Papas Wagen aus dem Schlamm… und nun eben ein wenig den Herrn der Steine. Cedric legte gerade das Buch zur Seite, wurstelte ein wenig herum, dann saß er mit angewinkelten Knien, das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne zugewandt. Im Herbstlich leuchtete sein Haar in der Farbe des Ahorns, kurz bevor die Blätter fielen, nur das Pflaster stach ein wenig ab. Komisch, er hatte immer gedacht, alle Rothaarigen seien irgendwie mit Pumuckl verwandt, aber an den erinnerte Cedric irgendwie gar nicht. Aber sein Haar hatte auch nicht dieses klassische Feuermelderrot, vielleicht lag es daran – oder daran, dass Cedric Pumuckl wahrscheinlich mit der Plattschaufel erledigen würde, wenn der unvermutet in seiner Küche auftauchen würde. Okay, das war schon ein wenig fies zu denken, aber Cedric war nicht gerade der friedlichste Vertreter. Andererseits konnte man auch nicht gerade behaupten, dass es öde mit ihm war. Wenn er Cedric richtig verstanden hatte, war er ein ziemlicher Despot gewesen, bevor er niedergestreckt worden war, ein wenig klang das durchaus noch durch… Aber das war gewiss nicht alles, was dran war an Cedric Kalteis. Kunibert nahm einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche, dann ging er ohne Eile zu seinem Gastgeber hinüber. Cedric blickte ihm ungerührt entgegen. „Na“, wurde er begrüßt, „Steinegucken langweilig?“ „Das wird mir nie langweilig“, stellte Kunibert klar. „Aber ich hänge ein wenig und mir läuft die Zeit davon.“ „Sitzt dein Bescheißer-Freund dir im Nacken?“ fragte Cedric mit diesem gelangweilten Gesichtsausdruck, von dem sich Kunibert nicht mehr beirren ließ. Cedric mochte so tun, als gehe ihm alles am Arsch vorbei, tat es aber nicht, sonst würde er kaum fragen. Die Neugierde machte wohl auch vor ihm nicht halt. „Auch“, gestand Kunibert. „Aber ich muss auch an der Uni antanzen. Ich studiere zwar nicht mehr, aber einige Verpflichtungen habe ich da schon noch. Außerdem erwarten meine Eltern, dass ich mich mal wieder blicken lasse.“ „Ja ja, die liebe Familie“, nuschelte Cedric. „Wann haust du denn wieder ab?“ „Schätze zwei Wochen habe ich noch, aber dann ist Ende. Kommst du klar?“ fragte er und ließ sich, nach seiner Zwischendurch-Stulle kramend, auf dem benachbarten Menhir nieder. War eher ein Menhirlein, ging ihm gerade bis zum Knie und gab einen prima Hocker ab. Cedric verdrehte die Augen. „Du bist nicht mein Kindergärtner. Sicher komm ich klar, wenn sich mir nicht gerade ein Stein in den Weg wirft. Ich komme seit zwei Jahren hier klar – und ich werde eventuell auch ohne deine Kochkünste weiterhin überleben.“ „Entschuldigung“, murmelte Kunibert. „Aber…“, hob Cedric überraschend an. „Solange du hier sowieso noch rumhängst…“ Kunibert riskierte einen misstrauischen Blick. Was kam denn nun? Eine dieser als Kommando servierten Bitten garantiert. Aber wenn man sich das vor Augen führte, kam man damit zurecht. „Was willst du?“ holte Kunibert ihm lieber gleich die Butter vom Brot. Cedric seufzte. „Ich… mmm… naja, das machst du doch eh… und…“, druckste er herum. „Raus mit der Sprache, Cedric – und erspar uns beiden die Umschreibungen“, forderte Kunibert. Cedric runzelte die Stirn, dann sah er ihn an und sagte: „Ich will raus.“ Irritiert sah Kunibert ihn an. „Raus? Aus dem Buchclub? Aus den Socken? Aus Europa?“ „Nein!!! Ich bin in keinem Buchclub, meine Socken bleiben bei mir, und ich in der Bretagne! Ich… dachte nur… vom Feld…“, irrlichterte Cedric fröhlich weiter. „Okay – dann kannst du dich ja in deinen Wald, deinen Vorgarten oder auf deine Straße stellen. Ist das eigentlich deine Straße?“ fragte Kunibert scheinheilig. „Äh.. der Grund ja, die Straße nein, die ist öffentlich… Nein. Runter vom Grundstück. Nicht zum Arzt. Ich… wir… könnten…“, murmelte Cedric und fixierte eine ihn hektisch umkreisende Biene. „Zum Mond fliegen? Kanaster spielen? Die Steine doch pink anmalen?“ blieb Kunibert am Ball. „Untersteh dich! Nein… öh… einkaufen“, brachte Cedric schließlich hervor. „Du lässt doch sonst alles liefern?“ fragte Kunibert, dem die Zielsetzung allmählich ziemlich klar wurde. Ein zynischer Geist würde behaupten, dass Cedric versuchte, ihn vor seinen Karren zu spannen. Aber er war kein zynischer Geist. Cedric bat von sich aus um Hilfe, das war schon ein dickes Ding. „Ja… aber du hast schon Recht, das Instant-Brot schmeckt scheiße. Und bis zum Bäcker sind es nur zehn Minuten von der Grundstücksgrenze aus“, wand sich Cedric. „Klingt einleuchtend. Sag Bescheid, wenn du dich fit genug fühlst, dann gehen wir Brötchen holen, alles klar“, nickte Kunibert und erhob sich wieder, um die Arbeit erneut aufzunehmen. „Morgen früh? Halb acht?“ schlug Cedric vor. „Okay, obwohl du dich gerade eher nach High Noon anhörst… Aber dann sind die Brötchen weg oder hart. Bis später“, sagte er und setzte sich in Bewegung. Innerlich schüttelte er verwundert den Kopf. Vor etwa zwei Wochen war Cedric prinzipiell vor fast jedem davon gelaufen, nicht bloß aus Angst, sondern weil die Welt ihn mal konnte. Hervorgekommen war er nur, um zu verscheuchen. Und jetzt wollte er plötzlich zum Bäcker?! Das waren ja radikale Sinnesänderungen?! ………………………………………………………………………………………………….. Okay, war doch ganz einfach… immer nur einen Fuß vor den anderen setzen, das nannte man wohl gemeinhin „laufen“, obwohl das, was Kunibert da neben ihm trieb, eher in die Kategorie „latschen“ fiel. Es war schon trübe hell, die Vöglein sangen, der Tag brach an… und er schritt über die Grundstücksgrenze. Nun, so eine Weltpremiere war das auch nicht, früher war er häufig den Weg ins Dorf hinab gelaufen, wenn er seinen Großvater besucht hatte. Er erinnerte sich an die Sommer seiner Kindheit, in denen man ihn hierher abgeschoben… äh… auf Besuch geschickt hatte. Aber ihm war’s nur recht gewesen, mit seinem Großvater war es immer spaßig gewesen. Sie hatten immer ziemlich viel Blödsinn getrieben, der daheim in der schicken Pariser Wohnung seiner Eltern absolut nicht drin gewesen war… Pfützenspringen… Kartoffelkanonen bauen… und zu lernen, wie das mit den Bienen ging… Ab und an hatte ihm sein Großvater ein paar Münzen in die Hand gedrückt, damit er ihm eine Zeitung und sich ein paar Süßigkeiten holen konnte… das reinste Rügenwalder Mühlenfest war das gewesen, zumindest in seiner Erinnerung. Aber sein Großvater war tot, schlussendlich doch seiner Dauerqualmerei erlegen, Zigarillos auf Lunge waren in hohen Dosen nun mal nicht unbedingt gesundheitsfördernd, aber darauf hatte Alain Kalteis geschissen. Beratungsresistent wäre geschmeichelt, sein Großvater war stur wie tausend Rinder gewesen. Eventuell hatte es ihm daher hier so gut gefallen, hier hatte ihm nicht ständig jemand rein gequatscht. Das konnte Cedric bestens nachvollziehen. Aber statt seines Opas lief jetzt Kunibert Lerchenfels neben ihm – dessen Klamotten auch mal wieder nicht von Einsicht zeugten, aber naja. Immerhin war er nicht so eine Gucci-Prada-Armani-Schwucke, das Format wollte er in diesem Leben nie wieder sehen. Da lieber einer in ziemlich mitgenommener no name-Jeans und mit einem T-Shirt am Leibe, auf dem auf Deutsch stand: „Mutterns Bester“ – das konnte hier hoffnungsweise eh keiner entziffern. Immerhin war es blau, man sollte ja auch für die kleinen Dinge dankbar sein. Dennoch war das schon an der Grenze zu gesundheitsgefährdend. Der Bäcker befand sich direkt am kleinen Platz in der Mitte des Dorfes, was so viel bedeutete, dass man ihn eine Minute nach Betreten der Ortschaft bereits erreicht hatte. In der Mitte des Platzes stand eine hohe Eiche, unter der ein paar säuberlich polierte Parkbänke gruppiert waren, als sei sie der Spannungshöhepunkt dieses Kaffes. War sie wohl auch… gewesen. Er atmete tief durch, doch er spürte mehr als deutlich, dass die paar Leute, die hier durch die Gegend wuselten, ihn angafften. Er blickte nicht hoch, sondern konzentrierte sich darauf, einfach weiter hinter Kunibert her zu dackeln, doch aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass er ein paar von ihnen durchaus von früher kannte. Bauer Beauchamps, einer seiner übernommenen Pächter… dem auch seine Scheiß-Chloe ausgebüchst war… mit seiner Tochter hatte er als Grundschulkind gespielt. Nadine, genau, war die auch noch hier? Wenn sie nicht völlig bescheuert war, dann wahrscheinlich nicht. Noch ein paar andere… die hielten ihn wohl für eine Erscheinung… aber sie wirkten nicht so, als ob sie gleich die Pechfackeln und Mistgabeln rausholen würden. Aber da gab es ja auch noch Kunibert… dem kam keiner so schnell mit einer Mistfackel oder Pechgabel… den konnten sie notfalls stattdessen grüßen… und der konnte ihn hier wieder wegbugsieren oder schleppen, wenn er einen zu viel bekam… aber hinter Kunibert konnte man sich notfalls auch gut verstecken, funktionierte fast wie mit den Steinen… denen war das auch egal… Die Leute hier konnten es wahrscheinlich schlichtweg nicht fassen, dass der irre Kalteis aus seiner Gruselfeste hervorgekrochen gekommen war. Sie waren viel zu perplex, um zu grüßen, auch Kunibert, den sie ja durchaus auch kennen dürften, war Luft für sie. Doch das war schon gut so, er zog hier ja auch nicht gerade mit einem kecken Grinsen ein und winkte zu allen Seiten wie ein amerikanischer Präsident auf Stimmenfang. Zivilisation… huhu… mich gibt’s auch noch… Na ja, von „Zivilisation“ zu sprechen wäre hier wohl übertrieben, seinen Rückmarsch gen Paris bereitete er nun nicht gerade vor, er war schließlich nicht Napoleon. Aber zumindest bis hier her, Brötchen kaufen… dann würde ihm seine Mutter nicht mehr so leicht krumm kommen können, wenn er nachweislich auch mal so etwas tat. Mit denen hier abhängen – nein danke. Aber das müsste doch irgendwie… dennoch stellten sich ihm die Härchen auf. Das war keine Panikattacke, dazu war ihm dieser lahme Haufen, dieser erbärmliche Ort viel zu vertraut – sondern Widerwillen. Ich scheiß auf euch alle… Konnte er ja weiterhin, solange es ihm gelang, dennoch ab und an hier her zu schlurfen, um zu zeigen, dass er nicht bereits tagsüber kopfüber an einen Balken gekrallt schlief… Seinethalben konnten die das gerne denken, aber bloß keine Angriffsfläche bieten. Verrückt, nun gut – lebensunfähig – nein, ätsch! Wenn er langfristig seine Ruhe haben wollte, müsste er das doch irgendwie hin bekommen… Und wenn er das nächste Mal gegen einen Stein wummerte, dann würde das eventuell jemandem auffallen, bevor die Zombie-Hasen ihn zerlegt hatten – Problem gelöst! Jetzt musste er nur noch die Brötchen… Für hiesige Verhältnisse waren sie spät dran, so war auch der Plan gewesen – keine Schlange. Die Bäckereiverkäuferin schaute auch mit offenem Mund, als er in Kuniberts Windschatten eintrat, ein affiges Windspiel auslösend. Die kannte er doch auch… aber der Name wollte ihm nicht einfallen. Pausbackige Bäckereiverkäuferinnen weit jenseits ihrer besten Jahre waren auch nicht gerade das, was jemals im Zentrum seines Interesses gestanden hatte. „Morgen!“ grüßte Kunibert fröhlich. „Morgen“, erwiderte sie dumpf, Cedric anstarrend. Cedric biss die Zähne zusammen. Fast wie früher, wenn er mit seinem Großvater… „Morgen“, quetschte er heraus und hörte sich dabei an wie eine Nebelkrähe mit Asthma. „Mann, sieht das hier alles wieder lecker aus!“ plapperte Kunibert unverdrossen los, offensichtlich bemüht, die ganze Sache ganz locker flockig und total normal erscheinen zu lassen. Aber sein Blick in die Auslage war ziemlich hungrig… oder gierig, wie man’s nahm. „Äh… ja…“, murmelte die Verkäuferin. „Cedr… Monsieur Kalteis…?“ verbesserte sie sich gerade noch. Klar, die hatte ihn immer noch als Kind vor Augen, aber Gnade ihr, wenn sie ihn jetzt auch noch duzte! „Zwei Mohnbrötchen… bitte“, versuchte er sich in Etikette. „Ganz wie früher, Monsieur Kalteis!“ fing die auch noch an. „Da wollten Sie auch immer die Mohnbrötchen!“ Wer zum Geier merkte sich denn sowas?! Jemand, der nichts Besseres zu tun hatte, wahrscheinlich. Er beschränkte sich auf ein „Mmpf“, während sie ihm eifrig die Brötchen in eine Tüte stopfte. Wenn die ihm jetzt gleich noch einen Traubenzuckerlutscher „so wie früher“ hinhielt, wäre sie dran… Aber sie ließ es, ihn immer noch ein wenig ungläubig anstarrend, aber dabei breit lächelnd, und gab ihm sein Backwerk. Er zahlte, dann war Kunibert an der Reihe, der sich nicht gerade mit zwei Brötchen beschied und auch mit dem Erwerb eines Viertel Apfelkuchens noch eins draufsetzte. „Schönen Tag Ihnen beiden noch!“ rief ihnen die Verkäuferin hinterher, was von Kunibert mit einem heiteren: „Bis Morgen!“ und von ihm mit einem weiteren „Mmpf, Wiedersehen“ erwidert wurde. Die Tüte unter dem Arm machte er sich in Kuniberts Schlepptau wieder auf den Rückmarsch, sehr wohl dessen sehnsüchtige Blicke Richtung Wurst und Käse-Geschäft bemerkend. Aber das konnte der ruhig alleine machen, er hatte genug für heute. Er hätte darauf wetten können, dass die Passanten mittlerweile ihre gesamten Sippen informiert hatten, dass der Wiedergänger unterwegs war, und die jetzt alle durch die Gardinen linsten. So ein Aufstand wegen ein paar Brötchen… Okay, sie schmeckten besser, aber das war nicht der Punkt. Er konnte das… und wenn er das konnte, dann bekamen die ihn hier nie weg. Ein bisschen üben… solange Kunibert noch da war… dann ginge das eventuell. Und mit Kunibert im Anhang – oder eher anders herum – dürfte das hinzubekommen sein. Dennoch war er mehr als erleichtert, als sie wieder die Grundstücksgrenze passierten. Endlich zu Hause… wie affig, sie waren nicht mal eine halbe Stunde weg gewesen… draußen in der bösen, großen Welt… oder eher dem verschnarchten, kleinen Dorf, aber das reichte völlig. „Mission accomplished!“ kommentierte Kunibert. „Ich bin so toll“, murmelte Cedric. „Na komm schon, du darfst ruhig ein wenig stolz auf dich sein. Dein Charme hat sie völlig umgehauen!“ lobte ihn Kunibert. So wie der den Apfelkuchen trug, war der Brei, waren die armen Äpfel ganz umsonst gestorben… ach was, das würde der garantiert dennoch mampfen bei seinem Sinn für Ästhetik. „Zumindest haben die für den Rest des Tages Gesprächsstoff“, gab er zu. „Ach hör schon auf… noch so ein „Mmpf“ und die Verkäuferin hätte dir ihre heiratswillige Tochter vorgestellt“, verarschte ihn Kunibert weiter. Cedric verdrehte nur die Augen und ließ das unkommentiert stehen. Er wusste selber, dass er rüber gekommen war wie Lord Grummel, doch das war piepsegal. Wenn die ihn für einen unhöflichen, aber harmlosen Spinner hielten, würden die ihn immerhin in Ruhe lassen, er wollte nun wirklich nicht der Ehrengast beim nächsten Scheunenfest sein. ……………………………………………………………………………………………….. Kunibert musste sich arg zusammenreißen, um nicht loszulachen, als Cedric ihm gegenüber seine Mohnbrötchen pingelig aufschnitt. Mohnbrötchen! Der sah doch selber aus wie ein Mohnbrötchen! Daher die Affinität, gleich und gleich gesellt sich gern? Und sah er demzufolge aus wie ein Baguettebrötchen? Eventuell. Sie aßen schweigend, Cedric ließ die ganze Sache wohl ein wenig sacken. „Nun gut“, sagte er schließlich. „Das hat ja geklappt. Morgen den Wurstladen auch gleich mit…?“ Cedric musterte ihn kritisch, legte aber keinen Protest ein. Auf diese Art und Weise würden sie noch shoppingsüchtig werden… Aber irgendwie war er auch verflixt stolz auf sich. Kapitel 16: Der Überlebende der Barbaren-Invasion ------------------------------------------------- XV. Der Überlebende der Barbaren-Invasion Cedric starrte fassungslos in sein Wohnzimmer. Eine Woche und vierzehn Mohnbrötchen waren vergangen, langsam bekam er den Dreh raus. Und Kunibert war immer noch da, sein Dauergast, aus dem man auch locker zwei hätte machen können. Ihm selber ging es inzwischen recht passabel, sogar sein Haar schickte sich an, wieder nachzuwachsen. Ohne Verband oder Pflaster sah er wahrscheinlich ziemlich idiotisch aus, aber das ließ sich nicht ändern. Er hätte Kunibert längst rausschmeißen können, da der keinesfalls Anstalten machte, von alleine zu verduften, aber das wäre taktisch unklug… aus diversen Gründen, und das wusste Kunibert und schnitt das Thema demzufolge nicht an. In einer Woche würde er sowieso verschwinden. Stattdessen führte er ihn morgens brav Gassi gen Dorf, wo man sich langsam mit seinem Erscheinen abfand, auch wenn er immer noch Glotzblicke erntete. Jedoch inzwischen auch Begrüßungen, die er einsilbig erwiderte. Höflichkeit auf dem Minimum musste reichen, sonst fingen die noch mit Smalltalk an… Sie hatten so ihre Routinen entwickelt. Abends saßen sie im Wohnzimmer, er las auf dem Sofa, Kunibert beschimpfte vor dem Kamin seinen Laptop oder seine Uralt-Karte und gab irgendwelchen Prähistoriker-Kram in eine Datenbank ein. Irgendwie war das ganz schön skurril – als seien sie ein altes Ehepaar oder WG-Genossen und befreundet… Nicht dass er jemals verheiratet gewesen wäre oder in einer WG gewohnt hätte – und daran würde er garantiert nie etwas ändern. Die hehre Linie der Kalteis‘ ging mit ihrem letzten degenerierten Sprössling unter, so war das immer in der Literatur. Es sei denn, Cousine Juliette beschloss Blagen in die Welt zu werfen, aber das war nicht sein Problem. Aber heute schien sein Hausbesuch andere Pläne zu haben. Entsetzt starrte er auf seinen Wohnzimmertisch, von dem Kunibert fein säuberlich seine Bücherstapel geräumt hatte. „Was ist das denn?“ wollte er wissen. „Es ist Samstagabend! Party-Time!“ verkündete Kunibert. „Party-Time?!“ versetzte Cedric. „Im Seniorenheim vielleicht! Das ist… Monopoly! Wie kommt das in mein Haus?!“ „Habe ich gekauft. Hast du etwa schon etwas vor… außer diesen Stapel „John Sinclair“-Groschenhefte da drüben zu inhalieren?“ fragte Kunibert und rupfte unverdrossen die Plastiktüte mit den Spielfiguren auf. „Aber… Brettspiele! Das ist doch…“, protestierte Cedric. „Entschuldige, Opernkarten waren leider aus. Genauso wie „Mensch ärgere dich nicht“, meinte Kunibert nur und knöpfte sich die Geldscheine vor. „Aber was soll das…?“ fragte Cedric konfus. „Bisschen Abwechslung. Ausbrechen aus der Routine des uns knechtenden Alltags! Für ein paar Stunden die Maloche vergessen!“ schwärmte Kunibert ihm vor. „Und du hast keinen Flipper…“, ergänzte er. „Zwingt dich doch keiner, hier mit mir rumzuhängen, mir geht es doch wieder einigermaßen. Wenn du so dringend Abwechslung brauchst, dann fahr doch mit dem Auto in die Stadt und lass da die Puppen tanzen“, protestierte Cedric. „Ich bin Scheiße im Die-Puppen-tanzen-lassen. Ich mag Kneipenabende oder ins Kino mit meinen Freunden – doch die sind nicht hier, und du willst da nicht hin. Was soll ich da alleine? Ich mag Live-Rollenspiele – auch Fehlanzeige hier. Ich mag reiten, aber Pferde mögen mich nicht so. Segeln ist auch okay – aber auch gerade nicht praktikabel. Videoabend ist auch raus. Um etwas zu bauen oder zu basteln fehlen mir hier die Werkzeuge. Da bleibt nur das, was ich auch ganz gerne mache, und das auch umsetzbar ist: Spieleabend!“ schloss Kunibert freudig. „Ich mag aber keine…“, muffelte Cedric los. „Hast du das denn in den letzten Jahren mal gemacht?“ hakte Kunibert ein, bevor er fertig war. „Nein… das ist etwas für Kinder…und Leute ohne Leben…“, sträubte sich Cedric. „Siehst du, passt doch perfekt!“ strahlte Kunibert. Das war natürlich ein Argument… „Na gut“, gab Cedric schicksalsergeben nach. „Spielen wir eben Monopoly wie die letzten Spießer. Niveauloser als „John Sinclair“ ist das wahrscheinlich auch nicht.“ „That’s the spirit!“ stimmte Kunibert zu und mischte die Karten. ………………………………………………………………………………………………… Drei Stunden später nagte er am Hungertuch, während sich vor Cedric die Scheine nur so türmten. Das großkotzige Angebot eines Darlehens hatte er würdevoll abgelehnt. Auf Cedrics Gesicht erschien ein breites Grinsen, als er schon wieder auf dessen vermaledeiter Schlossstraße landete – und endgültig bankrottging. Es stimmte schon, er mochte Brettspiele und Abwechslung konnte er auch gebrauchen, aber Cedric hatte durchaus recht gehabt. Sicher hätte er mal wegfahren können, es gab ja viel in der Gegend, das man sich anschauen oder machen konnte, auch alleine, wenn das allerdings nur halb so viel Spaß brachte. Er war kein einsamer Wolf… hatte er deshalb dieses Problem, sich wegen Jakob nicht entscheiden zu können? Ach, nicht schon wieder… Doch ehrlich gesagt, mochte er die Anwesenheit der kleinen Giftspritze, hinter deren oberflächlicher Zickigkeit so vieles steckte – nicht nur Schlimmes. Und er mochte es zu sehen, wie Cedric allmählich ein wenig Boden unter den Füßen gewann. Gewiss war das nicht unbedingt rein sein Verdient, aber einen kleinen Beitrag hatte er schon leisten können. Und jetzt war Cedric dabei, ihn kräftig zu schröpfen, während er sich einen Ast über seinen Sieg freute. Na ja, er war wahrscheinlich ziemlich lange nicht mehr auf der Gewinnerseite gewesen. Er musterte ihn, während er im Siegestaumel sein Papiergeld zählte. Das war nicht mehr dieses abweisende Gesicht, hinter dem Angst und Wut tobten. Sie waren noch da, gewiss, aber gerade war er… abgelenkt. Die Alleinseierei tat Cedric nicht gut, da hatte seine Mutter schon recht. Aber Cedric mochte auch seine Gründe haben, warum er seine alten Vertrauenspersonen nicht an sich heran lassen wollte. Doch das musste auch nicht unbedingt Stillstand bedeuten… Jetzt zeigten seine Wangen leichte Grübchen, während er seine Knete zusammen addierte, als sei er Dagobert Duck. Hier hatte er mal Glück gehabt, ging doch. Aber in einer Woche wäre er hier weg… doch Cedric würde schon klar kommen, gewiss… und er war schließlich nicht Cedrics Aufpasser… den brauchte Cedric auch nicht, wollte ihn auch nicht, so sehr wie er Bevormundung hasste. Aber was war er dann? Auf irgendeine Art und Weise vertraute ihm Cedric, wahrscheinlich nur in einem gewissen Maße, aber anscheinend mehr als sonst wem. Sie wussten Dinge voneinander… konnten schweigend nebeneinander hocken, Monopoly spielen, und es war gut… Und Cedric war witzig auf eine recht eigene Art. Außergewöhnlich… hübsch?... war er auch, man bekam von seinem Anblick keinesfalls Augenkrebs, aber er war nun der Letzte, der dem Opfer eines Sexualdelikts feuchte Blicke zu warf, außerdem steckte er nach wie vor irgendwie in einer Beziehung. Cedric mochte ihm zwar jegliches Geschmacksempfinden aberkennen, aber so daneben war er auch nicht, dass ihm entgangen wäre, was für eine besondere Erscheinung Cedric war. Wie er einst im vollen Glanze seiner Herrschaft über die Szene gewesen sein mochte, konnte man allerdings nur erahnen. Das war wahrscheinlich auch nur gut so. ………………………………………………………………………………………………….. Ein wenig dumm kam er sich nach wie vor vor, aber immerhin hatte er gewonnen. Er, Cedric Kalteis, hatte seinen Samstagabend damit verbracht, ein dämliches Brettspiel zu spielen. Verrückt irgendwelches Zeug zu lesen war eine Sache – aber das hier war eine richtige Aktivität. Zunächst hatte Kunibert gemeint, Oberwasser zu gewinnen, aber dann hatte er ihn gehörig platt gemacht – fast wie in den alten Zeiten. Aber er ging nicht davon aus, dass Kunibert über einer verlorenen Partie Monopoly ausflippen und ihn abschlachten würde. Es mochte solche geben… aber nicht Kunibert. Nicht bei Monopoly – auch wenn er noch so niederschmetternd verloren haben mochte. Kunibert mochte zwar anders sein… aber er war schon okay irgendwie… echt ein bisschen wie die Steine, nicht nur vom Format her, aber Kunibert hatte auch sowas von… und die Ruhe weg hatte er auch… Was war er? Wie hieß das Wort? Naiv? Ne, das war er nicht. Natürlich? Schon eher… wie die sprichwörtliche deutsche Eiche… Nett? Das war’s. Kunibert war ein netter Typ. Kannte er so nicht… oder hatte es vorher schlichtweg nicht bemerkt. Etienne war nicht nett gewesen… loyal, gewiss, durchaus auch liebevoll, aber an weltgewandtem Zynismus hatte er ihm selbst in nichts nachgestanden. Und so etwas galt landläufig nicht als nett. Sie waren zwei Arschlöcher vom gleichen Schlag gewesen und hatten ihr Leben in Arschloch-City ausgiebig genossen. Er mochte zwar nach wie vor durchaus ein Arschloch sein, schließlich war er da aufgewachsen, aber jetzt machte er einen auf Völkerverständigung mit Nichtarschloch-Kunibert. Mutikulti vom Feinsten. Das erweiterte den Horizont ungemein. Und das Spiel… Wie es eben so mit Spielen war, irgendwann vergaß man alles, besonders, wenn man am gewinnen war… Es war zwar ein absolutes Armutszeugnis, aber es hatte Spaß gebracht. Hätte er nicht gedacht, dass ihm irgendetwas mal wieder Spaß machen könnte, ihn unterhalten… Statt Gruppenorgie gab’s jetzt Würfelspiele, oh weia… Aber out of Arschlochhausen konnte er so etwas lustig finden, Arschlochhausen konnte ihm mal gepflegt am Arsch lecken. Aber was ihn an Kunibert wirklich verwunderte, war, dass er ihn nie auch nur eine Sekunde lang dabei erwischte, ihn mit eindeutigen Hintergedanken anzusehen. Dabei war der doch sehr wohl auch schwul! Und schwule Männer aus seiner Erfahrungswelt waren da nun nicht so sonderlich zurückhaltend gewesen. Nicht, dass er es darauf angelegt hätte, wäre auch unerträglich gewesen – aber komisch war das schon. Hatte der sich so gut im Griff? War er selber einfach so fertig? Prinzipien halfen da wenig… Fehlte Kunibert das Notgeil-Gen? Schade für Kunibert, gut für ihn. Und als er in seiner Panikattacke einen auf Beichte gemacht hatte, hatte der ihm einfach nur keusch das Patschhändchen gehalten und hatte auch nie wieder davon angefangen. War ihm auch ganz lieb so… aber immerhin wusste er, dass er zumindest das noch konnte, wenn er jemandem halbwegs vertraute. Und er konnte Kunibert vertrauen… im erträglichen Rahmen natürlich. Aber er war nicht ganz so im Eimer, wie er gedacht hatte. Unschuldig Händchenhalten konnte er noch – juhu. So musste sich ein einbeiniger Tausendfüßler fühlen. Immer positiv denken… immerhin hatte er noch ein Bein… Oh Schande… …………………………………………………………………………………………………... Cedric schaute tranig der Kaffeemaschine beim Blubbern zu, inzwischen durfte er das Zeug ja wieder trinken, als ein Schrei das Idyll zerbrach. Er fuhr zusammen, aber um einen Schub zu erleiden, war ihm die Stimme zu vertraut – und der Schrei klang eher nach einem Kreischen. Dennoch klopfte sein Herz, während er auf den Flur raste. Im unteren Badezimmer, in dem sich Kunibert installiert hatte, rumpelte es bedrohlich. „Scheiße!“ drang es heraus. „Verdammter Mist!“ „Alles klar?“ brüllte er durch die Tür. „Nein, Kacke!“ kam es zurück. „Was ist los? Hast du dir die Nase beim Trinken in der Klobrille gequetscht?“ half Cedric aus. „Nein! Verflucht! Die Armaturen sind aus der Wand und das Wasser macht, was es will!“ schrie Kunibert. Okay… eigentlich sollte das alles saniert sein… da hatten die Handwerker wohl etwas gefuscht, weil er ihnen nicht persönlich im Nacken hatte sitzen können… oder Kunibert hatten den Kram einfach mit seinen nicht gerade zarten Fingern auseinander genommen… oder beides. Es donnerte erneut und Kunibert kreischte wieder in den höchsten Tönen. „Cedric! Ich glaub, das Rohr ist durch… das mit dem vielen eiskalten Wasser drin… Geh in Deckung, ich muss hier raus!!!“ Cedric sprang geistesgegenwärtig rückwärts, dann raste schon ein sehr notdürftig in ein Handtuch um die Lenden gehüllter, pudelnasser Germanengott an ihm vorbei in sein Zimmer. Cedric zwinkerte, sich nicht sicher, was er da eben gesehen hatte. Das war bloß Kunibert gewesen… ohne viel an. Ach du heilige Scheiße! Er hatte ja schon ganz kurz das Vergnügen gehabt – und da hatte er das gar nicht abgekonnt, aber jetzt war das kein halbnackter Vielleicht-Angreifer, sondern ein fast nackter Kunibert gewesen. Und irgendeine tot geglaubte Region in seinem Hirn hatte ganz kurz inständig gesabbert. Ach du Scheiße! Bedröbbelt blieb er stehen. Nein, nix Angst – Fassungslosigkeit traf es besser. Arschloch-Cedric von einst hatte sich gemeldet und einmal laut: „Was für ein hammergeiler Hengst!“ gebrüllt. War er denn von allen guten Geistern verlassen?! Das da war Händchenhalt-Kunibert, Zum-Arzt-schlepp-Kunibert, Monopoly-Verlierer-Kunibert, Brötchenholen-üben-Kunibert… Nicht irgend so ein Fickfleisch. Und Fickfleisch war für ihn gestorben. Genauso wie Ficken. Er träumte nicht mal davon – und wenn, waren es Alpträume. Ab und an explodierte sein Untergeschoss im Schlaf, ohne dass er sich entsinnen konnte, aber wahrscheinlich würden ihm sonst die Eier platzen – oder abfaulen mit dem ganzen alten Zeug darin. Wäre eigentlich auch egal, aber unästhetisch. Das Wort „geil“ existierte in seinem Wortschatz nicht mehr, zumindest nicht mehr im positiven Sinne. War das Mutter Natur, die da brüllte, weil er mal keine Angst hatte…? Nein… oder nicht nur. Nach seinen alten und bestimmt nicht nur seinen Kriterien war der Spongebob Pyjama-lose Kunibert ein absoluter Oberkracher. Okay, gerade deshalb hatte er am Anfang auch solchen Horror vor ihm gehabt, doch dieser Horror war weg, wenn er auch vielleicht noch irgendwo lauerte. Aber da hatte er weder wissen können noch wollen, was für ein Oberkracher er wirklich war. Die Muskulatur einen Top-Athleten und nicht eines Muckibuden-Idioten, endlose lange, kräftige Beine mit schlanken Gelenken und traumhaft breite Schultern und… Der war zwar im Affenzahn an ihm vorbei gehastet, aber das Bild hatte sich ihm ziemlich eingebrannt. Was war denn jetzt kaputt mir ihm?! Der Gedanke an Sex war immer noch zum Brechen, beruhigend. Aber ganz so tot war sein Empfinden wohl doch nicht – wie Scheiße! Bloß nicht! Das hatte ihm diesen ganzen Ärger doch mit eingebracht, weil er einfach den Hals… oder eher den Hintern… nicht voll genug hatte kriegen können. Die Nummer hatte ihn eiskalt erwischt, das war es, das war nur ein uralter Reflex gewesen… er Idiot! „Cedric?“ kam aus Kuniberts Zimmer. „Alles okay! Hab mir nicht ins Höschen gemacht!“ rief er zurück. Was laberte er denn da?! Er stand wohl doch unter Schock, das wäre natürlich eine Erklärung. Aber keiner der üblichen Schocks. Kunibert tauchte wieder auf, jetzt in Jeans und einem schlabberigen Gruseltshirt. „Mist!“ schimpfte er. „Äh… ja, Mist!“ stimmte Cedric benommen zu. Das Wasser plätscherte fröhlich auf den Flur und drohte den Teppich zu überfluten. „Tücher!“ forderte Kunibert. „Wieso, du bist doch schon trocken…“, protestierte Cedric wirre. „Nicht ich – sondern für das Rohr, um das irgendwie etwas aufzuhalten. Aber da muss ein Kemptner ran, da ist echt was gebrochen – hast du eine Nummer?“ begann Kunibert Maßnahmen zu ergreifen. „Äh… ja…“, brabbelte Cedric und sah zu, in Bewegung zu kommen. ……………………………………………………………………………………………….. Drei Stunden später war der Schaden zumindest halbwegs behoben, auch wenn es wahrscheinlich eine Zeitlang ziemlich nass-moderig riechen würde. Während der Notfall-Kemptner da gewesen war, hatte Cedric sich in seinem Schlafzimmer verbarrikadiert, immerhin war aber jetzt jemand da, der dem Herrn Handwerker auf die Finger gucken konnte, und er selber musste auch nicht komplett die Flucht ergreifen. Er nutzte die Gelegenheit, den Rattenkäfig in Schuss zu bringen. Toll, jetzt hatte er die Biester am Halse, war ja nicht unbedingt so, als habe er jemals von solchen Viechern geträumt. Mit denen sah sein Zimmer aus wie das eines Siebenjährigen. Aber immerhin konnte er sich so sicher sein, dass Kunibert es sich drei Mal überlegen würde, hier hinein zu kommen. Nicht, dass der je auch nur Anstalten gemacht hätte, auch nur die Treppe zu betreten. Der hatte sich ganz akkurat an die Spielregeln gehalten, die Ratten waren auch seinem paranoiden Misstrauen geschuldet. Okay, so paranoid war es nicht, schließlich war Kunibert jemand völlig Fremdes in seinem Hause… gewesen. Und jetzt? So richtig fremd war er nicht mehr, irgendwie war seine Gegenwart nicht nur praktisch, sondern auch ganz in Ordnung für eine Weile. Wäre ja auch bald wieder vorbei, und dann ging sein Leben endlich wieder los: Steine, Bienen, Lesen… und Ratten, ganz toll. Ab und an in den Ort, einen auf halbwegs normal machen, das würde er dann schon hin bekommen. Und so würde er wenigstens nicht mehr bloß Instant-Kram essen müssen, mit dem Verfahren würde er garantiert hundert – und seine Familie konnte es vergessen, ihn zu beerben. Nicht, dass sie es nötig hätten, aber er konnte sich lebhaft vorstellen, dass sein Vater Magengeschwüre bekam bei dem Gedanken, dass er mit dem Ererbten nur das traditionell Minimale machte. Statt mit Bauland, etwa für eine Touristensiedlung, richtig Kohle zu scheffeln, verpachtete er für einen Apfel und ein Ei zu den alten Konditionen an Beauchamp und Co – und das würde auch so bleiben. Er wollte gewiss nicht Touristenhorden anlocken, und er hatte auch so mehr als genug Kohle. Eines musste er seinem Vater zugutehalten: der ließ ihn wenigstens bisher in Frieden, auch wenn er wahrscheinlich das Handeln seiner Frau aus dem Hintergrund unterstützte. Aber was seinen Vater anging, war dem das wahrscheinlich gar nicht so unrecht, dass er von alleine schön weit weg von den Orten blieb, an denen das „richtige“ Leben tobte. Er hatte es redlich versucht, ihm zur Seite zu stehen, aber dennoch war Cedric sehr wohl klar, wie sehr das, was da heraus gekommen war, seinen Vater geschockt haben musste. Sein Stammhalter – ein schwules Oberflittchen, das die Quittung bekommen hatte. Das hatte so gar nicht in sein Weltbild gepasst. Nun, ein schwules Oberflittchen war er definitiv nicht mehr, würde es auch nie wieder sein. Aber schwul war er sehr wohl noch, wie sein kurzer Gieranfall bewiesen hatte. Ganz große Klasse, jetzt konnte er nicht mal sich selber noch trauen. Blöde Hirnchemie. Dabei war das echt das Letzte, pardon Allerletzte, das er wollte. Er schloss die Augen und beschwor das Bild. Gänsehaut. Mann. Igitt. Gut, ging doch noch. ………………………………………………………………………………………………… Irgendwie wurde Kunibert das Gefühl nicht los, dass Cedric ihn anstarrte. Immer wenn er seinen Kopf vom Laptop hob, saß der andere brav in seinem Sessel, die Decke fest um sich gewickelt, und las irgendetwas. Irgendetwas traf es im Zweifelsfalle gut, denn Cedric schien nach dem Zufallsprinzip vorzugehen. Vielleicht bildete er es sich nur ein, auch war es nicht dieses Gefühl vom Anfang, dieser lauernde Blick – eher, als solle er geröntgt werde. Aber vielleicht stand er selber auch total auf dem Schlauch nach dem ganzen heutigen Chaos. Von losbrechendem eiskalten Wasser unvermutet getroffen zu werden konnte einen schon ganz schön aus der Spur befördern. Er war gerannt wie ein hysterischer Dummbatzen, aber er war auch nur halb wach gewesen. Fast nackt an Cedric vorbei zu rasen war völlig idiotisch gewesen, aber er schien es irgendwie verkraftet zu haben. Oder starrte der ihn jetzt deshalb an? Dachte der, er hätte das mit Absicht getan…? Ach, Blödsinn, aber sein Auftritt mochte mal wieder in die Kerbe gehauen haben. Das mit der Starrerei bildete er sich garantiert ein, weil ihn das schlechte Gewissen würgte. Sollte er sich jetzt besser entschuldigen…? Nein, das würde es eventuell nur noch vertiefen, wenn er darauf herum ritt, außerdem hatte er Cedric ja nicht angefallen, sondern war stattdessen von seinen maroden Installationen attackiert worden. War doch gut, wenn Cedric das weggesteckt hatte. Wahrscheinlich lief er inzwischen als Inventarstück der Burg Kalteis, da ging das irgendwie. Doch dieses Inventarstück würde diese heiligen Hallen schon in ein paar Tagen gen Norddeutschland verlassen. Aber er war noch nicht fertig, verdammt… „Cedric?“ sprach er den anderen entgegen ihrer abendlichen Routine an. „Mmm?“ erwiderte Cedric ohne von seinem aktuellen Schundroman aufzusehen. „Ähm… ich wollte fragen, ob es okay wäre, wenn ich im Frühjahr wieder komme… mir fehlen noch Bilder, und die Aufnahmen sind auch noch lange nicht optimal… die Messungen sind unvollständig“, versuchte er ihm klar zu machen. „Mmm“, wiederholte Cedric. „Meinetwegen. Sonst kommst du wieder mit so einem Drecks-Zettel von der Behörde. Da ergebe ich mich wohl lieber angeblich freiwillig meinem Schicksal. Aber wegen der Bilder würde ich nicht so lange warten. Im Winter ist das Licht für Fotos, wenn klarer Himmel ist, viel besser, außerdem stören keine Pflanzen und Bienen das Steinforscherauge.“ „Ich kann dann auch wieder ins Hotel“, versicherte Kunibert, als sei er nur da, weil er das wolle – aber so lief das mit der Cedric-Logik. „Mal sehen“, brummelte Cedric, was wohl genau das heißen sollte. „Januar, Februar ist ideal“, fuhr er fort. „Eiskalt zuweilen – aber glasklare Sicht, wenn kein Schnee fällt.“ „Okay… wie kann ich dich erreichen?“ fragte Kunibert. Jetzt blickte Cedric doch auf. „Ich lebe nicht auf einem anderen Planeten“, stellte er klar. „Ich sage Bescheid, wenn es passen würde, dann kannst du es dir ja überlegen. Hast du eine Adresse?“ „Ja, sicher“, seufzte Kunibert. „Ich schreibe dir alles auf.“ Warum einfach, wenn es nicht auch kompliziert ging… War ja nicht so, dass Cedric bis zum Hals in Terminen steckte, oder meinte er nur das Wetter? Wie auch immer, sein Bauchgefühl flüsterte ihm, dass auf Cedric trotz seiner Extravaganzen und knurrigen Art Verlass sein würde. …………………………………………………………………………………………….. Aufstehen… Ratten füttern… Bad, anziehen… Brötchen holen… Aufschnitt… eine Zeitung… Frühstücken… hinaus aufs Feld… zu den Bienen… ein wenig messen ging ja wieder… von Kunibert geschmierte Stullen futtern… weiter machen… auf dem Stein sitzen und lesen… zu Abend essen… im Wohnzimmer sitzen… bisschen Hausarbeit machen… lesen, Kunibert am Laptop… wieder Ratten füttern… schlafen… so gingen die Tage dahin. Das Wetter verschlechterte sich zunehmend, es wurde unangenehm kühl und regnete immer wieder. Am Morgen, an dem sein seltsamer Hausgast den Heimweg antreten sollte, stürmte es draußen ziemlich unfreundlich. Cedric hatte nach dem letzten Stromausfall die Leitungen überprüfen lassen, und war guter Hoffnung, dass so etwas nicht noch mal passieren würde. Zwar hatte „Zwerg“ Kunibert ihm erklärt, wie er den Kamin anbekäme, aber das würde nichts helfen, wenn er mitten in einer Panikattacke steckte. Immerhin hatte er jetzt Kerzen im Haus. Kunibert stand gehüllt in einen ziemlich rustikalen Anorak im Flur, sein Gepäck war bereits im Wagen. „Okay“, meinte er. „Ich muss dann wohl mal.“ „Okay…“, erwidere Cedric. Gleich wäre wieder Ruhe, alles wie vorher. Aber… das stimmte nicht ganz, das wusste er sehr wohl. Etwas zögernd trat Kunibert auf ihn zu. Seit der Kamin-Aktion hatten sie weiter Abstand gehalten, aber die Risikozone war ziemlich geschrumpft. Es war okay, etwas aus Kuniberts Hand entgegen zu nehmen oder neben ihm zu laufen oder zu sitzen, solange es dabei blieb, und das tat es ja. Schon witzig, er, der einstige Traum aller großen Stecher war exakt an den wahrscheinlich einzigen geraten, der sich entweder unter Kontrolle hatte, total neben der Spur hing – oder schlichtweg nicht auf ihn stand. Naja, Kunibert sah zwar nicht unbedingt nach dem Klischee aus, aber vielleicht war er auch passiv wie nur was oder stand auf ganz merkwürdige Sachen. Wusste man ja nie. Wie auch immer, das war, was ihn anging, schon gut so. Ein kleiner Aussetzer relativierte das nicht die Bohne, die Dinge waren, wie sie eben waren. Cedric legte den Kopf in den Nacken und sah in Kuniberts Gesicht. Auf den scharfen Zügen, die auf den ersten Blick an eine aggressive Männlichkeit denken ließen, lag ein freundliches Lächeln, das wahrscheinlich viel mehr über Kunibert aussagte, als sein Barbaren-Körper, und das ihm mittlerweile fast vertraut erschien. „Mach’s gut Cedric“, sagte Kunibert. „Halte die Ohren steif! Wenn was ist, du hast ja meine Nummer.“ „Was soll schon sein. Renne ja nicht jeden Tag gegen einen Stein. Und mit ihren Klagen ist meine liebe Familie ja auf Grundeis gegangen. Hiernach wird es nur noch schwieriger für sie, falls sie es noch einmal versuchen sollten. Es ist dokumentiert, dass sie bisher danebengelegen haben – und ich kann jetzt sogar ganz alleine einkaufen gehen wie ein großer Junge“, murmelte er. „Hey, mach dich nicht kleiner als du bist“, rüffelte ihn Kunibert, aber irgendwie machte ihn das nicht mal sauer. „Man wächst mit seinen Aufgaben – und wahrscheinlich schrumpft man auch mit ihnen“, entgegnete er nur. „Alles eine Frage der Perspektive. Meine Studien halten nicht wenige Leute auch für völlig irrelevanten Blödsinn. Aber du weißt ja – Monsterbanane“, munterte ihn Kunibert auf. „Jaja.. ein Hoch auf die Monsterbanane…“, seufzte Cedric halbherzig zustimmend. Ein Teil von ihm dachte immer noch daran, wie erbärmlich seine Fortschritte im Vergleich zu seinem Leben von einst waren. Ein anderer Teil von ihm schien aber zu begreifen oder zumindest zu akzeptieren, dass das jetzt sein Leben und seine Maßstäbe waren – nicht nur eine Verwahrstation. „Nun denn“, setzte Kunibert wieder an. „Ich fahr dann mal. Mach’s gut Cedric.“ Etwas zögerlich streckte er die Hand aus. Cedric fixierte sie kurz, dann gab er sich einen Ruck. Er konnte das, und es war auch nicht schlimm. Er griff danach und schüttelte sie etwas steif. „Danke, Kunibert. Bis demnächst“, murmelte er. „Bis demnächst“, erwiderte Kunibert, drehte sich um, winkte noch einmal über seine Schulter, dann schloss er die Tür hinter sich. Cedric konnte draußen das Auto anfahren hören. Er wandte sich um und blickte durch den Flur die Treppe hinauf. Da war er also wieder. Er und diese völlig nutzlosen Ratten. Links sah man noch die Reste des Wasserflecks auf dem Teppich, das Zimmer geradeaus, in dem Kunibert genächtigt hatte, stand leer. Nichts als eine verwaiste Billig-Matratze und abgezogenes Bettzeug. Auf dem Wohnzimmertisch war das Monopoly-Spiel unter Büchertürmen verborgen. Brauchte er sowieso nicht mehr, Monopoly konnte man schließlich nicht alleine spielen, das wäre endgültig völlig witzlos. So fühlte man sich also, wenn man eine Barbaren-Invasion überlebt hatte. Er hatte eigentlich gedacht, dass es Erleichterung sein würde. Aber das war es nicht, jedenfalls nicht nur. Kapitel 17: Cedric Kalteis: Superstar ------------------------------------- XVI. Cedric Kalteis: Superstar Kunibert beschlich ein ziemlich maues Gefühl, als er einparkte. Zu Hause. Seine Stadt, seine Straße, das Haus, in dem er seit drei Jahren mit Jakob in einer Wohnung im dritten Stock lebte. Nicht berauschend schön, aber Kiel war während des zweiten Weltkrieges auch ganz schön zerbombt worden. Immerhin war es nah an der Uni, und auch in die Innenstadt gelangte man schnell – aber Kiel war auch nicht Bangkok. Er hatte von unterwegs kurz durch geklingelt, dass er im Anmarsch sei, aber es war nur der Anrufbeantworter ran gegangen. Kam er in eine leere Wohnung zurück? Er wusste es nicht, aber ihm graute bei aller Unsicherheit davor. Er stieg aus und schnappte sich sein Gepäck aus dem Kofferraum, dann lief er mit immer schwerer werdenden Gliedmaßen die Treppen hinauf. Da stand es neben dem Klingelschild: Lerchenfels & König. Er und Jakob. Eine Wohnung, ein Leben, eine Zukunft… und jede Menge echter oder vorgegebener Neid von den Solo-Freunden und Freundinnen jeder sexuellen Orientierung. Seufzend schloss er auf und trat ein. Im Wohnzimmer rumpelte es, dann kam Jakob um die Ecke geschossen. Er hatte wirklich abgenommen, Kunibert war verblüfft. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein strahlendes Lächeln, aus dem echte Freude, aber auch eine gewisse Unsicherheit sprach. Ohne nachzudenken breitete Kunibert die Arme aus, und schon lag der andere darin, um seinen Nacken geschlungen und lachte und drückte ihn. Kurz flackerte es in ihm auf. Er war zuhause, er war bei Jakob… Dann straffte er sich und schob den anderen von sich. Dieselben Augen, derselbe Mund, der vertraute Geruch… aber so einfach ließ sich das nicht vom Tisch wischen, was zwischen ihnen stand, auch wenn die Versuchung groß war. Doch wenn sie jetzt schwiegen, würde es wahrscheinlich im Dunklen weiter wachsen. „Jakob“, sagte er sanft. „Ich bin zwar ziemlich alle von der Fahrt… aber… lass uns ins Wohnzimmer gehen, okay…?“ Jakob nickte und griff nach seinem Koffer, um ihm zu helfen, eine selbstverständliche Geste, ohne Angst oder Bedenken. Sie räumten Kuniberts Fracht und die Taschen mit dem Vermessungswerkzeug und dem Handgepäck übergangsweise beiseite, dann traten sie hinein. Jakob hatte aufgeräumt und geputzt, ein Teller mit Kuniberts Lieblingsplätzchen stand auf dem Tisch, Jakob flitzte los und servierte ihm dazu ein eisgekühltes Bier, als sei er plötzlich eine übereifrige Hausfrau, deren Gatte gerade von seinem harten Tagwerk zurückkehrte. Plätzchen und Bier… andere mochten das zwar für grenzwertig halten, aber er mochte das. Jakob gab sich hier gerade richtig Mühe, das war nicht zu übersehen. Er blieb sitzen und wartete, bis der andere endlich zur Ruhe gekommen war. Jakob verrenkte etwas nervös die Finger und sah ihn an. „Kunibert…“, begann er. „Es tut mir leid! Ich war ein Riesenidiot, und ich kann es verstehen, wenn du mir einen Arschtritt verpassen willst. Ich… ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Torschlusspanik wahrscheinlich. So ein dummes Gefühl, dass das doch noch nicht alles gewesen sein kann, dass es mehr geben muss, dass ich es so richtig krachen lassen muss, solange ich noch jung bin… aber das ist ein Fliegenschiss gegen das, was ich bereits hatte. Ich habe es nicht zu schätzen gewusst, und das ist mir erst jetzt richtig klar geworden. Obendrein war ich ein Riesenfeigling und ein Drecksack, dich obendrein noch zu belügen, um mich durch zu schummeln… und irgendwie auch auf das zu treten, woran ich sonst immer geglaubt habe. Nicht allein dich, sondern auch auf mich… mich fetten Langweiler, so bin ich mir vorgekommen. Ich weiß, du hast es mir immer wieder gesagt… aber nur weil es meine Ohren gehört haben, ist es in meinem Hirn leider noch lange nicht angekommen. Ich war ein verblendeter Egoist, daran ist nichts zu schönen – ich kann dich nur bitten, mir zu verzeihen, wenn dir das möglich ist… Ich weiß es nicht…“, schloss Jakob und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. Kunibert sah ihn an. Sein Freund, sein Partner… hatte Scheiße gebaut, aber richtig… und bat jetzt um Vergebung… „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, antwortete er ehrlich. „Das ist schon… Du bist nicht der Einzige, der sich dabei fühlt wie der letzte Dreck. Vertrauen… ist mir wichtig, und du hast es mit Füßen getreten.“ „Ich weiß“, erwiderte Jakob geknickt. „Ich kann es nicht ungeschehen machen. Ich kann dich lediglich um eine zweite Chance bitten. Wir haben’s in letzter Zeit ziemlich auf Sparflamme laufen lassen, als seien wir seit zwanzig Jahren verheiratet. Das entschuldigt mein Verhalten sicher nicht, aber… wenn du es versuchen willst… wir könnten probieren, es besser zu machen.“ „Wie meinst du das?“ fragte Kunibert, obwohl er durchaus begriff, was der andere ihm sagen wollte . „Statt im Trainingsanzug jeden Sonntag auf dem Sofa DVDs zu gucken… weiß nicht… was unternehmen. Raus fahren, Sachen tun, wie früher“, murmelte Jakob. „Wir sind ziemlich in die Alltagsfalle gegangen“, gestand Kunibert. Jakob nickte und sah ihn mit seinen schönen leicht grünlich-braunen Augen fast dankbar an und nickte. „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass du mich, statt mal was zu sagen, nach Strich und Faden betrogen und belogen hast“, kochte es in Kunibert wieder hoch. „Ich habe mich selber nicht verstanden… warum ich das mache, war so ein… Gefühl. Hat eine Weile gedauert, bis ich geschnallt habe, dass das Selbstsabotage ist… irgendwie auch… um mich über dich zu erheben und gleichzeitig zu zeigen, dass ich deiner nicht Wert bin. Verrückt, ich weiß…“, sagte Jakob und schloss die Augen. Soviel zu dem Thema, dass Leute, die als „normal“ durchgingen, nicht auch alle verrückt waren. Aber das hier war kein Fremder, jemand, den er nur flüchtig kannte, sondern sein Lebenspartner… wollte er das? Konnte er das? Die Fragen blieben nach wie vor. Welche Grundlage hatten sie überhaupt noch? Die Macht der Gewohnheit? Nicht nur. Aber der Rest hatte durch Jakobs Betrug einen ordentlichen Knacks abbekommen. „Ich… ich weiß nicht Jakob. Ich kann nicht einfach sagen: Okay, Schwamm drüber, alles neu macht der Mai“, erklärte Kunibert. „Wenn ich dich ansehe, sehe ich die Person, die ich kenne – und zugleich jemanden, von dem ich gar nicht weiß, was ich von ihm zu halten habe und wie ich zu ihm stehe. Ich wünschte, ich hätte eine klare Antwort für dich, habe ich aber nicht. Zum einen wünsche ich mir, dass alles wieder gut ist und so wie früher, zum anderen möchte ich einen Strich ziehen.“ „Ich… verstehe“, erwiderte Jakob langsam, starrte die Kekse an, doch widerstand. „Kann ich auch kaum etwas gegen sagen, außer: bitte! Uns verbindet so viel, nicht nur Zeit, und ich hoffe, das ist mehr als das, was uns trennt. Die Wohnung ist groß… wir könnten umräumen, getrennte Zimmer, und dann schauen, ob wir wieder eine Ebene finden können? Oder willst du, dass wir… getrennt wohnen…?“ fragte er zögerlich. Kunibert blickte seine Bierflasche an. „Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht wäre es besser, aber vielleicht würde es auch bedeuten, einfach aufzugeben wie irgend so eine oberflächliche Null, die bei Schwierigkeiten immer gleich davon rennt, um sich den Nächsten zu angeln. Abstand hatten wir ja erst mal genug. Aber ich kann einfach nicht sagen, was ich momentan noch für dich empfinde. Ich kann dir nichts schwören, aber versuchen… kann ich es“, meinte Kunibert. Auch um seiner selbst willen… Wenn er herausfinden wollte, was an seiner Beziehung noch dran war, dann würde es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts bringen, einen riesigen Bogen um Jakob zu machen. Aus der Ferne hatte er geschaut, ohne etwas zu erkennen, dass ihn hätte klarer sehen lassen, vielleicht tat es das aus der Nähe. Hatten Jakob und er ein gemeinsames Fundament, nur das Haus darauf war rissig und musste renoviert werden? Oder war ihr Beisammensein nur noch auf Sand gebaut? „Danke“, stieß Jakob erleichtert hervor. „Ich… ich liebe dich wirklich Kunibert. Ich war nur so fürchterlich dumm, das eine Weile lang nicht zu schätzen, und das ist wohl das Dämlichste und Verletzendste, das ich je getan habe. Danke, dass du mich nicht zur Hölle jagst.“ „Mmm“, murmelte Kunibert nur. Das war wohl die Frage: Was war denn mit ihm? Liebte er Jakob noch? Trotz dem, was er getan hatte, empfand er eine ganze Menge für den anderen. Aber Liebe…? Irgendwie hatte alles seine Sicherheit verloren. Wahrscheinlich half da wirklich nur Zeit. „Und“, wechselte Jakob das Thema, bevor sie noch erneut begannen, sich im Kreis zu drehen, da schien er dazu gelernt zu haben, „wie war es in der Bretagne?“ „Interessant“, erwiderte Kunibert, was wahrscheinlich eine leichte Untertreibung war. „Dieses Steinfeld auf Privatgrund, hinter dem du her warst – hat das geklappt?“ fragte Jakob und reichte ihm ein weiteres Bier. „Ja… Ich konnte eine Übereinkunft mit dem Besitzer treffen, war nicht ganz einfach“, erzählte Kunibert. „Ach ja, ich hatte dir ja noch geholfen, den heraus zu bekommen… Alain Kalteis, nicht wahr?“ erinnerte sich Jakob. „Der ist vor zwei Jahren schon gestorben, wie sich rausgestellt hat. Ich habe es mit seinem Enkel zu tun bekommen“, warf Kunibert ein. „Naja, solange das nicht Cedric Kalteis war“, lachte Jakob. Kunibert starrte ihn mit offenem Mund an, was Jakob natürlich nicht entging. „Kunibert?!“ fragte der ihn entgeistert. „Du bist doch nicht allen Ernstes Cedric Kalteis in die Fänge gerannt? Rote Haare, Sommersprossen…?“ „Woher kennst du denn Cedric Kalteis?“ fragte Kunibert nicht weniger verwirrt. „Oh mein Gott!“ fuhr Jakob auf. „Das sollte ein Witz sein! Der Name ist schließlich kein Unikat! Das kann doch echt nicht wahr sein!“ „Äh?!“ stammelte Kunibert völlig irritiert. „Irgendwie komm ich nicht mehr mit? Woher kennst du Cedric?!“ „Ich war ein Jahr lang in Paris, kurz bevor wir uns kennen gelernt haben, das weißt du doch! Die Frage wäre eher: Welcher Schwule in Paris – oder Frankreich oder weiß der Himmel – kennt Cedric Kalteis nicht?!“ regte sich Jakob auf. „Äh – ich“, meldete sich Kunibert. „Mir hat der Name überhaupt nichts gesagt, bevor ich ihn getroffen habe.“ Jakob verfiel in ein fast irres Kichern. „Willst du mir etwa sagen, dass du die letzten Wochen das Vergnügen mit Cedric Kalteis höchstpersönlich hattest? Und ich krieche hier zu Kreuze!“ „Hey“, fuhr ihm Kunibert etwas erbost dazwischen, „willst du mir etwa irgendetwas unterstellen?!“ Jakob atmete tief durch und kam anscheinend wieder auf den Teppich. „Nein“, murmelte er, „will ich nicht. Wenn du mir sagst, da war nichts, dann glaube ich dir. Wirklich. Tut mir leid. Mein Fehler ist ja nicht deiner… aber… Cedric Kalteis!“ „So viel zum Thema Vertrauen“, seufzte Kunibert. „Ich vertraue dir! Aber bei Cedric Kalteis… glaube mir, da würde wahrscheinlich auch der beste Freund der Welt, der ich nun leider nicht bin, ein hektisches Zucken bekommen“, meinte Jakob und ließ sich leicht ächzend wieder in den Sessel fallen, sich jetzt auch ein Bier öffnend. „Dann sag ich dir lieber klipp und klar: da war gar nichts mit Cedric. Und ehrlich gesagt leuchtet mir auch nicht recht ein, warum Cedric so eine Reaktion bei dir auslöst“, gestand Kunibert. „Kunibert… du lebst doch auch nicht auf einem anderen Planeten… du hast ihn doch gesehen“, versuchte sich Jakob. „Sicher. Und?“ hielt Kunibert dagegen. „Und wie sieht er aus?“ bohrte Jakob. Ängstlich, wütend, gefasst, resigniert… und er lacht, wenn er beim Monopoly gewinnt… „Er ist ganz hübsch, sicher, aber das gilt für Tausende andere auch. Ziemlich mickrig ist er“, gab Kunibert zum Besten. Jakob verdrehte die Augen. „Also manchmal beginne ich zu zweifeln, ob du wirklich schwul bist… Cedric Kalteis war der absolute König der Pariser Szene, als ich da war. Die Meute hat ihn in den Himmel gehoben, die Typen hätten ihre rechten Arme gegeben für eine Nacht mit ihm und seinem Freund. Er war der Inbegriff von allem: reich, sexy, absolut verdorben… und er hatte die Macht, dich vor den Augen aller steigen oder fallen zu lassen, nur mit einer Geste, einem Wort. Dasselbe galt für die Läden, die er besucht hat: Wo Cedric war, war das Zentrum – der Rest konnte dicht machen. Und er blieb nie lange an einem Ort. Er war berüchtigt für seine Launen und seine Unberechenbarkeit. Eben warst du noch der tolle Typ von Cedrics Gnaden – dann der von allen gemiedene Abschaum, und das hat ihn nicht die Bohne gekümmert, er hat höchstens auch noch darüber gelacht. Das war Teil seines… Mythos, wenn man so will. Der eiskalte Regent wie ein absolutistischer Herrscher. Cedric der XIV. Es konnte jeden erwischen – im Guten wie im Argen“, erzählte er. Kunibert konnte nur starren. Cedric hatte ja so etwas angedeutet, aber das, was Jakob da erzählte, war ja total… krank. „Der wusste schon, seine eigene Legende zu schreiben“, erzählte Jakob weiter. „Jeder, den er sich mal raus gepickt hat, hat geschworen, dass er das niemals vergessen werde, sogar nachdem Cedric denjenigen weggeschmissen hatte, als sei er Müll. Niemand hatte zweimal das Vergnügen. Und Chancen hatte nur, wer groß war, dominant und ordentlich Muskeln zu bieten hatte, nur Tops – jeder andere durfte nur träumen. Diese ganzen Riesenkerle haben ihm aus der Hand gefressen wie die dressierten Eichhörnchen! Ich erinnere mich… er stand ganz oben auf der Brücke der Disco, die gerade dank seiner Anwesenheit angesagt hat, hinter ihm sein Freund. Und sie haben Fleischbeschau getrieben und sich dabei kringelig gelacht – und diese ganzen Idioten da unten hatten nichts anderes zu tun, als sich so viele Klamotten vom Leibe zu reißen, wie irgend ging, damit er sie bloß nahm! Das war… entwürdigend, und ich schwöre Stein und Bein, dass er es genossen hat. Und dennoch… irgendwie hatte er etwas, dass selbst ich kurz davor war, mich dieser Bettlerprozession anzuschließen. Er war irgendwie… wie aus einer anderen Welt. Wie einer dieser griechischen Götter, völlig amoralisch, absoluten Genuss verheißend und absolute Demütigung, als seien die Welt, die Menschen lediglich Spielzeug, als stünde er Meilen über ihren Niederungen. Verstehst du jetzt, warum ich einen ziemlichen Schrecken bekomme, wenn ich höre, dass du Cedric Kalteis vor der Nase hattest, diesen Obermanipulator, dieses machtgeile Sexmonster, wo du garantiert voll sein Typ bist! So unberechtigt es ist, aber bei Cedric Kalteis bekomme ich Gänsehaut!“ Kunibert war sicher, dass sein Mund so weit offen stand, dass ein Zug ihn leicht mit einem Alpentunnel verwechseln konnte. Cedric, die kleine, traumatisierte Giftspritze – sowas? Rückwirkend wurde ihm einiges klarer. Cedrics Schuldgefühle… die Ähnlichkeit zu seiner kalten Mutter… das Bestreben der Familie, den Skandal unter den Tisch zu kehren… Wenn sogar Jakob von Cedrics Verhalten in der Subkultur wusste, der nie zur Aufreißer-Fraktion gehört hatte - bis zur jüngsten Krise, in der er das anscheinend hatte nachholen wollen - wie mochte das auf Cedrics großbürgerlichen Hintergrund gewirkt haben? War das alles nur Fassade, alles nur Gerücht? Wer war Cedric… gewesen, jetzt? Cedric selbst hatte ja davon erzählt, als die Angst vor dem Dunklen ihn eingeholt hatte, aber der Bezugsrahmen und die Relationen seines Treibens waren Kunibert sehr diffus geblieben. Auch jetzt waren es nur Schemen, aber – Cedric hatte anscheinend nicht übertrieben. Er räusperte sich und meinte: „Der Cedric Kalteis, den du da beschreibst, ist nicht der, den ich kennengelernt habe. Da war nichts mit Sexbombe oder machtgeil. Und er hat auch nicht die Spur irgendeines intimen Interesses an mir auch nur angedeutet“, stellte er klar. „Vielleicht ist das doch ein anderer?“ überlegte Jakob. „In diesen französischen Stinkereich-Sippen gibt es ja häufig Namen, die mehrfach verwendet werden, weil sie irgendwie zur Tradition gehören? Vielleicht ein Cousin oder so?“ Nein, wohl eher nicht. Es gab nur einen Cedric Kalteis. Aber er konnte Jakob auch nicht von dem erzählen, was Cedric da durchlitten hatte und durchlitt. Das käme ihm vor wie ein leichtfertiger Vertrauensmissbrauch, auch wenn sein eigenes Vertrauen in Jakob keine Risse hätte. Aber es ging niemanden etwas an, was er erfahren und was Cedric ihm anvertraut hatte. Kunibert schüttelte den Kopf. „Glaube ich nicht… Aber das Leben scheint er hinter sich gelassen zu haben“, sagte er bestimmt. „Okay“, nickte Jakob. „Sollen wir… umräumen…?“ fragte er vorsichtig. Kunibert seufzte in sich hinein. Es wäre so leicht, das jetzt einfach vom Tisch zu wischen, und ins gemeinsame Bett zu kriechen, endlich wieder den Bedürfnissen seines Körpers freien Lauf zu lassen, es war so lange her… Und in Cedrics Gegenwart hatte er sich stetig darauf konzentriert, Gedanken in die Richtung zu bändigen. Aber wenn er sich notgedrungen dann im stillen Kämmerlein doch einen runter geholt hatte, waren es nicht Jakob gewesen, an den er gedacht hatte oder Cedric, sondern irgendwer. Irgendwer ohne Geschichte, ohne Probleme, der sich mit dem Erreichen des Gipfels in Staub auflöste. Kein Mensch, nur eine leere Fantasie… Waren die ganzen Kerle das für Cedric gewesen? Vielleicht… auch. „Ich bin echt alle“, gestand er. „Können wir das Morgen machen? Ich kann auf dem Sofa schlafen.“ „Lass mal“, lehnte Jakob ab. „Du hast eine anstrengende Fahrt hinter dir. Nimm das Bett. Ich habe Morgen frei in der Bank, da haben wir dann Zeit.“ „Okay, danke“, murmelte Kunibert und fühlte sich plötzlich so erschöpft, als habe ihm jemand Bleikugeln an die Gelenke geschmiedet. Kapitel 18: Weihnachten a la Cedric ----------------------------------- XVII. Weihnachten a la Cedric „Morgen“, murmelte Cedric, während er das entlang stapfte, das sich „Dorfstraße“ schimpfte. In der letzten Nacht hatte es ordentlich geschneit, die Kinder auf dem Platz rund um die Eiche waren völlig aus dem Häuschen und bauten Schneemänner wie die Geistesgestörten. Weiße Weihnacht, davon träumten sie alle. Er stand eher auf „stille Nacht“, das „heilige“ konnte ihm gestohlen bleiben. Bauer Beauchamp tippte sich an die hässliche, garantiert von seiner Frau selber gestrickten blaue Mütze und schmetterte ihm ein: „Ein Frohes Weihnachtsfest auch Ihnen, Monsieur Kalteis!“ entgegen. Er nickte nur verhalten und kraxelte weiter über den unebenen Grund. Schade, dass Kunibert jetzt nicht hier war, der wäre eine super Schneewalze. Am Anfang war er nur ein oder zweimal die Woche hier her gekommen, um sich blicken zu lassen – und Mohnbrötchen zu kaufen, die irgendwie ein gewisses Suchtpotential hatten. Als Kind war er schon mal voll drauf gewesen, jetzt hatte es ihn wieder erwischt. Ansonsten hatte er zwar mit der ein oder anderen Sache, die nicht ganz legal war, herum experimentiert, aber nur im privaten Rahmen mit Etienne, niemals in der Öffentlichkeit, er hatte sich ja nicht selbst demontieren wollen wie diese ganzen… Opfer. Hätte er mal besser, dann hätten die eventuell nicht dafür gesorgt, dass er ihrer Fraktion beitrat. Aber das war Blödsinn, niemand war immer der Gewinner, einige hielten nur länger durch oder waren nicht ganz so ungeschickt. Jetzt dackelte er jeden Morgen hier her. Mit den Bienen war zu dieser Jahreszeit nichts los, da kam ihm diese neue Routine nur recht. Brötchen, Aufschnitt, Zeitung, Kleinkram, Rattenfutter… Wieder so ein Punkt, für den er sich früher prophylaktisch hätte erschießen lassen: Er begann die blöden Viecher langsam wirklich zu mögen. Besonders Engels war echt raffiniert, während Marx eher der kuschelige Vertreter war… Er kuschelte mit Ratten, statt sich durch die Oberhengste zu vögeln… so konnte es kommen. Aber irgendwie war es beruhigend zu wissen, dass es die Ratten waren, wenn es im Zimmer raschelte. Er erwischte sich mittlerweile immer mal wieder dabei, wie er mit den Biestern redete. „Also, was meinst du Marx, findest du nicht auch, dass Aristoteles chronisch überbewertet wird? Ach ja, Engels, wieso denn nicht?“ Ja ja, die Wonnen eines Verrückten. Mit nassen Füßen in den witterungsungeeigneten Stiefeln betrat er die Bäckerei. Es hatte über Nacht geschneit wie wahnsinnig, und als er vorhin das Haus verlassen hatte, hatte er es schlichtweg verpennt, die richtigen Klamotten raus zu holen. „Einen wunderschönen guten Morgen, Monsieur Kalteis!“ wurde er wie üblich mit zwei Zentnern Freundlichkeit zu viel für seinen Geschmack begrüßt. „Morgen, Madame Picard“, grüßte er geübt zurück. Sie packte bereits ungefragt seine Mohnbrötchen in die Tüte. Er starrte in die Auslage. „Ich…“, begann er. Sie sah ihn verdutzt an. Er nahm immer zwei Mohnbrötchen, grüßte, verabschiedete sich und verschwand, fertig. „Ähm… Zimtsterne…?“ fragte er, sich selbst ein wenig blöde fühlend und sich das dann verbietend. Es hatte früher immer Zimtsterne gegeben… eine der erfreulichen Seiten ihrer krampfigen Weihnachtsfeiern daheim, bei denen er einen Kinderanzug mit Fliege hatte tragen müssen. „Natürlich“, lächelte sie. „Wie viel?“ „Öhm… laden Sie mal ein, ich sage Stopp“, versuchte er sich. Was zum Geier wog ein Zimtstern? Kurz darauf stand er wieder auf der Straße und spähte in seine Einkaufstasche. Mmm, so würde ihn vielleicht nicht der Geist der künftigen Weihnacht besuchen… aber das tat der eh nicht, er war kein Geizkragen, immerhin das nicht, und ihn besuchte keiner – hoffentlich! Nein… eher nicht… er hatte es sich nehmen lassen, eine Verfügung gegen seine Anverwandten anzustrengen, war damit auch gescheitert, schließlich hatten die ihm keinen Sack über den Kopf gestülpt und ihn verschleppt, aber das war auch nicht das Ziel gewesen, die Geste reichte: Haut ab! Und glaubt ja nicht, ich würde mich nicht auf eure Art wehren, ihr habt mir das schließlich beigebracht! Ich mag zwar inzwischen darauf pfeifen, aber ich spreche sehr wohl noch eure Sprache! Okay, Zimtsterne… die mochten Marx und Engels garantiert auch. Man musste aufpassen, dass Ratten nicht verfetteten, sagte zumindest das Rattenbedienungshandbuch, aber es war ja Weihnachten… juhu. Wunschzettel hatte er verpennt abzuschicken, hätte auch nichts drauf gestanden außer: Meine Ruhe! – aber… er war schließlich sein eigener Herr. Er konnte machen, was er wollte. Er mochte zwar Atheist sein, wenn auch kein überzeugter, dazu zweifelte er zu viel an allem, aber das hieß nicht, dass er die guten Dinge nicht irgendwie mitnehmen konnte. Was wollte er denn so… Gänsebraten. Mmm, das musste doch machbar sein… Geschenke! Das konnte er vergessen, sich selber etwas einzuwickeln wäre erbärmlich, außerdem keine Überraschung mehr. Karten schreiben und verschicken! Seine Opa war tot, der war der einzige, der sich da wirklich drüber gefreut hätte… der Rest… vergiss es… aber… okay, er war doch bekloppt, das entschuldigte doch so einiges… Eine knappe Stunde später schlurfte er deutlich schwerer beladen gen Dorfkirche. Um den Braten musste er sich keine Sorgen machen, bei den Temperaturen würde der schon nicht tauen – der musste sich eher vor seinen Kochkünsten fürchten, die nicht existent waren. Er konnte Sachen aufwärmen, früher hatte man ihn bekocht, oder man war eben essen gegangen, aber so ein Braten… wozu gab es das Internet. Seine bloßen Finger waren schon verdammt klamm, Handschuhe hatte er auch vergessen, er Trottel. Er bog links ein und stakste etwas wankend durch den Schnee. Der Stein war fast völlig versunken, er klopfte ihn notdürftig frei. „Hallo Opa!“ grüßte er ihn, obwohl ihm schon klar war, dass selbiger gerade direkt unter ihm ziemlich verrottet rum lag, aber das war nur sein Körper, der Rest… was auch immer. Vielleicht gab es keinen Rest, nur sein eigenes Kommunikationsbedürfnis und seine Einbildungskraft, vielleicht saß Alain Kalteis jetzt auch auf einer Wolke, klampfte Harfe, fraß Philadelphia-Brote und rauchte Zigarillos ohne Reue. Zu gönnen wäre es ihm. „Tja, frohe Weihnachten, auch wenn du darauf genauso scheißt wie ich! Tut mir leid, dass ich solange nicht da war, aber ich konnte nicht… Echt Opa, scheiße, ich hab’s echt verbockt. Ich war ein Arschloch – aber nicht so eins wie du! Ein beschissenes Arschloch, kein gutes Arschloch. Ach ja, schwul bin ich auch, hat dir garantiert keiner gesagt, passt ja auch nicht in die Familienplanung – und als du abgekratzt bist, ist das große Hallo auch noch nicht los gegangen. Hast du knapp verpasst, du Glückskeks. Jedenfalls bin ich nicht nur schwul, sondern jetzt obendrein noch verrückt – oder habe ein Trauma, wie das so schön heißt. Und jede Menge neue Zähne und schicke Narben, wie ein Kriegsveteran, toll was? Und sonst so… na ja, geht schon etwas besser, glaube ich. Immerhin bin ich hier, das ist schon mal was, oder? So ein Typ hat mir gesagt, dass man das alles in Relation sehen müsse. So ein hungerndes Kind in Afrika sieht es garantiert als Riesenerfolg, mal was zu fressen abzusahnen, während ich mich lange Zeit von Austern, Trüffeln und Kaviar ernährt habe. Dabei mag ich den Kram nicht mal! Und ich darf mich jetzt freuen, dass ich es schaffe, allein einkaufen gehen zu können. Muss ich auch, sonst stecken die mich in die Klapse. Ansonsten… schon okay. Das Übliche. Ich habe zwei Ratten… anderswo reißt man sich ein Bein ab, um die Biester auszurotten, und ich kraule ihnen die fetten Bäuchlein und füttere sie mit Beefsteak. Sind echt die idealen Haustiere für mich. Und ich hatte… Besuch… na ja, nicht so ganz freiwillig. Der war Deutscher und hieß Kunibert Lerchenfels – ja, da darf man ruhig lachen! Und genauso sieht der aus: blond, blauäugig, fast zwei Meter, nix als Muskeln. Und was hat er getan? In Polen einmarschiert? Mitnichten. War scharf auf die Steine wie nur was. Prähistoriker… na ja. Und er hat mir… geholfen, ein bisschen. Für nichts und wieder nichts. Komisch, was? Hätte ich echt nicht erwartet. Wir haben… Monopoly gespielt… total bescheuert… und er hat Angst vor Nagetieren, daher die Ratten, war aber total überflüssig, der hat mir nichts getan. Ist wohl nicht immer eine Frage der Größe. Er ist echt ein… netter Typ. Genau, ein totaler Spinner. War echt ganz… in Ordnung, als er da war. Der kommt in ein, zwei Monaten wieder, wenn das Wetter stimmt. Der Schnee muss vorher schmelzen… Aber das ist schon in Ordnung, das kann ich, Kunibert geht. Ohne ihn wäre ich echt am Arsch gewesen. Ich glaube, du hättest ihn auch in Ordnung gefunden, auch wenn er so ein positives Menschenbild hat. Sag mal, weiß du, wie man eine Gans zubereitet… und alleine isst, bevor sie vergammelt?“ …………………………………………………………………………………………………. „Hey“, lächelte Kunibert, als Jakob, sich den Schnee aus den Haaren strubbelnd, ins Wohnzimmer kam. „Hey“, lächelte Jakob zurück. Kunibert schloss kurz die Augen. Es war doch alles ganz gut so… fast wie früher. Er und Jakob, das Dream Team, sie bekamen alles hin… Sie hatten sich zusammen gerauft, Schritt für Schritt, und es sah gut aus. Aber irgendwo blieb es immer… dieses Tröpfchen Bitternis infolge des Betruges, infolge seines Innenlebens, das wider alle Harmonie und wach erlebter Freude ganz leise flüsterte: Nein! Aber das war wahrscheinlich genau das, dem Jakob auf den Leim gegangen war, dieses: Das kann doch nicht alles sein! Er musste dessen Fehler doch nicht wiederholen, das war doch nur ein Traumgespinst, Illoyalität gegenüber seinem Partner. Er war keiner, der weglief, er kämpfte um die Sachen, und es war blödsinnig, das aus einer irrationalen Torschlusspanik heraus zu gefährden. Er verpasste gar nichts. Er hatte einen klugen, schönen, aufmerksamen Partner, der zwar einen Fehler gemacht hatte, aber solange daraus Erkenntnis erfolgte... Niemand war perfekt. Jakob legte die Post auf den Tisch, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und schwang sich, den Fernseher anschaltend, auf seinen Stepper. Seitdem Jakob seinen inneren Schweinehund überwunden hatte und eine gewisse Bewegungsroutine gefunden hatte, hatte er auch nicht mehr wegen seines Gewichtes gejammert. Zum einen war er dünner, zum anderen fühlte er sich wohl auch so, und das war gut so. Kunibert war das zwar nicht so wichtig, aber hier ging es ja um Jakobs Selbstbewusstsein, das dieser anscheinend gründlich saniert hatte. Vielleicht war das auch ein positiver Effekt der ganzen Sache gewesen. Kunibert blätterte den Poststapel durch. Reklame, Rechnung, verspätete Weihnachtskarte von Jannes und Yvonne aus Bochum… verspätete Weihnachtkarte von Paul aus Berlin… verspätete Weihnachtskarte von… Cedric? Verblüfft drehte Kunibert den Umschlag in seine Richtung. Die Adresse des Absenders stand nicht darauf, stattdessen nur ein C. K. Dass Calvin Klein ihm persönlich schrieb, war eher auszuschließen, und noch ein „C. K.“ war ihm sonst nicht geläufig. Außerdem klebte eine französische Briefmarke darauf, der Poststempel war unleserlich. Ziemlich unkoordiniert rupfte er den Umschlag auf. Auf der Vorderseite der Karte war ein Menhir unter wolkenlosem Himmel zu sehen, eine typische Touristenkarte. Er drehte sie um: „Hallo Kunibert“, stand da in einer ziemlich kleinen, harten Handschrift. „Frohe Festtage und so. Wie auch immer. Die Steine stehen wie gehabt. Die Bienen schlafen. Ich habe die Weihnachtsgans in ein Brikett verwandelt, selbst die Ratten haben gekotzt. Ich sollte bei den Mohnbrötchen bleiben. Ich habe dein Zimmer mit Büchern vollgestopft, aber da ist noch Platz. Ich melde mich, sobald es schmilzt. Cedric.“ Weihnachtsgrüße a la Cedric. Aber wie immer hieß es, zwischen den Zeilen zu lesen. Es ging ihm gut, er schaffte es weiterhin allein ins Dorf. Er hatte sogar versucht, sich ein Weihnachtsmal zuzubereiten und hatte ziemlich versagt. Der Gedanke an den allein vor sich hin kochenden Cedric tat irgendwie weh. Der an die Ratten auch. Außerdem war mehr als klar, dass er eingeladen war. Er ließ die Karte sinken. Wie einsam musste Cedric sein in seinem Haus am Feld? Er schrieb ihm sogar schon eine Karte, was gewiss nicht gerade routinierte Höflichkeit für ihn war. Kunibert saß plötzlich ein Kloß in der Kehle. Er konnte ihn förmlich vor sich sehen, die zarte Gestalt, das zwischen Gefühlen hin und her gerissenen Gesicht, die Hilflosigkeit, die hinter seinen Sprüchen lauerte, die Sommersprossen, das wirr stehende Haar, an einer Stelle ausrasiert wegen der Verletzung, die Augen, die glänzten, und Gift spritzen und so schrecklich… Cedric brauchte Hilfe. Aber der einzige, den er fragte, war er, und so ganz klar konnte es Cedric auch nicht gewesen sein, wie das hier wirkte. Er horchte in sich hinein. Er wollte ihm helfen. Aber war er damit nicht heillos überfordert? Er war schließlich kein Profi. Aber die Profis ließ Cedric nicht an sich heran, konnte das nicht, wollte das nicht, und das gewiss auch nicht grundlos. Und er hatte etwas bewirkt… ein bisschen, warum auch immer. Doch der Punkt war: Er wollte das auch. Er empfand das nicht als Belastung. Aber das war kein reines Helfersyndrom, er war Prähistoriker und nicht bei Amnesty International. Es war vor allem Cedric mit seinem Herzen aus Stein. Wie passte das alles zusammen? Wie konnte der Cedric von jetzt, der darum kämpfte, zumindest seine Selbstbestimmung zu behalten, derselbe sein, den Jakob und er selbst beschrieben hatten? Cedric war nicht total zerbrochen… und wenn doch, dann puzzelte er sich gerade wieder zusammen auf seine ganz eigene Art. Und außerdem… das Feld… der Herr der Steine, irgendwie mit ihnen verschmolzen, als würde sich ihre Vielzahl in dem Chaos seiner Sommersprossen widerspiegeln. Es ließ sich nicht leugnen, Cedric faszinierte ihn, forderte ihn irgendwie heraus, und irgendwie… mochte er ihn auch. Die kleine Giftspritze. Wie er wohl einst gewesen war damals mit Etienne? Hätte er ihn auch so anziehend gefunden, wie Jakob das beschrieben hatte? Er wagte es zu bezweifeln, das war so gar nicht seine Welt. „Und wer hat es dieses Mal verpennt, rechtzeitig die Weihnachtspost einzuwerfen?“ riss ihn Jakob vom Stepper aus aus seinen Gedankengängen. „Die üblichen Verdächtigen… und Cedric Kalteis“, gestand Kunibert. „Kalteis?“ wiederholte Jakob misslaunig. „Er fragt nur nach wegen der Steine“, erklärte Kunibert hastig. Das mit dem Rest… nein… war er jetzt ein Lügner? Aber das ging niemanden außer ihn und Cedric etwas an. Außerdem hatte er Jakob nicht betrogen, anders als andersherum. Und er konnte und wollte auch kaum rum posaunen, dass Cedric Opfer einer Sexualstraftat geworden war, und daher schon der Gedanke an derartiges einer Missachtung Cedrics Leid gleich kam. „Musst du da echt noch mal hin?“ muffelte Jakob. „Ja, das wird der zentrale Gegenstand meiner Diss, ich will schließlich fertig werden. Das wird der Knaller, eine Neupublikation dieses Feldes auf dem aktuellen Stand der Forschung! Und wie gesagt – Cedric ist schon okay, seine Zeiten als fieser Sexbomben-Despot scheinen hinter ihm zu liegen, jeder entwickelt sich ja irgendwie weiter. Oder willst du hinterher kommen und kontrollieren?“ grummelte Kunibert zurück. Dieses Thema nervte ihn zugegebenermaßen, Jakob hatte nun weder Anlass noch Recht, eifersüchtig zu sein. „Sorry… aber vielleicht bekomme ich echt ein paar Tage frei, wir könnten ein bisschen Entspannungsurlaub machen, wenn du da bist? Soll ja echt wunderschön sein“, änderte Jakob den Kurs, während er fleißig weiter steppte. „Das hört sich gut an“, musste Kunibert zugeben. „Die Bretagne im Winter soll traumhaft sein.“ Kapitel 19: Der Arsch der Steine -------------------------------- XVIII. Der Arsch der Steine Er konnte das Auto schon von weitem hören. Diese asthmatische Karre war keiner der Lieferwagen, die sowieso immer seltener kamen, und auch nichts aus dem Fuhrpark der Leute aus seinem alten Leben. Irgendwie kam er sich komisch vor, war doch nur Steinefuzzi-Kunibert. Aber wahrscheinlich langten Marx und Engels auf die Dauer nicht, Opa Alain weigerte sich beharrlich, aus dem Jenseits zu antworten, und die Dorfbewohner konnten ihn mal mit ihrem Klatsch. Dennoch klopfte sein Herz als sei heute sein fünfter Geburtstag – er armseliger Wurm, er. Aber mit wem sollte, wollte und konnte er sonst reden? Oh weia, er war echt das Allerletzte… Er linste aus der Vordertür, stellte fest, dass er richtig gelegen hatte, und öffnete per Fernsteuerung das Gitter. Kunibert kam hinein geknattert und sah dabei aus wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein. Der europäische Durchschnittswagen war nicht unbedingt für Leute seines Formats konstruiert. Cedric sah zu, Haltung zu bewahren und wartete an der Tür. ………………………………………………………………………………………………….. Da stand er, ganz wie gehabt. Einen Unterschied gab es aber: Er lächelte. Nicht mit dem Mund, der war nach wie vor ein grader Strich, aber es stand in seinen Augen, nur ein kleines bisschen, aber es war da. Er selber war da nicht so, er konnte das raus lassen. „Hallo, Cedric!“ rief er ihm beim Aussteigen entgegen. „Hallo, Kunibert“, grüßte Cedric zurück und trat zwei vorsichtige Schritte auf ihn zu. „Brauchst du Hilfe beim Schleppen?“ fragte er. Richtig… normal. Aber wenn er seit Monaten weiterhin ins Dorf gewackelt war, hatte er vielleicht seine Ängste ein wenig weiter abbauen können, zumindest im Alltagsleben. „Danke, geht schon, ich habe nicht so viel dabei“, erwiderte Kunibert. „Jakob holt mich in zwei Wochen hier ab, wir wollen ein wenig Urlaub machen, der bringt dann noch etwas mit. Ist das okay, wenn ich ein paar Tage dafür ausbüchse und dann wieder komme…?“ „Klar“, nickte Cedric. „Ihr habt euch… versöhnt?“ „Ja… jeder macht mal Fehler… Wir versuchen es“, blieb Kunibert vage. „Die Ratten sind oben“, informierte ihn Cedric netterweise, als sie eintraten. Es sah aus, als sei er nie gegangen, selbst der Wasserfleck ließ sich noch erahnen. Allerdings lag etwas in der Luft… Er hörte, wie sein Magen laut knurrte und schämte sich eine Runde ganz kurz dafür. „Ich dachte, du hättest Hunger“, murmelte Cedric, „nach der langen Fahrt. Seit der Pleite mit der Gans bin ich etwas besser – und realistischer – geworden. Aber jetzt, wo ich spontan frische Sachen einkaufen kann… kochen ist ja auch eine Beschäftigung… Ist nur ein Eintopf, wusste ja nicht, wann du genau kommst.“ „Danke!“ meinte Kunibert anerkennend und schritt den Gang entlang zu „seinem“ Zimmer. Er stieß die Tür auf und starrte verblüfft. „Das wäre echt nicht nötig gewesen“, meinte er. „Ach was. Ich hab’s ja, und das war nun echt keine Ausgabe. Eh du wieder auf dem Boden pennen musst, da wäre ich wohl echt ein beschissener Gastgeber. Und ich habe dich ja… eingeladen, oder? Ist Zweidreißig lang, hoffe, das reicht?“ bemerkte Cedric nur. „Sicher“, staunte Kunibert. Betten waren echt so ein Problem… und Cedric hatte wirklich eins rangeschafft, in dem er bequem liegen konnte. Das war irgendwie… beklemmend wie rührend und aufmerksam, aber vielleicht spielte so etwas für einen Kalteis wirklich keine Rolle. An den Wänden befanden sich jetzt auch Bücherregale, Cedric schien aufgeräumt zu haben, und ein Kleiderschrank. „Mach’s dir bequem“, wurde er aufgefordert. „Wenn du Hunger hast, melde dich, ich bin dann im Wohnzimmer.“ „Ich kann später einräumen, Hunger geht vor“, beschloss Kunibert. Cedric nickte bedächtig und ging vor in Richtung Küche. Kunibert sah ihm kurz hinterher. Das war Cedric… aber nicht ganz der, den er verlassen hatte, der hätte ihm niemals etwas gekocht. Aber das war auch nicht der Disco King-Despoten-Cedric, den er nur aus Erzählungen kannte. Was für ein Cedric war das denn? ………………………………………………………………………………………………… Kunibert saß auf dem Stuhl, auf dem er schon früher immer gesessen hatte und löffelte brav seinen Eintopf, der eventuell einigermaßen schmackhaft war. Allmählich wurde er besser, bildete er sich ein. Es ließ sich nicht leugnen, er freute sich wie ein dämlicher Schneekönig, dass Kunibert wieder da war. Dabei waren sie gewiss nicht die besten Freunde. Eigentlich stimmte das nicht – er hatte keine Freunde, Kunibert war wohl das, was dem noch am nächsten kam. Allerdings hatte Kunibert echte Freunde, Familie, einen Lebensgefährten, und er dagegen hatte… nichts, da standen sie wohl nicht gerade auf Augenhöhe. War er gerade dabei, die Krone des Kaisers der Armseligen zu gewinnen? Schließlich war Kunibert nicht wegen ihm hier, sondern wegen der verkackten Steine. Kunibert schaufelte sich eine zweite Portion auf und bemerkte mit halbwegs leerem Mund. „Du hattest völlig recht. Das Licht draußen ist echt ideal für die Fotos. Ähm… und wegen der Messungen… würdest du wieder mit anpacken?“ „Klar“, seufzte Cedric, „wenn ich zwischen dem Interview mit Angelina Jolie und meinem Auftritt in Cannes noch Zeit finde.“ „Du wolltest mal Journalist werden laut Dorfklatsch?“ fragte Kunibert. „Ja“, gestand Cedric. „Aber seit… Ich bringe einfach nichts mehr aufs Papier, das etwas taugen würde. Und es gibt auch nichts, das mich so interessieren würde, dass ich darüber berichten könnte. Geschweige denn… ich will hier nicht weg. Und mein Studium habe ich auch abgebrochen.“ „Mach‘s doch fertig an der Fernuni“, empfahl Kunibert. „Vielleicht kommst du so wieder rein?“ Das war nicht gerade die Sourbonne… und einer wie er… ach, hau ab, Arschloch-Cedric. Als hättest du besseres zu tun. „Mmm, mal sehen“, murmelte er. „Nachschlag?“ „Immer gern!“ erwiderte Kunibert erfreut. Komisch… früher hatte er bei Partys das Feinste vom Feinen auffahren lassen, nur die Top-Caterer waren überhaupt infrage gekommen… und die Gäste hatten ihn mit verlogenen Komplimenten überschüttet, ständig auf der Suche nach etwas, das dann doch nicht ganz so hinhaute, während er ihren Neid genüsslich grinsend in sich hinein gemümmelt hatte. Jetzt war nichts mehr mit Caterer und mit Partys, sondern er Höchstselbst schwang den Kochlöffel und bekam unter Hängen und Würgen einen schnöden Kartoffeleintopf hin, aber der Besuch mochte ihn ernsthaft und verdrückte ihn mit echtem Appetit. Das Leben war schon merkwürdig. „Dir scheint es echt besser zu gehen?“ fragte Kunibert fast beiläufig. „Ähm… wahrscheinlich, wenn man so will. Muss ja. Jetzt bin ich… hier. Und hier will ich bleiben. Und das geht schon…“, antwortete Cedric diffus. Fakt war, dass sich schon ein paar Dinge geändert hatten. Seine Tage waren nach wie vor von Routinen geprägt, aber es gab auch Variationen, oder er konnte auch ab und an aussetzen, wenn ihm danach war, und manchmal war ihm danach. Auch beim Lesen war er wählerischer geworden, konsumierte nicht mehr jeden Schrott. Die snobistischen Kriterien von einst waren Geschichte, aber die Erzählungen, die er auswählte, waren nicht mehr alle gleich unbedeutend. Es gab Dinge, die er mied, Dinge, die ihn zu sehr an das von ihm selbst Erlebte erinnerten, aber die Personen waren nicht mehr bloß literarisches oder weniger literarisches Werkzeug, sie begannen zu leben… wie er wahrscheinlich auch. Ein kleines bisschen. Er war kein wandelndes: Nein! mehr, aber auch nicht gerade ein lebensbejahender Wonneproppen. Er war Cedric Kalteis… der in einem einsam stehenden, gesicherten Haus am Arsch der Heide in der Bretagne lebte und immer leben würde. Hier gehörte er jetzt hin. Und vielleicht könnte er hier irgendwann auch Dinge tun… nicht nur Ratten füttern, kochen, lesen, laufen, Bienen, Steine… vielleicht das, was Kunibert vorgeschlagen hatte, vielleicht auch etwas ganz Anderes… mal sehen… aber er konnte, konnte das lernen… Irgendwie musste zumindest die Hoffnung auf so etwas immer ein wenig da gewesen sein, ansonsten hätte er es wahrscheinlich nach dem, was geschehen war, nicht einmal bis hierher geschafft. Dann hätte er sich wahrscheinlich vom Eiffelturm gestürzt oder sich willenlos in die Anstalt abschieben lassen. „Freut mich“, riss ihn Kunibert aus seinem Gedankengang – und meinte es auch so. „Mmm, danke“, antwortete er. „Und wie läuft es mit deiner Diss?“ fragte er gegen. „Gut“, meinte Kunibert. „Wenn ich mich ranhalte, kann ich vielleicht im Sommer abgeben.“ „Und was hast du dann vor?“ machte Cedric weiter und goss sich erneut Wasser in sein Glas. Kunibert seufzte. „Tja, wenn es nach mir ginge, würde man mir dann postwendend eine Habilitationsstelle in Kiel oder zumindest in Norddeutschland aufdrängen oder einen Museumsjob, aber das ist leider nicht so einfach. Realistisch betrachtet kann ich mich freuen, wenn ich irgendwo zwischen hier und Timbuktu eine befristete Stelle mit Mickergehalt bekomme, von der ich es vielleicht irgendwann mal schaffe, etwas Festes an Land zu ziehen. Mal sehen. Aber ich mache das ja nicht, um Ferrari fahren zu können. Solange ich über die Runden komme, die Miete bezahlen, Kleidung, Essen und so, ist das schon okay. Ich brauche ja keinen Diamanten im Eckzahn oder Unterwäsche aus Nerz. Wäre nur blöd, wenn ich weit weg müsste, meine Familie, Freunde, Jakob kann ich ja nicht einfach hinter mir her schleifen.“ „Aha“, erwiderte Cedric. Kuniberts Sorgen wären nie seine gewesen, dazu war seine Familie zu wohlhabend und kontaktreich – auch er allein war dank Opa Alain nun nicht gerade ein Hungerleider, wenn auch nicht mehr das Zentrum der Szene. „Was macht denn… Jakob?“ wollte er wissen. Interessierte ihn eigentlich nicht… aber… das war eben „unterhalten“, oder? „Der ist Banker“, antwortete Kunibert und löffelte sich noch mal auf. Gut, dass genug da war für eine mehrmonatige Hungerperiode… „Ist auch ziemlich gut dabei, mittleres Management könnte man sagen.“ Cedric nutzte die Chance, da Kunibert sich auf die Jeans gekleckert hatte, um ihn zu fixieren. Kunibert machte anscheinend echt auf so etwas wie Eheglück mit so einem komischen Bankheini. Wie… deprimierend? spießig? lahm? Na, er hatte gut reden, er hatte bisher auch nur eine Beziehung zu bieten gehabt, die allerdings garantiert nicht so gewesen war wie Kuniberts Rentnerglück. Hatte er Etienne… geliebt? Sie waren verbunden gewesen, eng verbunden, aber über dieses engstirnige Verliebt-Verlobt-Verheiratet hatten sie beide nur gelacht. Jeder hatte sein Ding gemacht, aber sie waren sich in vielem so ähnlich gewesen, dass das auf viel Gemeinsamkeit hinaus gelaufen war. Zukunftspläne hatten sie beziehungstechnisch nie geschmiedet, so wie es gewesen war, war es ihnen exakt richtig erschienen. Als Etienne vor ein paar Monaten vor der Haustür gestanden hatte, hatte er zum ersten Mal überhaupt das „L“-Wort verwendet. Aber Etienne hatte immer schon etwas übrig für dramatische Auftritte gehabt… so wie er. Hauptsache der bejubelte Mittelpunkt, um den die Welt sich drehte… und in dieser Mission hatten sie einander perfekt ergänzt. Aber Etienne hatte ihn nicht einfach so abgeschrieben… sicher, sie waren nicht nur Geliebte gewesen – im physischen Sinne – sondern auch Freunde. Sie hatten einander vertraut, sich miteinander verschworen, hatten den Familien gegenüber das pittoresk-lässige Paar gegeben, miteinander gegessen, diskutiert, Fernsehen gesehen… gelebt eben. Aber wenn Etienne ihn verlassen hätte, hätte es ihm das Herz gebrochen? Oder hätte er damals diesen Scheißer nicht einfach fertig machen wollen, weil man ihn eben nicht abservierte? Als sie ihm damals im Krankenhaus gesagt hatten, dass Etienne draußen sei und ihn besuchen wolle, da hatte er sich das verbeten. Warum? Weil Etienne ihn so nicht sehen sollte, so… kaputt? Weil er Etiennes Mitleid und Entsetzten nicht ertragen konnte? Seine Hilfsangebote? Ihr ganzes Leben, das für ihn in dieser Katastrophe gegipfelt hatte und in das kein Weg mehr zurück führte – und das auf Stärke, Überheblichkeit und Unantastbarkeit gebaut hatte? Weil er niemand war, der sich Trost suchend an irgendwen kuschelte, und Etienne auch nicht so ein Weichei war, das damit wirklich etwas anfangen konnte? Sicher, es hatte auch Zärtlichkeit gegeben zwischen ihnen, aber nur im verträglichen Maße. Wenn er jetzt an ihn dachte… wie aus der Erinnerung eines Fremden. Wer war er überhaupt gewesen? Und hatte dieser jemand überhaupt so empfinden können, wie Kunibert es anscheinend dachte, dass er es tat mit seinem komischen Jakob, dem er sogar seine krummen Touren verziehen hatte, warum auch immer? Das war für Spießbürger und Dumme gewesen, nicht für Leute mit einem freien Geist und Hirn im Kopf. Das war wohl kaum erstrebenswert. Aber im Kuniversum lief das wahrscheinlich so auf die übliche Monsterbananen-Art. Echt merkwürdig, Kunibert würde wahrscheinlich nur um die Ecke biegen müssen, und die Meute würde sabbernd auf den Knien liegen, den Mund offen oder den Arsch hingestreckt, aber Cedric hatte Zweifel, ob Kunibert dann nicht eher kotzend abhauen würde, heim zu seinem Kerl, seinen Studien, seinen nerdigen Hobbies. Eventuell war das der Grund, warum er jetzt hier und heute Kunibert erträglich fand, sich sogar peinlicherweise über seine Gesellschaft freute – sie erinnerte ihn an nichts und niemanden von früher. Kunibert hätte er zum Gespött des ganzen schwulen Frankreichs machen können, das wäre dem wahrscheinlich komplett am Arsch vorbei gegangen, und er hätte stattdessen ihn für bekloppt befunden, während er sich fürs nächste Live-Rollenspiel einen Zwergenbart gefilzt hätte, das war wahrscheinlich auch ein Aspekt. Kunibert mochte wie jeder Mensch einen Punkt haben, an dem er ausrastete, aber Arschloch-Cedric wäre es wohl nicht so leicht gewesen, meinte er zu wissen. Mit aufgeblähten Wagen schob Kunibert seinen Teller von sich. „Uff“, stöhnte er, „jetzt bin ich pappsatt. War echt lecker, fast genau wie beim Bund!“ Jetzt wurde er schon mit einem Bundeswehr-Koch verglichen… „Danke“, murmelte er. „Ich werde fleißig weiter üben, vielleicht darf ich dann eines Tages für die Mensa kochen…“ „Hey“, grinste Kunibert. „Das mag ich auch gern!“ „Na, dann ist ja gut“, seufzte Cedric. „Verdauungsspaziergang?“ würgte Kunibert hervor, und hielt sich den Waschbrettbauch als sei er eine Wampe. „Okay, sonst fangen die Steine noch an zu heulen, wenn du ihnen nicht hallo sagst“, stimmte Cedric zu. Zwischen den Steinen lief er nach wie vor Tag für Tag, aber jetzt nahm er meist ein Buch mit, setzte sich, wenn er einen guten Punkt gefunden hatte, und las dort, bis ihm der Arsch drohte festzufrieren. Sie zogen ihre Jacken und Schuhe über – er hatte sich derweil ein paar richtig dicke, gefütterte Wanderstiefel angeschafft, bei deren Anblick er sich früher vorbeugend wahrscheinlich die Füße abgehackt hätte, aber damals war Funktionalität auch nicht gerade das Kriterium gewesen. Kunibert hatte ganz ähnliche Modelle zu bieten, ach weh, anscheinend wurde er schleichend Opfer einer Kunibertisierung. Aber einen Spongebob-Schlafanzug würde er nie tragen, niemals!!! Schweigend liefen sie eine Weile, es war fast unheimlich still hier draußen, selbst die Natur schien unter dem beständigen Frost erstarrte zu sein. In den kargen Büschen hingen zuweilen recht abgedrehte Eisformationen. Irgendwann mitten auf dem Feld blieb Kunibert stehen und drehte sich einmal etwas fröstelnd im Kreis. „Was?“ fragte Cedric ihn. „Weißt du eigentlich, was für ein unglaublicher, wunderschöner Ort das hier ist?“ erwiderte Kunibert andächtig mit einem verklärten Lächeln auf dem Gesicht. Cedric zog die Schultern hoch. „Ich…“, meinte er nachdenklich, „ich weiß… obwohl ich es wahrscheinlich kaum noch richtig mitbekomme… aber… deswegen bin ich hier… Nicht, weil ich diese Eso-Scheiße glaube oder so ein Geschichts-Freak bin – wie du, sondern… es ist einfach der Platz. Ich kenne ihn, war früher immer hier bei meinem Opa. Das war… ganz anders als daheim. Mein Opa, der hatte echt einen Sprung in der Schüssel, dem ist echt alles am Arsch vorbei gegangen. Hat hier gelebt und gemacht, was er wollte. Mein Vater fand ihn immer ein bisschen peinlich, aber mein Großvater hat ihm gesagt, er solle sein snobistisches Strebermaul halten und lieber wieder brav Geld scheffeln gehen… Tja, inzwischen kann ich das bestens nachvollziehen. Den Steinen geht auch alles am Arsch vorbei – so sie denn einen hätten.“ „Dann lebst du hier… am Arsch der Steine?“ fragte Kunibert und sah ein wenig bibbernd zu ihm hinunter. Cedric legte kurz den Kopf schief und dachte nach, dann sagte er: „Ja, so ist es wohl. Ich lebe am Arsch der Steine. Ich bin der Arsch der Steine.“ Kunibert fing plötzlich an zu lachen. „Was?“ fragte Cedric verdutzt. „Ich dachte eigentlich, du seist der Herr der Steine – und nicht ihr Arsch“, kicherte Kunibert. „So kann man sich irren“, erwiderte Cedric würdevoll. „Ein Arsch… in allen Lebenslagen.“ „Quatsch“, meinte Kunibert unbeeindruckt. „Bist du nicht. Dass du mich hier als Gast einlädst, was kochst, das Bett, vor den Ratten warnst, das ist überhaupt nicht arschig. Du kannst doch auch mal nett sein, wenn du, genau wie dein Opa, einfach das machst, was dir gefällt, egal, was andere denken.“ „Ich wollte nie nett sein…“, sträubte sich Cedric etwas konfus. „Menschen ändern sich. Dann sei doch einfach ein nettes Arschloch, wenn du das magst“, empfahl Kunibert und grinste. „Juhu, welch Perspektive…“, japste Cedric. „Immerhin hast du eine“, kommentierte Kunibert nur – und hatte da wahrscheinlich gar nicht so Unrecht. …………………………………………………………………………………………………... Es dämmerte früh zu dieser Jahreszeit. Bevor die Sonne endgültig hinterm Horizont verschwunden war, traten sie inzwischen ziemlich durchgefroren trotz der dicken Winterkleidung zurück ins Haus. „Willst du einen Tee?“ fragte Cedric. „Gerne“, bibberte Kunibert. „Hast du irgendetwas… zum Würzen?“ Cedric sah ihn ziemlich begriffsstutzig an, dann klickte es bei ihm. „Öh… ich habe Rotwein da zum Kochen und ein wenig Sherry… Seit… habe ich nichts mehr getrunken… Grüner Tee mit Sherry?!“ „Her damit!“ forderte Kunibert. Er musste gar nicht hinsehen, er wusste, dass Cedric die Augen verdrehte. „Nächstes Mal kaufe ich Met“, brummelte er. „Und ein Fass Cervisia…“ Nächstes Mal…? Eigentlich war er ja beruflich da… Aber… nie wieder hierher, auch wenn er fertig wäre… nie wieder das Feld… und Cedric…? Er war doch spezialisiert auf die Steine, er würde immer wieder zu ihnen fahren müssen, wenn er weiter an ihnen arbeitete, was er sich wünschte, aber man wusste nie, was die Umstände geboten… aber die Steine… die waren sein Ding, seine Steine. Und außerdem… Cedric… mal besuchen… wäre doch okay… nur mal sehen, wie es ihm ging… und dann übers Feld wie eben… Er trat ins Wohnzimmer. Auch hier hatte Cedric tabula rasa gemacht, das Bücherchaos war gebändigt. Der Kamin zeigte deutliche Nutzungsspuren, Cedric schien ihn nicht mehr zu ignorieren, sondern musste sich ab und an ein Feuerchen gemacht haben, allein für sich… Er machte sich daran, es erneut zu entfachen. Zwar war das Haus gut geheizt, aber so ein Feuer gegen die Kälte, die ihm noch in den Knochen steckte, war schon gut. Die Fotos würden toll werden, wenn das Wetter sich hielt, aber wahrscheinlich würde ihm dabei irgendetwas abfrieren. Hoffentlich nur die Nase, die brauchte er nicht so sehr… Das Feuer loderte bereits, als Cedric mit den Teetassen wieder herein marschiert kam und sie auf dem Couchtisch ablud. „Du hast es dir echt gemütlich gemacht“, lobte er. „Als nächstes häkel ich Kissen mit Sinnsprüchen drauf“, gab Cedric zum Besten. „Ich kann das… häkeln, meine ich“, gestand Kunibert. „Wer hätt’s gedacht“, erwiderte Cedric nur trocken und setzte sich aufs Sofa. Kunibert zog die Schultern hoch. „Ich werkele gerne rum. Ich mag es zu wissen, wie Sachen gemacht werden und wurden. Außerdem ist es schön, selber etwas hergestellt zu haben“, erklärte er. „Wie deine Pyjamas“, warf Cedric ins Feld. „Genau. Ich hab einen neuen mit lauter kleinen Krümelmonstern drauf“, berichtete er und versuchte das Grinsen zu unterdrücken. Er wusste selbst, dass er darin aussah wie der letzte Idiot, aber das war ja gerade der Witz dabei. Bei Kleidungskauf hatte er sowieso häufig Probleme, da war selber nähen durchaus eine Alternative. Außerdem trug er ungern so einen angepassten Standard-Scheiß. Und er mochte das Krümelmonster, auch wenn das kein Bier zu seinen Keksen trank. Tat es wahrscheinlich erst, wenn die Kameras aus waren. „Ich werde schon beim Gedanken daran blind“, meinte Cedric nur. „Was? Dabei wollte ich dir gerade anbieten, dir auch einen…“, stichelte Kunibert. „Den darfst du meiner kalten Leiche überziehen, die kann sich weder wehren noch hat die noch Geschmacksempfinden“, stellte Cedric klar. Kunibert runzelte die Stirn. „Warst du so ein Marken-Sklave? Deine Klamotten jetzt gehen ja, aber…“ Cedric stöhnte. „Ich hatte Stil! Und Geld… und Qualitätsempfinden und… wie heißt das komische Ding noch… Geschmack! Jetzt ist’s mir schnuppe, ich will ja niemanden mehr aufreißen, aber ich will wenigstens in Würde irre sein!“ „Dann bin ich in Würde geschmacksverirrt. Komisch, irgendwie mag ich dich…“, setzte Kunibert noch einen drauf. „Grausames Schicksal! Wenn du jetzt sagst, dass ich dich an irgendeine nerdige Comic- oder Fantasy-Figur erinnere, muss ich dich wohl leider doch mit dem Tranchiermesser zerlegen, und dann komme ich doch in die Psychiatrische – also: lass das!“ „Was? Zu sagen, dass ich dich mag?“ stellte sich Kunibert dumm. „Nein, das andere. Das mit dem Mögen ist…“, er zögerte. „Nett“, schloss er. „Und eine Premiere. Mich fand noch nie jemand nett.“ „Was dann?“ wollte Kunibert wissen und hielt die gefrosteten Finger gen Feuer, die Teetasse vor sich auf dem Boden. Cedric ließ sich in gebührendem Abstand neben ihm auf dem Boden nieder. „Das Gegenteil von nett“, murmelte er. „Fulltime-Arschloch-Cedric?“ bohrte Kunibert. Cedric nickte. „Aber sowas von. Fulltime-Arschloch-Cedric würde mich für eine totale Witzfigur halten“, meinte er. „Nettes-Arschloch-Cedric kann da doch sagen: rutsch mir den Buckel runter Fulltime-Arschloch-Cedric“, schlug Kunibert vor. „Tja“, empfand Cedric, „bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“ „Nur gezwungenermaßen?“ blieb Kunibert am Ball und schlürfte an seinem beschwipsten Tee. Gar nicht mal so übel, Grüner Tee mit Sherry, musste er sich merken. „Teils… aber besser als Völlig-im-Arsch-Cedric“, gestand selbiger. „Das stimmt wohl“, stimmte Kunibert zu. „Und“, hob Cedric wieder an, „ich… ich finde dich auch… nett. Ein Teil von mir kreischt immer noch latent bei deinem Anblick, aber das ist Völlig-im-Arsch-Cedric. Und der… ist auf dem Holzpfad. Du hast… mir echt geholfen, dabei hättest du überhaupt nicht gemusst. Fulltime-Arschloch-Cedric lacht herzlich aus dem Hintergrund darüber, aber du hast recht, der hat gar nichts zu sagen hier, der hat sich ordentlich in die Scheiße geritten… und ist tot. Den haben sie echt gekillt, ganz wie sie dachten. Aber ich bin trotzdem noch da.“ Kunibert nickte bedächtig. „Ja, das bist du“, sagte er. „Du warst früher… echt total zum Kotzen, oder?“ fragte er. Cedric seufzte und schlürfte an seinem Tee. „Nach landläufiger Meinung, ja. Ich habe es als… frei begriffen. Von der spießbürgerlichen Moral, von den Zwängen engstirnigen Denkens, aber… ich weiß auch nicht. Wenn ich jetzt zurück blicke… ich könnte mich schlagen. Nicht nur wegen dem, was passiert ist, sondern auch, weil es… ich weiß nicht… so tierisch hohl gewesen ist, obwohl ich das damals nicht so gesehen habe, damals war alles… ganz – aber vielleicht sehe ich das jetzt auch nur so, weil es passiert ist.“ Kunibert blickte auf seine Zehen. „Selbst Jakob warst du ein Begriff“, meinte er. „Der war eine Zeit lang in Paris für seine Bank, bevor wir uns kennen gelernt haben. Der ist für seine Verhältnisse ziemlich ausgerastet, als ich deinen Namen erwähnt habe.“ Cedric lachte ziemlich unheiter. „Kann ich mir vorstellen“, sagte er nur. „Hatten wir das Vergnügen…?“ „Wohl nicht“, erwiderte Kunibert steif. „Wenn ich die Beschreibung richtig verstanden habe, war er wohl nicht so dein Typ. Kannst du dich nicht mal an die Namen erinnern…?“ „Nö. Wozu auch? Sie hatten keine Namen. Erst vor Gericht“, erwiderte Cedric hart. „Und selbst die habe ich eigentlich nicht wissen wollen. Ich wollte nicht, dass sie echt waren, wirklich Menschen… Monster vom Mars wären viel einfacher gewesen. Oder auf Tyrannosauriern reitende Nazis aus fliegenden Untertassen… das wäre deutlich plausibler gewesen.“ „Die Menschen sind leider zu allem fähig aus den niedrigsten Motiven“, musste Kunibert ihm zustimmen. „Aber sie sind nicht alle gleich.“ „Da hast du wohl recht“, murmelte Cedric. „Aber die waren auch nicht… haben vorher auch nichts… ich habe schon meinen Teil dazu beigetragen.“ Kunibert sah ihn versunken an. „Wer weiß. Ursache und Wirkung bei menschlichem Verhalten sind irre schwer auseinander zu dröseln. Warum hat eine Gesellschaft, in der die Menschen stetig mit und gegen die Natur um ihr Überleben kämpfen mussten, dieses Steinfeld errichtet unter einem irrsinnigen Aufwand von Zeit und Energie? Warum haben die dir das angetan? Aber Fakt ist: sie sind die Verbrecher, nicht du. Du magst dich zwar verhalten haben wie jemand, den man nicht unbedingt mögen muss, aber das ist keine Rechtfertigung. Provokation, schön und gut – aber ist es eine Zwangläufigkeit, darauf zu reagieren? Und dann so? Ich denke nicht. Wir können entscheiden, und darin liegt letztlich die Schuld. Das waren doch keine pathologisch gestörten Psychopathen, wenn ich dich richtig verstanden habe? Dennoch sind sie nicht repräsentativ. Andere hätten anders entschieden und gehandelt, daran glaube ich fest“, schloss er. Cedric wippte im Schneidersitz vor und zurück. „Vielleicht… Aber dennoch… jetzt bin ich der Gestörte. Ich sehe es überall… in allen Menschen“, meinte er. „Auch in mir?“ wagte Kunibert zu fragen. Cedric sah ihn prüfend an. „Ja… auch du, auch ich können das… vielleicht anders, ganz anders… aber dazu muss man leider keineswegs von Geburt an einen Knacks im Hirn haben.“ „Stimmt wahrscheinlich“, gestand Kunibert. „Wenn jemand meinen Eltern, meiner Schwester etwas täte… ich weiß nicht… Ich hoffe, dass das niemals geschieht.“ „Hoffe ich auch“, murmelte Cedric. „Wäre schade um dich.“ „Danke“, lächelte Kunibert. Kapitel 20: Eine Erkenntnis und ein Angebot ------------------------------------------- XIX. Eine Erkenntnis und ein Angebot Cedric wuselte mit seinem Teil des Messgeräts ausgerüstet um die Steine wie gehabt. Anders als zuvor war er aber ansatzweise kooperativ, gab ihm Tipps, wies ihn dezent auf Dinge hin. Nein, das war wirklich nicht mehr Fulltime-Arschloch-Cedric und auch nicht Völlig-im-Arsch-Cedric. Das klare Licht des eisigen Wintertages ließ sein merkwürdiges, dunkelrotes Haar fast leuchten, als sei es künstlich gefärbt, und ließ seine kreisch grünen Augen aussehen wie Glasmurmeln. Etwas gelöster, wie er jetzt war, schien er nicht mehr ganz so fern und verstört angespannt. Kunibert bekam eine diffuse Ahnung davon, wie er wohl einst gewirkt haben mochte: Nicht bloß exotisch, sondern von enervierenden Energie, die keinen Widerspruch duldete – da kam er wohl schon etwas nach seiner Mutter. Er mochte im Vergleich zu ihm selber recht klein und eher zierlich sein, aber Cedric hatte etwas kompromisslos Dominantes an sich, das auch aus seinem Wesen resultierte. Nach Jakobs Aussage war er nicht nur der König der Szene gewesen, sondern auch der König der Bottoms. Er war nun wirklich nicht der Allwissende in dem Bereich, aber ihm war schon klar, dass das nicht gerade dem Klischee entsprach, dass ein eher zartes, empfangendes Ende das absolute Sagen hatte. Aber auch das dürfte hinter Cedric liegen. Was ihm wirklich geschehen war, wusste er nicht, vielleicht konnte sogar Cedric selber nicht alles davon entsinnen, was eventuell sogar besser so für ihn wäre. Sie hatten ihm Gewalt angetan und ihn physisch und psychisch schwer verletzt, auch wohl, um ihm seine Haltung und Position heim zu zahlen. Sie waren wie Einwegware für ihn gewesen, unbedeutend, nur für den spontanen Genuss, danach lächerlich und – Müll. Und genau dorthin hatten sie ihn befördert, als sie ihn für tot befunden hatten, die ultimative Demütigung. Er wollte und konnte sich gar nicht vorstellen, was sie mit ihm angestellt haben mochten, das sprengte sein Vorstellungsvermögen wie sein Ethikempfinden. Cedric war durch die Hölle gegangen, und dennoch flitzte er jetzt voller schlecht verhehlten Eifers durch die Steinreihen. Totgeglaubte leben länger. Und Cedric wirkte alles andere als tot. Wie er wohl damit klar kam? Sexualität war Teil des Lebens, konnte so ein Erlebnis das völlig absterben lassen? Und was war mit all dem anderen, Nähe, Zärtlichkeit, Kommunikation? Kraulte Cedric da nur die Ratten? Oder konnte er das auch schlichtweg nicht ertragen? Nein… sonst wäre er nicht so froh darüber, dass er wieder hier war. Cedric war offensichtlich völlig ausgehungert nach sozialen Kontakten und zwar nicht irgendwelchen, ins Dorf ging er ja, sondern nach solchen seiner Kragenweite. Kein hohler Smalltalk, keine professionelles Therapeutengespräch, keine Versuche, ihn in seine alte Rolle zurück zu drängen, sondern jemand, der ihn wirklich meinte, so wie er jetzt war. Als solchen kannte ihn niemand, der war allem Anschein nach entstanden, während er sich hier verkrochen hatte. Und da blieb anscheinend nur er, der hier dusselig hinein gestolpert war. Einerseits war das ganz schön heftig, andererseits… es war Cedric, der Pseudo-Elf, die Giftspritze, die Pusteblume, das ausgesprochen vielseitige Oberarschloch, kein Bittsteller, sondern… so etwas wie ein Freund? Irgendwie fühlte er sich mit ihm verbunden, und dass nicht bloß gezwungenermaßen. Er musste es sich ja auch gestehen, er fühlte sich irgendwie wohl in Cedrics Gegenwart. Nicht nur gebraucht, sondern auch… Cedric war aufrichtig. Zwar manchmal ganz schön ätzend, aber echt. Die Spielereien waren ihm vergangen, ihm war nur er selber geblieben. Aber er war klug und wortgewandt und witzig auf seine trockene Art und nicht so… banal. Kunibert durchfuhr es wie ein eiskalter Schock, fast wäre ihm sein Teil des Messgeräts aus den Händen gefallen. Das war es, das ihm auf die Leber drückte! Das, was er da mit Jakob trieb… es fühlte sich banal an. Alles war wunderbar, solange man nicht in die Tiefe ging, aber in der Tiefe… war nichts. Ganz tief unten, unter Sympathie, körperlicher Anziehungskraft, Gewöhnung und Akzeptanz der Realität war… nichts. Nicht die Wärme, die er an der Oberfläche fühlte, kein Vertrauen mehr, keine Leidenschaft und keine Liebe. Er mochte Jakob. Aber er liebte ihn nicht. Das Ganze war eine Farce, ein Baum ohne Wurzeln. Sein ganzes Leben…? Das, woran er glaubte…? Beständigkeit, Loyalität, Treue…? Nein, daran glaubte er noch immer. Aber nicht an Jakob und ihn. So einfach war das. Und so schwer. Es passte nicht zusammen, innen und außen. Scheiße… es war doch alles darauf aufgebaut, nicht nur seine Werte, sondern auch… die Wohnung… Essen bei den Eltern… Urlaub… alle Pläne, der Alltag, mal lachend, mal ein wenig zankend, aber gemeinsam… „Hey‘, wenn ich dich mal zitieren darf“, fuhr Cedric ihm dazwischen. „Bist du fest gefroren? Nicht, dass es ein Wunder wäre, es sind fünfzehn Grad unter null, so kalt ist es hier selten, aber: hey!“ „Äh“, brachte Kunibert nur heraus. „Was ist los? Festgestellt, dass die Steine voll für den Arsch sind?“ fragte Cedric anteilsvoll. „Nein“, stieß Kunibert hervor und ließ sich ohne Rücksicht auf Verluste auf den gefrorenen Boden sinken. Die Kälte tat weh am Hintern, aber das war auch egal. „Scheiße!!!“ Cedric kam angetrabt. Seine Ohren waren ganz rot, vielleicht sollte er Ohrenschützer tragen, aber wahrscheinlich würde er vorher lieber sterben infolge irgendeiner Resteitelkeit. „Was zur Hölle ist plötzlich los?“ forderte er zu wissen. „War doch gar nichts!“ „Musst du grade sagen“, murmelte Kunibert fast unhörbar. „Scheiße!!!“ „Ja ja, alles Scheiße, wem sagst du das? Aber was hat dich so plötzlich zu dieser Erkenntnis bewogen? Arbeitet dein Hirn bei Frost besser?“ wollte Cedric wissen. Kunibert konnte nur stumm mit dem Kopf schütteln. Er fühlte es in sich aufsteigen… Scheiße!!! …………………………………………………………………………………………………. Ratlos blickte Cedric hinab. Da saß Kunibert, Super-Germane, wie ein Riesenbaby, das Gesicht in den Händen vergraben und heulte. Völlig grundlos. Jedenfalls konnte er keinen erkennen, aber er war da auch nicht so der Profi. Er hatte viele zum Heulen gebracht, ohne es großartig zur Kenntnis zu nehmen. „Habe - ich irgendetwas gemacht?“ fragte er planlos, aber die Welt drehte sich schon lange nicht mehr um ihn. Kunibert schüttelte nur stumm den Kopf und schluchzte leise auf. „Nein!“ würgte er schließlich hervor. „Das hat gar nichts mit dir zu tun!“ „Äh, was ist es denn…? Steh besser auf, sonst frierst du noch fest, und ich will nicht die Feuerwehr deswegen rufen müssen“, bekniete ihn Cedric. Ziemlich unwillig kam Kunibert wieder auf seine Kilometer langen Beine. Er hatte das Gesicht immer noch mit den Händen bedeckt, das Messgerät lag am Boden, war ihm entglitten. „Scheiße!!!“ brabbelte er schon wieder. „Öh… was zum Geier ist denn los?!“ wollte Cedric hilflos wissen. Mit solchen Situationen kannte er sich gar nicht aus. Man heulte nicht, man bewies Haltung! Einst. Aber er hatte auch geheult… wenn ihn niemand sah. Aber Kunibert war es piepsegal, dass ihn jemand sah, dieser Nibelungen-Krieger flennte einfach aus heiterem Himmel los! „Nichts! Es ist nichts!“ jammerte Kunibert. „So siehst du aber nicht aus“, wagte Cedric zu bemerken. „Das meine ich nicht!“ schluchzte Kunibert. „Das… alles… mein Leben… nichts“, klagte er. Okay… das hörte sich nach einer waschechten Sinnkrise an, das bekam sogar er zu fassen. Für eine Midlife-Crisis war Kunibert definitiv zu jung, wenn er es überschlug, dürften sie in etwa gleich alt sein. Wenn… dann würde er jetzt auch promovieren, er war kurz vorm Abschluss gewesen. „Kunibert…“, redete er mit Engelzungen auf ihn ein. „Wir schnappen uns unseren Krempel und gehen zum Haus – und da mache ich dir dann einen schönen Tee mit Würzung, komm, komm, braver Kunibert… komm“, lockte er. Kunibert sagte nichts, griff aber nach seiner Tasche und dem Vermessungsgerät und folgte ihm wie ferngesteuert. Komisches Gefühl der zu sein, der den klaren Kopf hatte. War lange her. Er bugsierte Kunibert ins Haus, wo der, kaum aus Jacke und Stiefeln, direkt zur Couch torkelte. Es machte ihm fast Angst, Kunibert, diesen Fels in der Brandung, so von der Rolle zu sehen. Aber kein Mensch war immer stark, gleichgültig wie viele Muskeln er haben mochte, das wusste er schon. Er hetzte in die Küche und sah zu, dass er diese perverse Tee-Sherry-Mischung gebraut bekam, dann flitzte er damit zurück, ohne allzu viel zu kleckern. Er lud seine Fracht auf dem Couchtisch ab, dann wandte er sich seinem Besuch zu. Immerhin heulte Kunibert nicht mehr nonstop, er starrte ins Leere, während die Tränen über sein scharf geschnittenes Gesicht rannen. Vorsichtig setzte er sich neben ihn, rang kurz mit sich, dann griff er ihn etwas zitterig an der Schulter. Irgendwie ging es, das machte man doch so? Kunibert hatte ihm mit einer Engelsgeduld geholfen, jetzt war wohl er an der Reihe. Dennoch kam es ihm ein wenig surreal vor, dass er aus eigenem Antrieb jemanden berührte. Aber das hier… war eine ganz andere Berührung als die, die er solchen Erscheinungen wie Kunibert einst gewidmet hatte. Von dem von damals lag nichts darin, und nichts dieser Art kam zurück. „Was… was ist denn los?“ fragte er so sanft, wie er konnte, was nicht gerade rekordverdächtig war. „Nichts“, würgte Kunibert hervor. „Dahinter ist… nichts. Oh Gott… warum? Was ist bloß mit mir los? Und wie kann ich ihm das antun…?“ „Wem? Gott?“ fragte Cedric verwirrt. Oh weh… bitte keine Glaubenskrise… Kunibert schüttelte den Kopf. „Nein“, meinte er. „Jakob.“ „Was hast du ihm den getan?“ fragte Cedric und verstand immer noch nur Bahnhof. Kunibert begann humorlos zu lachen und bekam einen Schluckauf. „Ihm verziehen? Mir eingeredet, dass ich darüber stünde? Dass es eben so sei, wenn man lange zusammen ist und bleiben will? Dass es gut sei so, erfüllend, richtig?“ brachte er hervor. „Du… hast es ihm nicht wirklich verziehen?“ stocherte Cedric herum. Das Konzept der Treue war ihm immer abgegangen. Genauso wie das Konzept der Schmerzen. Hing zwar nicht unmittelbar zusammen, aber bei ihm bedingte das eine das andere, so erschien es ihm. Bei vielen anderen nicht. Aber ihn hatte es hinaus katapultiert, so dass er sich gar nicht mehr so sicher war. Quatsch… Treue hin oder her, der Grund seines Elends lag ganz wo anders. In seiner kaltblütigen, selbstherrlichen Arschigkeit. Und einer Extraportion Pech. „Ich weiß es nicht“, keuchte Kunibert. „Ich weiß nicht, ob es daran liegt oder schon vorher da war, und Jakob hat sogar nur darauf reagiert. Ich… ich… ich liebe ihn einfach nicht… nicht so, wie es sein sollte… nicht tief drin… keine Ahnung… habe ich es bloß vorher nicht bemerkt? Oder habe ich irgendwann damit aufgehört? Oder hat es keine Rolle gespielt? Ich weiß es… einfach nicht. Mein ganzes Leben…“ „Kein Grund dein Leben deswegen in Frage zu stellen!“ warnte ihn Cedric, ihm etwas ungelenk die Schulter haltend. Aber im Trösten war er echt ein totaler Anfänger. „Doch!“ schniefte Kunibert und sah ihn aus verheulten Augen an. „Meine Partnerschaft… das ist, was ich bin. Ich bin kein Einzelgänger. Ich will das… mit jemandem leben. Ansonsten bin ich nur… halb. Teilen. Nicht allein sein. Für jemanden da sein, und jemand für mich. Und es ist ja da… aber ich kann nicht. Ich Idiot. Ich habe doch alles, was will ich mehr? Das ist so grässlich undankbar, genauso wie Jakob, kein Stück besser… Aber es ist nicht wahr! Es ist einfach nicht wahr! Ich fühle es einfach nicht, ganz tief drinnen, ich fühle es nicht. Und das macht mein ganzes Leben zu einer Scharade!“ „Blödsinn, nicht dein ganzes Leben – die Steine sind doch immer noch da? Die Steine sind immer da“, versuchte sich Cedric. „Und du warst für mich da… und deine Familie, die gibt es doch auch noch? Die ist doch nicht wie meine… die bedeutet dir doch auch viel? Was du da willst – und ich kann nicht behaupten, dass mir das vertraut wäre – das ist doch nicht auf diesen Jakob beschränkt? Er ist doch nicht deine einzige Chance! Du bist gebildet und freundlich und siehst gut aus und… wie alt bist du eigentlich?“ „Siebenundzwanzig“, seufzte Kunibert. Sie waren wirklich gleich alt, seinen Geburtstag im Oktober hatte er selbst völlig ignoriert, aber es stimmte, wenn er jetzt nach rechnete. „Eben, und nicht neunzig. Das Leben hat garantiert nicht nur eine Chance für dich zu bieten“, päppelte Cedric ihn auf und fühlte sich dabei fast wie ein Kummerkastenonkel voller banaler Sinnsprüche. Ein Job, für den er denkbar ungeeignet war, aber sonst war ja niemand hier. „Ich bin aber kein Disco-Hase! Ich will niemanden aufreißen gehen! Ich will nur meine Ruhe!“ protestierte Kunibert. „Das ist mein Spruch!“ setzte Cedric dagegen. „Scheiße, was mache ich denn jetzt!“ haderte Kunibert. „In knapp zwei Wochen steht Jakob hier vor dem Gitter!“ „Sag ihm ab“, empfahl Cedric. „Wie arschig wäre das denn?“ wehrte sich Kunibert. „Wie arschig wäre es, ihn hierher gurken zu lassen in Erwartung eines Urlaubs in trauter Zweisamkeit – und ihn dann abzuservieren?“ fragte Cedric berechtigterweise gegen, immer noch die Hand regungslos stützend auf Kuniberts Schulter. Kunibert ließ den Kopf hängen. „Ich will kein Arsch sein“, erwiderte er dumpf. „Manchmal lässt sich das nicht vermeiden. Höre auf den Meister!“ riet Cedric. „Scheiße!“ murmelte Kunibert nur. „Wie konnte das passieren…?“ „Kann ich dir echt nicht sagen“, erwiderte Cedric, nahm die Hand weg und schob ihm seinen Tee zu. Kunibert griff gedankenverloren danach. „Tut mir leid“, murmelte er. „Im Vergleich zu dem, was du hast… ist das ein Fliegenschiss… Ich sollte dir hier echt keinen vor heulen.“ „Öhm… naja… Du hast ja selber gesagt, dass man alles in Relation sehen muss. Und wenn dich das so fertig macht…?“ versuchte sich Cedric, dessen Vorstellungskraft es etwas sprengte, was Kunibert da gerade durch litt. Aber er begriff schon, dass es irgendwie Kuniberts Selbstbild ins Wanken brachte. Kunibert ließ die Hände auf seine Oberschenkel sinken und starrte seine Fingerspitzen an. „Verdammter Mist“, sagte er nur. Cedric lehnte sich zurück und ließ das Schweigen zu. Darin war er gut. Kunibert scharf gemeißeltes Profil war ihm halb abgewandt, sein Kiefer arbeitete in höchster Konzentration. Ab und an murmelte er leise „Scheiße“, als würde er seine eigenen Gedankengänge kommentieren. Nach einer Weile drehte er sich, wieder deutlich gefasster, Cedric zu: „Tut mir echt leid, dass ich hier so ein Theater veranstalte. Es hat mich nur getroffen, wie… wie ein Hammerschlag, ganz plötzlich. Eben war alles noch in Ordnung, und dann ist irgendein Hebel in meinem Hirn umgefallen, und es war plötzlich da. Naja… da war es schon vorher gewesen. So ein komisches Gefühl… und ich bin mir jetzt auch nicht ganz sicher, vielleicht ist das nur… bilde ich mir das nur ein…? Nein… aber… echt, entschuldige. Bei mir steht gerade alles Kopf im Kopf.“ Cedric konnte nur die Schultern hochziehen. So ganz kapieren tat er das alles nun auch nicht, aber er wusste nur zu gut, dass einen einige Sachen ziemlich spontan treffen konnten, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. „Schon okay. Vielleicht… lässt du es erst mal etwas sacken?“ Kunibert zögerte. „Vielleicht“, stimmte er dann langsam zu. „Aber das ist echt nicht so einfach…“ Konnte Cedric sich vorstellen. War ja nicht so, als würden unangenehme Gedanken verschwinden, nur weil man das wollte – oder auf Kommando zu produktiven Schlussfolgerungen führen. „Monopoly!“ sagte er. „Was?“ stutzte Kunibert. „Wenn du ein wenig die Rübe frei bekommen möchtest, könntest du dich eine Runde von mir bei diesem dusseligen Brettspiel fertig machen lassen!“ schlug Cedric vor. Kunibert verzog das Gesicht. „Du hast ein Mal gewonnen – Anfängerglück“, murmelte er. „Von wegen! Mir liegt das Kapitalistenschwein im Blut!“ behauptete Cedric. „Pfft… Im Ausplündern anderer waren meine Vorfahren auch nicht schlecht“, verwehrte sich Kunibert. „Kann ich mir vorstellen“, seufzte Cedric. Allerdings gewiss nicht an der Börse. Er stand auf und kramte die Schachtel mit dem Spiel aus einem Regal hinter dem Sofa hervor. Kunibert starrte sinnend in seinen ekelhaften Tee. ………………………………………………………………………………………………….. Seufzend saß Kunibert auf der Bettkante des nach frischem Holz duftenden Gestells – hatte Cedric das liefern lassen und dann selber montiert? – und blickte auf das Display seines Handys. Es war gerade mal kurz vor Zehn, aber nach einem ganzen Tag auf dem Feld mit Cedric, seiner Arbeit und seinen brodelnden Gedanken war er ziemlich erledigt. Er hatte sich entschuldigt, Cedric hatte kurz genickt, war aber nicht weiter in ihn gedrungen, und hatte sich ein Buch vor sie Nase gezerrt. Da saß er jetzt wohl auch immer noch im Schein des Kaminfeuers schweigend, lesend. Er hatte Jakob versprochen, sich zu melden, sobald er sich eingerichtet hätte. Sein Anruf war an der Grenze zu überfällig, aber er hatte noch Zeit zum Nachdenken gebraucht. Die Versuchung war zwar groß, den Kopf in den Sand zu stecken, aber das würde wohl kaum etwas besser machen. Er gab sich einen Ruck und wählte, obwohl ihm ziemlich davor graute. Jakob nahm beim zweiten Klingeln ab. „Hallo, mein Großer!“ grüßte er ihn fröhlich. Der Kloß in Kuniberts Kehle wuchs und wuchs. So vertraut… wenn er sich zusammen risse… Visionen von Menschen tobten vor seinem inneren Auge, die sich selber einer Lüge geopfert hatten, weil sie als der einfachere Weg erschienen war, und die damit nicht nur sich selbst, sondern auch die Belogenen unglücklich gemacht hatten. Aber zum Lügen gehörten da immer zwei… „Hallo Jakob“, grüßte er zurück. „Ich…“ „Bist du gut angekommen? Ist das Wetter so, wie du es dir gewünscht hast?“ unterbrach ihn Jakob. Fragen… wie immer… Nähe und Interesse und… Er horchte tief in sich hinein, ließ Jakobs Stimme in seinem Kopf nachhallen. Sie fand Resonanz, aber eine Melodie wurde nicht daraus. Es war, als würden die entscheidenden Seiten fehlen, da half auch die tollste Komposition und der fantastischste Klangkörper nichts. „Ja, alles in Ordnung. Jakob, hör zu“, setzte er an. „Ich kann das nicht.“ „Was?“ fragte Jakob verdutzt. Kunibert atmete tief durch. „Uns. Ich… mag dich, sehr gerne, wirklich, aber… nein…“ Er konnte hören, wie Jakob erschrocken nach Luft schnappte. „Was… was ist denn plötzlich?! Ist das immer noch wegen… der Sache?“ krächzte er. „Ich weiß nicht“, seufzte Kunibert. „Ich glaube nicht, das war nur ein weiterer Tropfen.“ „Aber… aber was hast du denn, es lief doch…? Es geht uns doch gut!“ protestierte Jakob entsetzt. „Ich weiß. Ich sollte… glücklich sein. Aber ich bin nur zufrieden, meistens. Vielleicht aber auch nicht… vielleicht nur genügsam... und verlogen, uns beiden gegenüber. Es ist… Scheiße… aber es fühlt sich irgendwie… falsch an“, presste Kunibert hervor. Jakob schwieg kurz. „Es ist Kalteis!“ zischte er. „Dieses Arsch hat dich eingewickelt…“ „Nein!“ protestierte Kunibert. „Mit Cedric hat das gar nichts zu tun!“ „Und wieso fällt dir das gerade dann auf, wenn du dort bist – und nicht hier, wo wir wirklich reden könnten von Angesicht zu Angesicht!“ regte sich Jakob auf, aber in seiner Stimme lag auch das totale Gegenteil. Kunibert schloss die Augen. Jakob hatte ja recht. Warum erst hier? Hatte der Abstand nun doch etwas bewirkt? Oder… weil… draußen auf dem Feld… da war es schlichtweg besser gewesen. Besser? Klarer? Wirklicher? Wegen der Steine? Wegen Cedric? Wegen dem, was er tat? Die Dinge hatten eine Bedeutung besessen, ohne dass er diese hätte benennen können. Es war nichts Besonderes gewesen… und dennoch war es das. „Es tut mir schrecklich leid, Jakob“, hörte er sich flüstern. „Ich kann’s nicht erklären… nicht wirklich. Ich kann dir nur sagen, wie ich empfinde. Ich weiß, das ist Scheiße, aber ich wollte nicht lügen…“ „Du…“, stotterte Jakob. „Du machst echt am Telefon mit mir Schluss?!“ Kunibert fühlte sich wie ein riesiger Haufen Scheiße. Aber heucheln? Oder Jakob hier nichtsahnend antanzen lassen? Aber was tat er da…? Sein ganzes Leben auf den Kopf stellen und Jakobs gleich mit. „Ich versuche nur ehrlich zu sein“, presste er hervor. „Das ist nicht dein Ernst!“ keuchte Jakob. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wegen deines bescheuerten Bauchgefühlen oder was?!“ „Jakob!“ versuchte er sich. „Liebst du mich?“ „Aber natürlich, du Blödmann!“ schrie Jakob jetzt ziemlich hysterisch in den Hörer. „Woran… erkennst du das?“ wollte Kunibert wissen. „Äh… es geht uns gut miteinander! Oder willst du etwa behaupten, unser Leben sei ein einziges Trauerspiel? Wir haben Spaß, bekommen unsere Sachen zusammen gewuppt… ich weiß nicht. Es fühlt sich doch irgendwie… gut an. Sicher, heiter, voller Perspektiven…“ „Für mich nicht“, konnte Kunibert nur antworten, sich letztendlich fühlend wie der letzte Dreck. „An der Oberfläche, ja. Ich könnte das ewig weiter machen… und du auch, Aber… das ist es nicht. Und… irgendwie… weißt du das auch…“ Jakob schwieg. „Es ist mir“, sagte er schließlich, „ auch mal so vorgekommen, und das weißt du. Aber das war ein Irrtum. Nichts von Bestand. Nur eine blöde, völlig irrationale… Idee von Freiheit. Stattdessen war es nur Rausch – und substanziell beschissen. Und das sind wir nicht.“ „Das stimmt“ pflichtete Kunibert bei. „Aber… vielleicht ist das echt das Äquivalent zu dem… aber vielleicht nur dieselbe Reaktion, nur anders… Ich kann nicht mehr. Wirklich, Jakob, ich kann nicht mehr. Von außen betrachtet – völlig irre. Aber ich bin an einem Punkt, an dem ich nur noch wiederholen kann: Ich kann nicht mehr. Das mit uns mag richtig sein in aller Augen, selbst in unseren, aber… ich kann’s nicht. Ich kann so nicht weiter machen. Ich fühle mich total beschissen… aber ich kann auch nicht mehr lügen…“ Jakobs Stimme hörte sich so an, als unterdrücke er ein Schluchzen. „Und“, sagte er gezwungen. „Wie soll’s jetzt weiter gehen?“ „Ich weiß nicht… Ich ziehe aus, war eh deine Wohnung… Und… ich weiß nicht… muss die Dinge erst mal wieder in den Griff bekommen.“ Jakob schluchzte jetzt doch, aber er zwang sich zu sagen: „Wie soll das gehen? Du hast ein Stipendium, deine Eltern können vielleicht auch etwas zu schießen, aber machen wir und keine Illusionen: allein bist du arm wie eine Kirchenmaus.“ Kunibert schluckte. Er hatte sich nie aushalten lassen, aber Jakob hatte schon immer deutlich mehr bezahlt als er. Sie waren ein Paar gewesen, und Jakob verdiente ausgesprochen gut, ohne dass er das je hatte heraus hängen lassen. Wenn es nach Jakob gegangen wäre, hätten sie längst eine viel opulentere Wohnung gehabt, vielleicht sogar ein Haus. Aber da hatte er Rücksicht genommen… „Ich komme schon klar. Wenn ich wieder da bin… regeln wir alles“, würgte er heraus. Wer war er? Was tat er? Eine Riesendummheit. Und das Richtige. „Kunibert“, sagte Jakob mit einem flehentlichen Unterton in der Stimme. „Denk darüber nach. Wir sind doch… wir. Das Dream Team, das es geschafft hat. Willst du das so einfach wegwerfen trotz all der Fehler?“ Nein… und nicht wegwerfen. „Oh Gott, Jakob“, konnte er nur erwidern. „Ich wünschte, es wäre anders.“ …………………………………………………………………………………………………. Kunibert saß stumpf an seinem Frühstücksbaguette mümmelnd da. Auch auf dem Weg zum Dorf war er einsilbig gewesen. Seine Wangen waren stoppelig und sein Gesichtsausdruck geknickt. „Alles klar…?“ fragte Cedric vorsichtig. Mit Gefühls-Tango kannte er sich nun wahrlich nicht aus. „Alles zum Kotzen. Ich bin auch ein Arsch. Jetzt zufrieden?“ murmelte Kunibert nur leicht bockig und starrte sein Brötchen an, als könne es zurück beißen. „Ich hätte auch nach Hause fahren können, ich Idiot… ich Vollidiot…“, murmelte er eher zu sich selbst hinterdrein. „Nein, ich bin nicht zufrieden“, erwiderte Cedric wahrheitsgemäß. „Das ist zwar die Wahrheit, aber diese Erkenntnis macht nun mal nicht unbedingt zufrieden.“ Kunibert stöhnte leise auf und grub seine Hände in sein Haar, dass darin diverse Brötchenkrümel hängen blieben. „Ich hänge total… dazwischen. Ich weiß zwar, was ich nicht will oder kann – aber die Alternativen drängen sich nicht gerade auf. Dazu kommt noch diverses Hickhack… Jakob und ich haben ja eine Wohnung… das muss alles auseinander dividiert werden… Ich brauche was Neues und bin obendrein ziemlich knapp bei Kasse.“ „Mmm“, erwiderte Cedric. Pleite zu sein kannte er auch überhaupt nicht. Aber er konnte Kunibert schlecht etwas zustecken, auch wenn er selber gar nicht wusste, wohin mit der Kohle. Kunibert würde sich fühlen wie ein Bettler, wer könnte es ihm verübeln… „Vielleicht kann ich parallel ja irgendwo jobben?“ grübelte Kunibert. „Telefonhotline? Burger-Brater wie Spongebob? Oder meinen Live-Rollenspiel-Kram verticken?“ „Was ist denn mit einem Stipendium?“ fragte Cedric. „Habe ich schon, das sind 1200 Euro im Monat, fürs Überleben reicht das, aber ich brauche auch Bücher, Kopien, muss Reisen, das Auto… Und meine Eltern haben‘s auch nicht so dicke… Vielleicht könnte Frida mir was pumpen...“, überlegte Kunibert weiter, während er begann, sich frenetisch eigenproduzierten Honig aufs Brötchen zu schmieren. Tausendzweihundert Euro? So viel hatte er schon mal für ein paar Schuhe ausgegeben, ohne dass er sich großartig etwas dabei gedacht hatte… Aber er war nun wirklich mit einem goldenen Löffel im Maul geboren worden. Kuniberts Perspektiven sahen da deutlich anders aus wie die der meisten Menschen. Und Kulturwissenschaftler wie Kunibert hatten da auch langfristig nicht gerade viel zu erwarten, das war Cedric schon klar. Falls sie es je zu einer Festanstellung brachten, dann war die meist auch nicht eben königlich bezahlt. Aber Kunibert tat das, was er da tat, ja nicht aus Geldgier, sondern aus… Begeisterung? Faszination? Liebe zu den Steinen, der Verrückte? Dazu gehörte schon eine Portion Weltfremdheit und Verbohrtheit, aber es bedeutete Kunibert irgendwie so viel, dass er meinte, das alles auf sich nehmen zu können. Tausendzweihundert Euro… also wirklich… und er selber schwamm im Geld… „Äh, Kunibert“, räusperte er sich. „Was?“ fuhr Kunibert auf, dessen Zahnräder sich offensichtlich mehr oder eher weniger fröhlich weiter drehten. „Versteh das nicht falsch. Aber wäre es okay, wenn ich dir helfen würde? Du hast mir geholfen… irgendwie… und ich kann das auch. Zwar nicht so wie du, aber immerhin. Ich kann mir vorstellen, dass du keine milden Gaben willst – und das biete ich dir auch nicht an. Aber ich schwimme im Geld. Ich habe nichts dafür getan, alles geerbt – und es wird brav einfach immer mehr, die Pachteinnahmen läppern sich, wenn ich wollte, könnte ich verkaufen und dann in den Millionen in meinem Geldspeicher herum planschen. Jetzt modert der Kram nur sinnlos auf der Bank herum. Aber ich könnte etwas Sinnvolles damit tun… kein Geschenk oder so… ein Job“, köderte Cedric. Kunibert visierte ihn misstrauisch an. „Du hast Recht, ich will keine Almosen!“ erwiderte er bestimmt. „Ich kann schließlich irgendwo arbeiten.“ „Und was ist mit deiner Diss, wann willst du an der schreiben? Dein… Banker-Ex-Freund hat doch garantiert auch mit bezahlt“, hakte Cedric nach und biss in seine letzte Brötchenhälfte. „Ja“, gestand Kunibert. „Aber das war etwas Anderes… wir waren ein Paar… Und ich habe immer darauf geachtet…“ „Nun, jetzt nicht mehr“, stoppte ihn Cedric brutal. „Wenn du es hochgradig demütigend findest, dann eben nicht. Aber du hast mir geholfen, ohne dafür etwas zu erwarten – jetzt bin ich dran. Und ich bin nun mal steinreich im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Angebot: Forsche im Namen des wirren Privatiers Kalteis an seinen Steinen rum. Kassiere dafür das, was so ein promovierter Prähistoriker eben bekommt, wenn er denn mal Arbeit hat. Anständige Arbeit, nicht so eine Pseudo-Scheiße. Okay, noch bist du nicht promoviert, aber fast, wenn ich dich richtig verstanden habe, also greif gefälligst zu! Wenn du etwas findest, das dir dann mehr zusagt, mach, was du willst. Aber… dir hat gestunken, dass ich in die Klapse sollte, und mir stinkt jetzt, dass du unter der Armutsgrenze leben sollst, während mir die Dukaten förmlich aus den Ohren heraus purzeln. Ich verbinde damit keine Gönnerhaftigkeit oder sonst was. Nimm’s gefälligst an!“ Kunibert starrte ihn mit hängenden Mundwinkeln an, dann schluckte er tief. „Das…“, stammelte er, „ist wirklich nett, aber…“ „Nichts aber!“ beharrte Cedric. „Das nette Arschloch in mir feiert seinen Einstand in Hilfsbereitschaft. Das ist nicht bloß Dankbarkeit – ich will nicht, dass es dir dreckig geht, wenn es so leicht für mich ist, das zu verhindern. Allein die Pacht und die Renditen aus den Wertpapieren bringen mir monatlich das mehrfach Zigfache von dem, was du als Stipendium bekommst, und bisher hocke ich nur stumpf darauf herum. Du hast gesagt, dass du mir geholfen hast, weil du eben konntest – nun, ich kann auch. Oder kannst du nicht annehmen? Das wäre bigott…“ „Nein!“ protestierte Kunibert. „Das kann ich! Ich… es ist nur komisch, Geld zu nehmen…“ „Nicht geschenkt, du forscht hier für mich“, erinnerte ihn Cedric. „Mmm, das interessiert dich doch nicht die Bohne, aber… aber…“, stammelte Kunibert. „Was willst du? In Kiel in einer Sozialwohnung hocken und bei Burger King Buletten drehen, während deine Diss verrottet? Oder die Steine…?“ fuhr Cedric fort. Irgendwie rollte die ganze Sache voran, als habe sie sich verselbständigt. Aber es stimmte. Bei dem Gedanken, dass Kunibert so leben müsste, drehte sich ihm der Magen um. Diese Art der Existenz kannte er nicht, aber er stellte sie sich auch nicht besonders erstrebenswert vor. Vielleicht war das auch nur seine alte Arroganz. Und vielleicht auch Eigennutz, denn dann würde Kunibert hier sein… und er nicht so allein mit Marx und Engels… Aber in erster Linie… wollte er, dass es Kunibert gut ging. Komisch. Wirklich sehr komisch. Kunibert sah hinab auf den Frühstückstisch. „Cedric… echt, das musst du nicht machen“, murmelte er. „Ach, fass dir da erst mal an die eigene Nase!“ wies Cedric ihn zurecht. Kunibert hob den Kopf und sah ihn an. „Da… hast du wohl Recht. Wirklich Cedric… ich… danke…“ Es tat fast weh, diesen Ausdruck in Kuniberts Augen zu sehen. Zögern und Zweifeln war dabei… aber auch wirkliche Dankbarkeit. Die einzige Dankbarkeit, die er kannte, war die des aktuellen Stechers, den er auserkoren hatte für die Nacht. Etwas… Erbärmliches, Hündisches, an dem Etienne und er sich in ihrer selbstherrlichen Macht aufgegeilt hatten. Ansonsten… sagte man zwar Danke, aber man meinte es nicht so. Das waren Selbstverständlichkeiten, die ihnen zu standen, der Rest nur Formalität. Aber das hier war nicht erbärmlich oder aufgesetzt, es war etwas… Verdientes. Und Kunibert warf er keinen Brosamen vor, sondern er half… Irgendwie beschlich Cedric der Verdacht, dass er, der er meinte alles erlebt und getan zu haben, dennoch vieles nicht kannte, was menschliches Miteinander anging. Doch, er kannte es aus den Romanen, aber da war es nicht echt gewesen, da hatte man es distanziert verreißen können oder in das Reich der Fiktion weisen. Nichts Wahres, nichts wirklich Empfundenes oder Gelebtes… aber das hier war es. Kapitel 21: Die Fliege im Netz ------------------------------ XXI. Die Fliege im Netz Etwas betäubt blickte Kunibert an sich hinab. Die letzten Tage hatte er wie in einem merkwürdigen Traum erlebt. Sie waren wieder da, er und Cedric in ihrem seltsamen Miteinander. Cedric schien sich wirklich noch ein ganzes Stückchen weiter gefangen zu haben, denn er ging die Sache recht resolut an. Er hatte mit seinem Anwalt telefoniert, einen Vertrag aufsetzen lassen, sauste zwischen den Steinen mit dem Messgerät hin und her, wollte von ihm Kochtipps… Das hier war wirklich ein ganz anderer Cedric, als er ihn erinnert hatte, dennoch derselbe. Die Schrecken seiner Vergangenheit waren nach wie vor omnipräsent, aber er erschien Kunibert wie eine in tausend Fragmente zerschellte Vase, die sich Stück für Stück aus eigenem Willen wieder zusammen setzte, um zugleich völlig anders und genauso wie zuvor zu sein. Er selber fühlte sich nur geplättet. Die Sache mit Jakob, die Erkenntnis… es würde dauern, bis er das verdaut hatte. Wenn er daran dachte… nie mehr… dann war ihm zum Heulen, und er wollte einfach nur wieder zurück, aber er wusste, dass es nichts ändern würde. Alle Vertrautheit konnte nicht darüber hinweg täuschen, dass der entscheidende Puzzelstein fehlte oder verloren gegangen war. Eventuell war er wirklich nie da gewesen, eventuell hatte ihm seine kleinbürgerliche Sehnsucht nach Harmonie einfach ein Schnippchen geschlagen, er wusste es einfach nicht. Aber es half nichts, seine Gedanken wirbelten dennoch ständig darum, ob er denn nicht gerade einen riesigen Fehler machte… Liebe war doch nicht alles und immer der Himmel voller Geigen… und so ein Ober-Romantiker war er nur gewiss nicht. Aber sein ganzes Leben so…? Es war ja nicht schlecht gewesen, gewiss nicht. Aber immer dieses: Es fehlt! Es fehlt! Es fehlt! im Hinterkopf, jetzt wo es offenbar war…? Würde er da nicht irgendwann durchdrehen? Aber das andere… war das nicht bloß eine unerfüllbare dumme Sehnsucht? Selbstbetrug, Gier, Dummheit? War er alleine wirklich besser dran? Er hatte einfach keine Antwort. Teenager-Verliebtheiten hatte auch er durchgemacht, das war es nun nicht, das er hochstilisieren wollte, aber in ihm lauerte die Stimme, die behauptete, dass es noch etwas Anderes gäbe, geben müsse, dass er bloß noch nicht erlebt habe. Aber vielleicht war das nur Wahn. Jedenfalls war er jetzt ein profund bezahlter Prähistoriker im Dienste Cedric Kalteis‘, den seine Forschungen zwar nicht interessierten, der aber zum ersten Mal in seinem Leben nach eigener Aussage etwas halbwegs Altruistisches tat. Merkwürdig, irgendwie war er sich da gar nicht so sicher, wer da wem wie gerade half. Sicher war Cedrics Angebot ein Geschenk der Götter, aber richtig angenehm war es ihm nicht. Aber der fade Beigeschmack… war dummer Stolz, Cedric kratzte das finanziell nun gar nicht, und er selbst würde schließlich arbeiten für das, was er erhielt. Er bekam nicht nur einen Lebensunterhalt, sondern durfte dafür das tun, was er am meisten wollte – und dabei auch seine Promotion fertig stellen. Und Cedric tauchte dabei aus der Versenkung auf, irgendwie. Oder drehte er sich selbst da nur die Dinge zurecht…? Ihm war, als hätten sich seiner und Cedrics Lebensfaden beim aneinander vorbei Stolpern irgendwie heillos unentwirrbar miteinander verknotet. Und so ganz selbstlos war Cedric da auch nicht, er wollte nicht allein sein. Aber das… war schon okay. Verrückter Weise war er hier genau da, wo er aktuell sein wollte: auf dem Steinfeld mit Cedric, der ihm mit monotoner Konstanz Messdaten verkündete. …………………………………………………………………………………………………. Kunibert räusperte sich. Sie saßen im Wohnzimmer an ihren gehabten Positionen, der Kamin flackerte und taute sie auf. Cedric nippte an seinem Kräutertee, Kunibert hatte sich Bier aus dem Dorfladen besorgt, das er mit der Skepsis eines in dieser Hinsicht verwöhnten Deutschen trank. Frankreich war auch nicht für sein Bier bekannt, sondern für seinen Wein, aber da ging Kunibert anscheinend der Sinn für ab. „Ich muss nach Kiel… alles regeln“, sagte er vom Laptop und seinen Unterlagen auf dem Boden aus zu ihm hoch blickend. Er saß zwar im Sessel, aber sonderlich weiter oben war er nicht gerade. „Ja, klar“, erwiderte Cedric nur, ohne aus seinem Buch hochzuschauen. Kafka… er liebte Kafka… „Ich… ich… komme dann wieder… Aber… ich muss ja irgendwo wohnen, habe dann meinen ganzen Krempel“, erklärte Kunibert umständlich. Cedric ließ das Buch sinken. „Ich weiß, dass das komisch klingt, aber ich habe gern… Gesellschaft. Öhm, deine. Hier ist Platz, der ganze Keller bietet Stauraum, da kannst du vorerst gerne von Gebrauch machen.“ „Wäre wahrscheinlich… angemessener, wenn ich mir selbst etwas suchen würde“, brummelte Kunibert. „Ich kann doch nicht einfach hier einziehen!“ Cedric hob die Schultern. „Wo ist denn die Monsterbanane hin? Das nennt sich „Gastfreundschaft“. Hier im Ort gibt es nichts zu mieten, das höchste der Gefühle wäre wahrscheinlich ein unbeheiztes Zimmer zur Untermiete oder die Box neben Chloe.“ „Ich will dir nicht so viel schuldig sein!“ sträubte sich Kunibert. „Du bist mir gar nichts schuldig. Du hast mit dafür gesorgt, dass ich nach wie vor meine eigenen Entscheidungen treffen kann. Das beinhaltet auch, dir einen Platz zum Wohnen anzubieten. Dieses Haus wurde einst für eine sechsköpfige Familie erbaut – und ich habe nur einen. Ich kann ein paar Regale umbauen, dann hättest du dein Schlafzimmer und das kleine angrenzende für dich. Aber wenn du das nicht möchtest, kein Ding“, behauptete Cedric und sah wieder in sein Buch. Kunibert legte abwägend den Kopf schief. „Für den Anfang“, sagte er schließlich, „geht das. Irgendwo muss ich ja erst mal hin und alles bei meinen Eltern einzulagern… die würden sich bedanken. Aber ich kann dann ja suchen, schließlich habe ich auch ein Auto… Aber… das erscheint mir so viel…“ „Ist es aber nicht“, erwiderte Cedric ungerührt. „Das ist das Minimum. So hat man es mir in meinen blasierten stinkereich-Schädel eingehämmert. Ich weiß… da sind wir… unterschiedlich. Aber das ist keine Herablassung! Sondern… das Gegenteil.“ „Du akzeptierst mich Provinzproll als jemand deiner Höhen… oder wie soll ich das verstehen?“ schnappte Kunibert, der da anscheinend gerade etwas empfindlich zu sein schien. Cedric seufzte innerlich und blickte ihn wieder an. In den blauen Augen des anderen stand Trotz und Stolz… aber auch etwas merkwürdig Verletztes. Sie stammten wirklich aus ziemlich unterschiedlichen Kontexten. Er wäre nie auf den Trichter gekommen, etwas abzulehnen, das ihm irgend so ein Dummkopf förmlich hinterher warf – oder deshalb gar Skrupel zu haben. „Ich könnte jetzt leugnen… aber ich kann auch nicht aus meiner Haut“, gestand er schließlich. „Ich bin so erzogen worden, das hängt wahrscheinlich ziemlich fest. Aber… du bist kein Provinzproll in meinen Augen. Ich weiß gar nicht, was du bist in meinen Augen, denn du bist so völlig anders als alles, das ich kenne. Ich kann dich in die Kriterien, die sonst immer galten, nicht einordnen, aber die haben sich als nichtig entpuppt. Insofern kann ich dich weder erhöhen noch erniedrigen, selbst wenn ich wollte – und das will ich nicht.“ Kunibert sah ihn lange an und verzog nachdenklich das Gesicht. „Komisch“, sagte er schließlich. „Das geht mir bei dir ein wenig auch so. Das, was du von deinem vorherigen Leben erzählt hast… ich kann es mir gar nicht vorstellen, nicht richtig, das ist mir so fern.“ Cedric schwieg kurz. Dann sagte er: „Ja, es ist wirklich komisch… aber es ist gut so. Ich mache das gern, will dich aber damit auch nicht auf etwas verpflichten. Das ist es doch, worum es sich dreht, oder? Das gab es vorher nicht. Vielleicht mich selbst auch nicht, jedenfalls nicht so. Ich nehme es dir überhaupt nicht übel, wenn du dich anders entscheidest – aber… ich würde mich freuen. Ich weiß, dass das ein wenig erbärmlich ist. Aber… du bist irgendwie der einzige Mensch, den ich aktuell von halbwegs Nahem ertragen kann. Und… ich bin… ich bin echt allein hier… und… ich begreife, vielleicht ist dir das echt zu viel des Gutem…“ Kurz blinkte vor Cedrics innerem Auge das Bild eines bettelnden Wurms mit einer Kanone auf – aber das war er nicht! Wenn Kunibert wo anders wohnen würde, wäre das auch okay, wäre alles sowieso nur auf Zeit, Kunibert würde schon etwas finden, beruflich, zum Wohnen, zum Leben… „Das ist… nicht erbärmlich“, sagte Kunibert wieder ganz ruhig und sah ihn direkt an. Dann meinte er mit einem merkwürdig warmen Timbre in der Stimme: „Cedric… sind wir… so was wie… Freunde…?“ Cedric starrte zurück. Freunde…? War das der Begriff im Kuniversum, mit dem dessen Herr sein Angebot sich akzeptabel machen konnte? Nicht Cedric Kalteis, der verrückte, scheißreiche Erbe, sondern Cedric, sein Freund, der ihm das geben wollte… aus Freundschaft eben? Er hatte einst unendliche Massen von „Freunden“ gehabt, die eine Scheibe vom Speck hatten abhaben wollen und sich dann wahrscheinlich wollüstig das Maul über sein Unglück zerrissen hatten, ohne auch je ernsthaft nachgefragt zu haben. Etienne war sein Freund gewesen, aber Etienne war ein ganz anderer Charakter als Kunibert. Etienne war elegant, mondän, statusbewusst, raffiniert und abgeklärt – Kunibert war nichts davon. Ihre Freundschaft war auf gemeinsamer Arschlochigkeit begründet gewesen, aber das konnte man Kunibert so nun nicht unterstellen. Und Etienne wäre genau wie er eher gestorben damals, als einen von Kuniberts selbstgenähten Pyjamas zu tragen oder eins seiner Motto-Shirts… okay, das musste jetzt auch nicht sein. Aber das gehörte irgendwie zu Kunibert, an ihm war das okay. Kunibert hatte keine Angst vor Lächerlichkeit, sondern provozierte sie und ging dann grinsend darüber hinweg, das rührte gar nicht an ihm. Kunibert war ein ernster Clown, ein sanfter Riese, ein unterhaltsamer Langweiler, ein selbstbewusster Nerd, ein kluger Dummkopf. Lauter Dinge, die gar nicht gingen… aber so sehr Kunibert waren. Und die er irgendwie interessant fand und zu mögen begonnen hatte. „Ja“, antwortete er zögernd. „Ich glaube schon. Oder wie siehst du das?“ Kunibert nickte bedächtig. „Ja“, echote er. „Du bist zwar der merkwürdigste Freund, den ich je hatte – aber irgendwie bist du’s. Ich mag dich, obwohl du so ganz anders bist als alles, was ich kenne. Vieles begreife ich nicht… Aber ich… ja, ich glaube schon, irgendwie bin dein Freund.“ Cedric hatte das Gefühl, dass er ganz gewiss debil grinste. Über so etwas! Aber das war mehr… als so viele Dinge… und nicht arm oder sonst was, wie er einst darüber gedacht hatte. Kunibert war nicht hier, damit er ihn instrumentalisieren und nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte – sondern weil er ihn wirklich mochte, diesen total schrägen, deutschen Typen. Das Gefühl kannte er nicht, aber es war gut… irgendwie befriedigend und einlullend und Sicherheit und Wohlsein verheißend. Kunibert lächelte ihn an. Da saß er, Cedric Ex-Obersnob-Kalteis, neben einem abgebrannten, geschmacksverirrtem Zwei-Meter-Kerl und fühlte etwas ganz Neues, Fremdes, Gutes. Freundschaft, das also war Freundschaft. Fühlte sich prima an. Verrückt zu sein hatte offensichtlich auch Vorteile. Auf der Ebene ging es… mit einem anderen Menschen zusammen zu sein. Der halbnackte Germanengott, der ganz kurz den alten Cedric aus dem Reich der Schatten zurück gerufen hatte, war das nicht, der da vor ihm saß. Sondern einfach nur Kunibert. …………………………………………………………………………………………………. Kunibert schloss gequält die Augen. Er parkte auf einer Autobahnraststätte irgendwo bei Paris und fühlte sich wie zwei Mal gefrühstückt. Das Abholen der Sachen:.. Jakob nah und fern und flehend und verletzt und… Aber er musste das tun. Wie eine unsichtbare Mauer mitten in der Luft war es gewesen, die er selbst errichtet hatte. Er musste das tun, auch wenn die Schutz suchenden, an ihr normales Leben gewöhnten Teile seiner selbst ständig kehrt machen wollten. Nein… es war vorüber. Sein Leben, so wie er es kannte und gewohnt war, war vorüber, und das war sein Entschluss gewesen. Und er war wohl ein Gewohnheitsmensch… aber das durfte, konnte nicht reichen. Trotzdem war ihm danach zu heulen. Seine Eltern waren enttäuscht gewesen, als er sie besucht und es ihnen gesagt hatte, obwohl sie seinen Entschluss respektierten, aber sie mochten Jakob. In ihrem Weltbild wechselte man nicht die Partner… oder ließ sie ohne triftige Gründe sitzen, aber das, was sie verband, war nicht das, was Jakob und ihn verbunden hatte. Doch waren sie froh darüber gewesen, dass er einen Job gefunden hatte, auch wenn sie bedauerten, dass er so weit weg sein würde. Nach Kiel würde er dennoch regelmäßig kommen müssen, um bei seinem Doktorvater vorstellig zu werden, der als älteres Semester recht wenig von Kommunikation übers Internet hielt. Frida war da leichter gewesen, bei ihrem Männerverschleiß sah sie die Sache nicht so eng. Allerdings hatte sie ein wenig gebohrt, ob mit dem niedlichen Rotschopf denn da was sei, den sie auf dem Monitor gesehen hatte. Da hatte er sie enttäuschen müssen. Erstens konnte niemand, der Cedric einigermaßen kannte, ihn für niedlich halten – er hatte höchstens die Niedlichkeit eines jungen Wolfes, und das auch nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung – und zweitens wäre es ein übler Verrat an Cedric gewesen, angesichts seiner Kenntnisse über sein Leid in diesen Kategorien über ihn zu denken. Nein, das ging nicht, völlig ausgeschlossen. Natürlich war Cedric… ansehnlich auf seine ungewöhnliche Art und Weise, aber wenn man versuchte, ihn eher wie ein Kunstwerk zu betrachten, dann ging das bisher doch gut… Bei allem vorläufigen Abschiedsschmerz und aller Unsicherheit über das, was vor ihm liegen mochte und was er denn überhaupt wollte, war es letztlich gut, aus Kiel fort zu kommen, sich nicht obendrein noch direkt um den Freundeskreis zanken zu müssen, obwohl sie ihm alle fehlen würden und dort lief man sich sowieso ständig über den Weg… Abstand, das war schon vernünftig… Und er zog ja nicht für immer fort. Stattdessen wartete eine nahe Zukunft ungewisser Länge Seite an Seite mit dem traumatisierten Cedric auf ihn… aber es war nicht falsch, das sagte sein Bauch, auch wenn die Vernunft dagegen argumentierte. Cedric war schon eine Nummer… dieses Elfengesicht und dann schiss er am Telefon den Anwalt zusammen, als sei der sein persönlicher Lakai… Himmel, einen Cedric Kalteis wollte man echt nicht zum Feind haben. Aber Cedric war nicht sein Feind, sondern sein Freund, irgendwie. Das war auf jeden Fall das, was sein Inneres ihm mitteilte. Irgendwie verstörend… aber auch etwas Warmes, das ihm riet, zurück zu kehren zu Cedric, den Steinen… und jetzt… daheim. ………………………………………………………………………………………………… Zwei Wochen später musste Kunibert sich eingestehen, dass er langsam begann, sich dauerhaft einzufinden. Das Feld, das Dorf, gelegentlich eine Fahrt in die nahe gelegene Stadt, um Dinge einzukaufen, die es hier nicht gab... Cedric war noch nicht so weit, sich ihm da anzuschließen, aber er würde sich schon melden, wenn das der Fall sein sollte. Immerhin war er einmal in den kleineren Ort davor mitgekommen, um trotz der Jahreszeit ein Eis abzustauben. Ihre Routinen bewirkten ihr Übriges, aber da war er nun, tief in seiner Arbeit versunken. Während seiner Abwesenheit hatte Cedric in „seinem“ Schlafzimmer und einem kleinen angrenzenden Raum, der zuvor anscheinend auch nur als Buchlager gedient hatte, Platz gemacht, so dass er jetzt ein Schlaf- und ein Arbeitszimmer für sich hatte. Cedric betrat diese Räume genauso wenig, wie er je den ersten Stock. Aber dorthin verschwand Cedric sowieso nur zur Nacht oder um sich um die Ratten zu kümmern, die dort oben immer noch irgendwo zehenhungrig lauerten. Aber dennoch war es irgendwie surreal, jetzt hier zu sein und einen neuen Alltag zu haben. Vorsichtig hatte er sich umgehört, wie die Möglichkeiten waren, hier etwas Eigenständiges zu mieten, doch sah es nicht allzu rosig aus. Die ganze Ecke galt als so pittoresk, dass man an Fremde nur zu horrenden Preisen vermietete. Und noch erschien es ihm zu früh, Cedric wollte in seiner Gastfreundschaft ja nicht beleidigt werden… und was wäre dann abends? Jeder würde für sich allein essen? Cedric war echt ein mieser Koch, der hatte noch viel zu lernen. Rückwirkend beschlich Kunibert fast ein schlechtes Gewissen eingedenk des Kartoffeleintopfes, den Cedric ihm bei seiner zweiten Ankunft hier serviert hatte. So wie der Kartoffeln schälte, hatte er da garantiert den ganzen Nachmittag dran gesessen. Cedric war nicht ungeschickt, aber anscheinend völlig ungeübt und fürchterlich pingelig. Eine Kartoffel, die man zerstampfen wollte, durfte sehr wohl Ecken haben. Er arbeitete dran… Außerdem war es angenehm nach getaner Arbeit einfach zurück ins Haus gehen zu können und es sich vor dem Kamin gemütlich zu machen, die Tagesergebnisse auszuwerten, während Cedric in seinem Sessel las und Tee schlürfte. Die Verlockungen der Bequemlichkeit…? Sie konnten gut zusammen schweigen, eine irgendwie tief gehende Ruhe, aber neuerdings unterbrach Cedric die Stille des Abends auch von sich, indem er ihm von dem Buch erzählte, das er gerade las, darüber meckerte oder – ganz selten – auch mal etwas lobte. Ein Freund von Schnulzen schien er nicht gerade zu sein… obwohl das Haus genug davon beherbergte, um eine ganze Armee pubertierender Mädchen glücklich machen zu können, aber das war wahrscheinlich nur Junk Food fürs Hirn gewesen, das Cedric ohne zu differenzieren in sich hinein gestopft hatte, um sich abzulenken. Ab und an wagte sich Kunibert vor und erzählte ihm von seinen Erkenntnissen zu den Steinen. Cedric kommentiere zwar nicht, aber er hörte immerhin zu – vielleicht nur aus wieder erinnerter, anerzogener Höflichkeit, aber immerhin. Schließlich bezahlte er auch dafür. Dennoch war die ganze Situation schon ein wenig skurril, wie sie hier saßen in einem fest ummauerten Haus aus Stein, am Rande eines Steinfeldes und beide in sich etwas, das ihnen versteinert erschien. ……………………………………………………………………………………………….. Jakob drehte sich um und griff neben sich. Nichts. Er schreckte hoch. Wo war… Es traf ihn wie ein Hammerschlag. Er war weg. Kunibert war weg. Endgültig, nicht nur auf Forschungsreise. Er war allein. Das hatte er sich selbst zu zuschreiben, sich komplexbeladenem Vollidioten. Aber Kunibert war ihm… einfach zu viel erschienen. Kunibert mochte sich zwar selbst klein machen mit seinen Hobbies, Interessen und Horror-Klamotten, aber wer wusste besser als er, wie Kunibert war, wenn er das mal nicht vor sich her trug? Wie häufig hatte er ihn bei Nacht gemustert, wenn er schlief, nachdem sie sich geliebt hatten. Er hatte sich irgendwann dessen… einfach nicht mehr für wert empfunden. Kunibert nackt in den Laken ohne sein Lächeln und sein waches Wesen war einfach nur noch zum Heulen schön. Jedenfalls, was ihn anging. Nein… das stimmte so nicht. Kunibert mochte zwar null Antennen für irgendwelche Avancen haben, sondern stattdessen über sein neustes Näh- oder Bastelprojekt nachgrübeln, aber Jakob hatte sehr wohl mitbekommen, wie Frauen und Männer ihn überall musterten. Er war daneben Luft gewesen, jedenfalls war es ihm so vorgekommen. Schon einfach durch seine Körpergröße fiel Kunibert auf wie ein bunter Hund, auch wenn er sich gerade mal nicht den Schädel an einer zu niedrigen Tür oder Lampe einrannte. Aber anders als andere dieses Formates war Kunibert kein unkoordinierter Schlacks, sondern sah aus, wie direkt aus dem Nibelungenlied gekippt. Er strahlte eine selbstbewusste Aggressivität aus, die er selbst gar nicht zu registrieren schien. Dagegen sah ein Jakob König, landläufig durchaus gutaussehend, alt aus. Und was hatte er gemacht? Statt sich vernünftig darüber zu freuen, dass dieser Götterknabe sein Freund war und partout kein Luftikus… Er hatte Schwachsinn gemacht. Sich auf total erbärmliche Art und Weise versucht selbst zu erhöhen, statt einfach an sie beide zu glauben. Und jetzt glaubte Kunibert nicht mehr. Das Gift des Betruges war doch stärker gewesen als aller gute Willen. Dahinter sei nichts… hatte Kunibert gesagt. Jedenfalls nicht genug. So war es ihm auch einmal vorgekommen. Alles nur banal, Alltag und Routine, aber sie hatten doch wirklich versucht, aus ihren Fehlern zu lernen. Sie waren doch nicht sechzehn! Rannte Kunibert irgendeinem Traumgespinst von „mehr“ hinterher, so wie er zum Teil auch? So war der Mensch wohl… immer nur mehr, mehr, mehr… Aber eigentlich war Kunibert nicht so. Besitz und Reichtum zumindest bedeutetem ihm nichts. Auch irgendwelche sexuellen Extravaganzen, um den Kitzel zu erhöhen, gingen ihm total ab – wozu auch, wenn man so vögelte wie Kunibert. Eine weitere bittere Erkenntnis seiner Eskapaden: das Menü zu Hause war leider trotzdem immer das bessere gewesen. Jetzt saß er da mit leerer Wohnung, leerem Bett und leerem Herzen und wünschte sich, die Uhren zurück drehen zu können, sich jetzt einfach an Kuniberts großen, warmen Körper kuscheln zu können, seinen Geruch tief einzuatmen und zufrieden zu schlafen, geborgen, heiter, komplett. Und Morgen… gemeinsam frühstücken, Urlaub planen, ein paar neue Sportschuhe einkaufen, beim Mittagessen über dieses und jenes diskutieren… nada. Kunibert war weg. Ohne Geschrei und Gezänk, aber aus festem Entschluss. Er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, wohin er wollte. In die Bretagne. Zu den Steinen. Zu Cedric Kalteis. Die Steine konnte er ertragen, Kunibert liebte sie nun einmal, Kunibert gab es nur so – aber sie waren nur eine intellektuelle Lockung, selbst jedoch völlig tot. Mit Kalteis verhielt es sich da ganz anders. Kunibert mochte zwar beteuert haben, dass da nichts war, und das glaubte ihm Jakob auch. Kunibert würde da schlichtweg nicht lügen, da war er sich sicher, aber Kalteis mochte einen so aufrechten Charakter wie Kunibert schlichtweg eingewickelt haben. Kalteis war ein manipulativer Intrigant, so viel hatte er auf jeden Fall mitbekommen. Persönlich kannte er ihn nicht, alles, was Kalteis jemals zu ihm gesagt hatte, war „Schieb ab“, als er vor ihm an der Bar in einem Pariser Club gestanden hatte. Er hatte protestieren wollen, aber das Geschwader von hechelnden Schränken, das Kalteis und seinen Typen stetig umschwirrte, hatte ihn knallhart zur Seite gedrängt, als sei er ein Hocker. Kalteis hatte das überhaupt nicht sichtlich zur Kenntnis genommen, für den war er wie jeder andere auch nichts als irrelevantes Geschmeiß. Himmel, war die Menschheit dämlich, sich von so einem derart herum kommandieren zu lassen! Genau so stellte sich Jakob einen dieser in der Französischen Revolution geköpften Adligen vor. Denen war auch nicht in den Sinn gekommen, dass andere Menschen irgendwelche Rechte haben könnten – oder gar Würde und Gefühle, die von Bedeutung waren. Es war irgendetwas in Kalteis Ausstrahlung gewesen, das sie so hatte kriechen lassen. Nicht bloß sein kaum verhehlter Reichtum, sondern etwas extrem Lockendes unter dieser Arroganz, etwas eiskalt Beherrschendes unter den zarten Zügen. Und Kalteis war wirklich eine extravagante Schönheit gewesen voller sündiger Versprechungen. Und der umwuselte jetzt seinen herzensguten Kunibert! Das war der doch gar nicht gewöhnt! Das blickte Kunibert doch nie im Leben, wahrscheinlich hing er schon wie die Fliege im Netz, ohne es bemerkt zu haben. Aber andererseits… man stelle sich Kunibert damals an der Bar vor… Der hätte nur gelacht, den Kopf geschüttelt, und wäre irgendwo hin verschwunden, wo er ein Bier bekommen hätte, das schäumte, und wo es nicht so laut war. Nein… an Kunibert hätte sich Kalteis die Zähne ausgebissen… und Kunibert hatte steif und fest behauptet, einem ganz anderen Kalteis begegnet zu sein. Aber vielleicht bekam er dessen krumme Touren schlichtweg nicht mit, weil sie ihm gar nicht in den Sinn kamen? Wenn Kunibert einfach nur ausgezogen wäre… aber zu Kalteis! Schon bei dem Gedanken zog sich alles in Jakob zusammen. Zum Verlust gesellte sich ohne Zweifel Eifersucht. Man stelle sich das nur vor, diese sommersprossige Venusfalle an seinem strahlenden Krieger! Nein… Kunibert war total friedfertig, aber keinesfalls dämlich. Aber Kalteis dürfte seinen Horizont gewaltig übersteigen. Was ging es ihn an… Er war nur der Ex-Freund. Aber das wollte er nicht sein. Er musste sich damit abfinden. Sie hatten es in den Sand gesetzt, besonders er. Aber es tat verflucht weh. Und dann auch noch dieser Kalteis! Kapitel 22: Mont Saint-Michel ----------------------------- XXII. Mont Saint-Michel „Merde!“ fluchte Cedric, dass Kunibert hochschrak. Sie saßen am Küchentisch und gönnten sich ihr Frühstück. Eine weitere Woche war ins Land gezogen, arbeitstechnisch kam er gut voran, ansonsten umwaberte sie diese seltsame Ruhe des winterlichen Steinfeldes, die irgendwie in ihren Gemütern ihren Widerhall fand. Seine Gedanken kreisten noch immer, aber es wurde besser. Er war jetzt hier. Alles andere würde sich finden. „Was ist denn?“ fragte er Cedric, seinen Ausruf als Aufforderung wertend. Jeden Tag kam Post. Inzwischen hatte er mitbekommen, dass es Briefe von Cedrics Mutter waren, mit denen dieser recht flugs jedes Mal nach oben verschwand. Las er sie? Oder verfütterte er sie an die Ratten, die Biester fraßen ja alles und überlebten das auch – inklusive des kalten Giftes einer Madame Kalteis wahrscheinlich? Ab und an war auch eine Rechnung dabei, aber die veranlassten Cedric nicht zu Geschrei. Irgendwo war vor ein paar Tagen ein Kontoauszug in der Küche herum geflattert. Kunibert hatte, ohne zu wissen, was das war, darauf geschaut, und dabei fast einen Ohnmachtsanfall erlitten. Oh Gott, so viel Geld… und das war nur Cedrics Konto für die täglichen Ausgaben gewesen… Cedric kam echt von einem anderen Stern. Er neidete es ihm nicht und gierte auch nicht danach, aber es erschien ihm irgendwie beängstigend. Für das Geld müsste er ewig arbeiten – und Cedric hatte keinen Handschlag dafür getan. Allerdings begriff er so Cedrics Angebot besser, das war wirklich etwas, das er konnte. „Meine Familie“, knirschte Cedric auf einen außerplanmäßigen Brief starrend. Kunibert wurde hellhörig. „Was?“ fragte er aufmerksam und legte sein Brötchen zurück auf den Teller. „Sie fechten meine Erbschaft an, da ich aufgrund meines Gesundheitszustandes nicht in der Lage sei, mich angemessen darum zu kümmern“, fasste Cedric zusammen und starrte das Schreiben brodelnd an. „Das können sie doch nicht… Du kannst mit deinem Geld doch machen, was du willst, du giltst doch offiziell als gesund? Was stellen andere „Gesunde“ denn mit ihrer Kohle an?“ wunderte sich Kunibert. „Schrecklichen Stoff kaufen, um daraus Nachtgewänder zu nähen? Nein, sie können mir nichts. Nicht jetzt. Aber die lauern nur und klopfen bereits an. Die lassen nicht locker. Meine Mutter will mich in der Anstalt, mein Vater bekommt Krämpfe, dass ich mein Erbe nicht großartig investiere, die Pachten erhöhe, Land gewinnbringend verkaufe““, erklärte Cedric. „Dein Vater ist da… so?“ fragte Kunibert vorsichtig. „Ja, seines Zeichens Erzkapitalist, daher hat ihn mein Opa ihn der Erbfolge auch übergangen, was das Land anging. Mein Vater hätte darin nur Kapital gesehen. Er ist dennoch nicht leer ausgegangen und hatte ein Händchen für sowas… Großindustrieller trifft es wohl. Mehrere Fabriken für alles, was Kohle bringt, inzwischen in Fernost, wo die Löhne schön niedrig sind. Meine Mutter hatte auch ordentlich was beizusteuern, das war Liebe auf den ersten Blick… auf die Kontodaten eventuell. Einzige Tochter eines in Aachen ansässigen Automobilteilebonzens… Ich glaube, mein erstes Wort war „Rendite“, gefolgt von „Gucci“. In deren Augen bin ich der totale Griff ins Klo“, beichtete Cedric. „Hast du noch Geschwister?“ wollte Kunibert wissen und sah ihn an. „Nö. Ich bin der Kronprinz. Die haben mich zwar brav Literatur studieren lassen, aber eigentlich wollten die schon, dass ich den ganzen Budenzauber eines Tages übernehme. Bei dem Gedanken war mir damals schon ganz schlecht, daher habe ich lieber auf die Kacke gehauen, solange es noch ging – mit bekanntem Ausgang. Jetzt bin ich nicht nur eine verhinderte Literatur-Schwuchtel, sondern auch noch ein unfähiger Kohlescheffler, das geht natürlich gar nicht!“ ereiferte sich Cedric, sich unter seinen Sommersprossen etwas rötlich verfärbend. „Wie passt das denn mit den Entmündigungsversuchen deiner Mutter zusammen?“ fragte Kunibert ratlos. „Mmm… ich glaube inzwischen fast, dass die mich ernsthaft reparieren lassen wollte. Die besten, teuersten Spezialisten bekommen doch jeden Schrott wieder hin. Aber sie können nicht Tote wieder lebendig machen, das haben die leider nicht auf dem Plan!“ giftete Cedric. „Du bist doch nicht tot!“ protestierte Kunibert. „Ich nicht – aber der, den sie kennen und wollen, schon. Und ich will schlichtweg diesen Cedric nicht als Zombie wieder beleben lassen! Ich will in Ruhe mein Land an den hohlköpfigen Beauchamp und seinesgleichen zu einem Preis vermieten, als seien es die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts! Und ich will nicht der Herr über diese Sklaventreiberfabriken meines Vaters sein! Sollen sie’s in eine Aktiengesellschaft umwandeln und den Rest der Bill Gates Stiftung vermachen oder sich selbst in Gold gießen! Mir egal! Aber nix ist mit Cedric Kalteis Obermagnaten!“ tobte Cedric wild gestikulierend, dass Kunibert fast Angst um das Honigglas bekam. Okay… Cedric konnte also auch wütend sein, ohne eine Krise zu bekommen, jedenfalls keine durch sein Trauma bedingte. Das waren ja Dimensionen… „Musst du doch auch nicht“, versuchte er Cedric zu beruhigen und zerrte dezent das Honigglas in Sicherheit. „Damit kommen sie doch nicht durch?“ „Natürlich nicht!“ schnaufte Cedric. „Solange ich als normal beknackt durchgehe, können die mir gar nichts. Ach übrigens… wie wär’s mit einem Ausflug!“ „Äh… was?“ fragte Kunibert überrumpelt. „Ausflug! Wie ganz „normale“ Leute. Irgendwohin, wo man bemerkt wird!“ forderte Cedric, aber Kunibert war schon klar, woher der Wind wehte. Cedric hatte das Schreiben sehr wohl Sorge beschert, und jetzt wollte er sicher gehen, dass es Zeugen für sein „normales“ Verhalten gab. Es war witzig, solange man als normal galt, kam man mit der kränksten Scheiße durch, aber einmal als verrückt eingestuft, wurde einem schnell alles in dieser Hinsicht ausgelegt. „Wo… wo willst du denn hin…?“ fragte Kunibert. Cedric legte den Kopf schräg und überlegte. „Kino geht nicht… zu dunkel… Theater auch nicht… aber… warst du schon mal auf der Insel Mont Saint-Michel?“ Kunibert schüttelte den Kopf. „Nein“, gestand er. „Aber da wollte ich immer mal hin.“ „Wird dir gefallen, ohne Zweifel“, meinte Cedric und stopfte das Schreiben wieder resolut in den Umschlag. „Da sind wahrscheinlich ziemlich viele Menschen“, wandte Kunibert vorsichtig ein. „Ich weiß“, erwiderte Cedric und streckte den Unterkiefer trotzig vor. „Touries, Familien… das muss gehen, die hängen einem ja nicht direkt auf der Pelle, jetzt ist ja auch nicht gerade Hochsaison!“ „Okay…“, stimmte Kunibert zu. Cedrics anzuzweifeln schien ihm zwar nahe liegend, aber er wollte ihn garantiert nicht in diese Position der Schwäche drängen. Wenn er meinte, dass schaffen zu können, dann war das nicht nur aus purer Verzweiflung geboren, soweit kannte er ihn inzwischen doch. Er traute sich das zu. Kein kleiner Schritt. Aber er war ja da für seinen widerborstigen Freund. Irgendwie würden sie das schon hinbekommen, notfalls bekäme er ihn da auch wieder heraus. Und außerdem… Mont Saint-Michel! ………………………………………………………………………………………………….. Cedric linste zur Seite. Zu dieser Jahreszeit war es vergleichsweise leer, aber das reichte ihm schon. Sie mussten gesehen werden, und er konnte Stein und Bein darauf schwören, dass sie beide so schnell keiner vergaß. Kunibert war eine auffällige Erscheinung – und er war das auch. Im Doppelpack, gerade weil sie so sehr unterschiedlich aussahen, dürften sie sich so manchem in die Netzhaut brennen. Eine Kamera hatte er auch im Gepäck, um dieses Großereignis angemessen zu dokumentieren. Außerdem gäbe es noch datierte Tickets und Rechnungen. Auf ging’s. Kunibert neben ihm starrte mit offenem Mund. Mont St-Michel war eine mittelalterliche Anlage, halb Kloster, halb Festung, die sich auf einer winzigen, nur bei Niedrigwasser zu Fuß erreichbaren, felsigen Insel im Ärmelkanal erhob. Über mehrere Ebenen des steil ansteigenden Felsens zogen sich Mauern, wanden sich wie das Gehäuse einer Schnecke, abweisend, lockend, fast wie das Gespinst irgendwelcher Filmemacher. Aber das hier war echt. Und es war alt. „Geil!“ konstatierte Kunibert versunken. „Dann wollen wir mal“, trieb Cedric ihn an. Kunibert latschte vorwärts, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als hinterher zu wetzen. So mussten sich Dackel beim Gassigehen fühlen. Er wollte gar nicht wissen, was Kunibert beim Laufen in der Leichtathletik für Zeiten erzielen mochte. Aber leicht war er nun auch nicht gerade… Kunibert schaffte es durch Vorweisen seines Uniausweises und Gestrahle wie ein Sonnenschein sie umsonst rein zu bringen, dass Cedric sich gezwungen sah, unbemerkt reichlich Kohle in der Spendenbox zu versenken. Dass man Kunibert umsonst rein ließ – nun gut. Aber ihn? Das ging ihm gegen den Strich, das kam ihm dreist vor. Aber sollte Kunibert nur stolz auf sein Verhandlungsgeschick sein. Die sich nach oben windende Straße war ziemlich unbelebt, die gelegentlichen Wanderstiefel-Touristen gingen, die hielten Abstand. Das Kopfsteinpflaster war vereist. Obwohl sorgfältig gestreut worden war, achtete man besser darauf, wo man hin trat. Aber weit kamen sie sowieso erst Mal nicht. Cedric gab Gas, bis er den mit leuchtenden Augen vor der Auslage eines Ladens festgewurzelten Kunibert erreichte. Er visierte das Geschäft kurz an. Voll gestopft mit nachgebildetem mittelalterlichem Zeugs. Kunibert sabberte das „original nachgeschmiedete“ Schwert eines Kreuzritters an. Würde ihm wahrscheinlich verflucht gut stehen bei seinen „Live Rollenspielen“ – Himmel, was für ein nerdiger Scheiß! Aber Kunibert würde damit nicht nerdig wirken – auch wenn er das sehr wohl war – sondern verteufelt echt, wenn er statt seines „I love Archeology“- Pullovers ein Kettenhemd trüge... Sein Blick wanderte über die Auslage, dann erstarrte er. ………………………………………………………………………………………………… Kunibert war fast außer sich vor Entzücken. Da hier war kein billiger Touristen-Scheiß! Einiges schon… aber das Meiste nicht. Das hier war der Hammer! Der ganze Laden voll damit! Und dieses Schwert! Kostete wahrscheinlich auch dementsprechend… aber fragen konnte man ja mal… Cedric neben ihm zog scharf die Luft ein, dass er urplötzlich wieder auf den Boden der Tatsachen katapultiert wurde. Nein, er brauchte nun wirklich kein Schwert, sondern… „Cedric!“ entfuhr es ihm. Der andere schnappte nach Luft und schien sich ziemlich ungesund zu verfärben. Oh Schande, was hatte das denn ausgelöst…? Hatte man Cedric mit einem mittelalterlichen Morgenstern bearbeitet, oder was?! Nein… der starrende Blick richtete sich nicht auf die Metallwaffen, sondern auf … Oh Gott. Er hastete vorwärts, ihm den Blick verbauend, und wiederholte: „Cedric! Cedric! Cedric! Alles okay! Das ist nur Nerd-Scheiße! Liegt nur im Schaufenster herum. Blöder Touristennepp…“ Cedric japste nach Luft. Seine Nasenflügel bebten. „Ich… weiß“, würgte er hervor. Ohne sich recht zu besinnen schnappte sich Kunibert sein Handgelenk und zog ihn mit sich fort außer Sichtweite. Oh Gott. Was hatten die mit ihm angestellt? Okay… man landete nicht halbtot in einer Mülltonne, weil jemand nur etwas Fieses zu einem gesagt hatte. Was immer sie ihm getan hatten… sie hatten ihm die Zähne ausgeschlagen… und ihn…?! Oder was?! Oh Gott. Er wusste durchaus, dass das zum Repertoire der Praktiken gehörte, die einige Menschen mochten, und solange es auf beiderseitigem Einverständnis beruhte – seinetwegen, aber das war bei Cedric nun gewiss nicht der Fall gewesen, jedenfalls nicht in dieser Situation und in diesem Ausmaß. Oh Gott. Cedric starrte aus riesigen krachgrünen Augen ins Leere, in denen einfach nur der Schock stand. Was jetzt…? Er war Cedrics Freund… „Cedric…“, hob er an und trat näher, seine Hand los lassend. Oh weh, hoffentlich machte er es nicht noch schlimmer… Aber… er wollte doch… Vorsichtig legte er seine Arme um Cedrics Rücken und zog ihn heran, drückte ihn gegen seine Brust, versuchte, sein Mitgefühl, seinen Drang zu trösten irgendwie wortlos durch sich zu ihm fließen zu lassen. Cedric wehrte sich nicht, sondern ließ es irgendwie geschehen. „Ist ja gut“, murmelte er, hob die Hand zu Cedrics Hinterkopf und presste ihn sanft streichelnd gegen sich. Er dachte an Fridas Pferde, wenn die mit den Nerven am Ende waren… „Ist ja gut… Ich bin da… Niemand kann dir was… okay…“, beteuerte er. Sicher konnte ihnen irgendwer sonst was, wenn der denn wollte, aber das war nicht der Punkt. Cedric lehnte einfach nur schlaff gegen ihn, dann kam Spannung in seinen Körper, Kunibert beschlich kurz die Panik, dass er jetzt aufgrund der Berührung endgültig ausrasten würde, aber Cedric drückte sich plötzlich mit aller Gewalt an ihn, dass er sich austarieren musste, um nicht auszurutschen, und schluchzte tief auf. Cedrics Arme schlossen sich um seine Taille, dass er fast das Gefühl hatte, von einer Boa Konstriktor angefallen zu werden, sein ganzer Körper wurde geschüttelt, während Cedric weinte. Etwas hilflos machte Kunibert weiter, kraulte etwas ungelenk das widerspenstige dunkelrote Haar und murmelte einfach immer und immer wieder: „Ist ja gut… ist ja gut…“ „Es hat so schrecklich weh getan!“ schluchzte Cedric. „Und ich konnte gar nichts tun… und sie haben gelacht und sich daran aufgegeilt… Ich habe geblutet wie ein Schwein, ich konnte nicht mal richtig schreien, sie hatten mich geknebelt… und ich bin einfach nicht in Ohnmacht gefallen…und sie haben immer weiter gemacht… und gelacht…“ „Cedric… Cedric… Cedric… Sie sind nicht hier… nur ich bin hier… nur ich und du… Und ich bin dein Freund, ich habe dich gern…“, versuchte Kunibert ihn zu trösten. Diese Scheißkerle! Diese elenden Scheißkerle! Wie hatten sie Cedric das bloß antun können… aber gäbe es diesen Cedric, den er mochte, überhaupt ohne sie… gewiss… irgendwo in ihm musste es doch immer gewesen sein… das nette Arschloch… tief drinnen… Cedric löste sich ein wenig und sah ihn aus verweinten Augen an. „Warum tust du dir das an?“ wollte er wissen. Kunibert lächelte: „Habe ich doch schon gesagt.“ „Ich kann das alles gar nicht begreifen. Warum die? Warum du?“ stieß Cedric hervor. Kunibert hatte auch keine Antworten. „Manchmal ist das Leben komisch, ohne witzig zu sein“, murmelte er schließlich. ……………………………………………………………………………………………. Es war wunderschön hier, ohne Zweifel. Postkartenhausen hoch zehn. Cedric hatte keine Ahnung, wie lange er da gestanden hatte, sich irgendwie in Kunibert verkriechend, als sei er das Steinfeld. Keiner hatte sie dumm angemacht, aber wer würde schon einem muskelbepackten Zwei Meter-Hünen krumm kommen, auch wenn das vielleicht ziemlich… kuschelig ausgesehen hatte, was es allerdings nicht gewesen war? Aber das hatte für ihn in diesem Augenblick keine Rolle gespielt, das war nicht irgendein Typ gewesen, sondern Kunibert, egal in welcher Form, sei es auch die einer Pygmäenfrau, egal, Kunibert. Schwul zu sein war eventuell leichter, wenn man so wenig den Klischees entsprach wie Kunibert. Oder schwerer. Wer wusste das schon, Kunibert war jedenfalls keiner von der Sorte, die er schon tausend Mal erlebt hatte. Kunibert mochte wie er schwul sein, aber das spielte keine Rolle. Kunibert war sein Freund, darauf beharrte sein geschütteltes Hirn vehement. Jemand, der für ihn da war. Jemand, für den er da sein konnte. Sexualität war nicht alles, das hatte Kunibert doch behauptet? Davor kam so viel mehr, das sein Kopf gar nicht kannte, aber das zunehmend an Bedeutung gewann, wie das andere sie verloren hatte. So konnte man auch leben. Er wünschte, er könnte mehr zurück geben als seine verdammte Kohle, die Kunibert Bauchschmerzen bereitete. Nein, Kunibert war nicht käuflich. Nicht mit Geld, nicht mit Charme oder Inszenierung, und er war auch nicht manipulierbar. Jedenfalls wollte er ihn nicht manipulieren. Kunibert sollte exakt so sein, wie er eben war, Spongebob und Krümelmonster inklusive. Er hatte schon immer eine fatale Schwäche für dominant wirkende Muskelkerle gehabt, aber bei Kunibert zeitigte das ganz andere Auswirkungen. Es diente nicht der Bestätigung der eigenen Macht, sondern war irgendwie beruhigend. Die Nase an dieser Brust zu vergraben… hatte ihm irgendwie irrational Sicherheit gegeben. Ein völlig fremdes Gefühl, das er noch nie bei einer Berührung empfunden hatte. Wenn die von damals wieder auftauchten… Kunibert würde sie fertig machen, bevor sie ihn hätten, flüsterte ihm sein Unterbewusstsein. Komisch, war ja nicht so, dass Etienne nicht auch geholfen hätte, wenn er zur Stelle gewesen wäre… aber Etienne hätte notfalls eher die eigene Haut gerettet so wie er auch, meinte er zu wissen. Bei Kunibert war er sich nicht so ganz sicher. Er selbst war so ein erbärmlicher Schwächling… aber nichts an Kunibert verriet etwas davon, dass der das genauso sah. Wenn seine Eltern ihn sähen… oder sein altes Ich, wie er heulend in der Öffentlichkeit an diesem nerdigen Deutschen hing, der ihn tröstete als sei er drei und habe ein blutendes Knie… Schäm dich… Nein… vergesst es. Mache ich nicht. Brauche ich nicht. Haut ab! Aber es war lange her, dass es so an die Oberfläche geschossen war… nicht als Panikattacke, sondern als Heulkrampf…? Das war irgendwie neu… nicht unbedingt angenehmer, aber anders… Jetzt saß Kunibert ihm gegenüber in einem ziemlich leeren Touristenrestaurant, mit dem er sich leidlich abfinden konnte, nachdem er sich wieder schamvoll hatte beruhigen können. Der Reflex, die Segel zu streichen und wieder zurück zum Auto zu hetzen, um schleunigst wieder nach Hause zu kommen, war stark gewesen, aber er durfte nicht einklappen, er durfte einfach nicht, denn sonst… sonst hätten sie doch Recht, was ihn anging. Nein, nein, nein! Ihm war zwar noch immer etwas übel, aber wenn er auf seine Atmung achtete und sich konzentrierte, dann ging es irgendwie. Immer daran denken, was Kunibert gesagt hatte… sie waren hier, es drohte keine Gefahr, alles war ganz „normal“… bloß nicht nachgeben… Kunibert vertilgte derweil seine zweite Portion Muscheln mit Fritten, nachdem er ihn aufgeklärt hatte, dass die erste keinesfalls die Vorspeise gewesen war. Kuniberts Blondschopf stand nach dem ganzen Wind da draußen völlig zu Berge, aber das war irgendwie… nett. „Ihr solltet die Muscheln besser füttern“, kritisierte er. „Die sind definitiv zu mager!“ „Willst du vielleicht nicht doch lieber das Touristen-Menü mit Schnitzel?“ schlug Cedric vor. Kunibert verzog das Gesicht. „Niemals!“ beharrte er, obwohl er nach Cedrics Erachten ziemlich gierig glotzte. Aber so ein Kerl wollte erst einmal gefüttert werden, davon konnte er mittlerweile ein Lied singen. Am Ende würde er auch noch verfetten wie Kuniberts Ex. Allmählich war ihm ziemlich klar, wie das geschehen sein mochte. Er fühlte sich merkwürdig schwer, das kalte Würgen immer noch tief in der Kehle, aber das hier… sie, ein paar ganz normale Touristen… Kunibert und seine Muscheln… das war es… das Hier und Jetzt, er, das bisschen Leben, das er noch hatte und das er auch nicht rausrücken würde… koste es, was es wolle. …………………………………………………………………………………………………. Als sie aus dem Restaurant hinaus in die winterliche Kühle traten, streckte Kunibert reflexartig die Hand aus. Cedric musterte sie kurz stumm, dann griff er ihn am Handgelenk. Er mochte sich zwar wieder beruhigt haben, aber vielleicht gab es ihm trotzdem Sicherheit. Ein wenig grün um die Nase war er immer noch. War nur ein Angebot. Cedric konnte so knallhart sein – aber zugleich suchte er nach Schutz, im Schatten der Einöde, der Steine, seines befestigten Hauses und wohl auch ein wenig in seiner Gegenwart, wie auch immer das geschehen war. Jeder Mensch tat das ein wenig, war es nicht das, was man einander gab neben vielem anderen, wenn man befreundet war? Kunibert wusste selbst, das sein Erscheinungsbild diese Möglichkeit ausstrahlte. Mochte Cedric daraus zehren. Er würde niemals jemanden aus Jux und Dollerei schlagen, aber wenn es zum Äußersten käme… Er war trainiert, koordiniert und besonnen. Gnade demjenigen. Gnade dem, der seinen Eltern, Frida oder… Cedric etwas antun wollte, solange er zur Stelle war. Gegen Feuerwaffen hatte er auch nichts zu melden, aber ansonsten… Zumindest der Wille war da, auch wenn das häufig auch nichts brachte. Sie kletterten den Berg weiter hinauf, der spiralförmig verlaufenden Straße folgend. Oben wurden Führungen durch das Kloster angeboten, dessen Gemäuer bis ins 10. Jahrhundert zurück gingen. Sie schlossen sich einer kleinen Gruppe an, Frauen und Senioren, das bekam Cedric hin, lauschten und sahen sich um, ohne dass Cedric ihn losgelassen hätte, obwohl er ansonsten Distanz wahrte. Aber das war schon okay, das alles war ein immenser Schritt für Cedric. Cedric sah so wacklig aus, dass ihn wahrscheinlich alle für seinen ängstlichen Cousin aus Irland hielten. Aber die wussten auch nicht, wie viel Kraft Cedric in seiner Hand hatte… Die Sonne stand schon tief, als der Rundgang im an der höchsten Stelle des Berges gelegenen Kreuzgang endete. Bei klarem Wetter konnte man von hier aus die englische Küste erkennen, heute war es zu bewölkt. Cedric ließ ihn los, trat an die Bögen des Kreuzganges und blickte hinaus übers winterliche Meer gen Britannien. Der Himmel war wolkenlos klar, dass die Luft nur so klirrte vor Frost. Irgendwie schien die Zeit still zu stehen, kalter Wind brauste, gelegentlich schrie ein Vogel, sonst – nichts. „Oh Scheiße!“ entfuhr es plötzlich Cedric mit einem Blick über die Mauer zum Wasser hinab. „Was?“ fragte Kunibert alarmiert, der auch ein wenig versunken gen Horizont gestarrt hatte. „Die Flut steigt! Wenn wir zurück zum Auto wollen, müssen wir rennen!“ verkündete Cedric pragmatisch und sprang wieder auf die Füße. „Oh weh!“ fiel Kunibert ein und wandte sich auch hastig um. Über die ganze Sache und diesen Anblick hatten sie komplett die Zeit vergessen. „Nichts wie ab durch die Mitte!“ spornte er sie an. ………………………………………………………………………………………………….. Die gute Nachricht war: nein… es gab keine gute Nachricht. Sie saßen fest. Er war zwar auch verflixt schnell, aber seine Beine waren einfach nicht so lang und hier konnte er nirgends Haken schlagen und Abkürzungen benutzen. Außerdem war der Weg nach wie vor verdammt rutschig, wovon Kunibert jetzt ein Lied singen konnte, war er doch mit voll Karacho auf den Allerwertesten gedonnert. Wie zwei Ölgötzen glotzen sie am Fuß des Berges gen Festland, während das Wasser fröhlich weiter stieg. „Tja, ist wohl leider echt eine Insel“, bemerkte er stumpf. „Ach, aber inzwischen für Touristen. Wir finden schon was!“ gab Kunibert den Optimisten. Es würde Stunden dauern, bis der Pegel wieder fiel, da konnte man sich keinen Illusionen hingeben: Sie steckten fest über Nacht, die kleinen Boote, die im Sommer pendelten, fuhren nicht bei diesem eisigen Wetter über die unruhige See. „Außerhalb der Saison?“ zweifelte Cedric. „Die werden uns schon nicht auf der Straße erfrieren lassen“, baute Kunibert sie halbwegs auf. „Mist, ich habe mir die Hose beim Hinknallen aufgerissen. Jetzt sehe ich nicht nur aus wie ein Teenager aus den Achtzigern, sondern friere mir auch noch im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch ab!“ „Ganz großes Kino“, ächzte Cedric. „Verdammter Mist. Wie spät ist es jetzt?“ Kunibert spähte auf seine Armbanduhr, obwohl die diese Bezeichnung nur bedingt verdiente. Sie sah aus, wie aus einer MacDonalds Juniortüte gefallen. „Halb Sieben“, verkündete er, seine lädierte Hose mit einer Hand notdürftig zurecht zupfend. Immerhin war sie nicht quer über seinen Hintern gerissen, sondern ganz unstylisch am unteren Ansatz der rechten Seite. Sah wirklich eher aus wie eine böse Modesünde. „Okay… dann sollten wir uns mal erkundigen, wo wir hin können – und dann steht wahrscheinlich die nächste Fütterung an“, beschloss Cedric. „Fütterung? Ich bin kein Gnu!“ protestierte Kunibert. „Wohl nicht, denn das wäre bei der Aussicht auf ein Schnitzel mit Pommes wahrscheinlich nicht so erbaut“, lockte Cedric. „Oder willst du noch mehr Muscheln?“ „Nee… ich fühle mich von denen schon selbst ganz wabbelig“, gestand Kunibert. „Gibt es hier nur Muscheln und Schnitzel zu den Pommes? Wo bleibt die feine französische Küche?“ erkundigte er sich. „Wir sind hier wahrscheinlich schon zu dicht an England“, gab Cedric zu bedenken, während er kehrt machte. Nach der Besichtigung ging es ihm wieder so halbwegs, auch wenn das hier wirklich nicht hätte sein müssen. Gott sei Dank hatte er Marx und Engels gut versorgt, die würden bis Morgen nicht verhungern. Die Insel war in der Tat mittlerweile fast wie ausgestorben. Die Läden einschließlich jenes prekären waren mit dem Verschwinden der Meute verrammelt worden, so dass er heil zurück gekommen war. Aber dennoch… nicht nach Hause zu können… stank ihm gehörig. Er würde es überstehen, immerhin war er nicht allein, aber in ihm sträubte sich so einiges dagegen. Ändern tat das bedauerlicherweise wenig. Er scheuchte Kunibert hinüber zur Touristeninformation, deren Herr und Meister sich wohl auch gerade aus dem Staube machen wollte. Ein paar Minuten später kam Kunibert, immer noch unwohl an seiner Hose herum pfriemelnd, zu ihm zurück. „Es gibt eine Auffangstation für Deppen wie uns und Leute, die über Nacht bleiben wollen. Da zu dieser Jahreszeit nur relativ wenige Touristen kommen, hat nur ein Hotel überhaupt geöffnet, da sollen wir es versuchen. Vielleicht haben die da noch was, meinte er“, berichtete Kunibert. „Na super“, schimpfte Cedric. „Vielleicht? Sollen wir ansonsten etwa in der Besenkammer pennen? Oder gleich in den Mönchszellen oben, natürlich gegen Extragebühr, weil das ja soooo ein Erlebnis ist, total authentisch bei Minusgraden!“ „Ach, die werden schon was haben“, blieb Kunibert auf Kurs und setzte sich in Bewegung. Sie schlurften wieder bergaufwärts, bis sie das urige Hoffentlich-Quartier erreicht hatten. „Zum lachenden Mönch“… pfff… als sei das eine so witzige Beschäftigung gewesen auf dieser Insel am Arsch der Walachei… aber vielleicht war es auch ein verzweifeltes Lachen, gab es ja auch. Er positionierte sich neben der Tür, während Kunibert als Vorhut gen Rezeption schritt. Das Foyer war vollgestopft mit Ritterrüstungen, schweren Eichenmöbeln und gefälschten Gobelins, gusseiserne Leuchter verliehen dem Ganzen den letzten Schliff. Aus dem angrenzenden Speisesaal kamen Stimmen und Essensgerüche. Er sah zu, einigermaßen weit weg davon zu bleiben. Mittags war es gegangen, es würde auch wieder gehen, aber scharf war er nicht darauf. Aber immerhin Kunibert dürfte das Etablissement zusagen. Nein, Kunibert war wohl doch kein Ritter. Nie im Leben hätte der in eine dieser Winz-Rüstungen gepasst. Realistisch betrachtet hatte wohl eher er die Figur eines durchschnittlichen Ritters. Wäre eigentlich ganz praktisch, so eine Rüstung, einfach das Visier runter… „Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht“, riss ihn Kunibert aus seinen Träumereien. „Wir kriegen echt die Besenkammer – aber die ist immerhin warm?“ tippte Cedric. „Nicht… ganz“, murmelte Kunibert. „Wir können das allerletzte Zimmer haben, aber… es ist echt nur eins und…“ „Es ist scheißteuer, schon kapiert. Ich habe uns das eingebrockt mehr oder minder, also was soll’s“, tat Cedric sein Bestes, ihn abzuwürgen. Dennoch… ein Zimmer! Okay, sie hingen sich sonst auch rund um die Uhr auf der Pelle, und der Gedanke, in Kuniberts Nähe zu pennen, erzeugte ihm kein nacktes Grauen, nur ein etwas mulmiges Gefühl. War ihm ja daheim im Wohnzimmer auch ab und an halbwegs passiert, während Kunibert an seinem Kram rumdokterte, die Lektüre langweilig und das Kaminfeuer so warm war. Aber dennoch gab es Grenzen, zum richtigen Schlafen ging er doch hinauf in den ersten Stock, den Kunibert bis heute nie betreten hatte, und der doch eine gewisse Distanz gewährleistete. „Äh, das ist der eine Punkt“, fuhr Kunibert fort und unterbrach seinen Gedankengang. „Was denn noch? Kein Meerblick?“ fragte Cedric misstrauisch. „Naja… es ist die Hochzeitssuite…“, beichtete Kunibert. „Na, wundervoll, davon habe ich immer schon geträumt…“, ätzte er. „Cedric, nimm das Zimmer, ich kann mich hier rumdrücken, hier ist es warm, das geht schon“, bot sich Kunibert an. „Lass uns erst mal nachsehen… vielleicht geht es ja irgendwie… immerhin dürfte es nicht das Format der Besenkammer haben…“, schlug Cedric vorsichtig vor. Die Lage erst mal sondieren, genau. „Okay, aber das ist echt kein Ding…“, versuchte Kunibert ihm klar zu machen. „Ja ja… Bevor ich dich hier rum hängen lasse wie den letzten Penner können wir ja wenigstens einen Blick rein werfen… ob uns das Blumendekor gefällt… ob der Champagner auch richtig temperiert ist…“, murmelte Cedric und flitzte Richtung Treppe. „Äh Cedric…?“ stoppte ihn Kunibert. „Ich glaube, ich muss erst mal zusagen…“ „Ach ja: Und lass dir schön zur Vermählung gratulieren, hier die Karte“, erwiderte er und drückte Kunibert eine seiner Kreditkarten in die Hand. Kunibert rannte zur Rezeption, gerade als zwei mögliche Konkurrenten, ein älteres amerikanisches Ehepaar der Sprache nach, durch die Eingangstreppe gepoltert kamen, flitzte mit der Abrechnung zurück, Cedric unterschrieb – die nahmen hier vom Vollen, wer hätte es gedacht – Kunibert rannte erneut, dann kam er endlich mit dem altertümlichen Schlüssel zurück. Sollte wahrscheinlich romantisch sein, wirkte aber gewollt und total hinterm Mond. Wie auch immer, die Amis schauten in die Röhre, wer zuerst kam… Ihr Quartier befand sich im obersten Stockwerk. Es hätte auch einen Lift gegeben, aber das hatte diesen Hauch des Eingesperrtseins, der Cedric ganz und gar nicht gefiel. Außerdem hatte er Beine, also wozu der Quatsch, er war ja nicht neunzig. Hatte er vorher nicht so gesehen, aber da wäre er auch einer Sänfte nicht abgeneigt gewesen, die ihn zum Fitnesstraining gebrachte hätte. Wie hatte Opa Alain es so schön formuliert, als er als Kind rum gequengelt hatte?: Lauf, du fauler Sack! Er war wirklich voll Weisheit gewesen. Ein hektisches Zimmermädchen kam gerade aus dem Zimmer gewieselt, dass sie sich das Aufschließen sparen konnten. Sie traten ein. „Krass!“ kommentierte Kunibert beeindruckt. Das war wirklich Mittelalter-Romantik-Terror pur: grob gemauerte Wände, winzige Fenster zur See hin, ein Kamin, in der der daheim drei Mal gepasst hätte nebst pittoresk gekreuzten Fake-Schwertern darüber und Möbel, die allesamt die Steigerung von „rustikal“ waren. Das Hochzeitsbett war mit einem von gedrechselten Pfeilern gehaltenen Baldachin versehen, aber es gab auch eine Couchecke mit Fernseher – igitt, aber er war ja aus – und eine Bar, auf der der befürchtete Sektkühler frisch hin drapiert stand. Auf das glückliche Paar… juhu… Cedric horchte in sich. Bett und Sofa… okay… der Abstand war einigermaßen weit… dennoch… wild darauf war er nun nicht, aber nach allem, gerade heute, würde er Kunibert gewiss nicht ins Foyer verbannen – oder in die Badewanne. ……………………………………………………………………………………………….. „Okay“, sagte Cedric. „Ich nehme das Sofa. Du bist zu lang dafür, also keine Widerrede.“ Kunibert nickte stumm. Eines hatte er gelernt: Reite bloß nicht darauf herum. Erwische den richtigen Augenblick, wenn es dennoch notwendig oder hilfreich sein könnte. Hoffe, dass du recht hast damit. Lass Cedric machen, aber sei da… Besser das Naheliegende tun. „Ich habe Hunger“, stellte er klar. „Bestell was beim Zimmerservice. Ich will auch das Schnitzel. Mir reicht’s für heute mit der Aushäusigkeit. Aber immerhin… über einen Mangel an Zeugen kann ich mich jetzt nicht mehr beschweren, jetzt habe ich sogar eine Hotelrechnung“, stellte Cedric fest und schlurfte gen Klo. ………………………………………………………………………………………………… Es war die reinste Tortur, das zu hören. Cedric jammerte leise vor sich hin im Schlaf, aber jetzt zu ihm rüber und ihn wach rütteln…? Ganz schlechte Idee… es war hell im Raum, Cedric hatte wortlos alle Lichter angemacht, es roch ungewohnt nach altem Holz. Nach dem Essen hatten sie so einigermaßen versucht, ihr übliches Gehabe fortzuführen, Cedric auf dem Sessel, er am Kamin, aber sie waren nun mal nicht im Haus am Feld. Den Champagner hatten sie verkommen lassen, sein Geschmack war das sowieso nicht, und Cedric trank ja nichts. Ganz kurz hätte er im Tran beinahe der Fernseher angestellt, hatte sich aber noch stoppen können. Wenn er etwas sehen wollte, konnte er das in seinen Zimmern am Laptop über Kopfhörer machen, störte ihn nicht sonderlich, aber Cedric hatte ihm ja gesagt, warum er jede Art von medialer Beschallung ablehnte. Musste ein merkwürdiges Gefühl sein in der Zeit allgegenwärtiger Bedröhnung seine Tage mit völlig anderen Dingen zu verbringen. Aber man gewöhnte sich wahrscheinlich daran. Der Großteil der Menschheit war Jahrtausende lang auch gut ohne ausgekommen, ohne prinzipiell in Trübsinn zu versinken. Ob das jede Nacht so war? Oder war das nur die Anstrengung des heutigen Tages, die unverhofft wieder aufgerissenen Wunden? Jedenfalls standen ihm von Cedrics Schlaflauten die Haare zu Berge. Er atmete tief durch und rief so sanft und laut er es hin bekam: „Cedric!... Cedric…!... Cedric…!“ Es dauerte eine Weile, aber irgendwann wurde Cedric ruhiger und verfiel wieder in tiefen Schlaf. ………………………………………………………………………………………………… Sie waren da… sie waren da… er hing fest, baumelnd, hilflos, bewegungslos… gleich… Cedric… Gleich… gleich… Cedric… Nein… das Feld… er lief… Bienen… Blumen… die Ratten… ein großer blonder Typ, der voll Freude zwischen Nichtigkeiten herum sprang… Cedric… Ein warmer Brustkorb… kein Sex… sein Freund… Er sank wieder tiefer. Die Sonne stand nicht am Himmel, aber der Uhrzeit nach war bereits Morgen. Er konnte Kuniberts tiefe Atemzüge hören. Draußen mochte es finster sein… aber hier lag alles im künstlichen Licht… es gab keinen Frieden in der Dunkelheit… in der Finsternis lag nur das Warten… Warten… Vorsichtig rappelte er sich auf, der Ruf der Natur lockte ihn gen Sanitäranlage. Er riskierte einen Blick zur Seite. Kunibert hatte sich frei gestrampelt, trug aber nach wie vor Jeans wie Unterhemd, ganz offensichtlich ihm zuliebe, denn bequem konnte es nicht sein. Er sah so ganz anders aus im Schlaf als sein nerdiges waches Ich es aufdrängte. Himmel… was für ein wunderschöner Mann. Schade, dass er das nicht mehr schätzen konnte. Aber… irgendwie konnte er wohl schon, ansonsten wäre es ihm irgendwie wohl nicht aufgefallen. Kuniberts blondes Haar hing zerwusselt in seiner Stirn und leuchtete im Licht, die hellen Wimpern, die schlanken hohen Wangenknochen, die breiten Schultern und die kräftigen im Verhältnis dazu dennoch schmalen Hüften, die endlos langen Beine, durchtrainiert ohne Ähnlichkeit zu einem Storch, die relativ zarten Füße, die dennoch wahrscheinlich mindestens Größe vierundvierzig hatten… schlafend war Kunibert wirklich ein ganz anderer… Wirklich wie so ein Märchenritter… Aber ein wenig war er das ja schon. Die zeitgemäße Nerd-Version, denn wo wäre er jetzt ohne diesen verqueren Trottel? “Ich hab dich gern“, flüsterte er leise zu sich selbst, und verbat es sich, sich dabei idiotisch vorzukommen, denn es war nicht idiotisch. Es war die Wahrheit. Er hatte ihn wirklich gern. Irgendwo, irgendwie war dieser aufdringliche Vollidiot in seine Festung einmarschiert, die er für verschlossen und besiegelt befunden hatte. Kunibert strahlte Schutz aus, und das war wahrscheinlich ein Pflaster auf seinen Horror. Aber Kunibert brauchte auch ihn, es war etwas Beidseitiges. Machte das Freundschaft aus? Eine Tendenz zur gegenseitigen Selbstlosigkeit? Was wäre, wenn wer Kunibert jetzt ernsthaft etwas drohte, würde er nicht alles tun… nur damit dieser Mensch weiter so bliebe… Egoismus und Altruismus in einer unentscheidbaren Umarmung? Wie auch immer, auch dies war etwas Irrationales. Er mochte Kunibert. Er fühlte sich sicher, er fühlte sich gut, wenn er da war. Das war erbärmlich, unvernünftig, aber dennoch… gut. So war es. Versteh das mal einer. Kapitel 23: Schmusedecke XXL ---------------------------- XXIII. Schmusedecke XXL „Hoffentlich geht es Marx und Engels gut“, bangte Cedric neben ihm. „Warum hast du die… Viecher eigentlich so genannt?“ wollte Kunibert wissen, während er das Auto gen Heimat lenkte. „Ausgebeutet von den Kapitalisten…?“ erklärte Cedric und lutschte an einem Wassereis, das er ihm ungefragt vom Tanken mitgebracht hatte, und das er ungedankt entgegen genommen hatte. „Du bist doch kein Kapitalist!“ behauptete Kunibert, dessen Eis längst verdrückt war. „Naja… Kohle zu haben ist für mich selbstverständlich… aber Kohle zu machen habe ich keinen Bock… ne… da bin ich wohl eher der nichtsnutzige Erbe“, gestand Cedric. „Kann man ja eben nichts für“, gestand ihm Kunibert gönnerhaft zu. „Was machen eigentlich deine Eltern?“ wollte Cedric wissen. „Mein Vater ist Postbote, meine Mutter KFZ-Mechanikerin, deswegen fährt das Auto auch noch“, erzählte Kunibert. Aus Cedrics Sicht waren das unbegreiflich einfache Verhältnisse, aber das artikulierte er besser nicht. Dass Kunibert promovierte, musste ihnen allen wie ein unglaublicher Schritt vorkommen, das war ihm schon klar. Kunibert war für seine Familie wohl karrieretechnisch ein Fortschritt. Er hingegen für seine die totale Pleite. Ironischer Weise war dennoch er es mit den Säcken voll Gold. Er hatte das echt null verdient, wenn man da Kuniberts Fleiß betrachtete… aber so manches war wohl unverdient. Auch das… Kunibert meinte, das nicht… irgendetwas in ihm schon, scheiß Schuld-Gefühle… aber womit kamen andere durch? Nein… er war schließlich kein kaltherziger Mörder gewesen… nur ein kaltherziges, macht- und sexgeiles Arschgesicht… aber auch damit kamen die meisten durch. Er nicht. Aber das hieß nicht, dass er erledigt war. Er war immer noch Cedric Kalteis, am Leben trotz alledem, ätsch, und er atmete, er fühlte und er hoffte… auf was eigentlich? Wahrscheinlich auf das, auf das alle hofften. Auf ein erfülltes Leben irgendwie wieder, nicht nur Erstarrung, nicht nur Bienen und Steine und Bücher… Erschien utopisch. Vielleicht war es das auch. Das würde sich zeigen. Nein, das würde er zeigen! ……………………………………………………………………………………………….. Messdaten…. Fotos… Lektüre und Schlussfolgerungen… und dieser Cedric, nicht mehr so verbissen, sondern fast beschwingt zwischen den Steinen hin und her springend… und er lächelte, wenn Kunibert verkündete, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Nicht, dass das Cedric wirklich interessiert hätte, aber er lächelte für ihn, weil er etwas herausgefunden hatte… Cedric war wie ein Wasserfloh, so agil… und wie die Pythia, so geheimnisvoll… und wie ein Märtyrer, voller Schmerz… aber ein Märtyrer wüsste wenigstens, wofür er gelitten hatte, das wusste Cedric nicht, das wusste niemand. Er wusste nicht warum, aber er hatte Cedric so gern in diesen Momenten auf dem Feld, wenn er hin und her flitzt und einfach nur die Zahlenreihen aufsagte, dass es fast weh tat. Wüste Pusteblume, Pumuckel mit ner Axt, klein Zaches mit einer Mission, lächelnder Killer-Elf, spielender Puma und so viel mehr… Cedric, sein Cedric… klug und fies und witzig und angstvoll und verletzt und so… hübsch… Er rief sich selbst zu Raison. Nein, Cedric hatte ihm nicht hübsch zu erscheinen, sie waren Freunde, und außerdem war Cedric in der Hinsicht höchst demoliert. Aber jetzt, wo die Aussicht aufs heimische Bett dahin war, mochte es nur etwas schwerer sein. Er war immer noch ein Mann, ein homosexueller Mann in der Blüte seiner Jahre, und Cedric war verflixt schön, Kunibert war schließlich nicht blind, aber man hatte ihm Unsägliches angetan, auch in sexueller Hinsicht, es war ein Frevel und Verrat an seinem Vertrauen, an seiner Freudschaft, ihn so wahrzunehmen. Nein, Cedric war tabu, aber er war leider auch kein Mönch, Prinzipien hin, Prinzipien her… aber immerhin mochten ihn seine eigenen Hände noch. ………………………………………………………………………………………………… „Was ist das denn?“ fragte Kunibert verwundert angesichts des voluminösen Päckchens, das im Flur stand. „Ein Fernseher“, erklärte Cedric ruhig. „Ich dachte, du hasst die Dinger?“fragte Kunibert verwirrt. „Ja“, knirschte Cedric. „Aber… alte Filme… und so… du kannst die Dinger installieren…?“ „Ja, das kriege ich hin“, sagte Kunibert eilfertig, die Überraschung unterdrückend. Zwei Wochen waren seit Mont Daint-Michel vergangen, sie folgten nach wie vor ihren Routinen, Cedric war immer noch Cedric, aber er wuchs… oder heilte...? Vielleicht beides ein klein wenig. Trotz des Kummers, der ihm der Gedanke an seine gescheiterte Beziehung noch immer bescherte, hatte er das Gefühl, nicht in ein bodenloses Loch gefallen zu sein. Irgendwie erschien ihm das hier auch ein wenig wie ein Neuanfang, ein neuer Kunibert… Als er mit Jakob zusammen gekommen war, war er gerade mal zweiundzwanzig gewesen, das Zusammensein hatte den Großteil seines erwachsenen Lebens geprägt. Er war zuvor auch ein paar Mal verliebt gewesen, aber das war nie gut gegangen. Da er nie in der Szene herum gesprungen war, war die Zuneigung immer recht einseitig geblieben. Sein alter Freund Michael war das beste Beispiel. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen. Als er ihm im Jahr vor dem Abi gebeichtet hatte, in ihn verknallt zu sein, war eine Weile Funkstille gewesen – nicht aus bösem Willen, aber Michael war ziemlich überfordert damit gewesen. Das war… herbe gewesen, aber irgendwann hatten sie sich beide wieder ein bekommen und sich wieder angenähert. Inzwischen war der Kontakt eher sporadisch, aber nach wie vor da, immerhin. Als Michael geheiratet hatte, war er sogar Trauzeuge gewesen als sein ältester Freund. Seine Freundschaft mit ihm mochte Bestand haben, aber mit anderen, die sein Interesse geweckt hatten, war es ähnlich gelaufen, ohne dass daraus etwas anderes gewachsen wäre. Die meisten hatten völlig entgeistert reagiert, wenn er damit heraus gerückt hatte, schwul zu sein. Als ob Schwule wandelnde Klischees seien… herzlichen Dank. Aber die meisten Menschen dachten das noch immer, ohne das auch nur gemein zu meinen… Er hatte immer nach etwas Festem gesucht, Erziehung war da nicht alles – siehe Frida, wenn das ihre Eltern wüssten… - das war er wohl einfach. Andere mochten das anders sehen, bitteschön, aber das war nicht der Punkt. Er sah es nicht bloß so aufgrund irgendwelcher Entscheidungen, er fühlte es einfach, basta. Und als er Jakob kennen gelernt hatte… so ein attraktiver Mann… der ihn doch wirklich wollte… humorvoll und nett, anpackend und… „Kunibert… du pennst schon wieder!“ stellte Cedric fest. „Oh… Tschuldigung“, rüttelte er sich selbst wieder in die Gegenwart. „Wo soll er hin…?“ fragte er mit Blick auf die riesige Verpackung. „Wohnzimmer“, erwiderte Cedric lakonisch. „Ich packe mit an.“ Das Ding war zwar nicht zu schwer, wohl aber zu groß, um es vernünftig alleine greifen zu können, so wuchteten sie beide daran herum. Dank ihres Größenunterschiedes hing der Karton ziemlich schief in der Luft, aber sie bekamen es hin. Cedric fetzte die Verpackung mit einem Küchenmesser auf und schnappte sich die Bedienungsanleitung, während Kunibert die Teile sortierte. Sie brauchten nicht lange, um das Ding einsatzbereit zu machen. „Ich gehe nach oben“, meinte Cedric gepresst. „Kannst du die Sender einstellen? Ich kann einige Dinge nicht sehen…“ „Schon klar, mache ich“, übernahm Kunibert. „Ich rufe dich dann.“ „Okay… Ich putzte so lange den Käfig“, murmelte Cedric und entfernte sich. Wäh… Marx und Engels… Nieder mit den Kommunisten-Ratten! Sonderlich lange brauchte er nicht, dann rief er, und der Rattenbesitzer erschien wieder auf der Bildfläche. Mit dem Schwung der wild Entschlossenen ließ Cedric sich aufs Sofa fallen. „Ein Louis de Funes-Film fängt gerade auf dem Ersten an!“ verkündete er. Kunibert nickte und stellte den Sender ein, auf dem bereits der Vorspann lief: „Louis und seine außerirdischen Kohlköpfe“. Er konnte Cedrics Anspannung geradezu riechen. Er stand vom Boden auf und setzte sich neben ihn. Cedrics Kiefer malmte. Dann sagte er, die Hand ausstreckend: „Darf ich…?“ „Klar“, meinte Kunibert und reichte ihm seine. Cedrics Finger schlossen sich fest um seine, als ankerte er seinen trudelnden Kahn fest. Während des Films blieb er angespannt, aber ein wenig ließ es mit der Zeit nach. Kunibert musterte ihn unauffällig immer wieder von der Seite. Cedric war hochkonzentriert und stand unter Strom – aber er schaffte es. Kunibert begriff sehr wohl, dass Cedric sich hiermit ein Stück von der Welt zurück eroberte, das ihm seine Peiniger genommen hatten. Zwei Tage waren es gewesen, ewig für ihn, im Alltag so schnell vergessen… aber sie hatten mehr als gereicht, um die Person, die Jakob erinnert hatte, zu zerstören. Aber… nicht ganz… Cedric war noch da. Und aus der Asche, zu der er verbrannt worden war, war er im Begriff, sich wieder zu erheben. Cedrics Kraft beeindruckte ihn sehr, er war sich nicht sicher, ob er das gekonnt hätte. Aber… er hätte seine Eltern gehabt, wenn er da an Cedrics Verhältnis zu seinen Erzeugern dachte… und er hätte auch Frida und seine Freunde und… Es war komisch. Cedric mochte Kohle haben bis zum Umfallen, aber an den Dingen, die Kunibert wichtig waren, war er arm gewesen und immer noch arm. Er fühlte Cedrics zarte Hand in seiner, die dennoch die Stärke seines Inneren bezeugte, und wunderte sich über Cedric, über sich selbst. ………………………………………………………………………………………………… Er hatte es geschafft! Er hatte Fernsehen geguckt! Oh Jubel… Das hatten sie in der Therapie auch mit ihm versucht, um die negativen Konnotationen zu lösen… Kaminfeuer… Hoppelhäschen… der Gesang der Buckelwale… völliger Blödsinn. Okay, Musiksender mit Techno-Mucke würde er sich nie im Leben noch mal antun, aber ein alter Film, den er schon x-mal gesehen hatte… Es ging! Es war… anstrengend, aber es ging. Alleine – niemals. Aber wenn Kunibert ihm das Patschehändchen hielt… scheiß auf die Peinlichkeit, das war nicht mehr von Bedeutung! Der Nachspann lief, er schloss befriedigt die Augen. Ich kann das! Und wenn ich das kann… Cedric blickte zur Seite. Kunibert lächelte ihn an, der begriff – aber hielt den Schnabel. Und er freute sich – für ihn. Er konnte nicht anders, als zurück zu lächeln. Kunibert löste seine Hand aus seiner und strich ihm einmal über den Kopf, als sei er ein pfiffiger Erstklässler. Aber nicht mal das konnte er ihm übel nehmen, denn ein wenig so fühlte er sich. Erstklässler im zweiten Durchlauf… alles noch Mal neu… und die Berührung… tat gut. Und war auch neu, niemand außer den Au Pair-Mädchen seiner Kindheit hatte ihn je so angefasst. Sein Vater – Gott bewahre! Aber die Spielregeln seiner gesellschaftlichen Herkunft kannte Kunibert nicht, oder sie waren ihm schnuppe, Kunibert tat das eben einfach, die elende alte Monsterbanane im Barbaren-Outfit. Kuniberts Hand lag noch immer locker und etwas zögernd auf seinem Nacken, und irgendwie war die Versuchung da… angefasst zu werden, ohne dass… Er zog die Füße vom Boden hoch, drehte sich leicht und senkte den Kopf, bis er an Kuniberts Arm lehnte. Kuniberts Hand lag vorsichtig an seinen Hinterkopf, er schwieg. So mussten sich Katzen fühlen. So warm, so gemütlich, so gut. Kunibert roch irgendwie nach Ruhe und fühlte sich durch den Stoff so warm an. Er schloss die Augen, fühlte sich fast ein wenig betrunken, aber es war gut… gut… der erste Genuss seit so langer Zeit… ……………………………………………………………………………………………….. Atemlos starrte Kunibert abwärts. Cedric hatte sich einfach an ihn gekuschelt, als sei er ein Schmusekissen. In ihm schlingerte alles… dieses unfassbare Vertrauen, die Not, die Sehnsucht, die Bitte, die Tendenz sich zu nehmen, aber auch die Dankbarkeit… das weiche Haar unter seinen Fingern, der Anblick dieser Sommersprossenflut und der gesenkten rostroten Wimpern, das leichte Lächeln auf den Zügen des anderen… so hatte er ihn noch nie erlebt. Aber Cedric war kein Verwandter oder ein alter Freund… Cedric war Cedric… Irgendwie wurde ihm ganz anders, ohne dass er dieses „Anders“ hätte bestimmen können. Er schloss die Augen und ließ es einfach auf sich wirken. Gut… es war gut… Warum nur…? Weil er es brauchte, gebraucht zu werden? Weil Cedric ihm so sehr half, nicht nur durch den Job, sondern weil er hier sein durfte…? Weil es ihn so freute, dass Cedric gegen seine Dämonen kämpfte und begann zu gewinnen? Ja… und nein… Es war wohl nicht ganz logisch. Aber es war etwas Warmes, das von ihm Besitz ergriff. Cedric war so… zart und hart und… roch so gut, war so… Er fühlte mehr, als dass er es steuerte, wie sein Kopf ganz leicht zur Seite sank und seine Wange unmerklich gegen Cedrics Haar drückte. Er fühlte sich ziemlich benebelt. Cedric wich ihm nicht aus. Sie verharrten schweigend, bis sie die Müdigkeit übermannte, und sie sich etwas verlegen und ratlos voneinander lösten. ………………………………………………………………………………………………… Hände… auf ihm… nein… Oh! Nein, das war gar nicht… Etienne? Nein… Etienne war fort, fort, er hatte ihn fort geschickt, weil er selbst längst fort war, kein Zurück… aber Hände… die… Cedric fuhr mit einem Keuchen hoch. Was zum Teufel war das denn gewesen? Der Raum war gut ausgeleuchtet, Marx und Engels pennten tief und fest. Er hob die Bettdecke und starrte an sich hinunter. Kein Zweifel möglich. Hau ab, es hat sich ausgesext! Längst schon, hast du es etwa vergessen? Hier hast du rein gar nichts zu erwarten! Wie kommst du überhaupt auf die Idee! Diese Fernseh-Kuschelnummer… Oh weh, war er völlig bekifft gewesen? Hatte sich fast so angefühlt… wie Linus von „Peanuts“ mit seiner Schmusedecke… nur war seine „Schmusedecke“ ein Zwei Meter-Kerl der speziellen Art gewesen. Kacke! Was hatte das denn angerichtet! Hatte sich so gut angefühlt… Nur, weil er mal wieder Körperkontakt gehabt hatte, dachte sein Schwanz jetzt, die Party gehe endlich weiter? Fehlanzeige! Das war nur was… unter Freunden…? Kunibert hatte ihm schließlich nicht sonst wohin gegrabscht! Da hatte gar nichts in der Luft gelegen! Hey… komm schon… diese scharfe Sahneschnecke mit diesem irren Körper… liegt gerade nur ein paar Meter von dir entfernt… der hatte auch länger nichts mehr vor der Flinte, hängt schließlich ständig nur hier rum… flüsterte sein Untergeschoss. Na toll, Auftritt Arschloch-Cedric von anno Schnee. Nein! Bist du bescheuert geworden! Das ist Kunibert – kein Fickfleisch! Und ich bin Cedric, der nicht mehr fickt, den Gedanken zum Heulen findet und auch keinen unkoordinierten Ständer im Wachzustand hat! Irrtum… er riecht so gut… und er ist so stark… Er ist ein Nerd! Ein netter Nerd. Das ist auch egal, er ist mein Freund, mein einziger, willst du das etwa torpedieren?! So wie es ist, ist es wunderbar. Bitte, lass mich - zur Hölle - in Ruhe! Du bist siebenundzwanzig – nicht siebenundneunzig. Kunibert ist nicht… sie. Und er ist so… Hau bloß ab! Versau mir nicht alles mit solchen Gedanken! Ich habe heute Fernsehen geguckt – großer Fortschritt! Das sind die Dimensionen, in denen ich mich hier bewege! Ich will das nicht… nie wieder! Kapiert?! Nein. Ich bin immer noch da, habe es überlebt, genau wie du. Du willst dein Leben zurück? Nun, ich auch… Nein! Du hast mir das mit eingebrockt! Du versaust mir nicht noch mal alles! Aber… Cedric sprang auf und schlug auf den Lichtschalter. Dunkelheit!!! Sie… nein. Kunibert schlief unten, er hier, es war einfach nur Nacht, die Ratten schnarchten leise… aber es war weg. Er lauschte in sich hinein. Nein, keine Panik. Es war einfach nur mitten in der Nacht. Er tapste etwas wackelig zurück ins Bett, draußen schien der Mond. Etwas fassungslos zog er die Bettdecke wieder über sich. Er in seinem Zimmer… wie früher… fast… es war ruhig… was… wie… ………………………………………………………………………………………………….. Jakob starrte auf die Bilder im Fotoalbum. Er und Kunibert auf Fridas Hof, lachend Arm in Arm, sie beide, so glücklich… Warum musste das Leben nur zu kompliziert sein? Wahrscheinlich weil sie als Menschen es nun mal waren, vielschichtig, nicht simple Klischees… Alle dachten bei Kunibert immer an einen innerlich platten Krieger, aber die hatten keine Ahnung wie aufrecht und… liebenswürdig er war. Cedric Kalteis würde das nie im Leben begreifen. Er vermisste ihn so sehr. Kuniberts Lachen, seine konsequenzlose Verfressenheit, das begeisterte Leuchten in seinen Augen…. Und jetzt war er weg, nicht einfach weg, sondern fort da in der Bretagne. Warum hatte Kalteis ihn angestellt? Garantiert nicht aus Interesse an Kuniberts Studien, sondern weil…. Kunibert selbst für einen wie ihn eine Herausforderung darstellen mochte? Wollte er ihn einfach endlich flach legen? War das längst geschehen, und Kunibert drohte zu einem weiteren Kalteis-Opfer zu werden? Nicht sein Kunibert! Gequält schloss er die Augen. Er liebte ihn. Aber Kunibert ihn nicht mehr…. Meinte er zumindest. Aber ihre Verbindung war doch nicht willkürlich gewesen, hatte so lange gehalten. Nähe und Freundschaft, Vertrauen und Begehren. Das war es doch, darum ging es? Bei dem Gedanken, wie sich Kunibert über Kalteis her machte, obwohl es in Wirklichkeit anders herum war, wurde ihm übel. Kunibert war doch kein Ding! Auch wenn sie getrennt waren… aber konnte er stillschweigend da sitzen, während Kunibert in sein Elend rannte? Kapitel 24: Sommersprossen -------------------------- XXIV. Sommersprossen Kunibert war etwas mulmig. Die Tage flossen dahin, ab und an ließ sich Cedric auf ein weiteres Fernseh-Experiment ein, aber er suchte nicht erneut seine Nähe. Sie saßen nebeneinander durch eine kaum fassbare Spur Distanz in der Luft getrennt, ohne einander zu berühren. Hatte sich Cedric damit doch überfordert? Es hatte ihm keine Angst gemacht… es war nur merkwürdig gewesen. War es ihm peinlich? Vielleicht. Irgendwie wusste Kunibert nicht recht, wie er dazu stehen sollte. Einerseits hatte Cedrics seltsames Drängen nach Nähe ihn berührt, andererseits machte es ihm auch etwas Angst. Er hatte sich darauf eingelassen, Schritt für Schritt, obwohl ihn weiß Gott niemand dazu gezwungen hatte, und jetzt setzte sich Cedric ganz langsam in Bewegung, fort von diesem Ort in seiner Vergangenheit – und dabei auch auf ihn zu. Es gab nichts sonst für Cedric… sein altes Leben war dahin, er wollte es nicht wieder, seine Routinen waren Erstarrung. Es gab hier nur noch ihn selbst und Kunibert. Und Cedric hatte sich nicht wahllos auf ihn gestürzt, er selbst war es gewesen, der sich an ihn geklebt hatte, bis etwas geschehen war. Diese Verantwortung sollte ihm wahrhaft Bammel machen… ein wenig tat sie das auch, auch wenn Cedric nun wirklich kein zartes Püppchen war, das vor einem Drachen gerettet werden wollte… aber was ihn noch mehr erstaunte, war die Tatsache, dass er es wollte. Es mochte Gründe geben… Gründe über Gründe, hier abzuhauen oder wenigstens von sich aus auf Abstand zu gehen… doch sie verwehten irgendwie in dem eisigen Wind, der an diesen Tagen über das Feld brauste. Nein, Cedric war nicht der Einzige, der sich hier bewegte und zwar in eine Richtung, die er nicht erahnt hatte. Er hatte immer Freunde gehabt, ob männlich oder weiblich, denen er sich verbunden gefühlt hatte und noch immer tat, obwohl man sich immer seltener sah – aber in diese Kategorien wollte Cedric nicht recht passen. Cedrics Hand zu halten, über sein Haar zu streichen war nicht so gewesen, wie es mit einem von ihnen gewesen wäre – oder mit Jakob. Es war… gut gewesen, als sei nur noch dieser Moment von Bedeutung, in dem nichts fehlte, alles da war… Auch jetzt, da Cedric unten im Keller an der Waschmaschine rumorte, und er in der Küche Mohrrüben klein schnipselte, war es irgendwie so… nicht ganz so intensiv, aber da. Ein wenig wie in seinem Elternhaus, als er ein Kind gewesen war… doch nicht ganz so. Sie beide bildeten wahrscheinlich die absonderlichste Wohngemeinschaft des Planeten, aber in dieser Hinsicht konnte ihn die Welt auch mal. Auf dem Flur hörte er Cedrics leichten Schritt, dann streckte er die Nase zu Tür rein. „Was wird denn das?“ fragte er mit kritischem Blick auf Kuniberts Werk. „Mohrrübensuppe mit Pinienkernen“, erklärte Kunibert. „Zur Vorspeise…“ „Ich dachte schon!“ gab sich Cedric erleichtert und trat ein. „Davon werde ich wahrscheinlich noch rötlicher als sowieso schon. Muss ich nur noch ein kleines Stück schrumpfen, und alle Hasen der Umgebung sind hinter mir her!“ grollte er leise. „Sag ich doch – passe bloß auf deine Zehen auf!“ warnte Kunibert trocken und wühlte nach dem großen Kochtopf. Cedric stieß diesen heiseren Laut aus, der sein seltenes Lachen darstellen sollte, und der gar nicht zu ihm zu passen schien. „Marx und Engels mögen gerne Banane… aber Fleisch lieben sie auch…“, informierte er Kunibert grinsend. „Bäh! Die sollen meinem Monsterbananenfleisch bloß nicht zu nahe kommen!“ gruselte sich Kunibert. „Von den Ratten gefressen zu werden ist doch ein Klassiker mit einem gewissen Stil. Von Hoppelhasen… also, da solltest du dankbar sein!“ kicherte Cedric und goss Wasser in ein Glas. „Hält sich arg in Grenzen“, schauderte der so Besänftigte. „Ich passe schon auf… Ratten darf man nicht verfetten lassen“, schwor Cedric in geheuchelter Ernsthaftigkeit. „Pfft!“ gab sich Kunibert beleidigt. Bevor Cedric es sich zu gemütlich machen konnte, verdonnerte er zu einer weiteren Runde Übung im schlampig Kartoffeln schälen. ………………………………………………………………………………………………. Kunibert hockte mal wieder auf dem Boden und tippte vor sich hin. Das Arbeitszimmer, das er ihm zur Verfügung gestellt hatte, nutzte er nur selten, diente wohl eher als Lagerraum. Nein, Kunibert hing lieber hier rum oder in der Küche oder auf dem Feld, wo sie stetig mehr oder minder zusammen waren, und es schien ihn nicht die Bohne zu stören. Es war schon komisch, so eng hatte er noch nie mit einem Menschen zusammen gelebt, nicht mit seinen Eltern und auch nicht Etienne. Etienne und er hatten ständig irgendetwas zu tun gehabt, waren immer auf Achse gewesen, mal zusammen, mal getrennt, und daheim waren sie recht selten gewesen, wozu auch? Das Leben hatte draußen getobt. Das hier war eher wie in einer ziemlich fehlbesetzten Familienserie aus den Sechzigern. Arbeiten, Hausarbeit, Freizeit, immer schön zusammen, und abends jeder keusch ab ins eigene Zimmerchen. Eigentlich absolut perfekt für ihn, wenn er nicht das Gefühl hätte, dass hinter dieser ihm gegen alle einstigen Überzeugungen und Gewohnheiten wohltuenden Harmonie Fieses-Oberarschloch-Cedric lauerte, um sich in bester Monty Python-Manier wie aus dem Nichts zu melden: „Ich bin noch nicht tot! Mir geht es schon viel besser! Ich möchte spazieren gehen!“ Super, jetzt misstraute er nicht mehr Kunibert, sondern sich selbst. Paranoia reloaded. Gut, dass Kunibert so ein Softie war, der anscheinend nie Bekanntschaft mit der lustigen Welt der Ausschweifungen gemacht hatte. Oder der war einfach auch irgendwie gestört, wie auch immer. Nein… das war dieses komische Freundschafts-Ding… Trotzdem komisch. …………………………………………………………………………………………………... Es schien ein strahlender Wintertag werden zu wollen. Der vor ein paar Tagen gefallene Schnee war mittlerweile in dichten Schichten fest gefroren, so dass man arg aufpassen musste, wo man hin trat, aber sie waren beide sehr vorsichtig. Die Sonne ging gerade auf und ließ das gespenstische Panorama des morgendlichen Steinfeldes leuchten, über dem sich gar nichts zu regen schien seit Urzeiten. Kunibert war schon länger wach, eigentlich gegen seine Gewohnheit, da er sich dem Tagesrhythmus angepasst hatte. Wozu in aller Herrgottsfrühe aus den Federn, wenn man doch erst bei Tageslicht arbeiten konnte? Auch der Gang zum Dorf war dann weniger halsbrecherisch, denn die Brötchen, die mussten schon sein. Er hatte komisch geträumt, konnte es nicht mehr recht fassen, irgendetwas mit Pferden und Frida und Star Trek, und danach nicht mehr recht einnicken können. Stattdessen stand er jetzt am Rand des Feldes und blickte entlang des Hauses gen Sonnenaufgang. Er fühlte sich ziemlich benebelt… die ganze Wucht der Natur im Spiegel der sich in den Tiefen der Zeit verlierenden Geschichte, während die ersten Strahlen die vereisten Steine blitzen ließen. Irgendwo rumpelte es, er blickte auf. Cedric musste gleichfalls munter geworden sein und öffnete sein Fenster. Er hatte das Gefühl, plötzlich zu glotzen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Himmel… Cedric hatte ihn nicht bemerkt, sondern schien mit dem Fensterhebel zu kämpfen, wahrscheinlich war der Rahmen fest gefroren. Er war nicht allzu weit weg, Kunibert konnte ihn bestens durch das entspiegelte Glas des ersten Stockes sehen. Ein Sonnenstrahl traf ihn. Er schien gerade aus dem Bad zu kommen, sein Haar stand notdürftig trocken gerubbelt in alle Richtungen. Ein vertrauter Anblick. Was jedoch weniger vertraut war, war der Umstand, dass Cedric kein Oberteil anhatte. Wenn Kunibert gedacht hatte, dass Cedric viele Sommersprossen habe, so hatte er bisher nur eine sehr diffuse Ahnung vom ganzen Ausmaß dieser Musterung gehabt. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht an einem Menschen gesehen, weder real noch auf Fotos. Cedrics Schultern, Arme, die Brust, der flache Bauch: Punkte! Punkte! Punkte! Von hier aus konnte er die Details nur erahnen, aber es schien sich dort wie in seinem Gesicht zu verhalten, von braun und kräftig bis fast unsichtbar rötlich schien alles dabei zu sein. Das konnte kein Mensch zählen! Das war ja wie auf dem Rummel! Raten Sie, wie viele Bohnen in diesem Tank sind – und gewinnen Sie ein Auto! Raten Sie, wie viele Sommersprossen Cedric Kalteis hat - und gewinnen Sie ein Steinfeld! Der Andrang wäre wahrscheinlich nicht so groß… Tausende? Eine Million? Das war wirklich der nackte Wahnsinn, wortwörtlich. Cedric hämmerte immer noch wütend auf das Fenstern ein und ruckelte verbissen. So würde das nie was werden… Cedric war nicht so schmächtig, wie er in Klamotten immer aussah… und nicht so… neutral… Hey, lass das! Er mag zwar kein Hemd anhaben, aber er ist immer noch Cedric! Du weißt doch, was ist… Trotzdem… das ist so… schön? Das!? Das ist Cedric! Nichts „das“ – der! Ja ja… ich weiß doch… Aber ich darf doch sagen, was ist – und er ist schön… Nicht wie so Typ von einem Magazin-Cover, sondern… etwas Besonderes, Einzigartiges… und ist ja nicht so, als sei ich da der einzige mit dieser Meinung, wenn man Cedrics einstiges Leben berücksichtigt… das ist reine Ästhetik! Aber wie „ästhetisch“ war der Drang, diese irrwitzige Haut einfach staunend zu berühren…? Das ist noch immer völlig unschuldig – und völlig unangebracht! Aber wie unschuldig ist der Gedanke, wie es denn wäre, wenn diese Berührung nicht bloß aus Staunen geboren wäre, sondern aus… Nein! Nein, bloß nicht! Das darf nicht sein! Das… nein… Kunibert hielt die Luft an und zwang sich fort zu sehen und wieder den Sonnenaufgang über dem Feld anzustarren, während Cedric dort oben anscheinend kurz vorm Tobsuchtsanfall stand. Aber irgendwie hatte es es ihm verhagelt. Mit gesenktem Blick schlurfte er zurück zum Haus. Wenn Cedric ihn in seinem Furor jetzt doch entdecken sollte, dann würde er denken, ungesehen geblieben zu sein. Mit schwirrenden Gedanken legte er die Jacke ab, zog seine Schuhe aus und schlüpfte in die Küche, wo er auf einem der Esstischstühle nieder sank. Er durfte Cedric nicht so wahrnehmen! Nicht als… attraktiv. Erstaunlich, ja, sexy – nein!!! Er war nun wirklich nicht jemand, der ganz und gar auf Sex fixiert war, aber ein Eunuch war er nun nicht. Aber daheim wartete jetzt kein Jakob mehr… es gab auch kein „daheim“ mehr… und immer nur mit der eigenen Hand intim zu werden… wahrscheinlich hatte er einfach nur einen kleinen Hormonstau. Das war exakt das, was Cedric fürchtete… oh weia… „Morgen!“ grüßte Cedric, jetzt in Jeans und dicken Pullover, in die Küche tretend. „Morgen, Cedric“, grüßte er zurück. „Nanu? Schon munter? Der Morgen dräut, die Sonne lacht, groß-Kunibert ist aufgewacht?“ wunderte sich Cedric, der sonst immer schon vor ihm munter war. „Habe komisch geträumt“, rechtfertigte sich Kunibert wahrheitsgemäß. Eigentlich bestand kein Grund, sich zu rechtfertigen… aber dennoch fühlte es sich so an… „Schon wieder Pferdehochzeit? Na, komm, die Brötchen werden nicht frischer!“ trieb Cedric ihn an. Wahrscheinlich würde er Entzugserscheinungen bekommen und um sich beißen, wenn er keine Mohnbrötchen bekam… Jetzt war er wieder… ganz normal. Aber unter diesem warmen Winterpullover… Ob er auf der anderen Seite wohl auch… und darunter… Kunibert verbat sich den Gedanken, während er ihm folgte. Allerdings war das leichter gewollt als umgesetzt. ………………………………………………………………………………………………….. Kunibert war seltsam schweigsam, während sie vorwärts stapften und schlidderten. Wieder eine Jammer-Attacke wegen Ex-Bankenfritze-Jakob? Nicht schon wieder. Der sollte froh sein, dass er diesen Geld umschippenden Spießer-Fuzzi los war, für so etwas war Kunibert doch viel zu schade! Wenn er denn partout einen auf Liebesglück machen wollte, dann lieber mit… einem Zirkusdirektor! Einem Affentrainer! Einem Frosch-Friseur! Aber doch nicht so etwas… Okay, er war da nicht gerade die höchste Instanz… außerdem würde Kunibert wohl kaum jemanden kennen lernen, wenn er hier rum hing. Aber das würde sich schon noch ändern… Cedric schluckte… Nein, er konnte Kunibert hier kaum fest kleben. Kunibert hatte auch ein Recht auf das, was auch immer ihn glücklich machen mochte. Oder wer. Aber dennoch… bitte noch eine Weile… Aber vielleicht wäre es auch besser so, ehe Oberarschloch-Cedric schon wieder anfing: „Schau dir diesen mega-knackigen Arsch an! Und diese Schenkel! Der vögelt bestimmt wie ein Stier!“ und so weiter… Er war nicht mehr Oberarschloch-Cedric! Er war das nette Arschloch, und Sex… nein… nein… nicht da anfassen… Haare kraulen war okay. Aber mehr…? Nein! Nein… „Komm schon Cedric, das verlernt man doch nicht! Du warst doch der Obermeister im Die-Beine-breit-machen… War das nicht immer total geil?“ Denk an die letzte Nummer… war die etwa geil?!!! Der Hauch der Erinnerung prügelte Oberarschloch-Cedric wieder zurück in sein kaltes Grab, und es war wieder Ruhe, und vor ihm lief Kunibert, sein Freund, nichts weiter. ………………………………………………………………………………………………….. Sommersprossen… Sommersprossen… sah nicht echt aus, war es aber… und fühlte sich warm an… Cedrics heiseres Lachen… oh weh… Kunibert starrte in die Dunkelheit. So ging das gar nicht. Sein Körper meldete sich… aber seit einer Woche, seit er Cedric am Fenster gesehen hatte… das… und er konnte nicht… Was für ein Verrat! Nein… was sollte er machen? Logisch denken. Abstand gewinnen… aber er wollte hier nicht weg… das war so armselig… Aber er könnte… zumindest es versuchen… vielleicht wäre es ein Ausweg… Er schaltete die Nachttischlampe an und sprang auf. Es war Freitagabend, kurz nach elf Uhr. Sie hatten Star Wars gesehen und waren dann schlafen gegangen. Cedric blieb auf seiner Seite des Sofas. Aber immer dieser Gedanke… wie eine fixe Idee: Sommersprossen… heiseres Lachen… War das der Schatten dieses Mega-Verführers von einst, der Cedric gewesen sein sollte? Dann hatte er das hier garantiert nicht beabsichtig, es war nur noch da, ein wenig, letzte Bruchstücke… aber wie war Cedric gewesen, dass er so eine Wirkung gehabt hatte? Wenn in seiner Stimme nichts Ruppiges wäre, nichts Ängstliches, sondern… Lust? Kunibert spürte, wie ihm die Haare zu Berge standen, teils aus fassungslosem Begehren, größtenteils aber aus Entsetzen über sich selbst. Wie konnte er nur! Er war auch nur ein Mann… Und er war Single! Er mochte total auf Freundschaft stehen! Und Aufrichtigkeit! Und einen lahmarschigen Prähistoriker-Alltag auf einem Jahrtausende altem Steinfeld in einem Spukschloss von Haus und seinem zickigen, verletzten, verrückten, stinkereichen, faszinierenden, gepunktetem Herren! Kunibert biss die Zähne zusammen. Er wollte das nicht verlieren, nicht jetzt schon, und er wollte Cedric nicht durch irgendetwas Unbedachtes verstören, das ihm hinterher so noch tausend Mal mehr leidtun würde als eine ganze Pinguinart platt getreten zu haben. Die waren putzig und hatten keine Nagezähne… Eine Lösung musste her! Schnell! Bevor sein Untergeschoss ihn noch zu sonst was antrieb. Warum jetzt? Warum so? Er war doch nicht so einer… aber das hier machte nicht nur ihn wirre, sondern war auch eine handfeste Gefahr. Er schnappte sich den Laptop, ein paar Minuten später war er schlauer. Innerlich etwas bibbernd und Kopf schüttelnd strampelte er sich in ein paar halbwegs präsentable Klamotten, schrieb voll schlechten Gewissens einen Zettel an Cedric … er war schließlich ein freier Mann! ... und flitzte zum Auto, bevor er es sich anders überlegen konnte. ………………………………………………………………………………………………… Was war das denn? Da draußen startete ein Auto?! Kuniberts Auto, den Klang kannte er doch. Was war los… hatte er irgendetwas verpasst…? Cedric rollte aus dem Bett und spurtete ohne nachzudenken aus dem Zimmer den Gang hinunter, so dass er aus dem hinteren Fenster die sich entfernenden Scheinwerfer in der Dunkelheit sehen konnte. Fassungslos glotzte er, während etwas in ihm schrecklich weh tat. Er rannte davon … es war ihm zu guter Letzt einfach zu viel geworden … er war so armselig mit seiner Klammerei, seiner Macke, der Händchen-Halterei, dem Job, damit er nicht alleine blieb … helfen konnte … Kunibert da war … Quatsch, Kunibert hatte seinen ganzen Krempel hier, also was …?! Cedric eilte erneut den Flur hinunter. Auf dem unteren Absatz der Treppe leuchtete ihm ein Zettel entgegen. Er ging runter und hob ihn herzklopfend auf. „Bin nur noch mal in die Stadt. Bis Morgen. K.“, stand da. Er fühlte Erleichterung wie einen Tsunami durch sich schießen. Das war alles … okay. Er konnte sich schon denken, was das hieß. Kunibert war schließlich nicht so ein mental-Kastrat wie er und wohl doch nicht ganz so irre, wie angenommen. Er mochte anders sein als er im Urzustand, aber sein Schwanz war ihm also doch nicht abgefallen. Aber auch hier löste er es auf Kunibert-Art und erledigte das diskret fern von ihm. Okay, die Szene hier war wohl eher verschnarcht im Vergleich zu Paris, aber Kunibert dürfte wohl keine Probleme haben, etwas Fickwilliges zu finden. Hoffentlich … ach quatsch, Kunibert passierte schon nichts. Aber wenn man ihn niederschlug … Blödsinn! Es würde gar nicht passieren, Kunibert würde eine Nummer schieben und fertig und dann nach Hause kommen. Alles in Ordnung. Trotzdem … irgendwie stieg eine Blase voll Gift in ihm auf und verteilte sich durch seine Adern. Warum konnte der Idiot sich nicht einfach einen von der Palme wedeln, die Wäsche diskret reinigen und fertig? Warum musste er mitten in der Nacht – okay, früher wäre er um diese Uhrzeit nicht mal los gewesen … - aus dem Haus stürzen? Hatte der es plötzlich so nötig? Okay, das war nicht richtig logisch, aber wenn man geil war, war man geil, da machte man schon abstruse Sachen … Etienne war immer sein Puffer gewesen, da hatte er sich richtig gehen lassen können. Die Kerle, die sie gemeinsam vernascht hatten … Er außer Rand und Band unter ihren Stößen, und Etiennes Küsse dazu – und seine wachsamen, gierigen Augen … Etienne hatte es geliebt zu sehen, wie er sich ihnen hingab - und anschließend gemeinsam mit ihm die Kritik zu formulieren … Ihr ureigenes Spielchen … Er war der Boss, weil er geben konnte, wie keiner sonst … der ultimative Bottom, von dem jeder Hengst nur so träumte. Er konnte alles, machte alles – aber zu seinen Regeln und nur zum eigenen Genuss. Nehmt die Brosamen, die für euch dabei abfallen! Ihr seid nur … das Personal. Wenn Kunibert, der so ganz anders zu ihm, mit ihm war, auch mal einen Stich brauchte, weil es ihm allmählich schon aus den Ohren raus geblubbert kam, was sonst deutlich weiter unten ruhte, dann sei es ihm doch gegönnt. Immerhin konnte er es noch richtig fühlen, diese Ekstase, Entgrenzung, den Rausch … Was gab es besseres? Haare kraulen. Für ihn. Verrückt. Aber statt ihm die Haare zu kraulen fickte Kunibert jetzt mit irgendeinem Arsch rum, der Kunibert nichts bedeutete, und dem Kunibert nichts bedeutete. Okay, das war nie das Kriterium gewesen. Aber das hier war Kunibert! Nicht Etienne und er. Kunibert verdiente … mehr. Was für ein beknackter Gedanke! Was gab es schon mehr? War nur ein Bedürfnis, das ultimative Bedürfnis, aber nicht gerade Sartre. Wenn Kunibert aufs Klo musste, dann ging er eben … Wenn Kunibert ficken musste, dann ging er eben … Aber dennoch. Das Haus war komisch ohne ihn. Und was, wenn ihm doch etwas passierte? Wenn er doch in eine Falle ging, oder es nicht safe war? Okay, so beknackt war Kunibert nun gewiss nicht. Aber Logik und Geilheit waren bekanntlich Erzfeinde. Und der Gedanke, dass Kunibert Sex hatte … wie er da wohl war …? Nein … oder …? Kuniberts Götterknabenkörper an irgend so einem niveaulosen Hirni … Na ja, er war ja auch nicht gerade nach intellektuellen Kriterien vorgegangen. Dennoch … Kunibert nicht die Steine – oder ihn – anlächelnd, den Laptop beschimpfend, Essen kochend, Feuer machend, Monopoly spielend, Filme guckend … sondern so? Er wünschte, es wäre unvorstellbar. War es aber nicht, zumindest nicht komplett. Das war beängstigend – aber auch nicht, zumindest ein kleines bisschen. Die Haare zerwuselt, die Muskeln angespannt und zuckend … oh weh … Und das arbeitete der jetzt an irgendeinem Nichtskönner ab. Das hatte Kunibert echt nicht verdient, aber vermutlich kannte er es nicht anders. Cedric konnte sich zumindest nicht vorstellen, dass Kuniberts Erfahrungshorizont da so weit ging nach dem ganzen Monogamie-Kram mit seinem komischen Jakob. Vier Jahre … in der Zeit seines Lebens hatte er ganz andere Dinge getrieben. Trotzdem … Cedric ließ die Schultern hängen, drehte sich um und schlurfte zurück Richtung Bett. Er hatte absolut kein Recht, Kunibert Vorhaltungen zu machen. Er wünschte nur, er würde das eben nicht tun. Er ließ sich auf die Matratze fallen und rollte sich um sein Kissen. Was wäre, wenn das jetzt Kunibert wäre …? Aber er konnte das nicht. Das ging nicht mehr. Das war nur ein Relikt. Aber die warme Haut … Das war nicht dasselbe! Das war absolut nicht dasselbe. Auch wenn es noch so weh tat. Kapitel 25: Ein kleines Bisschen mehr ------------------------------------- XXV. Ein kleines Bisschen mehr Kunibert lehnte keuchend gegen eine Wand, die gewiss nicht besonders hygienisch war. Aber das war gerade nicht der Punkt. Das hier … hatte er noch nie getan. Einfach in eine Bar und mit dem Ersten mit, der ihm optisch gefiel. Kein Flirt, nur Augenkontakt, ein paar Worte und dann ab in eine dunkle Gasse, wo sich schon andere vergnügten, wie das geile Seufzen und Stöhnen von überall her verhieß. Und jetzt … war er einer von ihnen. Heiße Lippen schlossen sich um sein brennendes Geschlecht. Endlich … Berührung … ein anderer Mensch … ein Schwarzhaariger mit markanten Zügen, aber das war fast egal … nur fühlen, fühlen, die Hitze, den Druck … seinen hungrigen Körper … Es dauerte nicht lange, bevor er unter dem kundigen Zungenschlag des anderen explodierte. „Scheiße!“ lachte der. „Du hattest echt Druck, was?“ „Ja …“, stammelte Kunibert benommen. Der andere Mann stand auf, grinste breit, noch immer sein Sperma auf dem Gesicht verteilt. „Jederzeit gerne mehr“, grinste er, kramte in seiner Tasche, drückte ihm einen Adresszettel in die Hand und wischte sich mit einem Taschentuch halbwegs sauber. „Ruf mich an, wenn dir mal nach einer richtigen Nummer ist. Bist du ein Top?“ „Äh … wohl ja …“, murmelte Kunibert, ungelenk den Zettel in die Hosentasche stopfend, während er mit der anderen Hand sein Bestes gab, sich wieder zu verstauen. „Ausgezeichnet!“ frohlockte der andere. „Du bist echt rattenscharf. Ruf mich an! Frag nach Alexandre!“ „Okay …“, erwiderte er und wankte davon. Garantiert nicht. Jetzt, wo die Erregung verflogen war, fühlte er sich nur schlecht. Freiheit? Das sollte die viel besungene Freiheit sein? Er fühlte sich wie ein Affe, der sich an einem Bananenbaum gewetzt hatte. Dabei war das ein Mensch gewesen! Alexandre. Aber … er hätte sonst wie heißen können, das war hier völlig irrelevant. Hier war man kein Mensch, nur … geil … Und das war er gewesen, und dann waren da immer diese Sommersprossen vor ihm aufgetaucht … Das hier war die Alternative?! Ganz blöde Idee. Okay, die Erfahrung musste man wohl mal gemacht haben. Aber das hier war es nicht, nicht für ihn. Mochte man ihn einen Spießer schimpfen. Aber jetzt fühlte er sich nur eklig. Er wollte nach Hause. Oh Gott, er hatte Cedric allein gelassen! Hoffentlich war alles okay mit ihm, hoffentlich hatte er nichts mitbekommen, hatte einfach nur weiter geschlafen! Warum hatte er das eigentlich getan? Ach ja, weil sein dämlicher Schwanz danach geschrien hatte … aber nicht hier nach, Dreck! ……………………. Als er am nächsten Morgen endlich etwas übernächtigt in die Puschen kam, hatte Cedric bereits Brötchen geholt und saß mit überkreuzten Beinen Zeitung lesend auf seinem Platz in der Küche. „Du hättest nicht warten müssen mit dem Essen“, murmelte er zu ihm, als er mit hängendem Kopf hinein schlurfte. Cedric sah ihn scharf an, legte die Zeitung weg und sagte nichts dazu. Der hatte das mitbekommen, der Zettel war auch weg gewesen … „Ich habe dir ein Brötchen mehr mitgebracht – Katerfrühstück“, meinte er nur. „Ich habe nichts getrunken, bin ja gefahren“, wehrte Kunibert ab und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, der daraufhin missmutig ächzte. „Das meinte ich nicht“, sagte Cedric nur ruhig. „Danke auf jeden Fall!“ stöhnte Kunibert und grub sein Gesicht kurz in die eigenen Hände. Irgendwie fiel es ihm schwer, Cedric jetzt direkt in die Augen zu schauen. „Was, keinen Spaß gehabt?“ bohrte Cedric harmlos. „Anfangs: ja. Dann: nein“, gestand Kunibert beschämt. „Ist schon okay … Es ist nur Spaß, mach dir nicht so einen Kopf“, riet Cedric, butterte sein Mohnbrötchen und belegte es sorgsam mit Serrano-Schinken. Cedric wusste also haargenau, was los war – und war trotzdem ganz cool. Okay, Cedric hatte es viel doller getrieben als er, da schockte ihn das wohl nicht so …? Aber dennoch fand Kunibert die Reaktion verwirrend. „Nein“, erwiderte er, „ist es nicht. Ich bin ungeeignet. Wahrscheinlich die totale Enttäuschung für die schwule Welt. Ich bin echt ein moralinsaurer Langweiler.“ „Quatsch“, meinte Cedric ungerührt. „Du bist bloß … ein bisschen anders.“ „Wie – anders?“ wollte Kunibert misstrauisch wissen. „Weiß ich nicht“, sagte Cedric und sah ihn aus seinen stechenden grünen Augen an. „Eben anders. Deswegen bist du hier – und der Rest der Welt nicht. Deswegen mag ich dich – und den Rest der Welt nicht. Deswegen rennst du hinter den Steinen her – und der Rest der Welt nicht. Deswegen machst du mit deinem Freund Schluss – und der Rest der Welt nicht. Deswegen bist du die Monsterbanane – und der Rest der Welt nicht.“ Kunibert musste fast lächeln. „Ja, wahrscheinlich.“ „War er echt so unfähig?“ fragte Cedric und zog eine seiner dunkelroten Augenbrauen hoch. Kunibert zuckte betreten mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Habe nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten. Aber selbst, wenn er der Oberkönner gewesen wäre … die Situation, das ganze Gehabe … nein. Nicht meins. Du darfst ruhig lachen.“ „Ich lache nicht“, erwiderte Cedric ernst und machte sich an den Blauschimmelkäse. „Aber … Cedric“, presste Kunibert heraus. „Ich glaube trotzdem … ich sollte besser ausziehen … etwas Eigenes zum Wohnen finden …“ „Warum?“ fragte Cedric alarmiert. ………………………………………………………………………………………….. Kunibert wurde puterrot. Seine Finger schlossen sich um sein Brötchen, dass es nur so krümelte. Cedric fühlte, wie seine Unterlippe einsam vor sich hin schlabberte. Natürlich begriff er. Sein Herz raste plötzlich … nicht weg gehen … ich kann das nicht … oberheiß … mein Freund … Einsamkeit … ihre Routinen … anfassen … nettes Arschloch … und … und … und … „Du … du … bist scharf auf mich …?“ stammelte er verstehend. Kunibert wurde sogar noch röter, rätselhaft, wie das ging. „Ich …“, keuchte er, „du bist mein Freund … und ich habe dich sehr gern … ich weiß ja, was … und ich … ich respektiere das!!! Natürlich! Ich fühle mich so mies. Aber … ich bin … ich bin … eben kein Mönch … und das andere … kann ich nicht … ich mag das nicht … ich will das nicht … und … Wir hängen uns hier ständig auf der Pelle … und du hast so viele Sommersprossen!“ Cedric konnte ihn nur wortlos anstarren. Es machte ihm keine Angst. Es schockierte ihn nicht. Aber dennoch war er im besten Falle wirre. Er schluckte mehrfach hart. „Kunibert …“, flüsterte er. „Ich … ich habe dich auch gern … Und ich bin auch nicht total blind! Aber ich weiß nicht … ich weiß nicht … ob ich das kann …“, brachte er hervor. Kunibert! Nicht weggehen … Freund … und …? „Was?“ fragte Kunibert und starrte ihn aus riesigen blauen Augen an. Cedric schloss die Augen. „Ich bin echt ziemlich im Arsch. Und ich will, dass du da bist. Aber … ich bin nicht tot! Der alte Cedric, ja, irgendwie? Aber mir ist auch nicht alles abgefallen! Ich habe eine Höllenangst! Aber es ist noch da. Irgendwo. Und es sagt mir … irgendwie … eben mehr als Freundschaft ... ganz, ganz blöd …weiß ich auch nicht… Wenn du jetzt erst recht abhauen willst … okay …“, gestand er ihm zu. Irgendwie war ihm ganz merkwürdig. Irgendwer hatte ihm eine Grille ins Herz, ein Schaf in den Magen und eine Schildkröte ins Hirn implantiert. Kunibert schwieg kurz. „Ich will nicht weg“, gab er zu. „Aber ich will dir nicht weh tun! Dir Angst einjagen! Dich verletzen! Ich weiß auch nicht, was ich will … wohin ich will … aber hier … ist es gut. Echt. Und dann … dann warst du am Fenster, morgens … du hast mich nicht gesehen, du hattest überall Sommersprossen … und ich … so etwas habe ich noch nie gesehen … da ist mir irgendwie eine Sicherung raus gesprungen, aber ich musste ja irgendetwas tun!“ „Deswegen bist los?“ fragte Cedric ungläubig. Die Brötchen waren längst vergessen. Kunibert ließ nur den Kopf hängen. „Ich dachte, das sei eine Alternative“, gestand er schließlich. „Wird ja immer gesagt: locker-flockig, ohne Konsequenzen, nur Spaß … ich wollte dich nicht behelligen, aber irgendwo musste es hin! Du solltest dich nicht bedroht fühlen, indem ich dich anglotze oder so! Aber das geht nicht … ich kann das nicht …“ Cedric konnte nur benommen den Kopf schütteln. „Das ist echt das Netteste, das je einer für mich getan hat“, sagte er schließlich. „Dass ich mich in irgendwelchen dunklen Gassen herum getrieben habe?“ schnaufte Kunibert fassungslos. „Irgendwie ja“, grübelte Cedric. „Irgendwie ja. Und ich bin echt … lädiert.“ „Ich weiß“, nickte Kunibert geschlagen. „Du hast mich am Fenster gesehen?“ fragte er. „Ja … du wolltest den Griff ermorden“, murmelte Kunibert und starrte in seine Kaffeetasse. „Von vorne?“ bohrte Cedric nach. Das Viehzeug in seinen Organen kam in Bewegung, ohne dass er es hätte stoppen können. Kunibert nickte. „Okay …“, meinte er und stand auf. Kuniberts Blicke folgten ihm. „Dann schau jetzt genau hin. Das bin ich … von hinten.“ ………………………………………………………………………………………………… Cedric zog etwas zittrig mit den Fingern sein Shirt hoch, nur ein kleines Stück, aber es reichte. Auch sein Rücken war ein einziges Universum aus Sommersprossen – durchzogen mit einem irrwitzigen Geflecht heller Narben. „Oh Gott!“ stammelte Kunibert entsetzt. Cedric ließ sein Shirt wieder fallen und drehte sich zu ihm um. Er blickte ihn seltsam ruhig an. „Immer noch so inspirierend?“ fragte er. „Oh Gott, Cedric!“ konnte Kunibert nur wiederholen. „Was haben sie dir angetan?!“ Cedric sah ihn nach wie vor schweigend an. Dann sagte er: „Findest du mich immer noch geil?“ „Nein“, erwiderte Kunibert, sich wieder halbwegs fangend. „Ich finde dich schön. Das ist ein Unterschied.“ „Ich bin aber keiner deiner Steine“, wies Cedric ihn zurecht. „Nein … bist du nicht. Du bist kein Stein. Du bist Cedric. Es gibt Tausende von Steinen – aber es gibt nur einen Cedric“, sagte Kunibert stur und blickte ihm ins Gesicht. „Aber jetzt ist dir alles vergangen …?“ wollte Cedric wissen. Kunibert lachte nur etwas verzweifelt. „Leider nicht. Du bist doch nicht nur … dein Körper. Und auch mit den Narben … das spielt keine Rolle. Darum geht es nicht! Nicht wirklich. Es ändert gar nichts. Ich verstehe nicht … aber du bist auch so wunderschön … wie ein Labyrinth … was haben die dir angetan …?“ „Das ist … nicht mehr von Bedeutung. Was genau, das darf nicht … nicht mehr … Das ist vergangen. Nicht jetzt. Wir sind jetzt. Hier. Was … was ist das … wir … Freunde … aber mehr …?“ wollte Cedric zögernd wissend, immer noch aufrecht vor Kunibert stehend. Kunibert musste ausnahmsweise mal den Kopf in den Nacken legen. „Ich weiß nicht … es ist gut … will helfen … aber …“, stammelte er. Cedric sah hinab. Kunibert hatte nicht bloß einen äußerst ansehnlichen Körper, sondern auch ein wirklich schönes Gesicht, das er gern hinter seiner Clowns-Maske verbarg, hohe Wangenknochen, sanft geschwungene, blonde Brauen, eine scharfe, dennoch wohlformte Nase, einen üppigen, männlichen Mund … wirklich, einer der schönsten Männer, die er trotz ausgiebiger Studien je gesehen hatte. Oder kam ihm das nur so vor? Warum? Weil er die Person dahinter mit all ihren Spleenigkeiten nicht nur sah, sondern auch mochte? Kunibert war nicht bloß ein Bild, er war … ganz. Kunibert eben. „Kunibert …“, hörte er sich sagen. „Ich weiß nicht, was mit mir ist. Aber das, was du fühlst … ist schon okay … Ich bin nicht sauer. Du machst mir keinen Schiss. Ich weiß ja, dass du niemals … niemals … Weißt du, Oberarschloch-Cedric ist auch nicht ganz so hinüber, auch wenn er längst nicht mehr das Sagen hat. Ich bin nicht einfach … und ich weiß echt nicht … aber … aber … ich mag dich auch nicht nur …“ Kunibert starrte ihn einfach nur mit offenem Mund an. „Kunibert …?“ versuchte Cedric ihm irgendeine Reaktion zu entlocken. Kunibert schüttelte sich leicht. „Was geht hier vor?“ flüsterte er. „Weiß … weiß ich auch nicht so recht“, gestand Cedric, dem seltsam schwindelig war. „Aber ich will … bei dir sein … irgendwie …“ Kuniberts Hand streckte sich nach ihm aus. Nach einem kurzen Zögern ergriff Cedric sie und ließ sich heran ziehen. Kunibert roch so gut … wie ein Duft-Kokon, in den sonst niemand eindringen konnte … Er senkte den Kopf, seine Gedanken purzelten durcheinander, seine Hand griff in Kuniberts Haar … er war gestreichelt worden, aber er konnte das auch … und dann drückte er seine Nase ganz kurz in das blonde Chaos, das noch immer ein bisschen feucht von der Dusche war. Gut … auch etwas angsteinflößend … aber es war auch gut … nicht sinnlich, sondern keusch, tastendes Vertrauen, wankendes Drängen … was wollte er …? Das hier … Kuniberts Hand tastend etwas zitterig in seinen Haaren … so … was war das …? Zärtlich. Das war es. Ehemals gleichbedeutend mit albern und sentimental. Hier nicht. Kunibert sah ihn staunend an. „Cedric …“, sagte er. Cedric ließ sich einfach treiben, ließ den Kopf gegen Kuniberts sinken, fühlte die Wärme des nahen anderen Körpers, Kuniberts Hand bebend auf seiner Schulter … das hier war der schlimmste Exzess ever … nicht sein Körper … aber auch … und der Rest … alles … so gut … in Kunibert verkriechen … ihn beschützen, den elenden Steine-Deppen … Er war irre geworden. Machte nichts. „Ich hätte nie gedacht, dass das je über meine Lippen kommen würde, warum haben dich deine Eltern nicht Max, Christian oder Paul nennen können …“, flüsterte er. „Aber: Kunibert … oh, Kunibert … Geh nicht fort von mir …“ Oh Gott! Er bat um etwas! Er war so jämmerlich! Oder? Zu spät. Es war raus. „Mache ich nicht“, murmelte Kunibert nur. „Mache ich nicht … Ich will doch gar nicht weg …“ Kiffen war nichts dagegen. So gut … so gut … Kunibert wollte bleiben … wollte ihn … aber er konnte das doch gar nicht … Er hob den Kopf. „Es ist doch völlig okay“, sagte er, „wenn du, wenn es dich juckt, um die Blöcke ziehst.“ „Nein“, sagte Kunibert und schüttelte sich ein kleines Stück lösend resolut den Kopf. „Das ist nicht mein Ding. Ganz unabhängig von dir. Ich hab’s versucht … aber: nein. Will ich nicht. Monsterbanane hat gesprochen. Es geht ja nicht nur darum. Bitte … denk nicht immer sofort daran! Das … das ist doch irgendwie gar nicht der Punkt hier …? Fühl dich um Gottes Willen zu nichts gedrängt! Dein Rücken … oh Gott! Besser ein Schritt zu wenig als einer zu viel. Oder eben gar kein Schritt. Da bin ich wie die Steine … ich bin da, ich kann warten. Und ich bleibe auch stehen, wenn gar nichts passiert. Das, was immer hier gerade geschieht … ich weiß es auch nicht, aber dagegen kann das andere nicht anstinken? Aber darf ich …“ „Ja … hol dir ruhig im stillen Kämmerlein bei Bedarf einen runter“, gestand ihm Cedric halb lachend halb seufzend zu. „Tust du doch eh schon, oder? Das ist völlig okay, brauchst‘ kein schlechtes Gewissen haben ... Und davon bin ich bisher jetzt auch nicht krepiert. Dein kleines, dreckiges Geheimnis …“ „Hey, das meinte ich nicht!“ protestierte Kunibert errötend. „Hör auf ständig daran zu denken! Ich bin kein …“ „Du bist ein Mann. Ein schwuler Mann. Und … das, was hier läuft, ist eben nicht bloß platonisch, wie es aussieht. Aber ich brauche echt …“, setzte er an. „Zeit, natürlich“; ergänzte Kunibert. „So viel du eben brauchst. Selbst wenn nicht … ich habe dich trotzdem gern. Ich bin dein Freund, so oder so.“ Kuniberts Hand streichelte weiter durch sein Haar. „Du bist ein Idiot“, meinte Cedric irgendwie verzückt, drehte den Kopf und blickte ihm ins Gesicht. „Aber kein blöder Idiot. Ein netter Idiot.“ „Damit kann ich leben“, grinste Kunibert. Bei dem Anblick konnte Cedric auch nicht anders als lächeln. „Du kannst es ja doch!“ sagte Kunibert leise lachend. „Was denn?“ fragte Cedric verwirrt und lachte einfach grundlos mit. „Lächeln. Lachen“, sagte Kunibert und strich ihm etwas zögerlich mit dem Daumen über die Wange. Seine Haut prickelte merkwürdig bei der Berührung … warnend, aber irgendwie auch erstaunt angetan. „In der Tat … ich muss krank sein. Ich sollte dringend zum Psychiater“, erwiderte Cedric kurz ernsthaft, dann lachte er wieder. Das war so völlig verrückt, was war das nur, was war das nur … als würde sein Hirn an einen Helium-Ballon geknotet gen Himmel aufsteigen … Er wandte sich mit dem ganzen Körper Kunibert zu. Sich auf die Lippe beißend fragte er: „Darf ich?“ Kunibert nickte stumm und sah wieder zu ihm auf. Da war etwas in seinen Augen … in seinem ganzen Gesicht … seit wann fragte er …? Er nahm …? Nein … Und das hier … das konnte er … vielleicht … ausprobieren … Er trat einen Schritt vor und schlang Kunibert die Arme um den Nacken, zog langsam ihn an sich, atmete tief diesen warmen Geruch ein und schloss die Augen. ………………………………………………… Kunibert wagte kaum zu atmen aus Angst, plötzlich aufzuwachen … aber er war wach. Und nicht er war es, der seine Arme um einen von seiner Panik bedrohten Cedric schlang, sondern Cedric war es, der ihn hielt, ihn drückte, ihn fast unmerklich streichelte, ein vorsichtiges, tastendes, sich versicherndes Geben. In Kunibert stand alles Kopf. Was geschah da bloß gerade? War das nicht fast egal, wenn es sich so anfühlte, und wenn man sich irgendwie so völlig sicher war, dass es richtig war? Sein Bauchgefühl nickte bedächtig vor sich hin und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Aber sein Kopf verstand nur Bahnhof. Er wusste ja schon lange, dass er Cedric gern hatte, dass der Cedric, den er kennengelernt hatte, das einfach irgendwie, irgendwann in ihm wachgerufen hatte, mochte er früher auch ganz anders gewesen sein. Aber dieser Cedric war nicht kalt und versteinert, nicht mehr, dieser Cedric … war sein Cedric, sein Freund und der Mann, den seine blöden Sinne nun einmal begehrten. Seit er hier angekommen war, drehte sich alles irgendwie um Cedric, mal in fernen Bahnen, mal so nah, dass ihre Oberflächen aneinander kratzen. Aber Cedric war kein Schwarzes Loch, sondern wie ein Planet nach einer Katastrophe, der sich wieder zu drehen begann und Gravitation erzeugte. Kein liebliches Elflein, kein Nullachtfünfzehn-Typ, sondern … egal, Cedric. Aber ihm war schon klar, dass das mit ihnen, was immer es genau sein mochte, wo immer sie das hinführen mochte, auch nicht gerade Standard sein würde. Es war völlig undenkbar, ihn einfach leidenschaftlich an sich zu reißen und ins Schlafzimmer zu schleifen und seine Sehnsucht zu erfüllen. In Cedrics Schlafzimmer erst Recht nicht, dort lauerten nach wie vor diese abscheulichen Kommunisten-Ratten. Jeder echte Kommunist war ihm dagegen absolut sympathisch. Oh man … aber so lagen die Dinge eben … die Menschen waren keine ewig gleichen Stereotypen, auch wenn Cedric wahrscheinlich doch noch deutlich spezieller war als der Rest. Geduld … er würde Geduld brauchen … und es notfalls auch akzeptieren können, dass sein physisches Begehren so eben nicht erfüllbar war. Das war schon … hart, aber Cedric zu bedrängen, nein, das ging nicht, das ging ganz und gar nicht … Aber diese Sache da an der Mauer … nein … oh weh … Geduld … Geduld … Hoffnung und … überhaupt, das Beste war sowieso, diese Freude auf Cedrics Gesicht zu sehen und zu wissen, dass er sie hervorgerufen hatte, irgendwie … Cedric streichelte noch immer etwas linkisch durch sein Haar, als sei ihm diese Geste völlig neu. „Was ist das nur?“ hörte er ihn eher zu sich selbst murmeln. „Was ist das nur?“ Er langte nach oben und legte seine Hand vorsichtig auf Cedrics Schulterblatt. Er zuckte nicht zurück. „Das ist … das ist gut“, flüsterte Cedric. „Das ist gut so … wie armselig, verrückt und …“ „Schon okay, mach dir keine Gedanken“, sagte Kunibert zu ihm. „Ich will …“, setzte Cedric an und schien irgendwie seine Ohren faszinierend zu finden. Ihm hatte noch nie jemand die Ohrmuschel derart akribisch gestreichelt, aber dennoch wollte er diese Erfahrung gewiss nicht missen. „Ich muss … lernen“, beschloss er. „Muss es wieder lernen. Händchenhalten kann ich ja schon. Und das hier … auch. Oh Wonne, oh Glück. Ich war so eine Schlampe … und auch stolz drauf! Himmel … aber … echt, ich fange hier so ziemlich bei null wieder an.“ Kunibert löste sich ein Stückchen und blickte zu ihm hoch. „Da werde ich dir auch nicht weiterhelfen können“, sagte er, während er völlig zusammenhangslos grinste. „Mit Schlampen und schlampig Sein kenne ich mich wiederum null aus. Und das musst du doch gewiss nicht sein – willst du doch auch gar nicht. Aber das andere … ich meine … öhm … wie nennt man das am besten? Intimität? Suchst du das? Nicht um meinetwillen, bitte …“ „Nein! Nein …“, beruhigte ihn Cedric. „Das ist gewiss keine Gefälligkeit – so verzweifelt bin ich auch nicht, dir das als Bestechung in Aussicht zu stellen, damit du bleibst, und es doch nicht erfüllen zu können. Nein … ich will das ja … ein Funke davon ist nach wie vor da, es ist nicht … aus, nicht völlig, aber es macht mir schon … Angst, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Aber ich muss – und ich will. Ein bisschen wieder … ich sein. Frei … frei sein … von der Furcht, von der Erinnerung… Wieder fühlen können… mich, dich… aber … das kann ich eben nicht mal eben so … Hältst du das durch? Kann auch sein, dass ich scheitere, aber ich werde es probieren.“ „Klar halte ich das durch. Du willst mir schließlich keine Nadeln unter die Fingernägel jagen – und mein Leben dreht sich um viele Dinge …“, erinnerte ihn Kunibert. Cedric wiegte sich nachdenklich hin und her. „Ach man, Kunibert… das mag zwar sehr edel sein, aber Biologie ist Biologie. Irgendwann ist das Fass voll. Bei dir wahrscheinlich später als bei anderen, mag sein, aber wenn es so weit ist … wie gesagt, ich bin da nicht kleinlich.“ „Ich aber“, sagte Kunibert. „Und jetzt… wie wär’s, wenn wir was machen?“ „Monopoly?“ ächzte Cedric. Kunibert musste lachen. „Nein … was … es ist wunderschön da draußen. Arschkalt, sicher, aber … warst du als Kind auch im Winter hier?“ wollte er wissen. Cedric nickte und tastete weiter durch sein Haar mit kurzen Exkursionen zu seinen Ohren. „Was hast du damals gerne gemacht? Mit deinem Opa meine ich?“ fragte Kunibert. „Äh … wir waren spazieren … sind Schlittschuh gelaufen auf dem Tümpel hinten im Wald … wir haben Schneemänner gebaut … Kindersachen eben“, erzählte Cedric. Kunibert löste sich vorsichtig und stand auf. Er sah runter. Cedric war für hiesige Verhältnisse eigentlich keineswegs winzig, eher unterer Durschnitt – er selbst war einfach ein langes Elend. Wenn er stand, reichte ihm Cedric gerade mal bis zur Brust, aber das spielte keine Rolle. Eigentlich hatte er es nie mit den Kleinen, Zarten gehabt, aber Cedric war so absolut anders, dass es einfach schnuppe war, dass sie zusammen aussahen wie Mikey Mouse und Goofy. Er senkte den Kopf und drückte kurz etwas fassungslos darüber, dass das hier wirklich geschah, seine Lippen auf Cedrics Flammenhaar. Nur fühlen, nicht küssen. „Schlittschuhe haben wir nicht“, sagte er. „Aber Handschuhe. Und geschneit hat es auch. Komm, lass uns einen Schneemann bauen.“ Cedric legte den Kopf in den Nacken und sah ihn kurz an, als habe er sie nicht mehr alle, dann aber lächelte er erneut. „Du bist echt bekloppt. Aber ich bin auch bekloppt. Also gut. Bauen wir einen Scheiß-Schneemann. Ich habe sogar noch eine Karotte in der Küche gesehen. Kohle … mmm … geht auch Rattenscheiße? Nein, zu klein … verbranntes Holz aus dem Kamin? Hut … Hut wird schwierig …“ „Die Strickmütze, die mir meine Schwester geschenkt hat! Ich hasse das Teil!“ fiel Kunibert ein. „Ist die geschmackvoll oder was?“ wollte Cedric wissen. „Naja … sie ist regenbogenfarbend, weil sie meint, ich sollte auch mal für die Rechte der Schwulen demonstrieren gehen …“, erklärte Kunibert. „Ähhh!“ ekelte sich Cedric. „Da bin ich mehr für Worte als für Gesten … her mit dem Teil!“ „Gebongt!“ nickte Kunibert und flitzte los. ………………………………………………… Cedric musste zugeben, dass er wohl etwas neben sich stand. Er baute einen Schneemann. Mit Kunibert. Seinem Freund. Seinem … mehr als Freund. Und es war echt ganz okay. Ganz witzig, wenn man einen auf Mini-Monsterbanane machte. Aber wessen Meinung zählte hier wirklich? Eben. Ein bisschen Monsterbanane war schon in Ordnung. Eine Riesenhilfe war er nicht, Kunibert war echt ein Bastelfreak und nun mal deutlich engagierter und kräftiger als er, aber dennoch tat es gut, einfach mal eine Runde kindisch zu lachen. Das war … aufregend, genau. Sie hatten einen Schritt getan, irgendwohin, gemeinsam und jetzt … jetzt waren sie eben … mehr. Was auch immer. Sie eben. Und es gab wieder … Dinge. Möglichkeiten. Leben. Ein bisschen. Konnte immer noch in die Grütze gehen, gewiss, aber jetzt … jetzt nicht. Er war nicht allein, nicht mehr, es gab ihn und Kunibert, und sie lebten hier und trieben Blödsinn am Rande des Steinfeldes. Ihre Nasen wurden rot vom Frost, und Cedric musste lachen, als Kunibert die Demo-Mütze feierlich auf das Haupt des Schneemanns stülpte. Das sah echt Scheiße aus … gut, dass Kuniberts Schwester das nicht sah. Der kurze Blick, den er im Krankenhaus auf sie hatte erhaschen können, hatte ihm deutlich gesagt, dass mit dieser Nachwuchs-Walküre gewiss nicht gut Kirschenessen war. Wahrscheinlich haute die Kunibert platt, wenn sie das hier spitzkriegten sollte. Da beneidete er Kunibert nur bedingt – aber wenn er noch Geschwister gehabt hätte, würden ihn alle wahrscheinlich viel eher noch in Ruhe lassen. Aber so gab es keinen Ersatz auf der Haupterben-Bank, nur die zweite Wahl … Tja, Pech gehabt, er war nicht auf der Welt, um nach deren Pfeife zu tanzen. Es wurde früh dunkel zu dieser Jahreszeit. Nachdem der Schneemann vollendet war, spazierten sie schweigend zwischen den Steinen umher, bis es gar nicht mehr ging. Als sie zurück ins Haus traten, waren sie trotz dicker Kleidung ziemlich durchgefrostet. Er trabte in die Küche, machte Tee, Kunibert warf den Kamin an, dazu brauchten sie keine Worte. Einmütig schlürften sie ihre Heißgetränke und starrten in die Flammen, und es war gut wie jeden Abend. Aber … das war eben jetzt nicht mehr alles. ……………………………………… Die Tage zogen ins Land, wurden Wochen, und sie füllten sie auf gehabte Weise. Doch nun kam auch dieses Neue dazu, dieses „mehr“, dieses „sie“. Berührungen. Vorsichtig, aber stetig. Versichernd, nicht fragend oder nach mehr bittend, gar drängend. Kunibert schien es irgendwie genau zu wissen, wie es ging, wo die Grenze war. Und die Furcht, die in ihm lauerte, bekam keine Nahrung, so dass er begann, sie immer mehr zu vergessen, wenn Kunibert einen Arm um ihn schlang oder ihm ein keusches Küsschen auf die Stirn zu geben wagte. Es war die Art von Zärtlichkeit, die auch Geschwister in Familien teilen mochten, in denen es liebevoll zuging. Von solchen Familien hatte Cedric wenig Ahnung, aber es sollte sie ja geben. Doch ganz tief in ihm war etwas, das ihm irgendwann begann zu flüstern, dass das noch nicht genug sei. Für ihn. Er war immer schon gierig gewesen. Und er wollte auch nicht auf ewig verharren, das hatte er lange genug getan. Er lauschte. Wartete. Dachte nach. Diskutierte mit den Ratten darüber. Stelle sich vor den Spiegel im Badezimmer und starrte sich an, als wisse der etwas. Immerhin sagte der ihm, dass er tatsächlich noch da war und dass er aktuell deutlich besser drauf war, als es lange Zeit der Fall gewesen war. Er konnte sogar lächeln, ohne dass eine Grimasse daraus wurde. Lächeln, wenn er daran dachte, dass er den Abend auf dem Sofa verbracht hatte, entspannt an Kunibert gelehnt, Hand in Hand und trotzdem noch über die Plattheit des Filmes hatte meckern können. Die Grimasse kam, wenn er daran dachte, dass da durchaus noch etwas in ihm war, dass Kunibert keinesfalls wie seinen lieben großen Bruder wahrnahm. Ab und an flackerte es hoch. Der größte Teil von ihm fand das höchst gruselig, aber da war auch ein Rest, der verzweifelt hoffte und der auch nicht Zombie-Cedric war. Vielleicht weil dieser Rest wusste, dass das Flackern Kunibert galt – und nicht mehr jedem und allen wie einst. Nicht Fleisch, sondern Kunibert, aber auch … viel Sinn ergab das nicht. Aber seine geknickten Antennen nahmen sehr wohl war, dass Kunibert schon mehr in ihm weckte als rein platonische Zuneigung. Blöd nur, dass er mit diesem „mehr“ gar nicht recht umgehen konnte. Also was nur tun? Zurück ging nicht. Stillstand ging, aber das war es nicht, was er bei allem Erschauern wollte. Es ging nur voran. Irgendwie. Er war schließlich immer noch Cedric Kalteis, in welcher Form auch immer. ………………………….. Cedric stellte die Tasse ab und drehte sich zu ihm um. Er lächelte kurz, dann griff er nach Kuniberts Hand. Mit ein paar kurzen Worten verständigten sie sich darauf, den ersten Teil von „Shrek“ auf DVD zu gucken. Inzwischen war Cedric so weit, sich auch neue Filme aus der harmlosen Ecke anschauen zu können, auch wenn er damit zu kämpfen hatte. Dennoch hielt er durch. Jetzt war es ein Mittwochabend, und sie taten, was sie immer taten. Cedric lehnte sich auf dem Sofa gegen ihn und strich ab und an gedankenverloren über seinen Kopf oder sein Knie. Kunibert sah zu, sich auf den Film zu konzentrieren und stillzuhalten. Es war ihm schon klar, dass es ein weiser Entschluss war, Cedric, was Berührungen anging, die Initiative zu überlassen, auch wenn das nicht einfach war. Wie gerne hätte er ihn an sich gezogen … Immer wieder musste er daran denken … Aber da blieben ihm nur sein Kopfkino und eine abgeschlossene Tür. Es war gerade mal halb neun, als der Nachspann lief, und Cedric sagte: „Ich bin müde … war früh auf.“ „Schon okay …“, murmelte Kunibert. „Dann … bis morgen früh…“ Aber Cedric regte sich nicht. Kunibert sah ihn an und fragte: „Was möchtest du?“ Cedric senkte den Kopf und biss sich auf die Lippen. Kunibert überlegte kurz, dann versuchte er sein Glück: „Möchtest du … dass ich … bleibe?“ Cedric schwieg kurz, dann erwiderte er, ein wenig hektisch mit den rot bewimperten Lidern zuckend: „Ja … wenn das geht …?“ Kunibert atmete tief ein. Ein langer Weg … ein erster Schritt. „Sicher“, sagte er. „Das wäre … das wäre schön … wenn du das möchtest? Aber … nicht oben … die Ratten …“ „Schon klar“, antwortete Cedric mit einem leichten Grinsen. „Sonst fressen die noch deine Quanten. Das Bett hier unten … ist ja recht breit … das … das geht schon …“ „So breit auch nicht … also…“, gab Kunibert zu bedenken. Irgendetwas schien ihn zu würgen. Oh Himmel! Das würde nicht leicht werden. Egal! Egal! Egal! „Breit genug! Das muss gehen. Du weißt … aber … aber … ich muss irgendwo anfangen …“ „Klar. Versuchen wir es. Wenn’s nicht geht …“, gab Kunibert zu verstehen. „Verdufte ich. Aber … ich will nicht verduften. Ich will, dass das geht. Einfach nur … nah. Okay?“ fragte Cedric und sah ihn entschlossen an. „Okay“, sagte Kunibert nur. Kapitel 26: Cedibär im Hier und Jetzt ------------------------------------- XXVI. Cedibär im Hier und Jetzt Cedric atmete tief ein. Sie war da die Angst, irgendwo, aber das andere war mehr. Zuallererst war da dieser Geruch. Über die Zeit so vertraut geworden, ein Teil des Alltages, so wie es eben Zuhause roch: Kuniberts Körpergeruch, warm, ein wenig nach billigem Duschgel mit Kaugummi-Geschmack duftend, ein herber Unterton wie die See oder eine im finstersten Wald blühende Blume, die es schon etwas hinter sich hatte. Dann war da dieses Geräusch. Atemzüge. Ohne zu schauen hätte er diesen Laut unter tausenden Kunibert zuordnen können. Und schließlich die Stimme. Sie flüsterte zu ihm: „Es ist gut Cedric … es ist gut …“ „Naja“, sagte er. „Es ist ja … es geht … schon irgendwie … Ich will hier sein! Und ich will … berühren … dich … du … Ach man, Scheiße, Kunibert! Ich weiß, dass ist wahrscheinlich total zum Kotzen für dich, aber, kannst du mich anfassen? Nur so …?“ Kunibert brummelte irgendetwas, dann kam er näher, ein langer Arm schlang sich im Schneckentempo um ihn und zog ihn langsam heran. Er ließ es geschehen und konzentrierte sich auf die Pluspunkte. „Hast du ein Kissen vorm Schritt?“, stutzte er. „Ja“, seufzte Kunibert. „Sicher ist sicher. Das kann man nun nicht immer wirklich kontrollieren – die Folgen schon, aber die Reaktion. Besser ist es so. Ich weiß, wirkt etwas albern, aber was soll’s.“ „Stimmt schon. Danke“, erwiderte Cedric, atmete auf und griff nach dem muskulösen Arm, zog ihn um sich. Nicht schlecht. Es war wie ein warmes, weiches Nest, nichts wirklich Erotisches, noch weit davor, aber echte Nähe. Das ging schon mal. Er fühlte, wie sein Körper sich etwas entspannte. „Cedric?“, murmelte Kunibert hinter ihm. „Was?“, erwiderte er. „Ach, ich weiß nicht. Du riechst wie das Feld, weißt du“, sagte er leise. „Das ist also des Rätsels Lösung! Ich muffe wie dein Fetisch!“, grummelte er. „Quatsch – das ist wissenschaftliches Interesse! Bei dir nicht. Bei dir ist das … weiß nicht. Ist doch egal. Nichts Analytisches auf jeden Fall. Und ich …“, erwiderte Kunibert. „Was?“ wollte er wissen. „Wäre es okay, wenn …? Also naja, das ist wohl zu viel, hab’s ja versprochen“, wiegelte Kunibert ab. „Raus mit der Sprache!“, forderte er und strich dabei vorsichtig über Kuniberts Oberarm. Diese hellblonden Härchen waren einfach … „Ich bin nicht der Einzige, der hier eine Rolle spielt, oder? Das ist es doch, nicht wahr?“ „Okay. Okay, ich … ich würde dich gerne … küssen …?“, quetschte Kunibert raus. „Irgendwann! Wollte es nur gesagt haben, entschuldige.“ Cedric fühlte sich kurz wie der letzte Kaputnik, dann ging er das Szenario durch. Nicht leicht. Aber er hatte ja auch schon darüber nachgedacht. Kuniberts Mund wäre etwas ganz anderes als so eine bedrogte Fresse, die sich hohnlachend auf ihn drückte, bevor es wieder Schläge hagelte, das war schon klar. „Schon gut“, sagte er, innerlich das Bild eines Feldmarschalls vor der Schlacht beschwörend. „Versuchen wir’s.“ Er ruckelte sich herum, fühlte sein Herz klopfen zwischen Ängstlichkeit und Aufregung und … „Was, jetzt gleich?“, erwiderte Kunibert erstaunt. „Warten macht es nicht besser, glaube mir. Ich habe keine Ahnung, ob es jetzt geht oder Morgen oder in dreißig Jahren. Aber solange ich es nicht probiere, werde ich es wohl kaum herausbekommen, wo die Grenze ist. Also …“, stürzte er sich ins Gefecht. Ein wenig schleierhaft war es ihm selbst schon, warum er dieser Meinung war, warum er das Risiko eingehen wollte. Vielleicht, weil das hier seine Wahl war? Er wirklich wählen konnte, wollen konnte oder auch nicht? Und vielleicht auch, weil er gewinnen wollte – und zwar nicht erst in dreißig Jahren. Er trat sich selbst in den Hintern, streckte seinerseits den Arm aus und schlang ihn um Kuniberts Nacken. Sein Atem wollte ihm nicht recht gehorchen. Kuniberts Hand glitt durch sein Haar. Er spannte sich an und wölbte sich vor wie der Protagonist einer kitschigen Ansichtskarte zum Thema „Liebe“. Nur ganz kurz. Lippe an Lippe. Die ab sechs Version. Okay, ging. Nochmal, weiter, ein kleines bisschen länger! Noch mal! Eine eher mechanische Übung. Aber immerhin. Es ging, es ging und es war … war … okay! Und wieder! Da war ein wenig Feuchtigkeit auf ihren Mündern, die die Sache einfacher machte, er wagte ein sanftes Gleiten. Und nochmal, länger, sein Kopf wanderte zur Seite, irgendwelche albernen Sternchen stiegen vor seinen geschlossenen Lidern auf. Nochmal! Wie ein Scheiß-Teenager, aber das verlernte man echt nicht, war wie Fahrrad fahren. Nochmal! Die Hände in Kuniberts Schopf … noch mal, den Mund leicht geöffnet, etwas sackte durch ihn. Noch mal! Noch mal! Sein Mund öffnete sich einen Spalt. Noch mal! Und wieder! Er fühlte sich ein wenig wie ein Specht. Noch mal! Irgendwie hatte sich etwas verselbständigt? Seine Zunge kroch nach alter Gewohnheit über Kuniberts Unterlippe, der tief atmend erst einmal gar nichts tat, bis er ihm schließlich entgegen kam. Nur ein Anstupsen, das war … oh man … gut? Oder? Noch mal! Ganz langsam! Hör auf den Atem, achte auf den Geruch! Das ist Kunibert, niemand sonst! Was für eine alberne Veranstaltung! Als würde er das erste Mal wen küssen. Tja, war ja auch irgendwie das erste Mal, seit … und seit er hier war … und seit er gewagt hatte, ein bisschen ein nettes Arschloch zu werden, nicht mehr bloß Cedric kaputt … Cedric neu … nicht neu … anders … nein auch nicht … wie es eben halt nur ging … vielleicht nicht unbedingt besser, aber er … er wollte das … es ging … gerade so … Keine feuchte Einladung zum Ficken, sondern eben küssen, ein wenig, nicht zu nah, aber nah genug und überwiegend angenehm. Tief unten, da war immer noch dieses „Nicht anfassen!“, er konnte es hören, aber er hörte auch andere Dinge. Kunibert würde ihm nichts tun, er würde sofort aufhören, wenn etwas schief hing., also konnte er ruhig noch ein kleines Bisschen … anstupsen … komisches Gefühl … Haut, ein Mund, eine Zunge, die sich ihm nicht auf die eigene Geilheit bedacht in den Rachen bohrte. Küssen light. Küssen für Anfänger - und für Leute mit einem Trauma anscheinend. Es reichte. Ganz tief unten spitzte auch blödes Arschloch-Cedric die Ohren, aber dieser dämliche Zombie war hier auch nicht am Steuer, konnte er auch nicht, Zombies konnten wahrscheinlich nicht gut fahren, sondern setzten gleich alles mit Volldampf gegen die Wand. Und er selbst war kein Zombie, er würde das hier nicht vergeigen! Kunibert löste sich vorsichtig von ihm, Cedric konnte seinen Atem auf seiner Lippe spüren. „Alles gut?“, wurde er leise gefragt. „Ja, es ist okay“, erwiderte er wahrheitsgemäß. „Es ist ein ein Anfang. Ich glaube mehr kann ich nicht, noch nicht, aber es ist gut! Die Vorteile überwiegen die Nachteile. Und es ist echt total abgedreht, dass das geht! Oder auch nicht. Du bist echt sowas von bescheuert, dass du dir das antust, und sowas von seltsam, dass du es kannst. Aber deswegen kann ich wohl auch. Wie auch immer, danke.“ „Ist mir ein Vergnügen“, lachte Kunibert leise, aber es lag kein Spott in seiner Stimme. Der Trottel freute sich wirklich. Aber er war nicht irgendein Trottel, sondern sein Trottel. Er bewegte sich ein wenig, bis er eine angenehme Schlafhaltung gefunden hatte, Kuniberts Steineklopper-Oberarm als Kopfkissen missbrauchend. Der aktuelle Horror-Pyjama war aus Fleece oder so, kuschlig weich. Er griff nach der Bettdecke und zog sie über sich. Draußen war es eine eiskalte Winternacht, hier drinnen war es warm und gemütlich – und sicher. Kunibert sah ihn von der Seite an. „Tut mich echt leid, dass ich so kaputt bin“, murmelte Cedric. „Vergiss es“, sagte Kunibert. „Du bist nicht kaputt. Und ich finde es eigentlich auch ganz schön, ein bisschen zu kuscheln.“ Cedric seufzte. „Das wäre dir zuzutrauen. Kuscheln, oh weh, aber da hilft wohl kein Leugnen. Oh man! Aber na gut. Kuscheln! Tut mir leid, wenn ich das noch ein paar Mal wiederholen sollte, aber dieses Wort gehörte noch nie zu meinem aktiven Wortschatz, das muss ich wohl auch üben. Kuschelnkuschelnkuscheln - besser? Naja, ich tue mein Bestes. Bin ich eben ein Scheiß-Schmusebärchen, wie gut, dass mir mein Fatalismus nicht abhanden gegangen ist. Konnte ja trainieren mit den Ratten. Immerhin habe ich keinen Knopf im Ohr, wie so ein verficktes Steiff-Plüschtier!“ „Was wäre das denn – ein Cedibär? Drücke seinen Bauch und er verspritzt total niedlich Gift?“, schlug Kunibert in aufrecht nachdenklichem Tonfall vor. „Cedibär! Ich muss gleich kotzen, Kunibääärt. Aber die gruselige Wahrheit ist leider, dass „Kuscheln“ für mich auch schon eine Großtat ist“, gab Cedric zu. „Ich weiß“, sagte Kunibert sanft und strich ihm einmal rasch über das Haar. „Und die gruselige Wahrheit ist auch: Ich mag Kuscheln.“ „Ja ja, schon kapiert, aber, na ja, ach, vergiss es. Kuscheln wir eben. Fällt mir auch kein Zacken mehr von aus der Krone. Die ist eh weg. Mir ist irgendwie so, als sei ich Olympiasieger im Marathon gewesen, und jetzt hat mir was die Beine wegrasiert. Manchmal denke ich, sie seien noch da, manchmal tut es nur weh und nichts macht mehr Sinn. Und jetzt gibt es ja solche Prothesen-Dinger, mit denen man dann wieder laufen lernen kann, sogar joggen, oder sie wachsen irgendwie wieder nach, aber wie vorher wird es nie, aber dennoch: Man kann ja auch bei Parolympics gewinnen“, sann er. „Eben. Und vielleicht ist das eine noch viel größere Leistung, wenn einem sowas passiert ist? Aber deine Beine sind noch dran, und das in dir drin, wer weiß …“, murmelte Kunibert und tippte ihm irgendwie komisch ins Gesicht. „Was machst du da?“, erkundigte sich Cedric irritiert. „Ich zähle deine Sommersprossen“, erklärte Kunibert und tippte weiter. „Wenn man das macht, werden sie mehr!“, wand sich Cedric ein wenig. „Das geht doch gar nicht“, wiegelte Kunibert ab. „Mehr Sommersprossen kann man doch gar nicht haben.“ „Auch wieder wahr“, musste Cedric ihm Recht geben. Er gähnte und streckte sich wohlig. Ja, hier war es gut. Ungewohnt gewohnt irgendwie. Kunibert tat es ihm nach und legte sich auch lang. „Gute Nacht, Cedibär“, sagte er leise. „Gute Nacht, du Depp“, erwiderte Cedric, während seine Muskeln sich entspannten. …………………………………………. Als Kunibert die Augen aufschlug, war er einen Augenblick lang etwas verwirrt. Da lag etwas auf seinem Arm. Und es roch nach Steinfeld im Herbst. Cedric. Das Licht, das aus dem Flur hinein drang, zeigte ihm, dass er nicht halluzinierte. Im Raum selbst war es dunkel, die Sonne ging spät auf zu dieser Jahreszeit. Cedric selbst hatte schon halb weggedämmert doch tatsächlich die Nachttischlampe ausgeschaltet. Tiefrotes Haar stand in alle Richtungen ab, Cedrics zartes Gesicht war im Schlaf entspannt, kein Jammern hatte seinen Schlaf belastet. Er atmete ruhig und tief. Es ging ihm gut. Vielleicht nicht für anderer Leute Verhältnisse, aber für seine wohl ja. Kunibert merkte, wie ein Lächeln in ihm aufstieg. Ihm ging es auch gut. Mehr als das, er war glücklich. Wirklich glücklich, nicht scheinbar glücklich, weil alles Offensichtliche zu stimmen schien. Hier stimmte das Offensichtliche gar nicht, zu unterschiedlich waren sie doch in Hinsicht auf Herkunft, Weltanschauung und Schicksal auf den ersten Blick, aber das bedeutete gar nichts, denn das dahinter, das, was bei Jakob gefehlt hatte oder irreparabel verloren gegangen war, das stimmte ganz und gar. Irgendwann in dieser Zeit, an diesem Ort hatte er sich in Cedric Kalteis verliebt. So dumm war er gewiss nicht, dass er das nicht begriff, jetzt da sein Denkorgan den Input etwas verdaut hatte. Und auch Cedric erschien es irgendwie ähnlich zu gehen, obwohl ihm das eventuell deutlich fremder und obskurer erscheinen mochte als ihm. Aber auch das war egal, Kunibert wusste es. Cedric wäre nie im Leben hier, neben ihm friedvoll schlafend in seinem Übergrößenbett, wenn dem nicht so wäre. Der Lichtschein ließ Cedrics Kinn leicht rötlich glänzen, da drohte sich ein zum Haupthaar passender Bartwuchs an. Der Gedanke an Cedric mit einem roten Rauschebart ließ ihn leise auflachen. Er streckte die Hand aus und strich über die genauso gefärbten Brauen. In seinen Augen war Cedric wirklich wunderschön, ganz egal, was für Verletzungen er äußerlich am Körper tragen mochte. Sie erzählten von ihm, seiner Geschichte, seinem Leid, seinem Kampf und seiner Tapferkeit. Cedric murmelte schläfrig, dann schlug er die Augen auf, schaute desorientiert und zuckte heftig zusammen. „Alles in Ordnung, Cedric“, summte Kunibert. Cedric blinzelte und atmete tief durch. Seine Hände umklammerten die Bettdecke, dass die Knöchel weißlich hervor stachen. Dann lächelte er etwas verkrampft und ließ sich wieder in die Kissen fallen. „Morgen!“, stieß er hervor. „Guten Morgen“, wünschte ihm Kunibert zurück. „Und guten Morgen Spongebob…s“, begrüßte Cedric seinen Schlafanzug. „Gemütlich ist er“, bestand Kunibert. „Mmm. Stimmt“, gab Cedric zu, der schließlich darauf genächtigt hatte. „Ein weiterer Grund, das Licht auszumachen.“ „Ist nicht mehr so schlimm mit dem Licht?“, fragte Kunibert vorsichtig. „Geht so. Wird besser. Etwas. Eventuell kann ich auf diese Kinderzimmer-Nachtlichter umsteigen, langsame Entwöhnung“, grollte Cedric ein wenig. „Die gibt’s auch in Spongebob-Form“, informierte ihn Kunibert. „Ich bin begeistert“, grummelte Cedric und setzte sich auf. Sein Haar am Hinterkopf stand tornadoverdächtig ab. Er schüttelte sich etwas, dann musterte er Kunibert mit Röntgenblick. Schließlich lächelte er. „Ich brauch nen Kaffee“, sagte er. „Erst die Brötchen, dann der Kaffee – und dann muss ich arbeiten, sonst beißt mich mein Boss noch“, erwiderte Kunibert. Cedric rappelte sich hoch, stellte sich neben das Bett und streckte sich. „Ich bin nicht dein Boss“, sagte er. „Okay, pro forma schon. Aber wenn ich ein Boss sein wollte, müsste ich nur heim zu Mama und Papa und brav üben, in welchem Billiglohnland es die wenigsten Auflagen gibt. Du bist der Wissenschaftler – also mach. Das ist nur das Hilfe-Ding.“ „Ja, ich weiß. Echt. Also, ich geh kurz duschen“, setzte er an und rollte sich auch aus den Laken. „Warte!“, forderte Cedric von der anderen Seite des Bettes. „Was?“, fragte Kunibert und sah ihn an. „Könntest du, äh, also … wegen der Gewöhnung und so“, druckste Cedric herum. „Cedric! Klartext!“, mahnte er ihn. „Okay, okay! Also: Ich stand immer auf große Kerle mit ordentlich Muskeln. Und diese Kriterien erfüllst du ja mehr als sehr, und … die … die … also, die waren natürlich auch so … und … als du damals dein Hemd ausgezogen hast, da habe ich total die Krise bekommen, klar … und dann … als die Dusche in die Luft geflogen ist, da war das ... nicht so, sondern … egal … auch komisch. Aber … oh Gott, jetzt höre ich mich schon an, wie so ein notgeiler Sack im Stripclub! Okay, also: Würdest du eventuell dein Hemd ausziehen, damit ich dich ansehen kann?“, Cedric grimassierte etwas, während er sich voran stammelte. „Okay“, sagte Kunibert. „Aber du musst mir mein Akademiker-Gehalt echt nicht in die Wäsche stecken. Entschuldige, blöder Witz. Klar. Schau nur. Ist völlig in Ordnung. Ich bin auch nicht prüde, ich komme schließlich aus dem Norden.“ Er griff nach vorne und begann zu knöpfen. Cedric verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und folgte mit leicht offenem Mund und nervös hin und her blitzenden Augen seinen Bewegungen. Kunibert streifte sich sein Oberteil ab und sagte etwas hilflos: „Tada!“ Cedric starrte ihn an und biss sich in die Lippen. Er fühlte sich ein wenig wie eine als besonders toll angepriesene Fleischwurst. „Du bist echt“, sagte Cedric langsam, „ein totaler Klopper, oh Mann.“ „Ist wohl größtenteils genetisch“, murmelte Kunibert. „Meine Mutter ist ja auch so. Ich mache gerne Sport, aber andere viel mehr, ohne dass das so wird, dabei war ich eigentlich nie so wild da hinterher.“ „Ja, das Leben ist nicht gerecht“, nickte Cedric. „Du siehst echt aus wie so eine Naziskulptur von Breker! Okay, die Spongebob-Hose passt da nicht ganz ins Bild - und du bist nun wirklich kein Nazi! Aber das ist schon echt heftig.“ „Naja“, sagte Kunibert etwas betreten. „Kann ich auch nicht viel machen. So sehe ich eben aus. Solange du das nicht abstoßend findest?“ Cedric fing an zu lachen, allerdings nicht übertrieben heiter, dass er beinahe einen Schluckauf bekam. „Abstoßend? Nein! Viel zu sehr das Gegenteil, wahrscheinlich. Deswegen war das am Anfang auch so schockierend. Du bist echt die Steigerung von dem, hinter dem ich früher immer hergehechelt habe – um es dann fertig zu machen. Aber ich will dich nicht fertigmachen! Und von notgeilem Gehechel bin ich auch ziemlich weit entfernt. Aber zumindest kann ich sagen, dass ich dich wirklich … schön finde. Scheiße, was für eine Figur - und das ist echt! Und ich kann nicht loslassen! Was für ein absurder Murks!“ Kunibert raffte das Hemd wieder an sich und schloss es notdürftig – und ziemlich schief. „Ach was, Cedric. So ist es eben. Früher war früher, aber nicht jetzt. Und ich finde es schön, dass du mich attraktiv findest. Finde ich dich ja auch, ohne dass mir davon sofort sämtliche Sicherungen unkoordiniert durchbrennen. Und das ist nur fair – ich habe dich ja auch am Fenster gesehen. Das war zwar keine Absicht, aber ich habe trotzdem geglotzt. Habe mich hinterher scheiße gefühlt, aber dennoch! Wenn du gucken willst, musst, dann, okay, dann strippe ich eben. Ich bin zwar nicht gerade ein Profi, da erwarte bitte gar nichts, und ich will auch nicht behaupten, dass mich das völlig kaltließe, wenn du mich anschaust, aber ich kann trotzdem stillhalten, okay?“ Cedric lachte plötzlich leise auf, aber dieses Mal deutlich harmonischer. „Ein zwei Meter Stripper in einem Kindercomic-Nachtgewand! Da sage mal einer, hier würde man nichts erleben.“ „Wo ich bin, ist Action“, grinste Kunibert. „Apropos – ab geht die Post, sonst sind noch die Mohnbrötchen alle!“ „Das würde ich in der Tat wahrscheinlich nicht verkraften“, gab Cedric zu und flitzte hoch nach oben in sein Bad. …………………………………………… Der da drüben sah nett aus. Hatte blaue Augen … wie Kunibert. Nein, besser nicht. Und der da? Blond … wie Kunibert. Verdammt. Der? War ein Mann … wie Kunibert. Besser heim? Nein, kein Kunibert. Verdammte Hölle auf Erden! Jakob hatte ja gedacht, es mit einigermaßen Haltung verkraften zu können. Die Zeit heilt alle Wunden, sagte man doch – und diese hatte er Idiot sich zum größten Teil selbst gerissen. Wie hatte er nur so verblendet sein können, das Gute in seinem Leben so mit Füßen zu treten? Verdammter Alltag, verdammtes Hirn, verdammte Torschlusspanik - und wofür? Was hatte er gehabt? Einen klugen, liebenswürdigen, bildschönen Lebensgefährten. Und jetzt? Ein Hocker in einer Bar voller Nieten, wie er selbst eine war. Aber das allein war es nicht gewesen. Sie hatten sich ja zusammen gerauft – und dann war Kunibert los zu seinem dämlichen Steinfeld, auf dem dieser abscheuliche Kalteis hockte. Der hatte wahrscheinlich gedacht, im Paradies zu sein, in dem einem die gegrillten Täubchen ganz von alleine in den Rachen flatterten. Der hatte Kunibert irgendwie den Rest gegeben, kein Zweifel. Kunibert war kein launischer Mensch, er musste das wirklich für richtig gehalten haben. Welche Lügen mochte Kalteis ihm präsentiert haben? Kunibert mochte Zweifel gehabt haben, aber dieser Typ hatte garantiert gewusst, wie man sie in eine für ihn vorteilhafte Richtung lenkte. Kalteis! Diese eiskalte Arroganz in dem aparten Gesicht, dieses Bewusstsein, das Zentrum des Universums zu sein, dieser eklige, machtgeile Mistkerl, der hatte ihm seinen Kunibert ausgespannt – und wollte ihn garantiert nicht mal. Nicht ein Cedric Kalteis, der wollte nur das nächste Spielzeug, und Kunibert mochte ihn gereizt haben, weil er gewiss nicht so war wie seine üblichen willigen, grenzdebilen Discohühner, die nur ans Ficken hatten denken können. Oh Gott, und irgendwie war das seine Schuld! Ob Kunibert zurück kommen würde, wenn Kalteis mit ihm fertig war – oder er endlich blickte, was da vor sich ging? Kalteis war raffiniert … Das hier, das war doch sowas von zum Kotzen. Der entgeisterte Gesichtsausdruck seiner Eltern, seiner Freunde, als er ihnen hatte beichten müssen, dass er und Kunibert sich getrennt hatten - und mehr als das, dass Kunibert Land gewonnen hatte, fort gezogen war, nicht nach Eckernförde, sondern in die Bretagne zu seinen Steinen und … Kalteis. Okay, Kunibert hatte sich auch mit ihnen in Kontakt gesetzt und ihnen rücksichtvoll davon berichtet, dass sie sich wohl auseinander gelebt hätten, keine bösen Gefühle und so. Und er war auch nicht böse auf Kunibert. Wenn er auf jemanden böse war, dann auf sich selbst – und Kalteis! Vier lange Jahre, kaum jemand hatte ihm je so nahe gestanden wie Kunibert, und er vermisste ihn, und es wurde kein Stück besser, alles erinnerte an ihn und … Jakob atmete tief durch. So konnte es doch echt nicht weitergehen! ……………………………………… „Mann, miss doch den Stein da!“, orderte Cedric und wies resolut in Richtung der Zone, in der die Bienenstöcke standen. „Vielleicht“, ärgerte ihn Kunibert. „Was soll das heißen: vielleicht? Die Ecke ist noch nicht fertig, ist doch nur logisch!“, behauptete Cedric. „Ach weißt du“, grinste Kunibert. „Wie wäre es mit ein wenig Mitarbeitermotivation?“ „Ein Tritt in den Arsch?“, vermutete Cedric. „Ein Kuss auf den Mund wäre mir deutlich lieber“, empfahl Kunibert. „Na gut … was man nicht alles tut …“, grummelte Cedric, aber er grinste. Kunibert trat auf ihn zu, bückte sich und drückte kurz seine frostigen Lippen auf Cedrics. „Schon besser“, meinte er. „Ein bisschen zumindest.“ Cedric verdrehte die Augen, griff nach oben und zerrte ihn an sich, um die Übung zu wiederholen. „Mmm“, murmelte Kunibert genüsslich. „Jetzt fühle ich mich motiviert!“ „Ich aber nicht. Habe den totalen Motivationsknick. Gib den Kuss wieder her!“ forderte er. „Okay, du Geizhals! Hier ist er“, lachte Kunibert und küsste ihn noch einmal. Cedric fiel ein. „Also, da kriege ich ja noch Depressionen!“, beschwerte er sich. „Das kannst du doch besser!“ Kunibert zog die Brauen hoch und versuchte erneut sein Glück. Cedrics Mund warm so warm in dieser Kälte. Er legte seine Hände auf seine ungeschützten Ohren und wärmte sie ein wenig, während er ihn weiter küsste. Cedric öffnete leicht den Mund, und er wagte sich vorsichtig vor. Wie gestern Abend stupste Cedrics Zunge sanft gegen seine, keine ungebremste Leidenschaft, aber ein Tasten voran. Er schloss die Augen und stupste zurück, genoss dieses Gefühl, so leicht und benommen kichernd. Er spürte, wie sein Trieb interessiert nachfragte, aber es war gar nicht so schwer, ihn zu verscheuchen, er musste nur an Cedrics geschundenen Rücken denken. Und dieser Cedric, den man so schrecklich misshandelt hatte, lag jetzt lebendig in seinen Armen und konnte ihn küssen, ohne sich zu fürchten, sondern weil er das wollte, ihn wollte. Das war doch so viel! Cedric löste sich, die Arme um seinen Nacken, lächelte ihn an, die Giftaugen vergnügt blitzend, und sagte: „Viel besser!“ „Finde ich auch. Das hier ist echt mein Traumjob“, lächelte er zurück. „Nicht leer? Nicht banal?“, fragte Cedric. „Nein. Gar nicht. So sollte es sein. Und so ist es. Alles da. Die Steine, die Brötchen, Tee mit Schuss – und du. Was will man mehr?“, fragte er. Cedric zog leicht die Mundwinkel herunter. „Nein, Cedric! Böser Cedric!“, warnte er. Cedric seufzte. „Ist nur etwas schwer. Bin das so gewohnt, dass es immer darum geht, so oder so. Und du bist auch kein Übermensch, der das einfach mal so eben knicken kann im Austausch gegen ein Küsschen, so ist das eben. Aber ich versuch’s. Nicht ständig daran zu denken, okay?“ „Ja, das wäre schön. Mach dir nicht so einen Kopf darüber. Wir sind hier, wir leben und der Tag ist noch jung, und ich bin froh! Es könnte gerade gar nicht besser sein. Ich sitze hier nicht chronisch auf der Lauer. Lass uns … lass uns einfach genießen, was wir haben. Das ist schon so viel mehr als das, was die allermeisten Leute haben. Aber vergleichen macht unglücklich. Und das sind wir doch nicht. Wir können küssen, du kannst küssen - hättest du das gedacht? Und jede Minute ist doch gut! Einfach nur gut fühlen, das ist es, Cedric, das ist es, was wir machen“, sagte Kunibert und schlang die Arme um ihn. „Ja, wohl wahr. Nur jetzt, nicht Morgen oder Übermorgen, hier, jetzt, wir … Oh Gott, ich bin schon wieder so demotiviert!“, erwiderte Cedric und sah zu ihm hinauf. „Wird sofort erledigt“, lachte Kunibert. Kapitel 27: Ein Weg voran, kein Weg zurück ------------------------------------------ XXVII. Ein Weg voran, kein Weg zurück Es ging voran. In Trippelschritten, aber es ging voran. Sie gingen ihrem Alltag nach wie auch zuvor, aber ein Teil davon war auch diese neue Nähe. Küssen, streicheln, berühren, nichts wirklich Sexuelles, aber dahinter könnte es sein. Es war nicht immer so einfach für Kunibert, diese Ebene nieder zu knüppeln, aber es ging schon. Wo ein Wille war, war bekanntlich auch ein Weg. Der Gedanke an die unrasierten Beine Angela Merkels half immens. Und sie verharrten auch nicht im Stillstand. Cedric musste das alles, Intimität, die eben nicht bloß aus dem Trieb schöpfte, wieder – oder neu? – erobern, ohne Geduld gäbe es keinen Fortschritt. Und es war jedes Mal ein Triumph, wenn er ein Stückchen weiter ging. Eine Hand auf seiner Brust. Eine tastende Zunge zwischen seinen Lippen. Ein leichter Schleier in Cedrics Augen. Er würde es schaffen, dessen war sich Kunibert sicher, er würde sich das Leben zurück erobern können, ein neues Leben, ihr Leben, auch sein Empfinden. Und es war so gut, mit ihm in den Armen einzuschlafen und aufzuwachen. Sein starker, schöner – etwas fieser – Cedric, warm und vertrauensvoll an ihn geschmiegt. Aber er mochte seine Spitzzüngigkeit, mal verletzt, mal einfach witzig. ...................................................... Mmm … gemütlich … wozu so eine Muskelbrust so gut sein konnte … man konnte super darauf pennen. Wäre ihm früher nie eingefallen, aber jetzt war eben jetzt. Etienne und er hatten beim Schlafen beide ihren Raum gebraucht, aber Kunibert war da definitiv ein ganz anderer Fall. Er wohl jetzt auch. Außerdem war das Bett nicht breit genug für großartiges Abstandhalten. Kunibert wurde nicht nach Fick-Qualitäten beurteilt, sondern gemäß der Monsterbananen-Skala. Und nach wie vor Kunibert diese Novität – nämlich sein Freund … und mehr. Kunibert senkte seinen Kopf und sah zu ihm hinunter. „Na, du Rotschopf“, sagte er. „Alle echt, nix gefärbt“, murmelte er. „Ich weiß“, sagte Kunibert und kraulte seinen Nacken. „Du bist doch hoffentlich auch eine echte Blondine?“, fragte er leise schnurrend. „Wie hast du mich bisher genannt? Trottel, Blödmann, Barbar, Depp … ja, muss ich wohl sein“, grinste Kunibert. „Du bist nicht doof, nur seltsam“, murmelte Cedric. „Ich weiß. Macht nichts“, entschuldigte sich Kunibert selbst. „Du Stinktier.“ „Sind das nicht auch Nager?“, stichelte Cedric. „Nein! Du hast keine Ähnlichkeit mit einem Nagetier!“ erwiderte Kunibert hastig. „Und ... keine Ahnung … aber Stinktiere sind allgemein nicht so beliebt. Stänkertier trifft es eventuell besser.“ „Mein Hobby und meine wahre Leidenschaft!“, erklärte Cedric. „Weiter links!“, forderte er und ließ sich seine Schultern durch das Shirt schubbern. Auch da waren Narben, wenn auch nicht so ausgeprägt wie weiter unten, und sie juckten zuweilen, aber so war das schon gut. „Mmm, das mag ich“, verkündete er genüsslich. „Noch was?“, fragte Kunibert. Sein Körper hatte eine gewisse eindeutige Spannung, aber Cedric wusste, dass er selbst da dennoch die Ruhe bewahren musste – und auch konnte. „Das ist schon gut … früher … früher … war ich hart drauf … Vielleicht auch immer noch, wer weiß. Das ist halt … das andere. Das hier nicht. Und das ist schön … ein bisschen weiter unten … Scheiße, einmal angefangen juckt alles … blöde Narben …“ „So gut?“, fragte Kunibert und kratzte vorsichtig sein Kreuz. „Mmm, ja … prima …“, räkelte er sich wohlig. „Hast du eigentlich noch Schmerzen?“, wollte Kunibert wissen. „Nein, nicht wirklich. Manchmal … die Erinnerung eben. Aber ansonsten ist es verheilt. Körperlich bin ich in Ordnung. Gott sei Dank. Ich hätte auch krank sein können. Ich habe keine vollständige Erinnerung. Möglich wäre es gewesen. Schwein gehabt. Einiges hat echt gedauert. Aber die Ärzte sagen, ich sei okay. Narben … ich musste genäht werden … konnte nur auf dem Bauch liegen … aber es ist gut verheilt. Ich war ja gut in Schuss und jung, da ging das – auch wieder mit Glück. Die Verletzungen an sich hätten mir nicht den Rest gegeben, aber der Blutverlust war problematisch. Doch körperlich geht es schon lange wieder. Das andere, das war viel schlimmer“, erzählte Cedric und drückte seine Nase in die Kuhle zwischen Kuniberts Brustmuskeln. „Diese fehlende Erinnerung, das ist auch … hart. Nur Fragmente, und manchmal kommt ein neues wie aus dem Nichts. Ich war ein Ding für die, ein erniedrigtes, benutztes, voller Absicht und Drogenseligkeit benutztes Ding, und gleichzeitig Cedric Kalteis, dem sie es so richtig zeigen wollten. Mir, der sich eingebildet hatte, total darüber zu stehen, über ihnen, über allem, aber das war nicht mal mehr der Punkt. Es war so unfassbar, dass das echt passierte. Ich dachte, ich sterbe – und dann so. Gar keine Gnade, auch als ich nur noch, mit allem brechend, darum gefleht habe. Und dann hatte ich gar keine Angst mehr davor, wollte nur noch, dass es zu Ende ist. Denn ein Danach konnte es nicht mehr geben.“ „Und jetzt?“, fragte Kunibert leise. „Jetzt gibt es trotzdem ein Danach. Ätsch. Es gibt mich. Und es … ist nicht mehr alles. Es gibt auch dich. Es gibt gute Dinge, ein paar. Jetzt wieder. Und irgendwie muss ich wohl schon irgendwie darauf gehofft haben, ansonsten wäre ich nicht hier, sondern längst … fort. Es gab diesen Ort hier, da war ich früher glücklich, habe mich sicher gefühlt und gar nicht wie ich sonst, gar nicht wie Cedric. Himmel, mein Opa hätte mir den Hals umgedreht bei all der Scheiße! Aber das war nur Urlaub, nicht das wahre Leben, und ich … ach, egal. Ich bin jetzt hier. Und ich fühle mich … gut. Also: Was soll’s. Und ... Und was ist mit dir?“, hakte Cedric nach. Kunibert kraulte versonnen weiter. „Weiß nicht“, sagte er. „Ich fühle mich auch gut. Gar nicht so wie es seien sollte, sondern wie es wirklich seien soll. Glücklich. Ganz. Komplett. Das hat mir die ganze Zeit so gefehlt, aber jetzt ist es da. Ich bin nicht gut im Alleinsein, aber ich kann auch nicht mit jemandem zusammen sein nur deswegen. Und … du musst nichts sagen, bitte … aber irgendwann in dem ganzen Durcheinander, Miteinander hier muss ich mich wohl in dich verliebt haben. So einfach ist das.“ Cedric reckte den Kopf hoch. „Echt jetzt?“, fragte er. „Ja. Echt jetzt“, bestätigte Kunibert. „Du doch auch.“ Cedric schwieg kurz. „Ja …“, sagte er. „Ja … echt jetzt …? Das muss es sein … das muss es sein? Nicht wahr? Wirklich sehr komische Sache … kenne ich so gar nicht …“ „Was ist denn“, fragte Kunibert zögernd, „mit deinem Freund von damals? Etienne?“ Cedric seufzte. „Weiß ich nicht“, gab er zu. „Ist ja nicht so, dass er mir nichts bedeutet hätte. Wir waren uns schon sehr nah. Aber es war anders. Sehr anders. Früher eben. Sowas wie das hier, das ginge niemals mit Etienne. So ist er nicht.“ „Mmm, wenn … wenn er dich geliebt hat, dann hätte er doch …“, wandte Kunibert ein. Cedric zog die Schultern hoch. „Wer weiß“, sagte er. „Aber er war das davor. Ich konnte und ich wollte nicht. Müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Das ist die Vergangenheit, dorthin führt kein Weg zurück.“ „Ja, wahrscheinlich“, gab ihm Kunibert Recht. „Aber manchmal gibt sie wohl trotzdem Pfötchen.“ „Ach“, wiegelte Cedric ab und reckte sich wohlig. „Manchmal vielleicht auch nicht. Sieh mich jetzt nur an! Ich mag es, dass du mir den Rücken kratzt, das wäre früher undenkbar gewesen.“ „Ich mache dir gern den Rückenkratzer. Meine Großeltern hatten früher immer Katzen - die fressen nämlich Mäuse - die mochten das auch“, erklärte er und kraulte Cedric unter dem Kinn. Cedric schüttelte halb angetan halb etwas zweifelnd den Kopf. „Du bist echt eine Type“, sagte er. „Machst den ganzen Zirkus einfach mit.“ „Ich mag Zirkus. Und ich mag auch Langsamkeit bei sowas. Die Nummer in der Gasse … ach nee … Hals über Kopf war nie mein Ding. Also halt die Klappe und schnurr gefälligst!“, lachte Kunibert und kitzelte ihn mit dem Daumen in der Halsbeuge. Das war mal eine ganz andere Version eines dominanten Kerls, aber so übel gefiel sie Cedric genau genommen auch nicht. ………………………………….. Das heranziehende Frühjahr hatte erneut tiefen Schnee gebracht, dass Kunibert sich gezwungen sah, sich an die Auswertung der Messdaten zu machen. War auch allerhöchste Zeit, die Sache zu Papier zu bringen, ansonsten maß er noch bis in alle Ewigkeit und verzettelte sich in allen möglichen Details. Zu seinem Erstaunen war Cedric dazu übergegangen, statt mit einem seiner wahrscheinlich in die Tausende gehenden Bücher neuerdings mit einem Laptop im Wohnzimmer aufzukreuzen. Er schien zu surfen, aber für irgendwelche Bestellungen hing er definitiv viel zu lange daran. So war es ein paar Tage gegangen, Kunibert fragte nicht, ließ, was immer es war, reifen. Dann, eines Tages, ein Montag, an dem sie es nur mit Ach und Krach bis zur Bäckerei geschafft hatten, da die Wege völlig im Schnee versunken waren, begannen sich seine Finger zu bewegen. Der Laut erinnerte an ein wütendes Hämmern, und er ließ nicht nach. Cedric tippte irgendetwas, die Brauen hochkonzentriert zusammengezogen. Immer wieder löschte er etwas, tippte neue, löschte, hämmerte voran. Erst als es Zeit zum Abendessen geworden war, legte er den Rechner wortlos zur Seite und machte sich ans Kartoffelschälen. Er wurde besser, wenn auch nicht unbedingt schneller. Kunibert erzählte ihm ein wenig von seinen eigenen Ergebnissen, Cedric fragte routiniert nach, sie aßen, dann zogen sie auf die Couch um. Kunibert schickte sich an, den Fernseher anzuschalten und ihr abendliches DVD-Programm zu starten – Cedric hatte nach diversen diskreten Hinweisen, dass zur Allgemeinbildung „Raumpatrouille Orion“ gehöre, zugestimmt – als er plötzlich die Stimme erhob. „Ich habe geschrieben“, sagte er knapp zu Kuniberts ihm zugewandten Rücken. „Habe ich gehört“, murmelte Kunibert und hielt inne. „Habe ich lange nicht mehr“, sagte Cedric einsilbig, aber Kunibert verstand den Wink und setzte sich, den Fernseher Fernseher seien lassend, wieder neben ihn. „Was denn?“, fragte er ihn direkt. „Eine Ode an meinen Arsch in Hexametern“, erklärte Cedric und zog die Füße aufs Sofa. „Was?!“, fragte Kunibert perplex. „Muss ich noch überarbeiten … es ist grauenhaft … weckt den gnadenlosen Kritiker in mir … totaler Müll … aber immerhin“, wiegelte Cedric ab und schien die Sommersprossen auf seinem kleinen Zeh des rechten Fußes zu kontrollieren. „Eine Ode an deinen Arsch? In Hexametern?“, wiederholte Kunibert, um sicher zu gehen, dass er das richtig verstanden hatte. „Exakt“, bestätigte Cedric. „Äh … und warum …?“, wollte Kunibert wissen und schnappte sich den Punktfuß. Einzelne Teile von Cedric waren ja wirklich niedlich – wenn man Cedrics Wesen dabei ausblendete, was kaum ging. Aber dieser putzige Fuß …! „Ich war ein Arsch. Und mein Arsch war mein Abgott. Und ich habe den Arsch vollgekriegt“, erklärte Cedric und wackelte mit den Zehen. Da waren drei fast unsichtbare rote Haare auf seinem großen Onkel! War das beim Teufel eventuell genau so? „Aha. Also … das ist ja … schön? ... dass du darüber schreiben kannst“, hielt sich Kunibert wacker und knetete ihm im besten Bemühen die Sohle. „Wie gesagt: es ist scheiße. Wer will schon sowas lesen? Aber … naja … aber Scheiße ist etwas, oder? Scheiße ist glitschig – meist – und stinkt. Sie existiert“, erläuterte Cedric und beäugte, was er da mit seinem Fuß anstellte. „Davon kann ich ein Lied singen“, sagte Kunibert, hob Cedrics Fuß und drückte ihm einen Kuss auf die Unterseite des Spanns. „Ich sage nur Chloe!“ „Stimmt, wo wären wir ohne Chloes wackeren Haufen“, nickte Cedric und schauderte ein wenig. „Manchmal ist Scheiße auch gut“, wies ihn Kunibert hin und spielte Kussorgel mit Cedrics Zehen. Cedric zeigte die Andeutung eines Lächelns und sagte: „Ja, manchmal. Manche Dinge beginnen mit Scheiße. Sag mal, was machst du da eigentlich mit meinem Treter?“ „Ich mag deinen Fuß“, gestand Kunibert. „Bist du Fußfetischist oder was?“, fragte Cedric irgendwo zwischen Amüsement und Entgeisterung. „Ich sagte, ich mag deinen Fuß – nicht Füße im Allgemeinen“, klärte Kunibert ihn auf und pustete leicht dagegen, dass Cedric sich ein wenig kitzlig wand. „Ich mag alles an dir – das schließt deine Mini-Quanten mit ein!“ „Ich habe Schuhgröße neununddreißig!“, empörte sich Cedric. „Sagte ich doch?“, kicherte Kunibert ein wenig böse. „Pfft! Kann ja nicht jeder so ein Goliath sein wie du! Das ist keine Untergröße! Ich bin doch kein Zwerg! Okay, neben dir wahrscheinlich schon, aber du bist hier der, der seine Klamotten nicht im Einzelhandel kaufen kann, weil sie nicht passen!“, protestierte er. „Ja, ein Elend ist das. Oberteile gehen ja, aber Hosen? Die sind für Erdnuckel wie dich konstruiert“, ärgerte ihn Kunibert ein wenig und schnappte sich jetzt auch den zweiten Fuß. „Erdnuckel?!“, keuchte Cedric aufgebracht. „Na warte, du Unflat!“ Er strampelte sich los und piekte mit den Zehen geschickt in Kuniberts empfindliche Seite, dass dieser quiekend zusammen fuhr. Cedric nutzte die Chance und schlang die erstaunlich kräftigen Beine um seine Taille, um ihn ein wenig zu quetschen. Erst wehrte sich Kunibert ein wenig unkoordiniert ob dieses Überraschungsangriffs, dann wurde ihm erschreckend klar, in welcher Haltung Cedric da um ihn hing, fühlte es irgendwo losbrechen, schnaufte, krallte sich ins Sofa, aber es war zu spät. „Cedric!“, konnte er nur warnend hervor würgen, während andere Teile von ihm ganz etwas anderes wollten. ……………………… Haha, hatte er ihn eiskalt drangekriegt! Aber warum tat Kunibert eigentlich gar nichts? Schockartig wurde es ihm klar. Er hing mit gespreizten Beinen in prekärer Haltung um ihn, die sich keineswegs nur zum Ringen eignete. Er fühlte, wie sein Körper zusammenzuckte. Weg … hin … weg … hin …! Diese muskulöse, bewegliche Taille, die schmalen Hüften und die Hitze, die er unter dem etwas mitgenommenen Jeansstoff erahnen konnte … das war kein Kuscheln mehr. Sie hatten sich vorgetastet, streicheln, ein nackter Oberkörper, Küsse auf die Zehen, aber das hier war die Grenze. Er spürte, wie sich sein Brustkorb hektisch hob und senkte, blickte auf. Verlangen in Kuniberts Augen … und Angst. Kunibert hatte auch Angst. „Kunibert?“, fragte er dumpf. „Cedric?“, quetschte der andere heraus, wie schockgefroren dasitzend. „Du willst mich ficken“, stellte er lakonisch fest, es auszusprechen machte es irgendwie einfacher. „Nein!“, wehrte sich Kunibert vehement, die Finger so fest im Polster, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Du bist ein Bottom?“, ließ Cedric nicht locker. Aussprechen … es greifbar machen … nicht rennen, nicht nachgeben … Das hatten sie ihn in seiner abgebrochenen Therapie doch irgendwie so als Fernziel in Aussicht gestellt? War ihm völlig zwecklos, illusorisch und naiv vorgekommen. Damals. Aber jetzt? Oh Mann … „Nein“, flüsterte Kunibert. „Eher nicht … wohl … weiß auch nicht … wollte ja nie jemand etwas anders von mir …“ Das konnte sich Cedric nun nicht so wirklich vorstellen, aber das war auch nicht das eigentliche Thema. Er ließ los und robbte wieder aufwärts, griff Kunibert an der Schulter. Er konnte es spüren, tief unten in ihm, da regte sich auch etwas, kein nicht zu unterdrückender Reflex, aber dennoch … schrecklich … gut … grauenhaft … und in Ordnung … und … „Kunibert, rede keinen Blech“, stellte er klar. „Du willst das sehr wohl. Kann ich dir nun echt nicht verdenken. In der Hinsicht bin ich leider ein totaler Griff ins Klo. Aber ich bin eben nicht tot, auch wenn es sich manchmal so angefühlt hat. Ich bin am Scheiß-Leben! Seit Wochen kuscheln wir keusch und – wie auch immer – du hältst das durch. Wahrscheinlich bekommst du demnächst eine Sehnenscheidenentzündung im rechten Handgelenk. Und du hast Recht, wenn du annimmst, dass mir Sex echt Schiss macht. Aber eben nicht nur. Deswegen sind wir auch hier, weil es eben nicht völlig unmöglich sein darf. Der von damals … never ever again. Aber … aber …“ Kunibert ließ etwas locker und sah ihn lang an. „Was … was möchtest du?“, fragte er. Cedric biss sich in die Oberlippe, dann sagte er: „Etwas fühlen. Ein bisschen … weiter versuchen, okay, ob ich’s kann? Ich weiß nicht, ob es klappt. Das volle Programm garantiert nicht. Ich verlange dir da abartig viel ab, aber … Bitte?“ Kunibert atmete tief durch, dann nickte er. „Klar“, sagte er. „Himmel, Cedric, es ist doch so viel, dass du dieses „Bisschen“ willst, in Erwägung ziehen kannst. Es ist kein „Bisschen“. Und ich weiß, dass du das nicht um meinetwillen tust – das darf auch nicht sein. Was passiert ist, hat es dir echt versaut. Nur schlimm. Aber … aber … es muss nicht schlimm sein? Nicht in deinem Kopf, wenn ich …?“ „Genau“, bestätigte Cedric ein wenig benommen. „Das ist wie nach einem Barbarenüberfall. Das Land muss zurück erobert werden?“ „Ich dachte, ich sei der Barbar?“, fand Kunibert seinen Geist wieder. „Nein. Nein … was das angeht … nicht. Schmeiß die Drecks-Barbaren raus!“, bat ihn Cedric und drückte seine Nase an Kuniberts schön geschnittene Wange. Kunibert verharrte kurz, dann drehte er den Kopf und sah ihn direkt an. „Einer gegen alle“, seufzte er. „Aber ich versuch’s.“ „Der Stoff, aus dem die Märchen sind“, grinste Cedric leicht, doch ziemlich nervös. „Und nicht die Arsch-Oden.“ Kunibert lachte etwas gelöst und legte die Arme um ihn. „Nein, die wohl nicht. Komm her, Cedric - und geh, wenn du musst.“ „Ich will nicht gehen! Vor den Barbaren im Nacken wegrennen, aber manchmal geht es nicht anders. Du … küss mich …?“, bat er und drückte seine Nase gegen die des anderen, wohl wissend, wie sehr der diese Geste mochte. Kunibert nickte unmerklich und folgte seiner Bitte. Cedric schlang die Arme um seinen Nacken und konzentrierte sich. Das hier war nicht bloß Kuschel-Kunibert, sondern auch dieser hinreißend erotische Mann, den Oberarschloch-Cedric bereits längst gewittert hatte, versuchte er sich einzuhämmern. Er löste sich leicht, trat sich selbst in den Hintern und nagte todesmutig sanft an Kuniberts Unterlippe, dass ein Beben durch den Anderen ging. Komm … komm raus … komm schon … da ist doch mehr in dir als Schmuse-Kuni … Kunibert öffnete den Mund, und Cedric nahm die Einladung an. Küssen … wie einst … richtig … eine Hand grub sich in seinen Pullover in der Mitte seines Kreuzes, als er, als würde er Base Jumpen, in Kuniberts Mund schnellte. Angst? Nein … ja … aber er tat das hier, die Initiative lag bei ihm. Und das hier … war … frei … Kuniberts Atem beschleunigte sich und seiner mit ihm. Aber das hier war keine notgeile Routine, kein Hecheln, kein raffiniertes Anheizen, nur … sie. Kuniberts Zunge, die sich kosend an seiner rieb, und, bei aller Selbstkontrolle, sein Begehren verriet. Kunibert hatte von all den Dingen, die er einst getrieben hatte, vermutlich null Schnall, aber das hier konnte er. Er fühlte die Mauern in sich, aber sie waren porös geworden mit der Gewöhnung an die Berührungen, ließen etwas durch, aber da waren sie noch. Aber jede Mauer konnte man umhauen. Die eines Bunkers - schwerlich. Aber er war kein Bunker, er war kein Bunker, er war kein Bunker! „Oh Mann“, seufzte Kunibert und vergrub sein Gesicht an Cedrics Hals. „Du bist echt so …“ Sicher, das war er immer gewesen. Aber nicht so „so“. Was dann „so“? Probehalber schlang er die Beine erneut um Kunibert. Es fühlte sich falsch an, er schnappte nach Luft. Kunibert zappelte ein wenig, löste sich und stand auf. „Was?“, stammelte Cedric und starrte zu ihm hinauf. „Nicht so … nicht so …“, murmelte Kunibert, dann beugte er sich hinab, bedeutete Cedric in eine sitzende Position zu kommen und kniete sich vor ihn auf den Boden. Er streckte sich, zog Cedrics Kopf zu sich hinab und ließ ihn erneut ein, dann drängte er spielerisch gegen, bis Cedric auch etwas Gefallen an diesem Spiel finden konnte. Seine Hände lagen auf Kuniberts breiten Schultern, er fühlte, wie eine Hand über seine Brust tastete. Das war okay, das kannte er schon, das ging. Aber diese Haltung … er schnaufte leicht … das war schon … und er nicht unten, nicht gefesselt, nicht ausgeliefert, er könnte jederzeit aufstehen. Innerlich fletschte er die Zähne, griff nach seinem Pullover und zerrte ihn sich über den Kopf. Kuniberts strahlend blaue Augen blickten zu ihm hoch, dann wanderten sie über ihm. „Wunderschön“, murmelte er und fuhr mit der Hand andächtig über seine Haut. Und so fühlte er sich auch … streicheln, liebkosen und … fast beiläufig streiften Kuniberts Finger seine rechte Brustwarze. Er zuckte leicht zusammen. Das war intim. Lächerlicher Weise. „Okay?“, fragte Kunibert und streckte sich erneut zu ihm hoch. Cedric nickte langsam. „Okay“, bestätigte er. „Anfassen. Okay.“ Es war nur ein sanftes Kreisen, aber es verursachte ihm eine Gänsehaut. Keine Furcht, aber es war, als würde er all das zum allerersten Male tun, obwohl es zugleich etwas Altbekanntes war. Etwas unheimlich, fremd, aber doch irgendwie ganz in Ordnung. Kuniberts Lippen wanderten über seine Kehle hinab, erforschten ihn, dann eine Zungenspitze, Cedric fühlte sich halb benommen und hing mehr im Sitz, als dass er saß. Er linste von oben herab. Kunibert war so schön. Und so verliebt. Das war wohl der springende Punkt, warum er es tun konnte, wollte, das Warten, die Rücksichtname, Kunibert wollte ihn – und keine plumpe Triebbefriedigung. In seiner intellektuellen Instrumentalisierung des eigenen Triebes war er auch immer der Meister der raffinierten Plumpheit gewesen. Das hier war zögernd, vielleicht etwas linkisch, aber eben aus wahrer Zuneigung geboren. Und auch er fühlte sie … sein großer, blonder Lieblingsblödmann … sein einziger Blödmann … mit geschlossenen Lippen gegen seine Brustwarze drückend. Ein angenehm kühler Schauder rann durch Cedric begleitet von einem nicht ganz so wohligen Prickeln. Das musste weg. Weitermachen. Er griff in Kuniberts Schopf und drückte ihn an sich. Erst war es nur ein Kuss, dann ein sanftes Lecken wie bei einer sich putzenden Katze. „Mmm“, murmelte er. „Okay?“, flüsterte Kunibert und schielte zu ihm hoch. „Mehr als okay“, gab er zu. „Wirklich … ein bisschen noch …“ „Gerne doch“, lächelte Kunibert und widmete sich der anderen Seite. „Ich mag übrigens auch deine Nippel“, grinste er zwischen zwei seiner langsamen Attacken. „Ja. Ich jetzt gerade auch wieder“, seufzte er und drückte ihn wieder an sich. Er fühlte das zögerliche Ziehen in seinem Erdgeschoss. Viel weiter würde es noch nicht gehen, das wusste er. Aber es war ein Anfang. Sein Körper war nicht mehr nur … das. Sondern er, sein Empfinden und vielleicht, hoffentlich, bitte, bitte auch irgendwann auch wieder seine Lust. Die alte „Freiheit“ würde es niemals mehr geben, aber auch hier war er frei. Er blickte an sich hinab, sah Kuniberts hingebungsvoll geschlossene Augen, fühlte das duldsame Lecken, Saugen, das Streicheln, das leichte Zittern des im Zaume gehaltenen Verlangens in Kuniberts Körper und fühlte mehr als die Reizung, die Nähe, die Dankbarkeit, das Vertrauen. Kunibert hatte schon ganz Recht gehabt und es auch auf seine typische Weise ohne Rücksicht auf Verluste ausgesprochen. Aus ihrer Zweckgemeinschaft und dann Freundschaft war längst viel mehr geworden. Er mochte herumzicken, wie er nur wollte, es ließ sich nicht leugnen: Er war verliebt. Etienne und er, das war ein Rausch und ein aus Ähnlichkeit geborenes Arrangement gewesen, das auch große Nähe und Zuneigung beinhaltet hatte. Aber so etwas völlig Irrationales? Darüber hätten sie gelacht. Hier gab es gar nichts zu lachen. Er war Cedric Kalteis reloaded, und er war verliebt wie der allerletzte Idiot. Aber er war der allerletzte Idiot, also was sollte es. Er entspannte sich, schloss die Augen und ließ es wirken. Neckendes Knabbern … dieser Hammer von Mann vor ihm … guuuut … ………………………… Kunibert fühlte sich ein wenig wie ein Lama nach dem Genuss mehrerer Salzlecksteine. Aber das war es mehr als wert gewesen. Bei Cedric war etwas angekommen, etwas, das über reine Zärtlichkeit hinaus ging. Großartig gerührt hatte er sich nicht, aber es war offensichtlich gewesen, dass er es ab einem bestimmten Punkt schon genossen hatte. Solange Kunibert sich auf ihn konzentriert hatte, ging das – und das hatte er. Aber da war auch dieses verdammte Teufelchen in ihm, das einfach noch mehr wollte, Cedric ganz und gar, ihn sehen, berühren, genießen … sich auf ihn werfen und in Besitz nehmen … aber das wäre tödlich für alles, was sie erreicht hatten. Ein steiniger Weg, aber ein Weg. Und er war ja auch nicht bloß deshalb hier, bei ihm, mit ihm, aber das Begehren war da, knüppelhart. Irgendwann war der magische Bogen überspannt gewesen, Cedric hatte ihm wortlos gedankt und war hinüber ins Schlafzimmer getapst, wo er wieder keusch seinen warmen Körper im Schlaf würde an sich ziehen können. Aber vorher hatte er noch eine Verabredung mit seiner Hand unter der Dusche, während sein Kopfkino ihm einen furchtlosen, leidenschaftlichen Cedric vorspielte. Ob es wohl irgendwann so sein würde? Bitte … bitte … da war etwas an Cedric, das ihn so fürchterlich anzog, ein Versprechen hinter all dem Schmerz. Oder bildete er sich das nur ein? Nein. Nein, gewiss nicht. Es war da. Geduld … Geduld … Cedric helfen … weitermachen … sein armer, kleiner Fliegenpilz … aber dennoch … ach, Scheiße! ………………………. „Sag mal, hast du nicht inzwischen genug geschmollt?“, grummelte Frida ihm ins Ohr. „Was meinst du?“ grummelte Kunibert ebenso zurück und wanderte in Richtung Küche. Cedric tippte frenetisch und hatte nicht einmal aufgesehen, als sein Handy zu klingeln begonnen hatte. „Wegen - wie hieß der Typ bloß nur mit dem du jahrelang zusammen warst? - ach ja: Jakob?!“, schlug sie vor. „Ich schmolle nicht!“, stellte Kunibert klar. „Aber das mit Jakob und mir ist Geschichte. War echt … unschön. Aber nein. Ging nicht mehr. War Scheiße, aber …“ „War …? Das hört sich für deine Verhältnisse ja recht cool an. Was ist los …? Und zwar: wirklich los, großer kleiner Bruder?“, bohrte sie gnadenlos. „Bin frisch verliebt sozusagen“, murmelte Kunibert. Frida pfiff durch die Zähne. „Echt? Hast du Jakob deswegen sitzen gelassen?“, wollte sie wissen. „Ich habe ihn nicht sitzen gelassen!“, stellte Kunibert klar. „Das war schon vorher … durch. Mir ist so nur wirklich klar geworden, dass es das ist.“ „Und wer ist der Glückliche?“, wollte sie neugierig wissen. „Cedric. Cedric Kalteis. Ich hatte Weihnachten doch erzählt …“, druckste er herum. „Der Typ, dem das Steinfeld gehört? Der Rotschopf, dem ich von deiner Nagerphobie erzählt habe? Für den du arbeitest?“, nagelte ihn Frida fest. „Ja … genau“, gab Kunibert etwas unwillig zu. „Liebe am Arbeitsplatz, wie schön. Wie ist er denn so?“, blieb sie am Ball. „Uff, du fragst Sachen. Ich bin verliebt in ihn, was erwartest du da?“, wand sich Kunibert und ließ sich auf einen der Küchenhocker fallen. „Was gefällt dir denn an ihm?“, half sie ihm auf die Sprünge. „Wie er … eben ist. Und … rote Haare, Sommersprossen …“, sagte er. „Da hast du dich dann gleich verschossen!“, grinste sie mies reimend zurück. „So … ungefähr“, murmelte Kunibert. „Bringst du ihn mal mit?“, wollte sie wissen. „Mal sehen“, blieb Kunibert vage. In naher Zukunft wohl weniger, Cedric war nun wirklich kein Globetrotter. „Ich glaube, Jakob vermisst dich. Habe ihn neulich getroffen, als ich in Kiel war“, sagte sie plötzlich wieder ernst. Kunibert seufzte. „Ich kann’s nicht ändern“, sagte er. „Es … es tut mir leid. Auch, nein, besonders für ihn. Aber ich kann und will nicht zurück.“ „Sagt ja auch keiner. Ist ja dein Leben. Wenn du diesen Cedric so gern hast … Ich wollte es dir nur sagen“, verteidigte sie sich. „Ja … danke“, nuschelte Kunibert und fühlte sich mies. War ja nicht so, dass er Jakob Übles wollte, ihm Schmerzen zufügen … aber es ging nun einmal nicht mehr. Kapitel 28: Dorfstraßen-Inferno ------------------------------- XVIII. Dorfstraßen-Inferno Cedric gab sein Bestes, die Tüten um sich herum so zu sortieren, dass es kein absolut unentwirrbares Chaos ergaben – oder er noch Schlagseite bekam. Er stand vor dem Wurstladen wie ein angeleinter Dackel, während Kunibert drinnen durchs Sortiment tobte. Die Lieferungen hatte er inzwischen fast vollständig eingestellt, solange es um Dinge ging, die sie auch im Ort kaufen konnten oder die Kunibert von seinen Solo-Touren in die nächste Kleinstadt mitbringen konnte. Nur Bücher und Kleidung bezog er noch via Bestellung, den Rest … schleppte er gerade. Das Wochenende stand vor der Tür, da hieß es zu planen, um dem drohenden Hungertod gerade eben so von der Schippe springen zu können. Er seufzte. Was Kunibert so wegfraß ging echt auf keine Kuhhaut, aber das war wohl vor allem darin begründet, dass Kunibert schlicht und einfach ein tierischer Brocken war. Er hatte keine Ahnung, was er denn wiegen mochte, aber ihm tat die Waage leid, die das feststellen müsste. Allerdings bezweifelte er stark, dass Kunibert die Grämmchen zählend auf so einem Gerät herum balancieren wollen würde – wozu auch? Erstens war es ihm garantiert wieder einmal schnuppe, zweitens würde er ohne Fernglas die Anzeige vermutlich sowieso nicht lesen können. Es herrschte Tauwetter, der Himmel zeigte ein paar Wölkchen, aber die Sonne schien allmählich wieder richtig Mut zu schöpfen und ließ sein Gesicht angenehm prickeln. In der Ortschaft herrschte emsiger Betrieb, sie waren nicht die einzigen, die sich an diesem Tage mit allem Möglichen hier eindeckten. Er wurde gegrüßt und erwiderte diese Geste wie immer distanziert, aber halbwegs höflich. Alles in Butter. Er konnte sich denken, dass die hier bestens im Bilde waren über Kuniberts und seine Annäherung, aber so hinter dem Mond war die Welt in Zeiten globaler Kommunikation und moderner Erziehung hier auch nicht, dass sie deswegen krumme Touren im Sinne gehabt hätten. Vielleicht würgte es den ein oder anderen im stillen Kämmerlein, aber der würde sich hüten, sich Zeter und Mordio brüllend auf den Dorfplatz zu stellen. Immerhin gehörte ihm nach wie vor das Land, von dem die meisten hier lebten, und war sowieso der schräge Monsieur Kalteis Junior. Wahrscheinlich bemitleidete die Mehrheit eher Kunibert, dass er so verwirrt war und statt eines süßen Prinzesschens ihn an der Backe hatte. Mit Kunibert konnten sie sowieso mehr anfangen, seine unkomplizierte Art passte bestens hierher und ihr „die Hunnen greifen schon wieder an“-Trauma, das tief in der französischen Seele verankert war, schienen sie in Hinsicht auf sein Aussehen mittlerweile verwunden zu haben. Kunibert stakste jedenfalls wie ein XXL-Sonnenschein durch die lokale Botanik und wurde inzwischen genau wie er als skurriles Provinzinventar wahrgenommen, von dem es hier mehr als nur sie gab. So lebten sie nun vor sich hin, ohne genaue Zielsetzung als eben einfach zu leben, und was wollte man auch mehr. Sie bestritten den Alltag, führten gemeinsam Cedrics Kampf, in dem er immer mehr Land zu gewinnen meinte, und widmeten sich dem Naheliegenden: Kuniberts Dissertation, seinen erneuten Versuchen zu schreiben, der Rattenpflege, dem Kochen und dem Haushalt, dem Lesen und Fernsehen, banalen Späßen wie dem Spielen von Brettspielen und – im Kuniberts Fall – dem Nähen von Kleidung, dem Spazierengehen, dem Reden, dem Probieren von Intimität, dem aneinander geschmiegt Schlafen, Kuniberts Arme wie eine schützende, warme Hülle um ihn, und – dem Einkaufen. Die altertümliche Türglocke schrille erneut, als Kunibert breit grinsend mit einer ziemlich um den Gnadenschuss bettelnden Einkauftüte wieder zu ihm hinaus trat. „Braten! Braten! Sonntagsbraten!“, versuchte sich Kunibert im Singen, was allerdings nicht wirklich überzeugen konnte. „Was ist es denn?“, fragte Cedric harmlos. „Ein Giraffenhals im Stück?“ Kunibert kräuselte nur amüsiert die Nase. „Krustenbraten!“, verkündete er etwas herablassend. „Das ist … nahrhaft. Ich vermute, ich werde lernen, wie man so etwas zubereitet?“, erahnte Cedric sein Schicksal. „Sowas von!“, nickte Kunibert beglückt. „Aber im Sommer können wir draußen auch mal etwas am Spieß garen, das wäre cool!“ „Ohne Gnade“, seufzte Cedric. „Ich nehme da aber doch lieber die Asterix-Portion, das mit Oliven gefüllte Dromedar darfst du alleine verputzen!“ „Du übertreibst“, grinste Kunibert und nahm ihm netter Weise ein paar Taschen ab, bevor die sich endgültig völlig unwiederbringlich miteinander verknotet hatten. Cedric rollte seine Schultern, dann nahm er die Tasche mit dem Wurstglas und dem Gemüse in die rechte, die mit dem Brot und dem Gebäck in die linke Hand und trottete los. „Der Frühling liegt schon richtig in der Luft! Kannst du es riechen?“, schwärmte Kunibert gut gelaunt. „Ich rieche da eher Kuhscheiße“, gab Cedric zu bedenken. „Eben!“, strahle Kunibert. „Es taut! Und wenn es taut, dann kann auch die Scheiße wieder richtig stinken!“ „Alter Romantiker, du!“, kicherte Cedric. „Das liegt den Deutschen wohl im Blut. Wie war das noch?: Frühling lässt seinen Gestank wieder flattern durch die Lüfte. Üble, wohlbekannte Düfte, streifen ahnungsvoll das Land. Kühe träumen schon, wollen balde kacken. Horch von fern ein leichtes Blähsyndrom! Frühlings, ja, du bist’s! Dich hab ich vernommen!“ „Du hast einen süßen Akzent, wenn du Deutsch sprichst“, lobte ihn Kunibert, dann begann er zu lachen. „Ich bin ja so genial!“, pries sich Cedric selbst und stieß ihn kollegial leicht mit der Schulter an, dass ihre Tüten kollidierten. Kunibert pfiff darauf, breitete die Arme aus, drückte ihn ungeniert, dass ihm das Würstchenglas wahrscheinlich eine üble Blessur zufügte und küsste ihn schnell auf den Scheitel. Solche spontanen und vor allen Dingen öffentlichen Zärtlichkeitsbekundungen waren Cedric ziemlich fremd, aber so etwas bekam man wohl ab, wenn man Kunibert abbekommen hatte. Und irgendwie war das auch gar nicht so schlecht, die Geste an sich unvertraut, aber nach außen hin …? Kunibert war einfach das Kaliber, das sich das erlauben konnte, ohne drei Mal darüber nachzudenken. Und obendrein auch noch der Typ, der genau das tat, weil es ihm irgendwie selbstverständlich vorzukommen schien. Sollte es sein. War es aber für viele nicht. Aber wie sollte das sich ändern, wenn die Angst siegte? Waren sie eben die schwulen Dorfkuriositäten, die mit demselben Langmut aufgenommen wurden wie im Teenageralter schwangere Tochter oder die zum fünften Mal verheiratete Chefin des Wurstladens. Wahrscheinlich wäre es in der Anonymität einer Stadt in ihrem Falle schwerer gewesen – aber auch da galt: Kunibert sah nicht gerade aus wie das Klischeebild eines Pudelfrisörs. Er auch nicht, aber er sah wie jemand aus, dem man deutlich leichter ein paar verpassen konnte. Das Auto, das sich an sie heran geschlichen hatte, bemerkten sie erst, als es neben ihnen anhielt. Kunibert erstarrte und bekam kugelrunde Augen. Verwirrt drehte sich Cedric herum. Es war ein BMW mit Kieler Kennzeichen, nicht das neuste Modell, aber gewiss auch kein Sonderangebot. Sie lösten sich voneinander, Kunibert stellte seine Tüten in den madderigen Schnee und trat vor. Ein Mann stieg aus, gutaussehend, um die dreißig, hochgewachsen und kräftig, wenn auch nicht wie in Kuniberts Fall. Sein Kinn war stoppelig, er sah übernächtigt aus. Kunibert ruderte etwas hilflos mit den Armen. „Was … was machst du denn hier?“, fragte er sichtlich von der Rolle. Der andere Mann hielt seinen Blick fest auf ihn gerichtet, dann streifte er kurz Cedric, und er verzog das Gesicht. „Ich … ich habe nach dir gesucht …“, stammelte der Fremde etwas konfus. Kunibert kniff die Lippen angespannt zusammen und kreuzte etwas unsicher die Arme vor der Brust. „Jakob …“, sagte er vorsichtig. „Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …?“ Der andere senkte den Blick. Er sagte: „Musst du auch nicht. Ich bin hier unangekündigt aufgekreuzt, also ist das wohl eher an mir. Also …“, er stockte, dann sah er entschlossen auf. „Ich vermisse dich“, sagte er, „schrecklich. Ich hätte es mir nie so ausgemalt, aber es ist wahr. Alles ist so leer ohne dich! Und ich konnte … konnte … ich musste dich einfach sehen. Ich weiß, dass ist schrecklich dumm und verrückt, aber … Alles. Ich … ich liebe dich… Kunibert?“ Kunibert stand wie gelähmt da. Tausend kleine Teufelchen marschierten in Cedrics Inneren auf. Das war Jakob?! Nett. Da unterschieden sie sich gravierend. Ein Jakob hätte nie eine Chance gegen ihn gehabt. Den hätte er zu Brei zermalmt, wenn ihm der Sinn danach gestanden hätte. Aber dazu wäre Jakob ihm wahrscheinlich zu … klein? ... erschienen. Das war Kuniberts Ex-Freund?! Und der tanzte jetzt hier an – mit ziemlich eindeutigen Absichten?! Mit kleinen roten Blitzern vor den Lidern trat er ein Stück vor. Er spürte merkwürdiger Weise keine Angst. Nicht wirklich, sondern eher etwas Anderes, das seinen Körper brachial durchtobte. „Verpfeif dich!“, zischte das an Arschloch-Cedric in ihm ihn an, das ihm geblieben war und das jetzt mit Schwung ans Ruder wollte. Jakobs Augen wanderten von Kunibert zu ihm. Schöne Augen. Er hatte wirklich schöne Augen, grünbraun. Das machte es nicht besser. „Cedric Kalteis“, stellte Jakob fast feierlich fest. „Ich kenne dich. Ich habe dich gesehen damals in den Pariser Clubs. Du bist Abschaum! Abgrundtiefer, böser Abschaum! Und das sage ich nicht nur wegen der Sache hier. Das bist du. Jeder ist für dich nur Spielzeug. Und du lachst darüber! Du fieses, finsteres Monstrum! Kunibert mag gesagt haben, dass du dich geändert hast, aber … Lass ihn los! Was hast du getan? Was hast du mit Kunibert getan?!“ Kunibert fing sich wieder und fuhr dazwischen: „Gar nichts! Er hat gar nichts getan. Es tut mir wirklich, wirklich leid, glaube mir, aber das mit uns, das ging nicht mehr. So oder so. Cedric hat damit gar nichts zu tun!“ „Und das soll ich dir glauben?“, ging Jakob ihn an. Er sah definitiv aus wie jemand, der gerade nicht unbedingt klar denken konnte. Was zur Hölle war mit diesem frechen Hirni?! „Du hast ihn doch gerade gedrückt und geküsst! Das war doch nicht nur so! Und du lebst hier! Mit ihm! Bitte, bitte Kunibert! Er ist nicht, was immer er dir vorgegaukelt hat! Das kann nicht sein! Er ist … er lügt! Alles, was er kann, ist lügen! Er ist was sein Name verspricht!“ „Nein!“ entfuhr Cedric scharf. Kunibert sah immer noch ziemlich belämmert aus, doch er würde garantiert nicht still und stumm herumstehen, während dieser Kerl ihn bepöbelte und offensichtlich vorhatte, Kunibert zurück in ihr angebliches Lahmarsch-Glück zu zerren. Nicht, dass da Chancen bestünden, aber schon allein dieses Ansinnen! Die Dreistigkeit hier so aufzutauchen! Die Dinge mochten sich gravierend geändert haben, aber er war immer noch Cedric Kalteis. „Du hast nicht die geringste Ahnung von dem, was ich tue und bin!“, zischte er. „Du magst mich gesehen haben damals, aber du kennst mich kein Stück! Und das wird sich auch nicht ändern, denn das, was hier ist, das geht dich überhaupt nichts an. Was willst du hier? Kunibert zurück? Indem du irgendwelche uralten Horror-Stories über mich erzählst, die du dir selbst zusammen gereimt hast, und lieb „bitte, bitte“ sagst? Du hast ja ein totales Rad ab! Warum zum Geier machst du dich hier derart zum Idioten – läuft hier irgendwo ein Wettbewerb um den Titel des peinlichsten Torfhirns des Jahres? Glückwunsch, du hast gewonnen! Und nun nimm deinen Preis und verzieh dich wieder, bevor ich vor Fremdschämen noch eingehe! Und was Kunibert angeht: Der Zug ist abgefahren für dich! Mag zwar Scheiße für dich sein, auch wenn sich mein Mitleid in Grenzen hält, aber so ist es!“ Jakob verzog angewidert das Gesicht. „Da hast du es“, sagte er zu Kunibert. Cedric holte tief Luft, doch Kunibert fuhr dazwischen, bevor er zum nächsten Schlag ausholen konnte. „Halt, Stopp!“, bremste sie Kunibert, der anscheinend wieder halbwegs zu sich gekommen war. Er streckte den Arm aus, als wolle er eine Grenze zwischen ihnen ziehen. „Hört auf euch zu zanken wie zwei Vollidioten! Bitte, Cedric … und Jakob … ich weiß, was es bedeutet, dass du diesen langen Weg auf dich genommen hast! Wirklich. Aber es … es ändert nichts. Ich liebe dich nicht so wie es seien sollte! Ich kann so nicht leben! Es ist vorbei! Das musst du respektieren! Bitte! Es tut mir schrecklich leid, dass ich dir da so weh tue – aber was soll ich denn tun? Ich kann – und will – es nicht ändern! Bitte …“ Jakob starrte ihn schwer atmend an. Eine Traube Schaulustiger begann sich um sie herum auf der Dorfstraße zu bilden. Schwules Beziehungsdrama plus Klatsch über Monsieur Kalteis lockten da wohl arg. „Kunibert“, sagte Jakob langsam. „Was willst du? Wo du gerade von Respekt sprichst? Einen Partner, der dich liebt, respektiert, dich in allem unterstützt? Oder alles endgültig wegwerfen für jemanden, der dich nicht zu schätzen weiß!“ Cedric umrundete brodelt Kuniberts Arm, bevor der irgendetwas tun oder erwidern konnte und stieß vor: „Sag mal, was an der Sache kapierst du eigentlich nicht? Es geht hier nicht um deine Visionen von Rentnerromantik. Auch nicht um meine, wenn ich denn welche hätte, was ich öffentlich niemals zugeben würde! Und auch nicht darum, ob ich wirklich der Sendbote des Leibhaftigen auf Erden bin! Sondern wohl eher um das, was Kunibert will! Ist schließlich sein Leben – und nicht deins! Oder meins. Leuten sind schon deutlich schlimmere Dinge passiert, als sitzen gelassen zu werden, also mach hier nicht so ein Theater! Falls du einfach nur den Schwung in deinem Leben vermisst: mach mal einen Kurs in Selbstachtung! Das könnte Wunder wirken und dich auf ganz andere Gedanken bringen! Nur zu deiner Information, damit dich die Sorge um den armen, selbstredend völlig hilflosen Kunibert nicht völlig in den Wahnsinn treibt: Ich weiß Kunibert sehr wohl zu schätzen! Schön, was? Da freust du dich. Und da wir das jetzt geklärt haben, kannst du ja wieder zurück in deinen brav abgestotterten BWM kraxeln, heiter aufs Gas drücken – und dann ab, retour nach good old Germany! Gute Fahrt! Tschüssi! Grüß mir das Sauerkraut!“ „Himmel, Kunibert!“, entfuhr Jakob und deutete auf ihn. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ „Meinst du damit dich?“ schnappte Cedric. „Nein, Geister sind ja unsichtbar. Und du wurdest ja verlassen. Außerdem stehst du hier immer noch rum und erfüllst die Luft mit dem Gestank der Peinlichkeit. Dagegen ist die Kuhscheiße hier echt wie Lavendel.“ Kunibert schüttelte sich leicht, dann sagte er hastig: „Hört auf mit diesem Blödsinn! In einem Punkt hat Cedric aber Recht: Das ist meine Entscheidung, wo ich mit wem zusammen sein will! Und ich habe wirklich keinen Bock, dass ihr euch hier deswegen gegenseitig verbal abschlachtet!“ „Verstehe ich ja … verstehe ich ja. Verzeih, Kunibert …“, ruderte Jakob mit feucht auf Kunibert klebenden Augen zurück. „Brav“, spottete Cedric. „Wenn du noch ein wenig winselst, mit dem Puschelschwänzchen wedelst und Kulleraugen machst, kommst du noch glaubhafter rüber.“ „Cedric!“, entfuhr Kunibert empört. „Ach lass nur“, winkte Jakob ab. „Besser ein treudoofer Hund als ein fieses Frettchen!“ „Ein Frettchen kann ich nicht sein, denn dann würde Kunibert wohl eher kreischend vor mir davon laufen. Tut er aber nicht, falls dir das noch nicht aufgefallen ist“, versetzte Cedric. „Vielleicht sollte er dann mal besser genauer hinsehen“, empfahl Jakob. „Oh, du Held. Ja, öffne dem armen Opfer doch nur die Augen. Was bist du, ein Optiker? Ein Voodoopriester? Kann nicht, sein, denn beide hätten mehr Stil“, gab Cedric zurück. „Hört auf!“, schrie Kunibert beinahe. „Hör zu, Jakob. Wir können uns gerne unterhalten. Allein – und nicht als Showeinlage für den ganzen Landkreis! Aber ich sage dir gleich: Das ändert nichts. Und Cedric - bitte, bitte: Jakob und ich waren lange zusammen. Auch wenn das hier … naja … ist, versuche zumindest, ihn ein bisschen respektvoll zu behandeln! Und dasselbe gilt auch für dich, Jakob! Wir sind doch erwachsene Menschen!“ „Ja, sicher“, erwiderte Jakob und nickte. „Hah – und der behauptet, ich sei der Lügner!“, murmelte Cedric leise – aber laut genug, dass Jakob es hören konnte. Jakob erstarrte, dann trat er einen raschen Schritt vor, griff nach Cedrics Arm und rüttelte ihn. „Du ätzender Mistkerl!“, fuhr er ihn an. „Ich bin kein Lügner! Gut, dass ich zumindest halbwegs gut erzogen bin, denn ansonsten würde ich dir jetzt wahrscheinlich doch eine langen, du Giftzwerg!“ .………….. Eine Hand schnappte um seinen Oberarm zu. Los runter mit dir Cedric … das hast du doch sonst immer so gerne gemocht … das tut dir weh …? Du glaubst gar nicht, was sonst noch alles weh tun kann … Und das liebst du doch, du Schlampe! ……………… Entgeistert starrte Kunibert auf das, was da gerade direkt vor seiner Nase vor sich ging. Die waren doch wirklich wahnsinnig geworden, alle beide! Er war sich nicht ganz sicher, welchem der beiden er gerade lieber gedanklich den Hals umgedreht hätte. Das Problem war nur, dass sie jetzt ernsthaft eines hatten. Nicht bloß Jakobs ihn zu irren Taten treibenden Herzschmerz, obwohl er den nun auch nicht kleinreden wollte. Oder Cedrics abartig böses Mundwerk, das sich gerade selbst übertroffen hatte. Nein, jetzt hatten sie ein Riesenproblem. Schockartig stieg es an die Spitze seines Bewusstseins und bildete eine Eisschicht über allem anderen. Cedric war kreidebleich unter Jakobs Blick, der einen ratlosen Unterton bekam, als könne er nicht Recht fassen, dass die Provokation ihn so hatte platzen lassen – und als wundere er sich inständig, dass von Cedric gar nichts kam. Keine Gegenwehr, kein Kommentar, kein … gar nichts. Mit offenem Mund zog Jakob seine Hand von Cedrics Arm zurück und sagte: „Scheiße … Was?!“ Cedric sah ihn nicht an, sondern wankte wie ein halbtoter Baum im Wind. Dann klappte er stumm zusammen, die Tüten noch immer um die Handgelenke, und krümmte sich auf dem klammen Boden in Embryonalhaltung zusammen. Kunibert hetzte zu ihm, als seien die Apokalyptischen Reiter hinter ihm her, kaum denkend, nur handelnd. „Oh Gott, Cedric!“, stieß er hervor und ließ sich ohne Rücksicht auf Verluste neben ihn fallen. Er griff nach ihm, suchte ihn in ihrer üblichen Schlafposition an sich zu ziehen. „Ist ja gut, ich bin ja da“, brabbelte er hilflos. Cedrics Körper zuckte, dann donnerte Kunibert in jäher unkoordinierter Gegenwehr ein Ellenbogen ins Gesicht. Der Schmerz ließ ihn Lichter sehen, alles drehte sich, auf seinem Gesicht breitete sich warme Feuchtigkeit aus. Cedric zuckte immer noch, als würde ihn jemand mit Stromschlägen traktieren und wimmerte unergründlich. „Oh Gott!“, schrie Jakob völlig entgeistert. „Was ist denn mit ihm? Das wollte ich nicht! Das wollte ich nicht! Himmel, das wollte ich nicht! Kunibert, deine Nase?“ Cedric gab Laute von sich, die so schrecklich waren, dass sich Kunibert davon sämtliche Härchen aufstellten. Trotz seiner Benommenheit und des Schmerzes versuchte er sein Glück. „Cedric“, flüsterte er heiser, „ich bin es doch … ich bin es doch … Ist doch gut … mein tapferer Cedric … Ganz ruhig … ich bin da … ich bin da … ich liebe dich …“ Aber Cedric war nur ein Bündel aus haltlosen Schluchzern, so passiv, dass Kunibert umso mehr Vorstellung davon bekam, wie sehr sie ihn gebrochen haben mussten. „Was ist?“, keuchte Jakob, der sich hilflos neben sie in den Schnee gekauert hatte. „Was ist denn das … oh Gott?!“ „Ist ja gut … Cedric … Cedric … Cedric …“, machte Kunibert weiter. Der Boden war eiskalt und überall war Blut, färbte Cedrics Haar nur noch intensiver. Von irgendwo her kamen Stimmen. Die Dorfbewohner. Jemand drückte ihm einen Lappen an das Gesicht. Irgendwo verstand er das Wort „Krankenwagen“. Durch Cedric erschlafften Körper ging ein erneuter Ruck. Er schoss in die Höhe, die Panik im Blick und stieß mit befehlsgewohnter Stimme hervor: „Kein Krankenwagen! Auf gar keinen Fall!“ Er zitterte noch immer, doch das Blinzeln seiner Augen verriet, dass er die Umgebung wieder begann wahrzunehmen. Seine Finger tasteten, verblüfft starrte er auf die rote Farbe an seinen Fingerspitzen, dann drehte er sich um und blickte zu Kunibert, der sich jetzt auch wieder halb aufrappelte. Kunibert tupfte vorsichtig unter seiner Nase herum, die unangenehm dumpf pochte und weiterhin vor sich hin tropfte. Aber gebrochen schien sie nicht zu sein, immerhin. Allerdings sah er jetzt wohl aus wie die Sau beim Schlachtfest. „Kunibert!“, schrie Cedric auf und robbte mit wildem Blick auf ihn zu. „Alles okay!“, tat er sein Bestes, ihn zu beruhigen. „Habe mir schon Schlimmeres beim Sport getan! Sieht nur böse aus!“ Das war zwar etwas untertrieben, aber wohl besser so. Cedric grub die Hände in seine Schultern und starrte ihn völlig fassungslos an. Auch er hatte seinen Teil von der Schweinerei abbekommen. „Scheiße!“ keuchte er. „Scheiße!“ Kunibert strengte sich an, ein Lächeln zustande zu bringen. „Ist ja gut!“, wiederholte er erneut. „Alles in Ordnung. Komm her … komm her …“ Cedric nickte benommen und ließ sich in seine Arme sinken. Kunibert streichelte über seinen Rücken, während seine Augen das Szenario um sie herum zu erfassen suchten. Die Dorfbewohner starrten entsetzt und taten ihr bestes, um zu helfen. Ihre Einkäufe waren in Sicherheit gebracht worden. Beauchamp hielt einen Erste Hilfe-Kasten bereit. Die Wurstverkäuferin saß neben einem geschockt blickenden Jakob auf der Kühlerhaube seines Wagens und versuchte ihm anscheinend einen Schnaps aus einem Flachmann einzuflößen. Was als possierliches Beziehungschaos begonnen hatte, war jetzt etwas ganz Anderes. Das Wichtigste war jedoch erst einmal, Cedric wieder auf die Beine zu bringen – und in Deckung. „Kannst du aufstehen?“, fragte er ihn leise. „Ja“, erwiderte Cedric dumpf. „Es … es geht wieder. Ach du Schande … Ich lerne echt nie dazu!“ Kunibert kommentierte diese Behauptung erst einmal nicht, sondern zog den anderen mit sich nach oben. Cedric war zwar immer noch bleich und schien etwas zu wanken, aber er sah wieder geradeaus. „Dämlicher Boden … was muss der so kalt und nass sein“, murmelte er und sah an sich herab. Sie waren beide nass geworden und hatten noch immer eine gehörige Portion schmelzenden Matsches am Leibe. „Okay, Cedric“, blieb Kunibert auf Kurs, während er mit dem Lappen weiterhin das aus seiner Nase tropfende Blut auffing. Aber es wurde weniger. „Nach Hause?“ Cedric nickte stumm. „Was ist mit deiner Nase?“, fragte er. „Geht schon. Ist nicht gebrochen. Kann ich auch daheim kühlen“, blieb Kunibert dabei. Cedric starrte ihn blinzelnd an. „Wie … war ich das?“, wollte er wissen. „Ja“, seufzte Kunibert. „War ein Unfall. Vergiss es.“ „Scheiße!“, wiederholte Cedric entsetzt. „Wird schon wieder“, murmelte Kunibert. Beauchamp trat zu ihnen. „Soll ich Sie fahren?“, fragte er vorsichtig. „Mein Transporter steht da drüben. Ich kann Sie auch zum Arzt bringen?“ Cedric versteifte sich. „Nein“, erwiderte Kunibert leise. „Erst mal nur nach Hause. Und … das wäre sehr nett. Cedric?“ „Ja …“, erwiderte Cedric schwach. Er klammerte sich an sein Handgelenk und sah sich um. „Verdammt“, murmelte er fast unhörbar. „Den Verbandskasten nehmen Sie besser mit“, sagte Beauchamp und deutete auf den Metallkasten in seiner Hand. „Kommen Sie!“ Kunibert sah zu, der Aufforderung Folge zu leisten, egal, ob es so etwas auch daheim gab oder nicht. Cedric strauchelte irgendwie hinter ihm her. Irgendwer lud ihre Einkäufe in Beauchamps Wagen, während sie hinein krabbelten. Cedric lehnte schwer gegen ihn und schien sich einzig und allein auf seine Atmung zu konzentriere. Sein Blick traf Jakobs, als er aus dem Wagenfenster sah. Jakob sah aus, als wisse er überhaupt nicht, wie ihm gerade geschähe. Das stimmte höchstwahrscheinlich auch. Aber daran war jetzt gerade auch nichts zu ändern. Sein Herz zog sich zusammen, als er seinen ehemaligen Partner dort so hilflos und verlassen sitzen sah. Die Dinge waren völlig aus dem Ruder gelaufen, und er hatte gerade weder Lust noch Muße dazu, irgendwem die Schuld zu geben. Nach Hause … und dann … Cedric … und seine verdammte Nase. Alles andere würde sich dann zeigen. Kapitel 29: Giftzwerg! ---------------------- XXIX. Giftzwerg! Stöhnend drückte sich Kunibert ein mit Eis gefülltes Küchentuch auf die Nase. Aua. Wirklich aua. So ein Ellenbogen war in der Tat sehr hart. Cedric kauerte neben ihm auf der Bettkante und streichelte ihm etwas planlos über den Bauch. Unter den normal unnormalen Umständen wäre das wundervoll gewesen, aber jetzt tat ihm einfach nur die Nase weh, und er fühlte sich total geschlaucht. „Willst du noch etwas? Tee? Decke? Noch ein Tuch?“, bot Cedric an. „Nein, habe alles“, murmelte Kunibert. Nachdem sie Beauchamp zu Hause abgesetzt hatte, hatten sie sich schweigend daran gemacht, planvoll zusammen zu brechen. Während er sich um seine Blessur gekümmert hatte, hatte Cedric ausgiebig geduscht. Jetzt steckten sie beide in frischen Klamotten und waren ohne weitere Absprachen ins Schlafzimmer geschlurft, obwohl die Nacht noch weit entfernt war. Cedric seufzte und ließ sich neben ihn auf die Matratze kippen. Kunibert streckte einen Arm aus und zog ihn an sich. Cedric vergrub seinen Kopf an seiner Brust und sagte: „Ich. Bin. So. Ein. Idiot.“ „Mmm“, murmelte Kunibert nur. Zwar hätte er gerne behauptet, dass Cedric ohne Fehl und Tadel war – aber so stimmte das wohl doch nicht. Cedric war eben Cedric, das mochte man bewerten, wie man mochte, aber es änderte nichts an seiner Zuneigung zu dem Anderen. „Was zum Geier hat mich geritten?“, geißelte sich Cedric. „Ich meine – ich weiß doch, wie es um mich steht! Und es ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, dass es manchmal doch besser ist, einfach mal die Fresse zu halten! Aber nein … natürlich nicht … warum auch … immer schön denselben Fehler wieder machen …!“ „Ach, du bist, wie du bist. Stimmt: Du hättest ruhig auf mich hören können und Jakob in Ruhe lassen. Der stand total neben sich, wie der hier erschienen ist. So ist er normalerweise ganz und gar nicht. Aber auch er hätte es bleiben lassen können. Wie auch immer, hinterher ist man immer klüger, glaubt man – bis man den nächsten Blödsinn macht. Jakob konnte zwar nicht ahnen, was für Auswirkungen es auf dich hat, wenn er dich rüttelt, aber dennoch war das etwas, das er nun wirklich nicht hätte tun müssen. Insofern … bist du nicht der einzige Idiot im Umkreis“, erwiderte er und grub seine Finger in Cedrics Haar. „Tut mir leid“, entschuldigte sich Cedric. „Aber mir ist da echt eine Sicherung rausgesprungen. Keine Ahnung warum. Ist ja nicht so, als hätte ich nur eine Sekunde geglaubt, dass du auf Jakob hören würdest und brav mit ihm gehen würdest. Aber es … er … hat mich so tierisch geärgert. Dass er hier aufkreuzt … und …!“ „Ja ja … schon gut. Passiert ist passiert. Ist ja auch keine verstörende Neuigkeit für mich, dass du ganz schön ätzend sein kannst“, bremste ihn Kunibert. „Der hat mich Giftzwerg genannt! Giftzwerg!“ regte sich Cedric auf. Kunibert merkte, wie er ein tief sitzendes Lachen einfach nicht ganz unterdrücken konnte trotz der Umstände. „Tja, wer austeilen kann, muss auch mal einstecken können – im verhältnismäßigen Rahmen natürlich! Und du hast den armen Jakob auch fürchterlich zur Sau gemacht – du Giftzwerg!“ versetzte Kunibert, etwas irre kichernd. „Pah!“ ärgerte sich Cedric, war aber anscheinend zu beschäftigt mit anderen Dingen, um ihm einen Strick daraus zu drehen. „Das mit dem Einstecken habe ich aber leider nicht so gut drauf. Elender Scheißdreck. Was musste dieses Arsch auch herkommen!“ „Hey!“ stoppte ihn Kunibert. „Das will ich nicht hören! Jakob ist kein Arsch. Wirklich nicht. Er hat seine Fehler, und dass er hierhergekommen ist, war gewiss nicht seine weiseste Tat. Aber Boshaftigkeit hat ihn da gewiss nicht getrieben, auch wenn er in seinen Annahmen und Hoffnungen irren mag. Aber ich habe ihm sehr weh getan, deshalb und auch wegen unserer gemeinsamen Vergangenheit schulde ich ihm zumindest Respekt. Ich erwarte nicht, dass du ihn magst. Gewiss nicht. Aber ich werde nicht gemeinsam mit dir über ihn lästern. Ich verstehe, dass du gerade absolut nicht gut auf ihn zu sprechen bist. Das ist dein gutes Recht. Ich bin garantiert auch nicht gerade glücklich darüber, wie das vorhin gelaufen ist. Doch gerade deshalb gilt: Aufhören! Das führt zu gar nichts. Jedenfalls zu nichts Gutem. Wenn du es raus lassen musst, erzähl‘s den Ratten. Die überleben bekanntlich alles. Leider. Ich kläre das mit Jakob. Und glaube ja nicht, dass ich sein Verhalten dir gegenüber einfach so hinnehmen oder gar leichterdings entschuldigen werde. Jakob mag zwar gerade neben der Spur sein, aber was zu viel ist, ist zu viel. Mit dem habe ich echt noch ein Hühnchen zu rupfen. Außerdem muss es in sein Hirn gehen, dass unsere Beziehung endgültig vorbei ist. Und dann ist – hoffentlich! – endlich wieder Ruhe im Karton hier!“ Cedric grummelte irgendetwas, dann sagte er: „Okay, okay. Meinetwegen. Obwohl ein Teil von mir zugegebenermaßen nach guter alter Gewohnheit Schaschlik aus deinem Ex machen möchte. Das ist wahrscheinlich mein Problem. Vielleicht sollte ich mir so einen Sandsack in den Keller hängen? Da stelle ich mich dann vor und beschimpfe und verklage ihn, bis er platzt? Oder ich könnte mir so einen BDSM-Knebelball zum ständigen Begleiter machen? Den trage ich dann immer in der Öffentlichkeit, um bloß nichts Blödes sagen zu können?“ „Ach Cedric“, seufzte Kunibert. „Wenn das so einfach wäre. Du hast mehr als bewiesen, dass du nun einmal nicht so leicht zu stoppen bist. Und das ist auch gut so, auch wenn es seine Tücken haben mag. Wir kriegen das schon hin. Aber was ist mir dir? Es scheint dir ja besser zu gehen, wenn du dich schon wieder ausgiebig ärgern kannst?“ Cedric atmete einmal tief durch und schmiegte sich noch enger an ihn. „Ja“, sagte er. „Ich mag zwar ein Affentheater gemacht habe, aber hier und jetzt ist es wieder okay. Nicht super, aber ich bin auch nicht total am Ende. Ich bin einfach ausgeflippt, plötzlich war alles wieder da. Ich weiß doch, dass Jakob mir weder ernsthaft an die Kehle oder an die Wäsche oder beides gewollt hat. Dummerweise ist das dann aber nicht der Punkt. Und … es war auch nicht Jakob direkt, sondern … sie. Als er mich gepackt hat, da war es aus mit mir. Da war da kein Jakob mehr, keine Dorfstraße, keine Einkaufstüten, keine Dorfbewohner oder du – sondern plötzlich war ich wieder dort. Und es würde erneut geschehen. Aber dann … dann habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt. Nicht verstanden, aber gespürt. Du … du warst da … hast geredet … Ich meine, die Erinnerung ist immer da. Und solche Panikattacken … selten, aber kommt vor. Es ist ja besser geworden, viel besser mit der Zeit. Als du hier das erste Mal anmarschiert gekommen bist, da hat eine falsche Bewegung gereicht – und inzwischen sieht das ja ganz anders aus. Vor allen Dingen: ich bin ja nicht allein. Ich bin hier, neben dir und da … ist es viel leichter, hier zu sein und nicht … dort. Zu leben und nicht … nicht tot zu sein. Nein, ich habe heute keinen zusätzlichen Knacks abbekommen, nur der übliche hat Pfötchen gegeben. Richte dafür Jakob meinen herzlichsten Dank aus – oder wäre dir das schon wieder zu unsensibel von mir? Egal, jedenfalls hat es dich ja auch gleich mit erwischt. Womit ich wieder dabei wäre, mich über mich selbst und die blöde, böse Welt zu ärgern.“ „Immerhin etwas“, meinte Kunibert. „Ich hatte schon befürchtet, dass das … die Sache für dich schlimmer machen würde.“ „Nicht gerade besser. Aber ich bin dadurch nicht wieder auf null zurück geschossen. Ich werd’s überleben. Muss ich auch, denn irgendwer muss ja jetzt deinen von mir demolierten Zinken versorgen. Willst du neues Eis – oder ziehst du es vor, dich in einer frostigen Pfütze zu aalen?“, wollte Cedric wissen und drehte den Kopf so, dass er hinauf zu Kunibert schielen konnte. „Neues Eis wäre schon gut“, musste Kunibert zugeben. „Auch oral verabreicht könnte es Wunder wirken.“ „Okay … ein neuer Eisbeutel zur nasalen Anwendung und die Packung Tiramisu-Eiscreme aus dem Kühlschrank. Kommt sofort“, folgerte Cedric korrekt und erhob sich. „Gut, dass wir einkaufen waren …“ …………….. Kunibert war, nachdem er sich mit Eis vollgestopft hatte, weggedämmert. Das übrige Eis und eine Schmerztablette hatten ihre Schuldigkeit getan. Aber so, wie er jetzt dalag, sah er schon ganz schön übel aus. Zwar hatte er sich das Blut abgewaschen, aber seine Nase war bös geschwollen und begann sich geprellt zu verfärben. Da hatte er ganze Arbeit geleistet. Gratulation. Aber er war nicht Herr seiner Sinne gewesen. Fragte sich nur, ab welchem Zeitpunkt – was zur Hölle hatte ihn veranlasst, derart auf Jakob loszugehen? Eigentlich war er doch nicht total bescheuert. Eigentlich vermied er es doch wie die Pest, irgendwelche fremden Kerle zu provozieren. Eigentlich. Aber das war ihm in dem Augenblick überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Stattdessen hätte er diesem Dämel mit Wonne einen Arschtritt verpassen wollen, dass der in direkter Linie zurück nach Kiel geflogen wäre. Und warum? Hatte Jakob ihm irgendetwas getan? Dass der ihn für eine fiese Mistkrücke hielt, war ihm nun wirklich piepsegal. Das hatten schon ganz andere getan. Aber zu denken, er könnte ihm Kunibert ausspannen! Ihm! Und … der kannte Kunibert viel besser als er, hatte jahrelang mit ihm gelebt, gelacht, gezankt … Und Sachen mit Kunibert geteilt, von denen er nichts wusste – oder die er nicht konnte … Da half es wohl nicht zu leugnen. Er war dem grünäugigen Monster zum Opfer gefallen. Er! Er, der sonst immer nur freudig grinsend daneben gestanden hatte, wenn Etienne mit einem Typen rumgeknutscht hatte, um den fürs Hauptmenü schon mal ein wenig aufzutauen, der Etienne sogar noch angefeuert hatte, wenn er sie gefickt hatte. Aber schon der Gedanke, dass Jakob jahrelang Kunibert abgeschlabbert hatte, ließ ihm die Galle hochkochen. Und das war mit mehr als großer Wahrscheinlichkeit nur die Spitze des Eisbergs. Hatte er vielleicht doch einen richtigen Hirnschaden erlitten? Waren ihm unwiederbringlich irgendwelche Synapsen durchgeschmort? War er Opfer einer Gehirnwäsche a la Kunibert geworden? Alles möglich. Denn mit Logik hatte das hier überhaupt nichts zu tun. Sehr ärgerlich. Aber wenn er eine Bilanz zog: alberne Eifersuchtsattacken waren einem Leben dennoch deutlich vorzuziehen, in dem man nur Schiss und Wut und Demütigung und dergleichen erfreuliche Dinge mehr spürte. Schließlich war es nicht bloß dieses dämliche Gefühl, das ihn so überfallen hatte, nein, seine Palette war insgesamt viel größer geworden. Dieses Grün hatte er vorher nicht gekannt. Und auch so manch andere Farbe erschien ihm noch dubios. Aber immerhin war’s bunt, wenn auch ein wenig geschmacklos. Kunibert bewegte sich im Schlaf. „Cedi…“, murmelte er leise. Cedric beugte sich über ihn und folgte dem Reflex, ihm durch sein zu Berge stehendes Haar zu streichen. Das Gefühl dazu war … rosa? ... nein … nein … eher golden … mit wilden Sprenkeln darin … „Alles okay, Matschnase“, sagte er. „Cedi‘ hält die Stellung. Brav weiterpennen. Und nenn mich ja nie im wachen Zustand so!“ …………………………………. Kunibert straffte sich und trat durch die Tür in die Wirtstube des kleinen Gasthofes, in dem auch er ganz am Anfang genächtigt hatte. Nachdem er wieder halbwegs zu sich gekommen war, hatte er sich aufgerafft und Jakob angerufen. Der Marsch durch den Ort war ein ziemlicher Spießrutenlauf gewesen, jeder hatte sich nach ihm – und Cedric natürlich – erkundigt. Direkt fragen tat ihn niemand, aber die Neugierde, was mit Monsieur Kalteis eigentlich konkret daneben hing, tropfte ihnen aus jeder Pore. Seit über zwei Jahren spekulierten sie jetzt schon, und dieses Drama war natürlich Öl in ihre Feuer gewesen. Nicht, dass sie Cedric irgendwie etwas Übles wünschten, aber natürlich brannte es ihnen unter den Nägeln. Sie hatten auf jeden Fall für Gesprächsstoff für lange, lange Zeit gesorgt. Kunibert wurde ziemlich mulmig bei dem Gedanken. Aber jetzt stand erst einmal die Unterhaltung mit Jakob an. Der andere hatte sich, als er ihn erwischt hatte, bereits wie ein geschlagener Hund auf den Rückweg gemacht, aber so sollten sie nicht auseinander gehen. Jakob saß in einer Nische ziemlich weit hinten, vor sich ein Bier, und sah ihn aus müden Augen an. Kunibert nickte ihm zu und rutschte auf die Bank ihm gegenüber. Jakob schloss kurz die Augen, schien sich zu sammeln. „Es tut mir leid“, würgte er hervor. „Ich weiß“, erwiderte Kunibert. „Wie … wie geht es ihm?“, fragte Jakob vorsichtig. „Wieder besser“, informierte ihn Kunibert. „Und deine Nase?“, fuhr Jakob fort. „Wird wieder. Fühlt sich momentan eher an wie zwei Nasen“, sagte Kunibert und studierte geflissentlich den anderen. Sein Jakob. Nicht mehr sein Jakob. Aber gewiss auch kein Fremder. Oder jemand, den er hassen oder verachten könnte. „Ich … ich habe echt riesige Scheiße gebaut“, seufzte Jakob. „Schon wieder. Da scheine ich gut drin zu sein.“ „Das mit Cedric konntest du nicht wissen. Das kann dir nun keiner vorwerfen. Und er hat sich dir gegenüber auch wirklich eklig benommen. Allerdings entschuldigt das nicht, dass du ihn geschüttelt hast“, stellte Kunibert klar. „Das will ich auch gar nicht behaupten“, stöhnte Jakob. „Ich war so … echt … bin ich zum Teil immer noch … aber die letzten Wochen, die waren echt schlimm. Plötzlich allein in unserer Wohnung … unserem Leben, das eben nicht mehr unseres war, sondern nur noch deins und meins. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Erst dachte ich, es ginge. Ich bin schließlich nicht der erste Mensch auf Erden, dessen Partner ihn verlassen hat. Andere müssen ganz anderes ertragen … Insofern hat Kalteis wohl schon Recht gehabt. Aber … ach, weiß der Himmel. Ich habe dich schrecklich vermisst. Alles … alles schien nicht mehr da zu sein, wo es sein sollte. Und Kalteis … der Gedanke … das hat mich ganz krank gemacht. Daran zu denken, dass dieser bösartige Manipulator, der nichts als Macht und Sex in der Rübe hat, dich irgendwie hierher gelockt hat …“ „Jakob. Was Cedric angeht, kennst du nur Bruchstücke des Bildes. Und in dieser Hinsicht hat er ebenfalls Recht: Du kennst ihn nicht. Und du tust ihm Unrecht. Sicher, dir gegenüber ist er fataler Weise genauso aufgetreten, wie du es wahrscheinlich erwartet hast …“, korrigierte ihn Kunibert. „Jein. Er ist ein Giftzwerg – das nehme ich nicht zurück! – aber er war doch anders“, gab Jakob zurück. „Was meinst du?“, fragte Kunibert stirnrunzelnd. „Warum war er denn so eklig? Zum Teil wohl, weil er’s einfach ist – aber vor allen Dingen, weil er scheiß-eifersüchtig war. Auch nicht der netteste Zug, aber ich sollte da besser ruhig sein. Und als er gefallen ist … und du bei ihm gelegen hast … Oh Gott, Kunibert, was ist mit ihm?!“, wollte Jakob wissen. Kunibert kniff die Lippen zusammen. „Kann ich dir nicht sagen“, erwidere er. „Obwohl – können schon, wollen nein. Cedric vertraut mir, dass ich mit seinem Elend nicht hausieren gehe. Aber sagen wir’s so: du hast unabsichtlich voll in die Kerbe gehauen. Die Person, die du aus Paris erinnerst, die existiert so nicht mehr. Und ich bin auch nicht so verblödet, dass du hättest vermuten sollen, dass ich wie ein naiver Vollidiot in irgendeine männermordende Venusfalle getapst bin! Aber das mit dem Vertrauen ist bekanntlich so eine Sache … Lassen wir das. Aber um eines klar zu machen: Ich habe dich nicht wegen Cedric verlassen. Und auch nicht eine Sekunde lang auch nur daran gedacht, zwei Eisen im Feuer zu haben. Das mit uns … das hatte die Gründe, die ich dir gesagt habe. Vielleicht nicht logisch, aber wir reden ja auch nicht über Mathematik. Und ich hätte mich auch nie in ihn verliebt, wenn mit uns alles in Butter gewesen wäre. Ich habe hier keine Affäre laufen. Ich bin nicht mit Cedric zusammen, weil ich auch mal einen auf Spaß-Party machen will. Ich liebe ihn. Und ich weiß haargenau, dass er nicht gerade ein braver Rosenkavalier ist, der ausschließlich Süßholz raspelt, chronisch freundlich und höflich ist und auch ansonsten wie aus Marzipan geformt. Ich liebe ihn, diesen „Giftzwerg“ – da hat er sich rückwirkend übrigens ganz schön drüber geärgert. Aber daran gibt es nichts zu rütteln. Gar nichts.“ Jakob schüttelte bleich den Kopf. „Es fällt mir einfach schwer, das zu glauben. Und noch viel mehr, es glauben zu wollen.“ „Das musst du aber“, sagte Kunibert fast sanft. „Es gibt kein Zurück mehr. Nicht für uns. Wenn du nicht den Kopf drehst und nach vorne zu blicken versuchst, dann wird das Unglück weiter an dir kleben. Und ich will nicht, dass du unglücklich bist. Glaube mir, mit mir zusammen wärst du es auf Dauer auch gewesen. So ein guter Schauspieler bin ich nicht, dass ich es ewig hätte verhehlen können, dass … dass es fehlt. Das Wesentliche. Ich will gar nicht wissen, was aus einem solchen Arrangement mit der Zeit wird. Bitterkeit? Hass? Nein, Jakob. Das, was du von mir willst, kann ich dir nicht geben. Aber jemand anderes kann das vielleicht. Gib dem eine Chance – bitte!“ Jakob stöhnte und grub sein Gesicht in die Hände. „Du hast gut reden“, sagte er. „Du liebst diesen Mistmarder …“ „Hey! Dasselbe habe ich auch schon zu Cedric gesagt: Keine Pöbeleien über den jeweils anderen in meine Ohren!“, machte Kunibert deutlich. „Ich versuch’s … aber dennoch kann ich ihn nicht leiden, sorry. Das Einzige, das dem meiner Ansicht nach fehlt, sind die Hörner. Aber ich bemühe mich. Um deinetwillen. Und … es tut mir echt leid, wenn ein Mensch leiden muss. Selbst Cedric Kalteis. Aber deswegen muss ich ihn noch lange nicht mögen. Und ich wette mit dir, es gibt ziemlich viele Leute in diesem Lande, die sich über den Anblick, wie er in den Matsch gekippt ist, halb tot freuen würden. Er war echt so … widerlich. Aber vielleicht stimmt es. Vielleicht hat er sich ja verändert, weil er … krank ist oder ihm etwas passiert ist oder was auch immer. Aber … Kunibert … du magst ihn lieben. Warum – zur Hölle! – auch immer. Aber … liebt er dich auch?“ „Ja“, erwiderte Kunibert nur knapp. „Woher willst du das wissen?“, bohrte Jakob. „Ich weiß es einfach“, sagte Kunibert ruhig. „Das dachte ich aber über dich auch …“, protestierte Jakob. „Wirklich?“, blieb Kunibert hart. Jakob schluckte. „Nein. Wann hat das angefangen, Kunibert? Nicht Kalteis… wir. Unser Verfall?“ „Ich weiß es nicht“, entgegnete Kunibert aufrichtig. „Aber als du rumgefickt hast … da hat dir doch auch was gefehlt. Wirklich nur der Sex?“ „Nein. Der Sex mit den Typen … war kacke“, gestand Jakob. „Es war das Gefühl … es überhaupt zu tun. Auch meine blöden Komplexe …“ „Ich habe es dir so häufig gesagt. Hier kommt mein letzter Versuch: Die sind völlig grundlos! Es sind die Komplexe – und nicht drei Gramm zu viel an deinen Hüften, die du ja unlängst abtrainiert hast – die dir dein Auftreten versauen. Du hast wunderschöne Augen. Ein hinreißendes Lächeln. Du bist freundlich, klug und lachst gern, auch wenn vielleicht nicht gerade jetzt. Du bist ein wundervoller Mann. Und ich bin auch nicht gegangen, weil ich in Wirklichkeit irgendetwas hässlich oder blöd an dir gefunden hätte. Ich bin gegangen, weil ich dich zwar gerne habe und schön finde, aber du meine Seele nicht berührst. Schimpf mich einen verblendeten Idioten, aber das war es. Und so konnte ich mein Leben nicht mit dir teilen. Das wäre eine Katastrophe geworden, für uns beide! Wirklich, Jakob, ich wünsche es dir aus ganzem Herzen, dass du jemanden finden magst, der dich auch … da … berührt. Da, wo es keine Gründe gibt“, dozierte Kunibert. „Danke“, murmelte Jakob. „Aber mal ganz ehrlich … verknallt zu sein ist ja eine Sache … aber du hältst Kalteis für deinen Seelengefährten?!“ Kunibert zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er da ist, wo vorher noch nie jemand war. Es ist … richtig. Ganz einfach richtig. Keine Ahnung, wozu mich das macht. Ist mir auch egal. Vielleicht bin ich ein Vollidiot, aber … ich weiß es einfach.“ Jakob schluckte. „Ach … Es ist vorbei, nicht wahr?“ „Ja“, erwiderte Kunibert nur. Auf Jakobs Gesicht zeichnete sich ein trauriges Lächeln ab. „Ich dachte, du seist es. Denkt ein Teil von mir immer noch. Aber … aber … leider … Ich … ich wünsche dir … dir … Glück?“ „Danke“, lächelte Kunibert zurück. „Das wünsche ich dir auch.“ „Und“, knirschte Jakob. „Sage Kalteis … dass es mir leid tut. Was auch immer ich ihm eigentlich genau getan habe. Aber ich bin ausgeflippt – und so absolut grundlos nun auch wieder nicht. Ich hoffe doch stark, dass er zu dir freundlicher ist. Und dass er wirklich das ist, was du in ihm siehst. Ich … Scheiße … irgendwie muss ich es wohl hinbekommen. Ich weiß noch nicht, wie. Irgendwie. Irgendwie …“ „Du schaffst das“, tröstete ihn Kunibert. „Bestimmt. Du findest auch noch den Deckel zu deinem Topf.“ „Hoffentlich, bevor ich verbeult bin“, murmelte Jakob. Seine so schrecklich vertrauten Augen richteten sich auf Kunibert. „Wir sehen uns?“ Kunibert nickte. „Bestimmt. Ich bin garantiert ab und an wieder in Kiel. Ich melde mich. Würde mich freuen, wenn wir … mal wieder reden könnten?“ „Okay“, erwiderte Jakob. „Aber … ich brauche Zeit. Ansonsten verrenne ich mich wieder … aber … aber … im Herbst oder so?“ „Herbst ist gut“, nickte Kunibert. ………………………….. Kuniberts Nase kam mit ihm daran durch die Haustür spaziert gefolgt von einer Woge kalter Luft. Cedric lehnte möglichst beiläufig an der Küchentür. Er hatte sich Mühe gegeben, aber es war wohl kaum anzunehmen, dass Kunibert den Kartoffelauflauf mit Sahne, Schinkenstückchen und Käsekruste riechen konnte. Aber egal, so hatte er wenigstens etwas zu tun gehabt, während Kunibert mit seinem dämlichen Ex sprach. Außerdem saß ihm die Attacke von vorhin doch noch ganz schön in den Knochen. Aber das war vorhin gewesen, und jetzt war jetzt, hämmerte er sich ein. Lesen hatte da als Ablenkung nicht gereicht, fürs Schreiben war er zu unkonzentriert gewesen, aber ein wenig Hausarbeit war das gerade richtig gewesen. Demnächst würde er noch mit einem Schürzchen herumlaufen. Kunibert konnte ihm garantiert eins nähen. Kunibert wand sich aus seiner dicken Jacke und sah ihn erschöpft an. „Alles paletti mit dem Ex-Gatten?“, fragte Cedric. „Wir waren nicht verheiratet. Aber: doch, soweit schon. Jakob entschuldigt sich bei dir“, verkündete Kunibert. „Pfff“, erwiderte Cedric so leise wie möglich. War ihm scheißegal, was dieser armselige Schleimer zu Kunibert gesagt hatte. Hauptsache, er war weg von der Bildfläche. Und Kunibert kam zurück zu ihm, zurück nach Hause. „Ich habe gekocht“, sagte er, da Kunibert nun wahrscheinlich keine Witterung aufnehmen konnte. Kunibert lächelte. Er trat auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Eine kindische Geste – aber ansonsten würde Kunibert noch einen Rückenschaden davon tragen. „Dankeschön“, sagte er nur. „Kein Ding“, wiegelte Cedric ab. „Hey, ich habe dir die Nase platt gehauen, da hast du noch was gut bei mir.“ „Läuft so der Deal? Du haust mich – und dafür kriege ich etwas zum Essen?“, grinste Kunibert. „Das wird wohl nichts. Dazu bin ich schlichtweg zu devot veranlagt“, winkte Cedric ab. „Was? Wie das, du hast sie doch alle fertig gemacht?“, wunderte sich Kunibert verdutzt. „Ja. Das hat den Effekt verdoppelt. Kartoffelauflauf?“, lockte Cedric. „Immer her damit! Aber … wie war das …?“, hakte Kunibert nach, während er ihm artig in die Küche folgte. Cedric schnappte sich die Topflappen und zog die gläserne Auflaufform aus dem Ofen. „Ist doch kein Staatsgeheimnis“, sagte er. „Was meinst du wohl, warum die alle so platt waren? Im Bett das eine … im Leben das andere.“ „Du warst ein Masochist?“, fragte Kunibert entgeistert, während er ihm den Teller vollschaufelte. „Mit Fesseln und so?“ Cedric stöhnte. Was hatte er da losgetreten? Das waren natürlich mal wieder böhmische Dörfer für Kunibert. Er drückte Kunibert seinen Futternapf in die Hände, füllte sich selbst auf und drängte sie hinüber an den Tisch. „Guten Appetit erst einmal!“, sagte er. „Und: jein. Ich war nicht gerade das, was sich Otto-Normal-Ficker unter sowas so vorstellt – ohne dir zu nahe treten zu wollen. Ich war ziemlich experimentierfreudig. Und – auch nicht gerade ein Staatsgeheimnis – ich war passiv wie nur was. Obwohl das wohl arg Ansichtssache ist, was „passiv“ in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet. Egal. Ich stand schließlich nicht auf Muskelkerle, weil die kuschelig wie die Teddys waren! Oder so einen guten Charakter hätten – Anwesende natürlich ausgeschlossen. Nein. Es war wie Ping Pong. Extrem versautes Ping Pong. Totale Hingabe – totale Dominanz, sobald der Spaß vorbei war. Beides. Das war der Witz bei der Sache. Aber leider war der Schlussakt dann nicht mehr so brillant witzig.“ Kunibert schluckte und piekte nach einer exakt geschnittenen Kartoffelspalte. „Das haben die auch … deshalb gemacht …?“ „Aber sicher doch“, zischte Cedric. „Sie haben mir einen totalen Gefallen getan. Genau das, worauf ich stand – leider ohne die spaßige Komponente dabei. Das müssen sie leider übersehen haben.“ „Oh weia, Cedric“, meinte Kunibert betroffen. „Das … diese Schweinehunde! Aber … das ist echt nicht meine Welt …“ „Kein Grund zur Panik. Ich erzähle nur, wie’s war. Was jetzt sein kann, das weiß du selbst doch nur zu gut. Die Chancen, dass ich von dir fordere, mir in Ledermontur den Arsch zu versohlen, tendieren gerade ziemlich gen null“, beruhigte ihn Cedric. Trotz der bitteren Erinnerung musste Cedric innerlich grinsen. Kunibert war wirklich ein Unschulds-Ei … aber wer sonst würde sich damit zufrieden geben, ihm die Nippel zu lecken und auf eigenen Spaß zu verzichten? Alles hatte zwei Seiten. Und so wie Kunibert war, war er eben, keine Einwände. Andererseits … irgendwann würde er es schaffen. Zurück zu geben. Zu sehen, wie Kunibert wohl war, wenn er mal völlig die Contenance verlor. Noch … beängstigend. Aber hoffentlich irgendwann nicht mehr. Er hatte die Jakob-Attacke überstanden. Kurz war er weg vom Fenster gewesen – aber jetzt stand er wieder! Und aß seinen Auflauf. Und erzählte Kunibert von Früher. Und war Jakob los. Hah, wer hätte das gedacht! Kapitel 30: Kein Kuschelbär --------------------------- XXX. Kein Kuschelbär Kunibert drehte sich schlaftrunken zur Seite. Der Morgen dämmerte bereits, es konnte also nicht mehr allzu früh sein, aber es war Sonntag. Seit Jakobs fatalem Besuch waren einige Wochen vergangen, der Frühling hatte endgültig Einzug gehalten. Sie planten zwar nicht, heute brav in die Kirche zu gehen, aber Sonntag war dennoch kein Arbeitstag für sie. Heute hieß es unter anderem: ein wenig faul sein, ausschlafen, irgendetwas außer der Reihe machen, mal sehen, vielleicht würde sich Cedric gar für einen kleinen Ausflug zu gewinnen sein. Reden, dem Frühling nachspüren, eine Kleinigkeit essen, wie auch immer. Doch aktuell war es dieser Duft, der ihm da gerade in die Nase stieg, der ihm Visionen von der perfekten Glückseligkeit eingab. Cedric mochte objektiv betrachtet auf seine ganz spezielle Art bildhübsch sein – solange er die Klappe hielt – aber das war ein Fliegenschiss gegen die Art und Weise, wie er roch. Okay, ab und an roch er leicht nach Ratte, wenn er diese Sendboten der Hölle betüdelt hatte. Aber im Moment nicht. In diesem Augenblick war die Gänsehaut, die unwillkürlich über seinen Körper rann, nicht seiner Nager-Schissigkeit geschuldet, sondern einfach und allein dieser schlafenden, geliebten, sperrigen Schönheit in seinen Armen. Er hatte Seide immer für snobistisch gehalten, war sie wahrscheinlich immer noch, aber sie fühlte sich verflucht gut an, wenn Cedrics warmer Körper darin steckte. Sein eigener Körper erwachte murmelnd zum Leben, aber so war es eben. Das hatte er im Griff, das wusste auch Cedric. Aber ihn zumindest ein bisschen drücken, das war schon drin. Er streckte den Arm und strich über die verführerisch glatte Oberfläche des luxuriösen Pyjamas. Cedric mochte aus seiner Perspektive gesehen zwar eine halbe Portion sein, aber seine Proportionen stimmten und zeichneten sich sehr einnehmend unter dem Stoff ab. Es schien ihm unendlich kostbar, ihn mit gutem Gewissen so berühren zu können. Cedric räkelte sich verschlafen und drängte wohlig gegen ihn. Das Muskelspiel des Rückens und der festen Hinterbacken machte ihm dann doch etwas zu schaffen. Aber er hatte das unter Kontrolle. Sein Freund, Partner, was auch immer, war von fremder Hand schlimm verletzt worden – dagegen waren ein wenig Zurückhaltung und Selbstbeherrschung, auch wenn es etwas weh tun mochte, gewiss lächerlich. Wenn es zu schlimm wurde, müsste er sich nur ein Nasenhaar ausreißen, das würde sein Mütchen kühlen. Er ließ seine Fingerspitzen in großzügigen Bahnen über Cedrics Oberkörper wandern. Die kleinen Knospen unter dem Stoff verhärteten sich. Der Körper reagierte auch im Schlaf. Er sah zu, sie sanft zu verwöhnen und ein wenig zu necken. Cedric strampelte unwillkürlich, aber er seufzte angetan, während sein Atem weiter tief ging. Kunibert schlang seinen Arm erneut eng um ihn. Fühlte diese Woge der Zuneigung durch sich fluten und genoss es. Seine wüste Pusteblume. Wie hieß es so schön? Unkraut vergeht nicht. Und „Unkraut“ war sowieso viel besser als diese langweiligen Baumarkt-Blumen, die ohne künstliche Düngung nicht auskamen, alle gleich aussahen und bei erster Gelegenheit eingingen. Unkraut war wild, Unkraut war bunt, Unkraut scherte es nicht, dass irgendwelche Spießer es für Unkraut hielten. Man konnte es ausrupfen, niedertrampeln, verfluchen – das stoppte es nicht. Die Konturen von Cedrics flachen Bauch unter der Seide … wundervoll … Jede Linie erschien ihm wie von Michelangelo persönlich ersonnen. Aber Michelangelo hatte es mit diesen an Feistheit grenzenden Muskeltypen mit den Frauengesichtern gehabt, der hätte Cedrics grazile, exotische Schönheit nicht zu schätzen gewusst. Soviel zum Thema „Genie“. Er spürte, wie die Bauchdecke des Anderen ganz leicht zu beben begann unter seinen Berührungen. Er wertete das als Einladung, ließ die Handfläche kreisen, schenkte der ganzen Fläche seine Aufmerksamkeit, kitzelte ihn am Nabel, an den Seiten. Cedrics Reaktion fiel weiterhin äußerst positiv auf, er gab diese heiseren, kleinen Laute von sich, die sein wortloses Wohlbefinden zum Ausdruck brachten und Kunibert jedes Mal wieder durch und durch gingen. Das war Cedrics Version eines sinnlichen Schnurrens, das nur einsetzte, wenn er wirklich entspannt war und ihm die zuteilwerdenden Liebkosungen eine Zeitlang aufrichtig zu genießen schaffte. Und es wurde mehr, es wurde besser, nicht stetig, aber doch merklich. Gedankenverloren führte Kunibert sein Streichelprogramm fort, sank ein wenig tiefer und fuhr wieder in die Höhe, nutzte die Seide, genoss das Gefühl, glitt mal dahin, mal dorthin, streichelte ein wenig tiefer, sog alles in sich auf, bis die Versuchung ihn zwang, fast beiläufig ein kleines Bisschen weiter nach unten zu stupsen. Nur die Spitze des kleinen Fingers. Nur ganz kurz. Ohne Druck, eher wie der Ausflug eines betrunkenen Schmetterlings. Und ganz wie ein Schmetterling landete er auf einer spannenden Oberfläche, die normalerweise keinem Gewicht standhielt. Oh Gott. Cedrics schlafender Körper hatte in der Tat reagiert. Viel deutlicher als sein wacher Geist es meist zuließ. Es wallte immer wieder in ihm auf, aber er konnte es nie halten, nie zum Ziel führen, aber jetzt … war es da, voll erblüht und bereits ein wenig feucht unter dem dünnen Stoff. Kunibert spürte, wie irgendetwas in ihm zusammenkrampfte, ihm etwas schwindelig wurde. Was tun? Cedric in Ruhe lassen? Cedric, der in seinen Armen lag, immer noch angetan murmelte und unmerklich gegen ihn drängte, als wolle er ihn einladen? Das konnte nicht sein, aber es war so verflucht verführerisch. Aber … Cedric hatte Angst. Aber … Cedric konnte begehren. Aber … er schlief. Aber … vielleicht war das auch gut so für ihn. Aber … er war kein notgeiler Barbar. Aber … er wollte, dass Cedric fühlte, genoss. Aber … aber … aber … Seine Fingerspitze glitt hinab, ohne dass er irgendeine Antwort gehabt hätte. Fühle die heiße, lebendige Härte. Tippte sanft, aber deutlich bestimmter an. Und Cedric seufzte leise. Kunibert fühlte, wie sein eigener Herzschlag sich beschleunigte. Er drückte seine Lippen fest auf Cedrics warmen Hals. Er spürte, wie seine Hand zitterte, als er sie tiefer gleiten ließ. War er dabei, eine wahnwitzige Dummheit zu begehen …? ……………….. Alles war gut … alles war gut. Er lag in seinem Nest, das wusste er auch im Dämmerschlaf. Seinem Kunibert-Nest. Und das lag nicht in erster Linie daran, dass Kunibert so groß und muskulös war, das könnte er ihm auch weit weniger positiv auslegen. Hatte er ja auch. Nein, das lag an Kunibert, der sich eher den Arm abhacken würde, als ihm etwas zu tun oder zuzulassen, dass das jemand anderes tat. Genau wie er … er würde auch Blutwurst aus jedem machen, der seinem Freund krumm kam. Irgendeinen Weg gab es da notfalls immer, auch heute noch. Finger weg von Kunibert. Apropos Finger …? Etwas Merkwürdiges stieg in ihm auf. Wo war er noch mal? Bett. Nest. Alles wie immer. Aber doch stimmte hier irgendetwas nicht. Irgendetwas war anders. Sein Verstand trudelte träge gen Oberfläche. Nein, keine Gefahr … langsam … es roch richtig, Kunibert. Fühlte sich richtig an. Lange Beine, angewinkelt, die sich von hinten an seine schmiegten. Die Weichheit des obligatorischen Kissens vor Kuniberts Unterleib. Brauch, Brust, Arme. Geruch. Atem. Und Finger … Finger auf ihm … streicheln … Streicheln war gut, das konnte er. Er döste weiter. Zwischen Wachen und Schlafen waren keine allzu klaren Gedanken, nur ein sanftes auf und ab Schwappen des Bewusstseins. Kuniberts warmer Körper umschlang ihn enger. Er fühlte, wie seine Brust liebkost wurde. Gut … gut … weiter … auch der Bauch … mmm, drück mich ein bisschen näher an dich … ah … warm … warm … so warm … noch ein bisschen … das ist gut … so gut … Dann sauste plötzlich irgendetwas ohne Vorwarnung jaulend seine Wirbelsäule hinauf, sein Körper verselbständigte sich zuckend, und er wurde ruckartig wirklich wach. Er zwinkerte. Ihm war sehr, sehr merkwürdig zumute. Sein Herz pochte, als sei er gerannt. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was da los war. Kuniberts Hand lag bebend auf seinem Schritt und drückte vorsichtig dagegen. Und der hatte bereits geantwortet. Klar und deutlich. „Cedric?“, drang Kuniberts Stimme verunsichert in sein Ohr, bevor er die Lage recht erfassen konnte. „A… alles … alles klar?“ Er bekam nur ein unartikuliertes Gemurmel zustande. Er wusste es selbst nicht. Überhaupt nicht. War das jetzt okay oder nicht? Ihm war, als sei ihm ein puscheliger Alien in den Schoß gesprungen, vor dem er sich eigentlich zu Tode gruseln müsse, der aber einfach so possierlich und … warm war. Gar nicht feindselig. Der kam in Frieden, aber volle Kanne. „No… noch ein bisschen …?“, stammelte er wirre. Er fühlte, wie seine Muskeln sich spannten, er hörte diesen Hauch des „Nein… kannichnichtwillichnichtniewiederniewieder“ in sich, aber er kam von Fern wie durch einen dichten Nebel. In Sichtweite hingegen war dieses … gut … warm … anfassen … nicht gerade die raffiniertesten Gedankengänge, aber die brauchte er dazu ja auch nicht. Kuniberts Daumen bewegte sich, glitt tastend über den Stoff, hinauf dorthin, wo er besonders empfindlich war. Es wurde noch wärmer. Nein … keine Panik … gar nicht … trotzdem Angst … aber nicht vor dem Damals, sondern vor dem Jetzt. Funktionierte er noch? Im Augenblick sah es fast so aus, aber das konnte sehr schnell wieder vorbei sein, wenn er gegen eine dieser inneren Mauern stieß, die ihn einfach nicht weitergehen lassen wollten. Sie wurden weniger, brüchiger, er konnte die andere Seite erahnen, aber sie schien dennoch so unerreichbar. Es hatte ja keine Rolle gespielt, dass er nichts mehr empfunden hatte, als er es nicht hatte wollen können, aber jetzt? Jetzt empfand er etwas. Und er wollte es. Auch das war beängstigend. Es war nicht die Geilheit von einst, obwohl er eine Männerhand an seinen Kronjuwelen hatten, die ihre biologische Funktionstüchtigkeit bewiesen. Doch diese Hand gehörte nicht irgendeinem Stecher, sondern Kunibert. Nicht nur sein Hirn, sondern auch das Irrationale in ihm hatte gelernt, dass Kunibert ihn sofort loslassen würde, wenn er nur einen missliebigen Pieps von sich gab. Wollte er piepsen? Er war kein Spatz. So klein war er auch nun wieder nicht. Außerdem fraß er keine Würmer. Aber was empfand er nun genau? Garantiert nicht dieses: „Komm schon, fick mich durch, mach alles mit mir, was du willst … und noch ein paar Dinge, von denen du gar nicht ahnst, dass du sie willst!“ Schon allein der Gedanke daran drohte ihm fast alles zu versauen. Aber so kannte er Sex, so hatte er es doch immer gehalten … und es war verflucht geil gewesen … damals … Doch wenn ihm jetzt Kunibert das Gemächt kraulte, als sei es ein verschüchtertes Tierchen, das man aus einer kalten Höhle hervorlocken wollte, das war doch irgendwie auch Sex? Zwar deutlich kränker, als er ihn kannte – doch er war ja auch totaler Matsch, oder? „Cedric?“, fragte Kunibert erneut, da er sich nicht regte. „Soll ich … meine Hand da wieder weg nehmen?!“ Er seufzte tief. „Nein“, antwortete er, sich selbst tretend. Er war schließlich kein totaler Feigling. Solange es nicht die Panik war, musste er der Angst zeigen können, wer hier der Boss war. Nicht leicht, aber möglich, hoffte er. Mehr als schief gehen konnte es nicht. Aber auch, wenn man die Schlacht verlor, dann unterlag man nicht gleichbedeutend im ganzen Krieg. Einen Versuch war es doch wert? Außerdem war es so schön warm. Dennoch bibberte ein Teil von ihm. „Mach … mach weiter … ein bisschen … okay?“, forderte er Kunibert auf. „Wie du möchtest“, murmelte Kunibert, dem es auch nicht viel besser zu ergehen schien als ihm. Der Körper des größeren Mannes war angespannt, er wirkte hochkonzentriert und konfus zugleich. Das war irgendwie beruhigend. Aber die Finger, die ihn jetzt in gezielter Ruhe ertasteten, umschmeichelten, die waren doch gar nicht so schrecklich, als dass sie ihren Effekt total verfehlt hätten. Und das, was sie zu ihm sagten, war auch nicht: Ich will! Los! Sondern … „Ist gut … ist gut … Cedric … nicht denken … nur fühlen … hab dich lieb …“, drang zu ihm durch. In einem anderen Leben hätte er sich darüber totgelacht. Bestenfalls. Aber jetzt war das egal. Jetzt war das die Antwort, die er brauchte. Kuniberts Finger legten sich um seinen Schaft, rieben fast unmerklich durch die Seide, tasteten tiefer, kraulten seine Hoden, er ließ es regungslos geschehen, während er sich anstrengte, genau das zu tun, um das Kunibert ihn gebeten hatte. Nur fühlen … die Finger … die Berührungen … den Liebesdienst, den Kunibert ihm hier anbot. Er konnte es ganz weit hinten in seinem Bewusstsein fühlen, die altbekannte Hitze, die an den Festen seines Verstandes rüttelte und ihn lockte und in Tippelschrittchen gen Oberfläche steuerte. Aber noch stand er oben auf seiner Klippe, nicht sicher, was geschehen würde, wenn er an den Punkt kommen würde, springen zu müssen – oder auch nicht: würde er fliegen – oder mit Gewalt auf den Grund donnern? Aber trotz seiner Bedenken und der Angst gab sein Körper nicht nach, sondern schien unter Kuniberts Liebkosungen angenehm zu pulsieren. Merkwürdigerweise war es ihm bisher nicht einmal gelungen, sich selbst in eindeutiger Absicht dort berühren zu können oder zu wollen, denn er war es doch damals gewesen … doch Kunibert konnte es irgendwie, gerade weil er kein Teil dieses „damals“ war. Kuniberts Hand wanderte wieder aufwärts, übte leichten Druck an der Stelle aus, die das sehr zu schätzen wusste. Als Kuniberts Handfläche sich über ihn breitete und in einen leichten Rhythmus verfiel, begann er weiter zu trudeln. Ohne sich stoppen zu können seufzte er auf. Oh Gott, war das lange her, dass er da unten etwas Erfreuliches gefühlt hatte. Das war irgendwie völlig unfassbar. Kunibert küsste ihn von hinten auf den Scheitel und flüsterte: „Du fühlst dich so schön an.“ „Du auch … schön …“, hörte er sich selbst brabbeln. Das Gefühl intensivierte sich weiter, wie Brausepulver in Sprudelwasser am unteren Ende seiner Wirbelsäule. Es begann sich aufzubauen, ganz langsam, dennoch verblüffend schnell. Noch könnte er zurück, noch hatte er die Kontrolle über seinen Körper. Sich im Rausch so umfassend wie irgend möglich hinzugeben, war einst seine Passion gewesen. Anders würde es auch jetzt nicht gehen, das gehörte zum Wesen der Lust. Aber der, der sie ihm zu bereiten jetzt anbot, war Kunibert. Kunibert mit dem Kissen im Schritt und seiner Engelsgeduld und seiner fragend-verwöhnenden Hand, die so warm war und vorsichtig … das war seine Chance … er lag in keinem Sling, sondern in Kuniberts Fleece-verhüllten Armen in ihrem Bett, da würde er weich fallen, auch wenn er stürzte. Logik hin und her, die allein brachte hier auch nichts. Er horchte noch einmal tief in sich hinein. Ja. Dann mal voran … was auch immer … „Kunibert“, krächzte er mit rasendem Herzen. „Mach. Fass mich … fass mich richtig an … bitte …“ Kunibert hielt kurz inne. Er musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er lächelte als habe er einen Lebensvorrat Schokolade gewonnen. Kunibert löste seine Hand von seinem Untergeschoss, das das ziemlich enttäuschend fand, und legte sich auf seine Wange, drehte ihn mit leichtem Druck zu sich, um ihn zu küssen. Cedric schmiegte sich in die Umarmung und genoss es. Küssen war ja inzwischen schon fast ein Heimspiel. So richtig wild war es zwar nicht, immer schwang Kuniberts eiserne Rücksichtnahme darin mit, aber deutlich mehr als ausreichend. Als ihre Münder sich wieder voneinander trennten, stupste Kunibert mit der Nase gegen seine und sagte: „Komm … wenn du möchtest … Ich … ich halte dich, okay?“ Er nickte stumm. Kunibert rappelte sich leicht auf, schnappte sich ein weiteres Kissen als Rückenpolster und lehnte sich gegen das Kopfende des Bettes, drapierte das andere Kissen wieder vor sich und öffnete einladend Arme und Beine. Cedric sah zu, ihm nach zu kriechen, dann fand er sich in einer Art lebendigem Verwöhn-Stuhl wieder mit Kuniberts Oberkörper als Rückenlehne und seinen Schenkeln als Haltegriffe. Kuniberts Arme schlangen sich um ihn, drückten ihn. Die Haltung ermöglichte ihm, ihn mit beiden Händen zu berühren. Praktisch veranlagt in allen Lebenslagen. Erneut wurde seine Brust akribisch gestreichelt, dieses Mal beidseitig, bekanntes Terrain, ganz ruhig … Kunibert öffnete langsam die Knöpfe seines Pyjama-Oberteils. Haut an Haut – und Kunibert war ganz offensichtlich ganz hingerissen von seiner Haut. Da war er zwar nicht der Erste, aber in diesem Falle konnte er es zumindest erwidern. Er streckte sich gegen den Anderen aus, ließ sich wieder treiben, bis Kuniberts Linke sich verstärkt seinen Brustwarzen zu widmen begann, die das sehr zu schätzen wussten, während die andere Hand ganz langsam seinen nackten Bauch hinunter wanderte. Sie verweilte kurz am Bund der Hose, während er gespannt nach Luft schnappte, aber in Position blieb, dann glitt sie wie in Zeitlupe hinein. Noch mehr Haut. Noch mehr Haut auf seiner Haut. Warum war das da so nass?! War er das? Sabberte sein Geschlecht nach der ewigen Enthaltsamkeit jetzt etwa wie ein hungriger Hund vor dem Futternapf? Kunibert schien es anscheinend zuzusagen, er gurrte irgendetwas Erfreutes, das Cedric nicht ganz mitbekam, weil da ein beweglicher Daumen die Vorboten seiner Lust kreisend über die sensible Spitze verteilte. „Oh Mann!“, stöhnte er etwas überfahren und presste sich automatisch noch fester an den Anderen. Kunibert erforschte ihn mit derselben konzentrierten Sorgfalt, die er sonst seinen Steinen widmete. Cedric kam endgültig ins Rutschen, als er sich seiner erbarmte, seinen Schaft umfasste und ihm mit unendlicher Vorsicht die Reibung schenkte, nach der jetzt nicht nur sein Körper schrie. Die andere Hand bearbeitete noch immer seine Brust, er selbst krallte sich in Kuniberts Oberschenkel, als es ihn von der Klippe blies, sein Verstand aushakte, die noch mögliche Angst zerstob, und er nur noch wollte. Und das hier mochte zwar wie so eine Art zweites Erstes Mal wirken, aber er war nun gewiss keine Unschuld mehr. Nein, das war es nicht. Er war Cedric… Cedric… und das hier war… Das Feuer raste mit fast nicht mehr erinnerter Süße durch ihn, er keuchte, jubilierte, sein Körper spannte, seine Hüften folgten dem Ruf des Verlangens und stießen instinktiv vor, hinein in diese feste Umhüllung, die ihn endlich wirklich pumpte, den urtümlichen Takt der Ekstase auf ihn übertrug, die ewig währen sollte und zugleich zum Gipfel kommen … und … Sein Denken verengte sich auf die Signale seines Körpers, schien eine ganze Kaskade von begehrenden Vulgaritäten zu brüllen und zugleich Kuniberts Namen … …………………………… Kunibert konnte kaum atmen, obwohl sein Herzschlag raste und seine Lungen nach Sauerstoff schrien. Seine Erregung siedete vor sich hin und zugleich wurde er Zeuge, wie Cedric die Grenze zum ersten Mal seit langer, langer Zeit überschritt. Und er war hinreißend in seiner Lust. Irgendetwas war geschehen, Kunibert hatte keine Ahnung was, aber es hatte einen Teil von ihm an die Oberfläche schnellen lassen, den Cedric da als tot und verwesend eingelagert hatte. Anfänglich war er zaghaft gewesen, angespannt und passiv empfangend, doch jetzt … Gute Güte, was war das denn?! War das jetzt gut oder schlecht? Fühlte sich verdammt gut an … aber das war auch kein Kriterium … oder? Wie …? Cedric wand sich wie ein brünstiger Aal auf ihm, folgte seinen Berührungen, forderte sie ein, wurde immer wilder und härter. Er fühlte Cedrics feuchte Haut und die sie umschmeichelnde Seide, die pulsierende Hitze seines wieder voll zum Leben erwachten, gierigen Geschlechtes in seiner Hand und ein Crescendo heiserer Laute, die jetzt aber nicht mehr nur Wohlsein ausdrückten, sondern tiefer waren, fast wie das Grollen einer Wildkatze kurz vor der Attacke. Ihm standen förmlich die Haare zu Berge im Angesicht dieses Szenarios. Cedrics Schenkel klappten nach außen, drängten mit Wucht gegen seine, sein Unterleib hob von der Matratze ab und begann voll Ungeduld voran zu stoßen, während Cedric laut keuchte. Sein Kopf flog in den Nacken und er schrie auf: „Oh ja, verdammte Scheiße! Besorg’s mir! Besorg’s mir, du geiler Hengst! Kunibert!“ Vor Schreck hätte er beinahe losgelassen. Okay … falls irgendwelche Zweifel bestanden hätten, wäre jetzt gesichert, dass Cedrics Libido keinesfalls auf ewig hinüber war. Aber das, was er da gerade von sich gegeben hatte, war schon ganz schön verstörend. Aber eigentlich war ja gewarnt, dass Cedric im Bett schon etwas spezieller gewesen war, aber das so um die Ohren gedonnert zu bekommen ... Hengst?! So wie es aussah, hatte Cedric sich keineswegs in ein zahmes Kuschelmonster verwandelt. Das war wohl Cedric … Cedric auf hundertachtzig, frei fliegend, ganz wie er wohl eben war in diesem Zustand. Das saß wohl irgendwie ganz tief in ihm – und war gerade am Ruder. Oberarschloch-Cedric? Vielleicht … solange es klappte … Doch damit hatte er ganz und gar nicht gerechnet. Ein zaghaft sich vortastender Cedric, jedes winzige Schrittchen ein Erfolg, Zärtlichkeit, Geduld, Sanftheit … aber das hier?! Bekam Cedric gerade ein Flash Back? Nein … und ja … keine Zeichen eines Zusammenbruchs zu sehen … aber auch etwas ziemlich Neues oder Altes oder …? Kunibert war es eigentlich nicht gewohnt, dass man ungeniert Schweinereien durch den Raum brüllte, dennoch war das schon irgendwie heiß. Es flüsterte: „Ich scheiß auf alles! Sitte, Anstand, Moral, Peinlichkeit - vergiss es! Ich will! Ich will! Ich will!“ Wer war der Kerl in seinen Armen? Cedric. Immer noch Cedric. Er selbst stand derweil verdammt nah daran, ebenfalls auszuticken, aber leider durfte er sich da keinen Illusionen hingeben. Cedric durchlebte gerade keine Wunderheilung, sondern tat nur den ersten, aber entscheidenden Schritt. Er hatte losgelassen – und das war das Ergebnis. Verstörend. Aber … oh Gott .. wie es wohl wäre, gemeinsam mit ihm zu rasen …? So hatte er noch nie …? Ganz schlechter Gedanke jetzt, wenn er das wirklich eines Tages erleben wollte. Wollte er den „geilen Hengst“ hinlegen?! Bei klarem Geiste höchstwahrscheinlich nicht, aber von dem waren aktuell nur die aller notwendigsten Fragmente erhalten geblieben, die auf Primatenniveau dafür stimmten, dass das ein genialer Plan sei. War das Cedrics „Stechern“ von dereinst genauso ergangen? Und da war er noch in Hochform gewesen. Wie wäre …? Nichts da … ganz ruhig … weitermachen … Cedric war weit entfernt von einer Panikattacke, das war die Hauptsache, doch stattdessen loderte er und tobte, nichts war mehr mit Cedibär, der Anblick des sich wollüstig Windenden, der sich gegen ihn presste und an ihm zerrte, war unglaublich, und da war es auch in Reinkultur: diese Kompromisslosigkeit, dieses Fordernde selbst im Bitten, selbst in der Hingabe zu seinen Berührungen … das war Cedric Kalteis, begann er zu begreifen, wehe, wenn er losgelassen. „Ah!“, schrie Cedric auf. Er fauchte regelrecht: „Ja! Mach’s mir! Verdammt! Härter! Ja! Härter, verflucht! Oh Mann, schneller!“ Sein Becken krampfte verlangend aufwärts, sein Gesicht war verzerrt, die grünen Augen leuchteten fiebrig. Kunibert sah zu, der Aufforderung Folge zu leisten, obwohl eine Stimme in ihm immer noch meinte, dass er Cedric doch besser sanfter anfassen solle – doch dieser schien da mittlerweile ziemlich anderer Auffassung zu sein. Er schluckte, selbst innerlich am Schwanken, dann rieb ihn so hart und fest, wie er das noch nie bei jemandem getan hatte, sich selbst eingeschlossen. Das, was falsch erschien, war irrsinniger Weise gerade goldrichtig. Das war es, das Cedric wollte und brauchte, wie seine ekstatischen Laute verrieten. Einige Dinge schienen sich trotz allem nicht grundlegend geändert zu haben, wahrscheinlich war das auch wirklich nicht möglich, zu tief war es im Wesen jedes Menschen verankert. Cedric war anders, Cedric war gleich, Cedric war Cedric, und er stöhnte voll Lust in seinen Armen. „Oh! Kunibert!“, keuchte er abhackt. „Volldampf! Ich will …“ Weiter kam er nicht, sondern wurde von einem gewaltsamen Zucken überrollt, er donnerte gegen Kunibert, grub die Hände schmerzhaft fest in seine Schenkel, während seine Geschlecht spannte, und er sich begleitet von einem gedehnten, kehligen Schrei in mehreren Zügen ergoss. Kunibert hatte das Gefühl zu zittern, und das trog auch nicht. Seine Hand war patschnass, den edlen Pyjama hatte es auch erwischt und Cedric hing schwer atmend auf ihm. Er versuchte sich irgendwie zusammen zu reißen. Sein vernachlässigtes Glied unter dem verdammten Kissen war so schrecklich hart und winselte nach Aufmerksamkeit. Durchhalten … durchhalten … gleich kannst du kurz ins Bad, stupst einmal dagegen und fliegst postwendend in die Luft … Cedric gab einen murmelnden Laut von sich, während er zwinkernd die Augen öffnete und zu ihm hinauf starrte. Sein Blick gewann Fokus, seine Gesichtszüge entspannten sich. Er lächelte ungläubig und voller Stolz. Dann fasste er hinab dorthin, wo Kuniberts Hand noch immer lag, tastete durch seine Nässe und gluckste beglückt. „Scheiße, das war geil!“, verkündete er immer noch atemlos. „Ich kann’s noch! Ich fasse es nicht! Es geht! Was für eine Sauerei … da hatte sich mal wieder ganz schön was angesammelt … und jetzt ist es draußen … danke, Herr Doktor …“ Er wurde von einem fast hysterischen Kichern geschüttelt. „Gern geschehen“, lächelte Kunibert zurück, dessen Herz einfach erbarmungslos weiterklopfte. Das Erlebnis stand mit gnadenloser Deutlichkeit vor seinen Augen. Nix mit Cedric hübsch – aber sehr viel mit Cedric heißer als die Hölle. Auf eine Art, die er weder kannte noch bisher plastisch mit ihm Verbindung gebracht hatte. Dieses Bild würde er niemals wieder loswerden. Wollte er ja auch nicht. Aber aktuell wäre er liebend gerne noch etwas anderes losgeworden. Er seufzte etwas trauernd, aber vor allem galt es doch, sich zu freuen, über und mit Cedric. Cedric schloss ein Auge und spähte zu ihm hinauf. „Das glaube ich dir gerne“, erwiderte er grinsend und ganz offensichtlich ziemlich aufgekratzt in seinem Siegestaumel. „Allerdings … mmm … bist du gerade mal wieder richtig angeschissen, nicht wahr?“ Kunibert hätte beinahe aufgeschrien, als sich Cedric fest gegen ihn drückte, so dass sein Keuschheits-Kissen ordentlich platt gedrückt wurde. Seit wann machte er denn sowas? „Macht doch nichts“, wehrte er routiniert ab. „Ist doch egal, Hauptsache…“ „Ja ja. Diesen Sermon kenne ich schon. Aber ich befinde mich gerade im post-orgasmischen Irrsinn. Und gerade der sagt mir, dass das keinesfalls egal ist. Nutzen wir’s, solange es dauert. Zeig mal her!“, meinte Cedric, richtete sich auf, drehte sich und kniete sich frontal vor ihn. Seine Augen glänzten, er lachte über das ganze Gesicht. „Was?“, stammelte Kunibert ziemlich wirre. „Was wohl“, erwiderte Cedric wohlgelaunt, „deine Armbanduhr? Wohl kaum.“ „Aber Cedric“, protestierte er, obwohl der größte Teil von ihm ihm deswegen den Nobelpreis für Idiotie verleihen wollte, „das eben … ist eine Sache. Und bei deinen Erlebnissen …“ „Halt! Die! Klappe!“, schnitt Cedric ihm bestimmt das Wort ab. „Ich will keine Therapie-Stunde, sondern einen Blick auf deinen Schwanz. Ich konnte fühlen, jetzt will ich sehen. Oder bist du ganz spontan unter die Puritaner gegangen?“ Wenn Cedric so drauf war, gab es nur zwei Alternativen, das wusste Kunibert inzwischen nur zu gut: man sollte schleunigst spuren oder das Weite suchen. Letzteres kam gar nicht in Frage. Selbst wenn er sich aus Gründen der Vernunft dazu durchränge, er würde niemals auf die Beine kommen, da der Rest von ihm völlig blockierte. Was immer da gerade mit Cedric geschah - er wusste schließlich selbst, was er sich zumuten konnte … „O… okay …“, gab er sich geschlagen und warf seufzend das Kissen zur Seite. „Ganz wie du meinst.“ ……………………….. Er war wirklich völlig pervers, jetzt war es amtlich. Er hockte in einem völlig eingesauten Schlafanzug auf den Knien und starrte einen bildschönen blonden Hünen an, der ihm errötend seine Erektion präsentiert. Den degenerierten Hauch bekam das Ganze daher, dass Kunibert noch immer seinen Krümelmonster-Pyjama trug, das Oberteil aufgeknöpft, die Hose lediglich ein wenig herab gezogen. Und er fand das Ganze dennoch durchaus nicht schlecht. Sollte er eigentlich – aber tat er nicht. Bloß nicht nachbohren, sonst überlegte es sich seine lädierte Psyche doch noch anders. Hätte er nie im Leben gedacht, dass er nochmal das einsatzbereite Glied eines anderen Mannes würde anschauen können, ohne auf die ungute Art und Weise durchzudrehen. Aber in den letzten Wochen … er war ja nicht blöd, sicher war es immer da gewesen, aber hatte ihn dennoch nicht gebissen. Auch jetzt biss es nicht, jedenfalls nicht ihn. Aber das war eben die Sache: Das hier war Kuniberts Ständer mit einem sich nervös windenden Kunibert daran, der sich garantiert nicht grunzend auf ihn stürzen würde – es sei denn, er wollte das so. Okay, das war jetzt zwar nicht der Fall, aber vielleicht würde das irgendwann wieder werden. Gerade schwamm er auf einer Woge von Glückshormonen unterschiedlicher Herkunft, die nicht bloß aus der physischen Realität eines wirklich erlebten Höhepunktes schöpften. Aber schon das war unglaublich genug. Am liebsten wäre er ein wenig sinnentleert durchs Haus getanzt und hätte eine Runde vor Marx und Engels geprahlt. Da staunt ihr, was? Herrchens Schwanz funktioniert wieder! Unglaublich, aber wahr! Und wer hatte das möglich gemacht…? Aber um Kunibert stand es gerade wirklich übel. Der war kurz vorm Platzen, dazu musste man nun wirklich kein Fachmann zu sein, um das festzustellen. Aber dennoch riss er sich immer noch krampfhaft zusammen, dieser strahlende Held. Tja, die Queste war erfolgreich gewesen, aber der Ritter hatte Blessuren erlitten. Bestandsaufnahme: Nein, er brach nicht vor Angst in die Knie, weder auf die logischen noch unlogische Art. Ja, er war immer noch total euphorisch, das mochte da hilfreich sein. Nein, er war nicht schon wieder geil. Und ja, er liebte Kunibert immer noch, trotz seines Aufzuges und seines unmissverständlich erkennbaren Begehren nach ihm. Oder vielleicht auch deswegen. Und gerade jetzt sogar noch mehr als sonst, bildete er sich ein. Kunibert hatte es geschafft, es irgendwie hinbekommen. Nicht allein, aber das hier war zu nicht geringem Teil sein Verdienst. Das machte zwar nichts ungeschehen, aber doch weniger bedeutend. Zumindest jetzt gerade. Er sah zu, seinen im eigenen Safte köchelnden Freund anzublicken. Sicher, da war ein Glied in dem Format, wie er es immer zu schätzen gewusst hatte, wohlgeformt, den einstigen Qualitätskriterien voll entsprechend - aber in diesem Fall war es lediglich ein Teil von Kunibert. Nun gut, nicht unbedingt „lediglich“ – aber vor allem weckte es keine negativen Assoziationen in ihm, die ihn in die Flucht schlagen konnten. Kunibert war nicht „sie“, da bestand keinerlei Verwechslungsgefahr. Aber Kunibert war sehr wohl ein Mann. Und zwar ein Mann mit einem Problem, das er in den letzten Wochen jedes Mal diskret alleine erledigt hatte, weil er selbst es nicht hinbekommen hatte, in demselben Maße zurückzugeben, wie er empfangen hatte. Kunibert hatte ihm nie einen Vorwurf gemacht, nicht einmal indirekt, das hatte ihm die Freiheit gegeben, voranzugehen bis … hierher. Und jetzt? Einfach bedanken und Kunibert Richtung Bad verabschieden? Nein, nicht Kunibert … Er wusste so vieles … Techniken, Spielarten, aber … das war es nicht, das war es nicht … und wirklich anzufassen, das wäre schon … Doch eben hatte es auch geklappt. Trotz seiner misslichen Lage lächelte ihn Kunibert tapfer an. Seine Augen schienen zu fragen, ob er nicht doch besser die Hose wieder hochziehen solle, auch wenn er kurz vorm Durchdrehen sein mochte. Aber er … er wollte ja … nicht rummachen um der Geilheit willen, Brosamen verteilen, sondern geben. Er wollte auch geben. Kunibert geben. Seinem Kunibert, der nicht forderte, sondern schenkte. Ihm das hier geschenkt hatte. Es war ja nicht bloß die Tatsache, dass er überhaupt wieder etwas Sexuelles hatte zulassen können, sondern dass er jetzt wirklich hier war. Dass er einmal geschafft hatte, dem Schatten zu entkommen, und sich jetzt so unglaublich lebendig fühlte. Er würde es wieder schaffen. Er machte sich nichts vor, leicht war das nicht gewesen und würde es auch weiterhin nicht sein, auch nicht für Kunibert, doch der hatte das klaglos getan, weil er ihn achtete und liebte. Das tat er andersherum ja schließlich auch. Also … Er biss sich von innen auf die Unterlippe und krabbelte wieder näher. Kunibert zitterte, aber regte sich nicht. Cedric lehnte sich vor, griff nach den kuschelig verpackten, breiten Schultern des Anderen und sah ihn stumm an. „Cedric“, meinte Kunibert sanft. Er räusperte sich. „Okay“, sagte er, um das Eis ein wenig zu brechen. Der Körper vor ihm war ihm wohlvertraut, sein Nest … aber Kunibert mochte zwar zeitweise ein Super-Kuschelkissen sein, im Augenblick war er es nicht. „Ich schaffe das … ich schaffe das …“ Kunibert schwieg. In seinen Augen glomm wilde Hoffnung, aber auch diese Angst, es doch falsch zu machen. Kunibert sollte keine Angst haben müssen. Er griff ihn mit beiden Händen bei den Wangen, zog ihn ein wenig voran und küsste ihn. Kunibert hielt sich an die Spielregeln, aber er konnte das Kochen der Leidenschaft im Drängen seiner Zunge durchaus erkennen, auch wenn er sich zügeln mochte. Er löste sich, drückte seine Nase gegen Kuniberts, sah ihm in seine Veilchenaugen. „Wir schaffen das!“, behauptete er und griff nach Kuniberts rechter Hand. Kunibert stutzte kurz, dann begriff er. „Ja“, murmelte er. „Ich bin bei dir.“ „Gut … dieses Mal komme ich mit. Dieses Mal geht der Badezimmerspiegel leer aus. Also …“, er linste abwärts. Seine Hand lag in Kuniberts und wurde fast feierlich mitgezogen. Kunibert seufzte ungläubig auf, als sie ihr Ziel erreichten und seine Finger Kontakt aufnahmen. Heiß und hart und zum Bersten gefüllt, Teil von Kuniberts so lebendigem Körper, das ihm Erlösung und Vergnügen bereiten konnte … nicht bloß es … er … Er umschlang es, blickte in Kuniberts Gesicht, der hingerissen lächelte und dessen Blick immer trüber wurde. Kuniberts Hand schloss sich um seine. „Okay?“, wisperte Kunibert. Er nickte. Es war okay. Nicht unbedingt geil, aber darum ging es nicht. Na gut, für Kunibert war es auch geil. Aber Kunibert schnallte schon, was er da tat. Er tat das für ihn. Freiwillig. Deshalb ging es. Deswegen war das Geschlecht in seiner Hand keine Drohung, keine schlimme Erinnerung an Verzweiflung und Schmerz, sondern ein Werkzeug, eine Möglichkeit zu zeigen … Er war nach wie vor Cedric Kalteis. Mit dem großen Unterschied, dass er den Mann, der sich ihm hier hingab, nicht nur persönlich und mit Namen kannte, sondern liebte. Kunibert atmete schwer, als er begann seine Hand auf ihm zu bewegen, wimmerte er beinahe. Die blauen Augen starrten ihn weit aufgerissen an. „Schon okay, mein Großer“, murmelte Cedric. „Alles im grünen Bereich. Ist nicht viel, aber das geht.“ „Oh Gott, Cedric“, ächzte Kunibert. „Du fasst mich an … du fasst mich wirklich an … oh Gott … das ist so schön …“ Dafür, dass er gerade eigentlich nicht viel mehr tat, als Schützenhilfe zu leisten, während Kuniberts Hand über seiner den Takt bestimmte, klang das etwas übertrieben. Aber Kunibert hatte ziemlich lange auf dem Trockenen gesessen – und war wahrscheinlich genauso fassungslos wie er selbst, dass sie das hier wirklich taten, ohne dass es längst in einer Katastrophe geendet hatte. Er schloss die Augen und vergrub sein Gesicht an Kuniberts Hals. Kuniberts freier Arm schlang sich um ihn, umarmte ihn, während seine Atmung immer weiter beschleunigte. Kuniberts Kopf drängte gegen seinen. Er fühlte diese elastische Hitze, diese seidige Härte unter seinen Fingern und musste lächeln. Kunibert war doch ein Barbar. Aber in einigen Bereichen war das schon von Vorteil. Der Rhythmus verfiel ziemlich rasch ins Frenetische, Kuniberts Brustkorb hob und senkte sich hektisch, dann schnappte er tief nach Luft und sein Kopf schnellte in den Nacken. In Cedrics Hand pulsierte es. Kuniberts Muskeln bebten, seine Hüften krampften vorwärts, der Arm um ihn zitterte angespannt. Es wurde feucht. Kunibert zuckte und stöhnte unkontrolliert, dann seufzte er tief und entspannte sich wieder. Bewegungslos verharrten sie, die Hände um Kuniberts langsam Spannung verlierendes Glied noch immer ineinander verflochten. Schließlich sagte Kunibert mit einem ochsengroßen Frosch im Hals: „Danke! Dankedankedanke … Oh Gott Cedric, du bist so … so tapfer. So stark. So … so wundervoll …“ „Danke für diese hormonduselige Hymne“, erwiderte er etwas beschämt. Aber er war gerade stolz wie mindestens zehn Oskars auf sich, da ging ihm das runter wie Öl. Und das für einen Handjob dieser Art! Fühlte sich trotzdem wie der Weltrekord im Handjob-Geben an. Kunibert kam wieder zu sich, lachte laut auf, schlang die Arme um ihn und begann ihn kaltschnäuzig zu wiegen wie so einen Windelscheißer. „Hättest du das gedacht?“, jubilierte er. Cedric erwiderte die Umarmung, die unten rum ziemlich feucht war, und entgegnete ehrlich: „Nein. Hätte ich nicht. Aber es gibt ja auch noch mehr als Denken.“ „In diesem Falle: gut so! Himmel, Cedric! Das ist der beste Sonntagmorgen … jemals. Ich bin so verflucht froh! Nicht wegen dem eben, okay das auch, aber vor allem wegen dem davor. Du kannst es. Du hast gewonnen. Heute bist du der Sieger. Du bist … du bist … Cedric Kalteis!“, lachte Kunibert überschwänglich und wippte gnadenlos weiter. „Bin ich wohl“, murmelte Cedric und ließ sich einfach mitreißen. „Und du bist“, grinste Kunibert ziemlich weggetreten, während er wie besoffen Küsse auf ihm verteilte, Nase, Ohren, Wange, Augenlider, überall, „echt ein ganz schön versautes Früchtchen.“ „Häh?“, wunderte sich Cedric aufrichtig. „Du willst mir doch bitte, bitte nicht ernsthaft klar machen, dass das eben bereits deinen Erfahrungshorizont gesprengt hat!“ „So schlimm bin ich auch nicht“, wehrte Kunibert vergnügt ab. „Nein, ich meine diese Sauereien, die du gebrüllt hast, als du … abgelenkt warst.“ „Ich habe Sauereien gebrüllt?“, staunte Cedric. „Ja! Ganz schön … heftig“, kicherte Kunibert beduselt. „Ach was?“, erwiderte Cedric ratlos. „Habe ich gar nicht mitbekommen. Was bitteschön habe ich denn gesagt?“ „Gebrüllt eher. Die Quintessenz war: Besorg’s mir, du geiler Hengst“, fasste Kunibert zusammen und sah ihn halb amüsiert, halb fragend mit schräg gelegtem Kopf an. „Ach du Scheiße! Ernsthaft?“, fragte Cedric entgeistert. „Ich dachte, das hätte ich nur gedacht!“ „Ziemlich laut gedacht“, stellte Kunibert klar, während er ihm den Rücken streichelte. Das musste er erst einmal sacken lassen. „Dann … oh … bin ich … bin ich wohl … doch noch der Alte. Oder wieder. Scheiße!“, stöhnte er entsetzt. Kunibert zog ihn wieder näher und streichelte durch sein Haar. „Wohl auch. Aber du … du hast dabei auch meinen Namen gerufen. Auch in diesem Augenblick warst du hier. Bei mir“, sagte er. Cedric drückte seinen Kopf gegen die muskulöse, halb von Krümelmonstern verhüllte Brust des Anderen. „War ich. Aber ich bin wohl echt kein Kuschelbärchen. Tut mir leid. Und wundert mich und …?“ „Ah was“, wischte das Kunibert vom Tisch. „Sei, wer du bist. Ich war verblüfft, muss ich zugeben, aber du warst auch … äh … echt heiß. Du warst echt wie so eine Raubkatze. Völlig verrückt. Und zum Verrücktwerden. Wunderschön. So etwas habe ich noch nie erlebt. Und das gehört dir … uns … wie auch immer. Ich bin echt geplättet. Aber das ist gut, oder? Die … die haben dich nicht völlig erledigt. Ganz und gar nicht. Du bist immer noch du.“ „Naja“, erwiderte Cedric. „Ich – jetzt. Ein paar Dinge haben sich schon gravierend geändert und sind nicht mehr rückgängig machbar. Aber dafür habe ich jetzt auch ein paar andere – und vor allem habe ich dich. Ich liebe dich, Kunibert, aber ich weiß auch nicht. Ich habe es gefühlt, wie damals, und doch dich, und ich bin … ich bin nicht so der Kandidat für Blümchensex, nie gewesen. Und jetzt wohl auch nicht. Ich habe es immer geliebt, dominiert zu werden und dennoch der Boss zu sein. Das war für mich Lust. Immer noch, so wie‘s ausschaut.“ „Magst du das hier trotzdem?“, fragte Kunibert, umarmte ihn mit der Innigkeit eines großen, glücklichen Menschen und küsste ihn warm. „Ja“, flüsterte Cedric. „Das mag ich auch. Und das ist neu. Aber was ist mit dir?“ „Ach“, seufzte Kunibert. „Ich will nicht lügen. Ich bin wahrscheinlich nichts gewohnt. Klar, ich bin kein total blinder Naivling, sicher weiß ich, dass es jenseits der Missionarsstellung Dinge gibt. Aber wild herum probiert habe ich nie. Ging mir immer um den Menschen in erster Linie, nicht um irgendwelche Geilheiten. Bis auf diese Nummer neulich – grässlich! Vielleicht bin ich da etwas beschränkt. Aber mit so einem Menschen wie dir war ich auch nie zusammen. Du weißt da tausend Mal mehr als ich, hast viel mehr erlebt, ausprobiert, früher. Und wenn du es als lustvoll empfindest, diese dir eigene Schizophrenie auszutoben, dann ist das doch … Ich weiß nicht … faszinierend? Dir eben eigen? Ein Zeichen dafür, dass dieser Teil von dir sehr wohl noch quietschlebendig ist? Es ist zwar verwirrend, aber es ist okay. Himmel, Cedric, du warst so hinreißend! Ich bin auch nicht gerade passiv, so wie man das üblicherweise definiert. Ich bevorzuge diese Richtung, aber wie gesagt – beschränkter Erfahrungshorizont meinerseits. Du gibst mir da ganz schön Input, das muss ich noch etwas verdauen. Ich meine, wir haben den ersten Schritt getan. Alles andere wird sich finden. Aber es ist für mich nicht prinzipiell unvorstellbar, Gefallen an dem zu finden, das du magst, auch wenn ich da nur diffuse Vorstellungen haben mag. Aber ich wäre nicht vorzugsweise Top, wenn ich diesen Drang nicht verspüren würde. Doch da musst du mir gegebenenfalls auf Spur helfen, wenn dich nach etwas verlangt. Wenn ich’s nicht will, werde ich das schon sagen. Aber davon sind wir weit entfernt. Ich will dir nur sagen: Ich will dich so, wie du bist. Vielleicht sprengt das meinen Horizont – aber dann sehe ich mehr vom Himmel. Was immer du brauchst, was immer ich brauche, kann, will, was auch immer, eines weiß ich: Du bist es. Du sollst glücklich sein, frei, wild, du – und da darfst du gerne auch mal vulgär rumpöbeln und mich Provinzheimchen schocken“, grinste Kunibert. „Ich weiß auch nicht, was mit mir ist und mit mir wird. Aber ich bin. Ich bin Cedric Kalteis. Und Sex hin oder her: Ich bin dein Freund. Ich liebe dich. Und ab heute bin ich auch dein … Geliebter? Beschissener Begriff. Was auch immer das bedeutet. Kunibert, ich begreife echt nicht, wie das passiert ist. Wer in Dreiteufels Namen dich geschickt hat? Ich glaube weder an Schicksal noch Gott. Trotzdem bist du da – vielleicht sollte ich der Denkmalschutzbehörde danken? Oder dem Zufall? Nein, da danke ich lieber dir. Du bist etwas, an das ich nie geglaubt habe. Du bist ein guter Mensch, Kunibert, mit Macken und Geschmacksverirrung –ohne Grund oder Mission, einfach gut. Das habe ich absolut nicht verdient, aber das Glück ist eine geistesgestörte Hure, das kann man sich nicht verdienen, bezahlen oder binden. Aber gerade ist sie da und hält Hof in meinem Kopf. Da fühlt sie sich garantiert heimisch aus alter Gewohnheit. Aber, Kunibert, schau uns an. Wir hocken hier in unseren eingesauten Pyjama-Hosen, meine wird übrigens langsam ungemütlich, und wir leben! Wir leben! Ist das nicht unfassbar?“ Kunibert schlang die Arme um seine Taille und erwiderte: „Ja – und nein – und ja – und nein …“ „Häh?“, fragte Cedric verwirrt. „Ach du verstehst schon“, lachte Kunibert. „Du bist der großartigste Rotschopf auf Erden – Ehrenwort!“ „Dann ist ja gut“, beruhigte er sich. „Aber etwas würde ich zur Feier des Tages dann doch gerne wissen“, stocherte Kunibert vergnügt. „Wie ich geduscht noch mal rieche?“, muffelte Cedric. „Nein … ob du wirklich auf jedem Körperteil Sommersprossen hast?“, grinste Kunibert. „Aha. Wissenschaftliches Interesse, garantiert. Kannst bei Gelegenheit ja mal nachforschen …“ Kapitel 31: Besser ist nicht genug ---------------------------------- XXXI. Besser ist nicht genug Weitere Wochen waren ins Land gegangen. Die Sonne begann, ihren Platz am Firmament dauerhaft zurückzuerobern, die Flora schickte sich an, wieder üppig zu erblühen. Kunibert war für fünf Tage fortgewesen, da er zu seinem Professor in Kiel zum Rapport gemusst hatte. Er kam gut voran, wenn er am Ende des Sommers spätestes einreichte, würde er eventuell Ende des Jahres seinen Titel haben. Und dann … man würde sehen. Sie wandelten trunken durch die Welt, immer im Kopf, wie sie einander entdeckten. Jedes Detail war von höchster Faszination. Jede Sommersprosse war wichtig, jedes blonde Härchen, das sich einer Gänsehaut folgend aufrichtete. Sie sicherten sich das, was sie erreicht hatten. Streicheln, ansehen, fühlen, loslassen und dann … aneinander schmiegen, reden, lachen, genießen, alles genießen. Cedric hatte sich eines Morgens dabei erwischt, die Websites einigermaßen renommierter Fernuniversitäten durchzuklicken. Zurück nach Paris ins studentische Milieu – niemals. Aber von zu Hause aus … es fertig machen …außerdem liebte er Bücher, selbst wenn er sie hasste. Es war die Beschäftigung mit ihnen, die ihn immer schon gebannt hatte. Nichts mehr als kleine Flecken, Zeichnungen auf dem Papier und darin – die ganze Welt, alles, klug und himmelschreiend dumm, weise und anmaßend, bunt und schwarzweiß, unterhaltsam und öde und … Seine eigenen Ergüsse inklusive der Arsch-Hymne waren hingegen ziemlich durchgehend zum Kotzen, aber er war da auch hyperkritisch. Immerhin hatte er keinen Druck, er konnte das wirklich aus Spaß an der Freude machen. Der Wert seiner Immobilien und seines Landes betrug mehrere Millionen, die regulären Einkünfte und Opa Alains Festgelder spuckten Renditen und Zinsen aus, von denen er lebte. Solange die Weltwirtschaft nicht völlig zusammenbrach, war er finanziell mehr als abgesichert. Nein, er war reich. Da durfte er nicht untertreiben. In der Hinsicht konnte er sich wirklich nicht beschweren. Er war scheißreich. Und es wurde immer mehr, da er ja kaum etwas ausgab. Die paar Klamotten und das Kunibert-Gehalt plus die laufenden Kosten verschlangen nichts. Irgendwann würde er sich wohl schon mit einem Anlageberater unterhalten müssen, bevor die von der Bank ihn noch zu Tode nervten. Er könnte ja auch etwas spenden. Dann wäre auch Ruhe. Für irgendein Naturschutzprojekt, Pflanzen und Tiere waren ihm da sympathischer als Menschen. Rettet den Hinterbüschendummrumhock-Reiher! Genau! Darüber könnte er nachdenken. Wie über so vieles, jetzt, da ihn das Geschehene nicht mehr vollends niederwürgte. Seine Beziehung zu seinen Eltern … verkorkst wäre noch geschmeichelt. Wozu hatten die ein Kind bekommen? Nur als Spiegel der eigenen Eitelkeiten? Au Pair-Mädchen hatten ihn großgezogen, während seine Eltern sonst was getrieben hatten. Er erinnerte sich an Edda, die hatte er geliebt. Als sie hatte gehen müssen, hatte er geweint. Edda war groß und blond gewesen. Und groß und blond mochte er noch immer. Seine Mutter … sie war ihm gegenüber immer eher wie der Manager seiner Kindheit aufgetreten, aber immerhin war sie durchaus für ihn dagewesen. Sein Vater war da eher wie ein Bekannter, den er mit „Papa“ anzureden hatte. Gelegentlich am Wochenende … oder an Festtagen, sonst war er rund um den Globus gerast für die Firma, teils mit seiner Mutter im Schlepptau. Er hatte sie damals trotzdem geliebt. Meinte er zumindest zu erinnern. Aber heute … seinen Vater gewiss nicht. Ob das der Kerl war oder ein anderer, völlig beliebig. Bei seiner Mutter war das schon noch etwas anderes, obwohl ihn bei dem Gedanken an sie auch nicht gerade Schauder der Innigkeit überfielen. Seine Mutter konnte schon, wenn sie wollte – oder Zeit hatte. Beides war allerdings eher sporadisch der Fall gewesen. Aber das war ein Zeichen ihrer privilegierten Stellung! Nur naive Unterschichten machten einen auf Familienidyll! Sie hatten zu tun! Und außerdem Klasse! Hatte er ja irgendwann genauso gesehen, zum Teil wohl auch bis heute, doch realistisch betrachtet … Auch wenn es noch so weh tat: sie waren beschissene Eltern gewesen. Hatten ihn, wenn er nach ihnen geheult hatte, in der Obhut fast noch minderjähriger Mädchen gelassen, die meist völlig überfordert gewesen waren. Materiell hatte er alles gehabt. Aber ansonsten … in dem, was man nicht sah, waren seine Altvorderen totale Versager gewesen. Und dass er jetzt hier rumhing, machte es erst recht deutlich. Die konnten ihn echt mal. Die waren so pädagogisch so brauchbar gewesen wie tote Schaben. In der Hinsicht war er wohl der perfekte Sohn für sie gewesen. Er wollte ihnen nicht mal unterstellen, dass sie ihn nicht geliebt hätten oder das nicht nach wie vor täten. Aber sie taten das schon auf ihre Weise, nach genau definierten Spielregeln und distanziert, wie es sich eben gehörte bei Leuten wie ihnen, die über emotionale Ausbrüche nur die Nase rümpften. Er hatte da sogar noch einen drauf gesetzt und zwar in einer Form und Intensität, die selbst ihre Vorstellungen gesprengt hatte. Sie hatten die Saat gelegt, aber er selbst hatte sie zu voller Blüte gebracht. Sein Vater hatte ihn besucht im Krankenhaus, immer und immer wieder. Hilflos, ratlos, geschockt, um eine gute Miene zum bösen Spiel bemüht. Hatte ihn mit Firmennews vollgelabert, während er vor Schmerz fast am Durchdrehen gewesen war. Geschweige denn aufgrund des Schocks. Hatte ihm gesagt, er müsse sich zusammenreißen, tapfer sein, er sei ein Kalteis, die kämen immer wieder hoch. Sie würden alles tun, damit er wieder in Ordnung käme. Er würde schon wieder werden. Weiterstudieren. Oder vielleicht doch noch eines Tages die Firma übernehmen. Herzlichen Dank. Wenn er nicht gewusst hätte, dass sein Vater das sehr wohl gutgemeint hatte, hätte er ihn gehasst. So war das nur ein Kerl gewesen, der sinnlos auf ihn einquatschte und der ihm jedes Weinachten Dinge geschenkt hatte, als säße er bereits in der Chefetage. Ein Goldfüller mit seinem Monogramm zum zehnten Geburtstag. Er hatte eine Action-Figur mit irren Muskeln gewollt. Hatte er nicht bekommen. Zu geschmacklos und billig. Aber das hatte er nachträglich schon noch nachgeholt, wenn auch am lebenden Modell. Seine Mutter war da graduell besser gewesen. Immerhin hatte er ihr abnehmen können, dass sie ab und an einen leichten Dunst davon hatte, dass sie seine Mutter war. Aber auch für sie war er ein potentieller Hampelmann, eine Selbstprojektion, die in ihrem Versagen doppelt traf, gewesen. Für ihn war auch jeder ein Hampelmann gewesen, nur da, um ihm zu nutzen. Selbst Etienne, wenn auch auf anderem Niveau. Etienne war da schon wie er gewesen. Sein Hintergrund war ganz ähnlich gewesen. Viel Lärm um nichts, aber das nach komplexen Regeln und mit unendlicher Arroganz. Hatte er ihn geliebt? Oder war Etienne sein Jakob? Alles hatte gepasst, aber das Wesentliche, das war nicht da gewesen. Er hätte es damals auch nicht fühlen können. Nicht sehen. Und vor allen Dingen: nicht wollen. Erst auf Schildkrötenniveau reduziert hatte er wieder den Abstand zum Himmel ermessen können. Er hatte Etienne sehr gern gehabt. Begehrt. Sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt. Sein alter Spießgeselle … Aber geliebt? Wirklich geliebt? Nein. Und das hatte nicht an Etienne gelegen, sondern an ihm. Es stimmte einfach nicht, was er damals zynisch belacht hatte. Es gab sie sehr wohl, diese Macht, diese das ganze Sein erfassende Kraft, die Tempo und Stillstand, Verrücktheit und Vernunft, platonische Zuneigung und Begehren vereinte. Hatte Etienne ihn geliebt, wie er es behauptet hatte? Vielleicht. Möglich war es. Aber das war nicht mehr machbar. Sein Etienne. Schon lange nicht mehr sein Etienne. Er hatte keine Chance gehabt. Er selbst hatte indes noch eine bekommen. Vielleicht seine letzte, vielleicht seine erste, vielleicht auch beides. Kunibert entstammte einer anderen Welt. Kunibert glaubte felsenfest an Dinge, die er für schiere Selbsttäuschung gehalten hatte – aber Kunibert lebte sie und bewies sie so empirisch. Und er konnte es fühlen. Reduziert auf den Minimalzustand war das aus seiner Asche gewachsen, denn Asche war ja fruchtbar: Er liebte diesen blonden Steinetätschler. Das war ein völlig fremdes Gefühl. Nicht Hilflosigkeit – den letzten Zahn hatte man ihm nun doch noch nicht gerupft, und wenn doch, mit Dübeln wieder perfekt künstlich im Kiefer verankert – sondern warm. Leidenschaftlich und ziemlich gaga. Kunibert war kein Ritter, kein Gott, aber er hatte schon so seine Qualitäten. Und die, die er hatte, reichten ihm persönlich völlig. Er war schließlich keine zickige Prinzessin. Er nahm Kunibert auch in seinen geschmacksverirrten, augenzwinkernden Klamotten und mit seinem Steinefetischismus. Notfalls auch mit Hörnern und zwei Köpfen. Aber seine regulären Macken waren da schon sympathischer. Aktuell lag sein Lieblingsbarbar auf der Couch, fraß Chili-Chips und sah Stark Trek auf DVD. Eine Himmelsvision der Proll-Seligkeit, mit der er sich nach der langen Fahrt von Kiel hierher zurück erholte. Cedric von einst hätte eine hämische Persiflage auf ihn geschrieben. Cedric von jetzt wollte auch Chips, Stark Trek allerdings nur mäßig, aber ihn küssen und küssen und streichen und spüren und ihm flüstern, wie gerne er ihn hatte, wie sehr sein Herz schwoll und klopfte in seiner Gegenwart. Und nicht nur sein Herz… ………………… Da saß er also. Der König der Steine. Der König seines Herzens. Der durchgedrehte, wilde, böse, liebe Cedric. Sein Cedric. Starrte unterschwellig naserümpfend auf Captain Kirk, der elende, hochtrabende Snob. Aber das war ihm egal. Irgendeine Ebene in Cedric mochte das sehr wohl. In jedem, der nicht völlig lahmarschig war, lauerte ein kleiner Nerd. Und Cedric war nicht lahmarschig. War er nie gewesen. Wann immer er die Grenze überschritt, hatte er etwas von einer Bestie. Einer verletzten Bestie. Aber ein wildes Tier verlor niemals seinen Charakter. Und Herr Sommersprosse hier neben ihm war auch ein wenig eine wilde Bestie. Davon hatte er zwar nie geträumt, einfach da es unvorstellbar gewesen war, aber langsam bekam er eine Vorstellung vom ganzen Cedric, auch von den Teilen, die sich erst jüngst begannen, wieder abzuzeichnen. Dominanz in der Hingabe, bestimmende Lust in der Unterordnung. Im Bett. Nicht hier. Das war etwas Sexuelles, aber auch Teil von Cedrics Wesen und Charakter. In keinem Fall etwas Logisches oder Erklärbares, aber so funktionierte Lust schließlich nicht. Bisher berührten sie sich weiterhin nur mit den Händen, es wurde immer leichter, selbstverständlicher, doch ganz gewiss nicht alltäglich - und Cedric war so unglaublich sinnlich, verlangend, wissend und scheu… Cedric war ein Sexgott in der Szene gewesen, die ihm so fremd war, aber allmählich begann ihm zu dämmern, warum. Cedric war einfach … absolut. Und so schön, sexy und kuschelig … okay, letzteres sah wohl nur er so. War er trotzdem. Cedric wollte auch gestreichelt und gelobt werden, Vergewisserung bekommen, dass er ihn liebte, und das gab er gern aus vollem Herzen. Sein Cedric. Sein Cedric. Seiner. Cedrics Frisur hing auf Halbmast. Er gähnte ausgiebig. „Na, erholt sich Captain Kuni von der Außenmission?“ neckte er ihn. „Ja, der Shuttelflug war ganz schön anstrengend“, gestand er. „In deiner Karre fühlt sich jeder Meter wie ein Flug durch ein Asteroidenfeld an“, kritisierte Cedric. „Das grenzt echt an ein Wunder, dass das Ding immer noch nicht in seine Einzelteile zerfallen ist, geschweige denn fährt!“ „Tja, Mama macht’s möglich. Ich war ja gerade da und sie hat sich den Wagen noch mal kurz angeschaut. Sie sagt, der hält noch eine Weile. Ach ja … ich soll dich grüßen von meinen Eltern“, richtete er ihm aus. „Was?“, erwiderte Cedric perplex. „Du hast deinen Eltern von … von uns erzählt?“ „Jein. Ich habe es Frida gesagt, die hat postwendend gepetzt und dann gab’s kein Entkommen mehr. Warum auch? Oder stört dich das?“ wollte er wissen. „Äh“, stammelte Cedric. „Nein … nein. Ist schon okay. Habe ich nur irgendwie nicht auf dem Plan gehabt …“ „Keine Panik, die beißen nicht, sind nur neugierig. Eltern eben“, beruhigte er ihn, der sich vorstellen konnte, dass Cedric es nicht gerade gewohnt war, irgendwo als neuer Freund präsentiert zu werden. „Ja … okay“, murmelte Cedric und stibitzte sich von seinen Chips. „Bin ich jetzt Schwiegermuttis Liebling oder was?“ Kunibert konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Oh, klar sind sie scharf darauf, dich mal live und in Farbe zu Gesicht zu bekommen. Ob meine Mama dir dann das Brautkleid meiner Großmutter überreicht, kann ich natürlich nicht versprechen. Aber immerhin würde es dir passen, Frida geht da nie im Leben rein“, grinste er. „Ha ha, du Scherzkeks. Hast du ihnen gesagt …?“, wollte Cedric wissen. „Nein. Habe sie erst einmal vertröstet. Wir sind ja noch nicht so lange zusammen, da geben sie dann, wenn auch mosernd, Ruhe. Aber auf die Dauer gesehen werden sie wohl kaum lockerlassen. Tut mir leid, da müssen wir gegebenenfalls eben sehen …“, meinte er. Cedric seufzte. „Ich versuche, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Ich weiß ja, dass es dich ohne deine Familie kaum gibt. Und früher, da war ich schließlich auch bei Etiennes Eltern immer mal wieder eingeladen. Aber das war schon eine andere Welt. Ich werde versuchen, brav zu sein, irgendwann in ferner Zukunft“, versprach er. „Ich weiß. Danke“, erwiderte er, schlang den Arm um seine Schultern und drückte ihn leicht. „Zum Ausgleich wäre ich jetzt gerne eine Runde sehr unbrav – falls dein Allerheiligstes dank des Autos kein Schütteltraume erlitten hat?“, grinste Cedric. „Hat es nicht. Aber besser, du kontrollierst das sicherheitshalber noch mal …“ ………………….. Da waren sie wieder, allesamt: die Bienen waren längst erwacht, die Wildblumen verliehen dem Steinfeld Farbe, die Büsche hatten wieder Blätter und er … nein, er lief nicht. Er hatte sich per Versand ein paar solide hölzerne Außenmöbel besorgt, die sie am Rande des Feldes aufgebraut hatten, so dass man einen guten Blick hatte. Sitzpolster und Kleidung aus dem Trekking-Bedarf machten es möglich, auch jetzt schon von früh an unter freiem Himmel über längere Zeit stillsitzend zu arbeiten. Kunibert hatte ein dickes Verlängerungskabel besorgt, so dass man am Tisch auch gut am Laptop arbeiten konnte, ohne ständig die Panik im Nacken haben zu müssen, dass dem Ding spontan im ungünstigsten Moment der Saft ausging. Ein großer beschichteter Schirm schützte vor gelegentlichem Nieselregen und Vogelkacke. Kunibert tippte wie ein Besengter, mit seiner Arbeit ging es in die Endphase. Gelegentlich sprang er auf und raste von dannen, um etwas vor Ort noch einmal nachschauen zu können. Ihm selbst saß dagegen ja nichts im Nacken außer der Frage, ob er jetzt wirklich wollte, was er zu wollen beschlossen hatte. Er hatte in den Kisten gewühlt, die seit seinem Einzug hier unbesehen im Keller herum gegammelt hatten. Aus gutem Grund, denn darin lagerten Zeugnisse seiner Vergangenheit, deren Anblick ihn nicht gerade ergötzte. Das rote Büchlein, in dem er Listen über seine Abenteuer geführt hatte, was mit wem, was hatte der drauf gehabt, Qualität des Schwanzes… Namen waren egal gewesen, sie waren allerhöchstens Daten. Eine hübsche Sammlung an luxuriösem Sexspielzeug. Wer hatte schon einen handgedrechselten Buttplug aus Tropenholz? Er natürlich, wer sonst. Dem Umweltschutz schuldete er da in der Tat noch etwas. Etienne musste den Kram gepackt haben, nachdem er ihm hatte mitteilen lassen, dass er fortzöge. Er hatte bisher nie einen Blick hinein riskiert, da Etienne zumindest so geistesgegenwärtig gewesen war, „nicht aufmachen, Cedric!“ drauf zu schreiben. Eigentlich hätte er den Krempel einfach wegschmeißen können, aber dazu war Etienne zu pingelig. Oder er hatte die Vergangenheit nicht auslöschen können oder wollen. Oder er hatte daran gedacht, was diese Unikate teilweise wert waren. Inmitten dieses Sammelsuriums hatte er auch die Kiste ausmachen können, die er gesucht hatte. Ächzend hatte er sie unter einer hervor gezerrt, in der es verdächtig metallisch geklappert hatte, während er die Zähne zusammengebissen hatte, bloß nicht daran zu denken, was da vermutlich drin war. Das war leidlich gut gegangen, immerhin, und dann hatte er es gehabt: seine Studienunterlagen, leicht verpilzt muffend, aber immerhin. Er hatte nie sonderlich darauf geachtet, brav nach Plan zu studieren, sondern nach Lust und Laune seine Veranstaltungen ausgewählt. Aber jetzt hieß es rechnen. So wie es aussah, war er wirklich fast fertig. Alles, was ihm für einen Abschluss in Literaturwissenschaft fehlte, war ein Hauptseminarschein – und die Abschlussarbeit. Er hatte sich auf den Hosenboden gesetzt und war mit sich selbst ins Gericht gegangen. Er musste das ja nicht machen. Aber was musste man schon. Die Frage war: wollte er das machen? Warum nicht. Er wollte irgendetwas machen, warum nicht das, was er mochte und konnte. Er hatte ja nicht vor, damit wirklich einen Beruf zu ergreifen, aber wenn er seinen Abschluss doch noch machen würde, dann hätte er es doch auch irgendwie geschafft. Sich nicht kleinbekommen lassen. Das war doch auch ein Grund. Fernuni war eine Option, aber es gab noch eine andere. Es hatte Überwindung gekostet, aber er hatte es getan. Hatte Professor Theran kontaktiert, bei dem er früher häufig in den Veranstaltungen gesessen hatte, ihm seine Lage in Grundzügen skizziert, obwohl er sicher war, dass sein Lehrer durchaus mitbekommen hatte, was damals losgewesen war. Wer nicht? Er war zwar halb besinnungslos durch die ganze Sache gestolpert, bis er dann geflohen war, aber er hatte schon mitbekommen, dass sein Unglück und der Prozess nicht gerade unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgelaufen waren. Insofern hatte Theran sich auch bereit erklärt, Gnade vor Recht walten zu lassen und sich dafür zu verwenden, dass er den fehlenden Schein noch machen konnte, ohne dazu anwesend sein zu müssen. Er würde sich den Stoff eigenhändig erarbeiten müssen und als Leistungsnachweis ein verschriftliches Referat einreichen müssen. Aber das bekam er hin. Hatte ja sonst auch nicht viel zu tun. Wenn der Fachbereichsdekan dieses Vorgehen absegnete, dürfe er sich dann an seine Abschlussarbeit machen. Er könne ja schon mal über das Thema nachdenken. So weit so gut. Und jetzt saß er hier und versuchte krampfhaft, etwas über das Motiv des Sich-selbst-im-Spiegel-Betrachtens in französischen Romanen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Papier zu bekommen. Er war ganz schön raus, musste ständig wegen der Formalia nachschlagen, Zitiertechnik, Fußnotensetzung, Fachtermini … aber es ging voran. Außerdem hatte er damit auch wirklich mal etwas zu tun, während Kunibert völlig weggetreten seine Steinefibel verfasste und dabei auf Deutsch vor sich hin brabbelte. Früher hätte ihn das ja nicht die Bohne gekratzt, stattdessen hatte er sich sinn- und zwecklos durch die Bücherhaufen gewühlt, ohne dass ihm irgendetwas des Geschrieben wirklich etwas bedeutet hatte, jetzt aber wollte er eben etwas machen – und nicht mehr bloß doof rumhocken. Alles in allem ging es ihm gerade wohl verflixt gut. Er fühlte sie noch, seine Narben, innerlich wie äußerlich, aber vor allem fühlte er gerade die Sonne auf seiner Nase und das warme Polster unter seinem Hintern. Kunibert saß neben ihm, grübelte und tippte, schlürfte an seinem Kaffee und klotzte ran, um ihn dann als Belohnung heute Abend auf ein Eis ins Nachbarkaff zu verschleppen. Vielleicht könnten sie sich sogar hinsetzen und einen richtigen Eisbecher essen. Für richtig gute Erdbeeren war es noch zu früh, aber etwas mit Schokosoße…? Sicher war es anstrengend, das zu wagen, aber wenn es klappte, dann war es beim nächsten Mal viel leichter und irgendwann einfach normal so wie das Brötchenholen zum Beispiel. Opa Alain hatte immer gesagt: Von nichts kommt nichts. Das stimmte wohl. Und er wollte schließlich nicht mehr nichts, sondern sein Leben als spleeniger Kauz in der Provinz genießen können, auch wenn er sich in vielen Bereichen nicht sicher war, wie das dann konkret aussehen mochte. Aber auch da war sein Opa ein gutes Vorbild. …………… Die Dinge gingen weiter voran, seine Arbeit, Cedric … Cedric schien guter Dinge, er lächelte viel in letzter Zeit, der verstockte Gesichtsausdruck von ganz am Anfang erschien nur noch, wenn er sich gerade ein Stückchen vorwagte, indem er zum Beispiel zum ersten Mal wieder Schuhe in einem Laden kaufte, der nicht direkt vor Ort war. Aber er tat es wild entschlossen, und es ging. Cedric wusste um seine Grenzen. Man musste aufpassen, zuweilen war er doch noch recht schreckhaft, wenn er meinte, die Lage nicht ganz übersehen zu können, dann wurde er gratzig und hektisch, aber es wurde besser. Das Netz der Routinen bekam immer mehr Fäden, an denen Cedric sich entlang hangeln konnte. Insgesamt wirkte er viel ruhiger, entspannter – und definitiv glücklicher, seitdem er begonnen hatte, auch selbst wieder die Zügel seines Lebens in die Hände zu nehmen. Kunibert freute sich sehr darüber, dass er sich dazu durchgerungen hatte, sein Studium doch noch zu beenden. Es war gut zu sehen, wie Cedric etwas zielgerichtet tat. Auch in ihrem Intimleben machte sich das bemerkbar. Nach wie vor bereiteten sie sich lediglich mit den Händen Lust, aber Cedric machte schon ziemlich deutlich, wann er das zu schätzen wusste. Und es war schon etwas Besonderes aufzuwachen, wenn Cedric sich an ihm rieb wie eine rollige Katze und sich bereits wollüstig grinsend mit ihm beschäftigte. Andererseits konnte er es auch wagen, unangemeldet zuzugreifen, ohne dass eine Panikattacke drohte. Cedric war wirklich ein Früchtchen … wenn er richtig in Fahrt war, dann war das mehr als beeindruckend. Nicht nur der Anblick, das Gefühl – und diese Kakophonie an versauten Forderungen und Flüchen, die er anscheinend wirklich ganz gerne von sich gab und die teilweise Sachen verhießen, bei denen Kunibert ganz anders wurde – allerdings nicht im Sinne von übel. Trotzdem sollte man ihn da besser vorerst nicht zu wörtlich nehmen. Auch er musste zugeben, dass seine Laune sich noch deutlich verbessert hatte, da er nicht mehr verstohlen seine Lust im Badezimmer entsorgen musste. Gerade spazierten sie wohlgemut die Dorfstraße hinab, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Von überall her wurden sie gegrüßt. Sie gehörten zum Inventar, auch wenn die Neugierde nach wie vor schwelte, was da vor einer Weile wirklich losgewesen war. Aber sie waren höflich – oder vernünftig genug – nicht direkt nachzufragen. Als sie bei der Eiche inmitten des Dorfplatzes angekommen waren, griff Cedric nach seinem Handgelenk und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Überrascht blickte Kunibert zu ihm hinab. Cedric lächelte nur stumm und vereitelte seinen Plan, Richtung Wurstladen weiter zu sausen. „Was ist los? Wo willst du hin?“, fragte er ihn verwundert. „Ich will dich wem vorstellen“, erwiderte Cedric geheimnisvoll. Das waren in der Tat erstaunliche Aussichten. Seit wann kannte Cedric hier wen, dem er solche Bedeutung zumaß? Das Rätsel lichtete sich einigermaßen schnell, als Cedric ihn zur gusseisernen Pforte des kleinen Friedhofes neben der typischen kleinen Kirche aus hellen Bruchsteinen bugsierte. Am Ende des Hauptweges befand sich ein verwittertes Mausoleum, über dessen Türsturz der Name „Kalteis“ eingemeißelt war. Direkt daneben befand sich ein jüngeres Grab mit einem schlichten Stein darauf. Kunibert ahnte schon, wer dort seine letzte Ruhe gefunden hatte, bevor er den Namen las. „Darf ich vorstellen, Kunibert. Das ist Opa Alain. Opa Alain: Kunibert Lerchenfels!“, stellte er sie vor. „Guten Tag, Monsieur Kalteis“, grüßte Kunibert ein wenig perplex den Verblichenen. „Tja, ob man den Tag so gut findet, wenn man hinüber ist? Eine wahrhaft philosophische Frage. Aber wenn es nicht so wäre, dann wäre er jetzt erfreut, dich kennenlernen zu dürfen, würde dich aber trotzdem einen „Hunnen“ nennen und dir erzählen, wie viele Deutsche er angeblich im Kriege abgeballert hat“, grinste Cedric. „Äh … wie … charmant“, stotterte Kunibert. „Ja, so war er“, seufzte Cedric sinnend. Kunibert schlang den Arm um seine Schultern. „Bist du noch traurig, dass er tot ist?“ fragte er. „Man gewöhnt sich dran. Es wäre mir natürlich lieber, wenn er sich nicht frühzeitig zu Tode gequalmt hätte, so uralt war er ja noch nicht. Aber das lässt sich wohl kaum ändern. Ich vermisse ihn schon. Er war ein echter Haudegen, laut, unverschämt und manchmal ganz schön vulgär. Aber er ist der einzige in meiner Familie, den ich wirklich gemocht habe – und der mich auch gemocht hat, ohne ständig mit der Erziehungskeule zu kommen. Er war ein ziemlicher Anarcho. Hat mit mir geübt, wie man rülpst wie ein Mann als ich sechs war oder so. Meine Mutter war entzückt, als ich ihr das zu Hause stolz vorgeführt habe, als sie mich wieder abgeholt hatten. Das hat richtig Ärger gegeben. Naja… tja, jetzt kennt ihr euch“, schloss Cedric und zog die Schultern hoch. „Freut mich“, erwiderte Kunibert nur. „Freut mich wirklich. Aber ich hab‘ nicht mal Blumen dabei gehabt…“ „Er ist tot, er braucht nichts mehr. Und im lebendigen Zustand hätte er die dir um die Ohren gehauen, die gehörten seiner Meinung nach nicht abgesäbelt und ausgestellt. Über eine Zigarre hätte er sich allerdings schon gefreut. Aber die kann er jetzt auch nicht mehr rauchen. Man kann nur sterben, solange man lebt. Apropos… wolltest du nicht diese superfettige Wurst kaufen?“, fragte Cedric und wandte sich zu ihm um. Kunibert bückte sich, gab ihm einen kurzen Schmatzer auf den Scheitel und erwiderte: „Oh ja… Wurst! Lass uns dem Laster frönen, solange wir können!“ „Party! Party! Party!“, murmelte Cedric. „Genau!“, erwiderte Kunibert wohlgemut und hakte ihn unter. „Wurstparty!“ „Hunne!“, kommentierte Cedric und folgte ihm. …………………………….. Alles schien sich zum Besseren gewendet zu haben – oder zumindest dabei zu sein, es zu tun. Sein Leben war kein stinkender Schrotthaufen mehr. Dumm nur, dass diese Meinung nicht jedermanns zu sein schien. Wortlos ließ er den Papierstapel sinken, den der Postbote eben in einem hochoffiziell wirkenden braunen Umschlag abgegeben hatte. Der Absender hatte nicht gerade zu seiner guten Laune beigetragen. Absolut berechtigterweise, wie er jetzt wusste. Er hatte gedacht, dass die Sache ausgestanden war. Eine ausgesprochen dumme Schlussfolgerung. Sie hatten natürlich nicht locker gelassen, nur gewartet. Und dieses Mal hatten sie nichts übereilt, sondern waren sorgfältig vorbereitet, ganz anders als er, der damit beschäftigt gewesen war, sich seiner Tage zu freuen. Und seiner Nächte. „Was ist?“, fragte Kunibert alarmiert von der anderen Seite des Frühstücktisches her und hielt darin inne, sein Brötchen in Honig zu ertränken. „Post“, konnte er nur erstickt antworten. „Gerichtspost.“ „Oh Scheiße, Cedric!“, schnaufte Kunibert. „Schon wieder deine Eltern?“ „Wer sonst“, stöhnte er. „Aber die müssten doch allmählich mal einsehen … Ich meine, es geht doch um dein Wohlergehen …“, regte sich Kunibert konfus auf. „Nicht meine Eltern. Die haben kein Firmenimperium auf die Beine gestellt bekommen, weil sie leicht aufgeben würden. Oder jemals, solange sie eine Chance sehen. Zudem haben sie ihre eigenen Ansichten, was mein Wohlergehen angeht – und du darfst auch nicht vergessen, es geht um ziemlich viel Geld, das ich ihrer Meinung nach hier vergammeln lasse. Nicht dass sie die Kohle nötig hätten oder sinnlos raffgierig wären, aber das ist etwas, das “nicht geht“ – so einfach ist das. Und jetzt … haben sie mich richtig bei den Eiern“, referierte er. „Was haben sie denn?“, wollte Kunibert aufgeregt wissen. Cedric hob seinen Stapel, linste noch mal hinein, und fand doch nur genau das vor, das er lieber ins Land der Alpträume verbannt gesehen hätte. „Tja … dein lieber Ex Jakob, über den ich ja kein böses Wort verlieren darf, hat ja für eine Szene gesorgt, die den halben Landkreis bestens unterhalten hat. Inklusive Panikattacke meinerseits und deiner plattgehauen Nase. Irgendwie haben meine lieben Erzeuger das spitzbekommen – und rate mal, was ihre Paragraphenverdreher daraus zu machen gedenken. Und das Schöne dabei: jeder hier kann das bezeugen. Die mögen mir nichts Arges wollen, aber die werden wohl kaum einen Meineid vor Gericht ablegen, selbst wenn sie so raffiniert sind zu begreifen, dass sie mit mir als Verpächter verflucht gut dran sind. Wenn du mich entschuldigen würdest, ich gehe kurz nach oben zu Marx und Engels und erzähle denen in ein paar präzisen Worten, was ich gerade über den armen, großherzigen, zeitweise etwas verdrehten Jakob denke.“ „Cedric“, erwiderte Kunibert entsetzt, den letzten Teil ignorierend. „Damit kommen die doch nicht durch … es geht dir doch viel besser.“ Cedric drehte sich im Aufstehen zu ihm um. „Das ist leider ziemliche Auslegungssache. Die Psychologie ist nun mal keine Wissenschaft, die mit absoluten Daten und Sicherheiten aufwarten kann. Und man kann sein Glück ja auch bei einem Gutachter versuchen, der eventuell gut … passt. Ich werde es erfahren. Meine Eltern haben verdammt gute Beziehungen in Paris – und exakt dort soll die Party dieses Mal steigen. Es sei denn, ich spare mir den ganzen Terror und mache lieber gleich das, was sie von mir wollen. Niemals! Aber nicht umsonst kommt das erst jetzt. Das hier ist ohne Zweifel perfekt durchgeplant, nachdem sie jetzt wissen, dass sie mir auf die einfache Tour nicht beikommen. Das hier ist mein Ticket in die Entmündigung, wenn mir nicht noch irgendetwas einfällt. Doch damit sollte ich mich besser beeilen, denn der Spaß geht in zwei Wochen bereits los. Und es mag mir zwar besser gehen, aber ich bin garantiert nicht „geheilt“, so wie sie sich das vorstellen. In der richtigen Situation ticke ich wieder aus, ohne Zweifel. Das ist nicht weg. Und vielleicht knüppel ich dann ja den nächsten Unschuldigen nieder? Am besten bereits auf dem Weg zum Gericht, denn das ist leider nicht zwischen Wurstladen und Kirche spontan aufgetaucht! Wer weiß? Verletze mich selbst? Die ganze Leier… Und ich kann denen schlecht sagen: Es geht mir doch super, ich kann schon allein einkaufen gehen und meinem Freund einen runterholen! Ich gehe jetzt schreien. Und dann rufe ich meinen Anwalt an.“ „Aber was ist mit mir? Ich kann doch bezeugen, dass du …“, protestierte Kunibert. „Sicher. Vielleicht. Vielleicht zeigen sie dich dann einfach an, weil du mich armes Wrack ausbeutest. An ihrer Stelle würde ich das tun. Ein weiterer Beweis, dass ich in Obhut gehöre“, stöhnte Cedric. Kunibert stand auf und trat auf ihn zu. Auch er wirkte blass. Seine Hand legte sich auf Cedrics Schulter. „Schrei die Ratten an. Aber dann … komm wieder her. Wir kriegen das hin. Du gehst nirgendwohin, wo du nicht hin willst. Nur über meine Leiche!“, erklärte er. Cedric sah seufzend zu ihm auf und beruhigte sich ein kleines bisschen. „Ich weiß, Kunibert … Ist nur die Frage, ob das etwas helfen wird. Außerdem reicht es mir, dass mein Opa schon eine ist.“ Kapitel 32: Grüner Tee mit Sherry --------------------------------- XXXII. Grüner Tee mit Sherry Der Mann, der jetzt gemeinsam mit ihnen in der Couchecke im Wohnzimmer saß, trug einen akkurat gebügelten, teuren Anzug. Er mochte um die fünfzig sein, hatte ein rundes, freundliches Gesicht und gestutztes, graumeliertes Haar. Cedric hatte keine Zeit verloren. Der Brief war am Morgen gekommen, jetzt war es nicht einmal zwölf Uhr, und Monsieur Martin, Cedrics Anwalt, war bereits im Eiltempo hier angehetzt gekommen. Jetzt studierte er konzentriert die Brauen zusammenziehend die Unterlagen. Kunibert war sich unsicher gewesen, ob er da etwas zu suchen hatte, aber Cedric hatte ihn kaltschnäuzig als seinen Lebensgefährten vorgestellt und ihm so zu verstehen gegeben, dass er sich gefälligst nicht zu verdrücken habe. Ein Teil von Kunibert hatte sich trotz der Situation darübergefreut wie ein Schneekönig. Das war ihm wohl eigen, er wollte kein „Lover“ sein, Freund war gut, Partner war besser, aber Lebensgefährte ließ ihn beglückt grinsen. Er war echt ein blöder Spießer, aber was sollte es. Und letztlich war er der Einzige, der Cedric in seinem Kampf zur Seite stand aus persönlichen Gründen – jemand Anderes hatte er ja nicht zugelassen. Ob das am wollen oder am können lag, war schwer zu sagen. Aber das hier war auch seine Schlacht. Der Anwalt ließ die Papiere sinken und atmete tief durch. „Und?“ bohrte Cedric ungeduldig. „Die Stoßrichtung ist klar. Ihre Eltern wollen die Vormundschaft über sie übernehmen, indem sie Sie als hochtraumatisierte Person einstufen lassen wollen, die für sich selbst und andere eine Gefahr dargestellt“, fasste Martin zusammen. „Das weiß ich selbst!“, zischte Cedric. „Die Frage ist wohl eher, wie sich das vermeiden lässt!“ „Hat der Vorfall, auf den hier Bezug genommen wird, so stattgefunden?“, fragte Martin unbeirrt. Zickige Mandanten war der wahrscheinlich gewohnt, und gut zahlenden zickigen Mandanten konnte der wahrschlich routiniert aussitzen. „Ja“, stöhnte Cedric. „Leider. Normalerweise geht es mir gut. Aber da hat es mich eiskalt erwischt. Der Ex-Freund meines Lebensgefährten ist hier völlig von der Rolle aufgetaucht und hat mich beschimpft. Wir sind uns in die Haare gekommen, dann hat er mich am Oberarm gepackt und geschüttelt. Und da habe ich eine Panikattacke bekommen und Herrn Lerchenfels dabei versehentlich den Ellenbogen gegen die Nase gerammt. Aber das war ein absoluter Sonderfall! Blöderweise hat es jeder gesehen.“ „Was ist mit dem Ex-Freund? Würde der den Sachverhalt so bestätigen?“, wollte Martin wissen. „Ja!“, erwiderte Kunibert bestimmt. „Das ist schon mal was … aber dennoch schwierig. Ein Gutachten zu ihren Gunsten wäre hilfreich, darum müssten wir uns kümmern …“ „Ich will nicht auf die Couch …“, knirschte Cedric. „Cedric“, mahnte Kunibert. „Schon gut. Ich weiß. Entweder das – oder noch viel, viel mehr davon. Super. Einfach nur super“, grollte Cedric und schnappte nach seiner Kaffeetasse. „Aber wir haben wenig Zeit … Ein unabhängiges Gutachten dauert, gerade da Sie nicht in Therapie sind. Es wäre natürlich ein Argument, den Prozessbeginn aufzuschieben… aber letztlich zählt das Wort des vom Gericht beauftragten Gutachters, der sich vermutlich bereits in ihren Fall eingearbeitet hat. Und natürlich ist es möglich, dass der Unabhängige auch zu der Schlussfolgerung kommt, die nicht in unserem Sinne ist. Es wäre natürlich einen Versuch wert. Wichtig ist vor allem, dass wir Sie entlasten, betonen, dass sie stabil genug sind, um eigenständig leben zu können. Wie sieht es da aus?“ Cedric seufzte. „Ich bin dabei zu lernen. Ich bin klargekommen … aber jetzt kann ich wieder mehr. Einkaufen zum Beispiel. Und jeden Tag … es geht voran. Ich habe mich mit einem Professor in Verbindung gesetzt, mache mein Studium fertig. Ich werde nie wieder der sein, der ich vor der Sache war. Aber ich bin weder hilflos noch gemeingefährlich. Der Alltag ist kein Problem. Solange mich keiner anfällt, geht es. Ich reiße mich nicht darum, in die Öffentlichkeit zu gehen, aber so ein paar Sachen … mit Herrn Lerchenfels … Eis essen zum Beispiel …“ „Alleine …?“, hakte Martin nach. Cedric senkte den Kopf. „Wer weiß. Wer geht schon alleine Eis essen? Aber ich bin nicht alleine. Auch als ich es war, habe ich überlebt. Seitdem ist viel geschehen. Auch wenn Herr Lerchenfels mal nicht da ist, wenn er zur Uni muss oder so, dann sitze ich auch nicht zitternd im Kämmerlein.“ „Sie würden im Sinne von Herrn Kalteis aussagen, nehme ich stark an“, nickte der Anwalt Kunibert zu. „Aber es ist fraglich, ob das reicht – oder ob man ihnen nicht auch sinistere Ziele unterstellt.“ „Ja, denke ich auch“, stöhnte Cedric. „Scheiße …“ „Schauen wir uns noch mal die Argumentationskette an … Ihre Eltern klagen auf die Vormundschaft als ihre nächsten Angehörigen …“, fasste Martin zusammen. „Hast du nicht noch wen in der Verwandtschaft, der ihnen da einen Strich durch die Rechnung machen könnte?“, fragte Kunibert. „Ja … den hast du sogar schon kennengelernt. Leider ist der verhindert – für immer“, ächzte Cedric. „Ansonsten … mein Vater ist ein Einzelkind und die Bagage meiner Mutter ist noch tausend Mal schlimmer. Bloß nicht!“ „Mmm“, grübelte der Anwalt. „Ich will Ihnen da zwar keinen Floh ins Ohr setzen, aber die Reihenfolge für Vormundschaft läuft: Ehepartner, Eltern oder Kinder, Geschwister, weitere Verwandte oder der Staat, je nach Bedarfsfall.“ „Tja, es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass ich schwul bin. Herr Lerchenfels sieht ja auch nicht gerade aus wie Cinderella. Da ist ziemlich Ebbe mit einer treusorgenden Ehegattin“, regte sich Cedric auf. Kunibert begann zu dämmern, worauf der Anwalt hinauswollen mochte. In seiner Kehle passierte irgendetwas, das ihn vom Denken abhielt. War das ein Kloß? Oder nicht eher ein fetter Alien, der gleich hinaus platzen würde? Oder einfach sein Hirn, das jetzt in seiner Kehle festhing? „Gleichgeschlechtliche Ehen sind nach aktuellem Recht nicht zulässig, da haben Sie Recht, aber die Einrichtung des Pacte civil de solidarité entspricht dem in den für uns wesentlichen Punkten“, erklärte Martin. Cedric glotzte. Kunibert war ihm darin bereits zuvorgekommen. „Was?!“ presste Cedric schließlich hervor, als habe man ihm einen mit Arsen glasierten Liebesapfel kredenzt. „Ich soll heiraten?! Sind Sie denn total übergeschnappt?!“ Martin zuckte nur in gleichmütiger Freundlichkeit mit den Schultern. „Das behauptet meine Frau zwar auch immer, aber ich glaube fest daran, dass nicht. Ich berate Sie nur. Wäge Möglichkeiten ab. Die Klage Ihrer Eltern könnte ihnen deutlich weniger attraktiv vorkommen, wenn sie wissen, dass auch, wenn sie gewinnen sollten, die Vormundschaft nicht an sie fiele. Genauso wenig wie die Vermögenswerte. Herr Lerchenfels Ex-Freund sollte auf jeden Fall zu einer schriftlichen Aussage zu unseren Gunsten bereitsein. Auch die Zeugen des Vorfalls, die ja zum Teil Ihre Pächter sind, sollten besser ihre Entwicklung und psychische Stabilität unter normalen Umständen bezeugen. Beim Gutachten können wir nur hoffen. Lassen Sie sich coachen dafür, das kann helfen. Vielleicht reicht das auch. Aber ich sage gleich: Es wird nicht leicht. Nicht nur wegen des Vorfalles, sondern auch da sie keinesfalls vollständig genesen sind. Und das wird sich nicht verschleiern lassen. Wenn sie sich aber bereits in einer staatlich anerkannten Partnerschaft befinden, wird die Lage für die Gegenseite schwerer. Sie müssten Sie als derart unzurechnungsfähig einstufen lassen, dass die Verbindung rückwirkend annulliert würde, und das ist so gut wie unmöglich, so etwas kommt nur in Extremfällen vor unter Bedingungen, die Sie in keinem Falle erfüllen. Ich weiß, dass mag Ihnen nicht gerade als verlockend vorkommen, aber denken Sie darüber nach. Es kommt auch darauf an, wie sie ihre Beziehung zu Herrn Lerchenfels sehen.“ Cedric starrte ihn nur schockstumm an. „Machen wir“, murmelte Kunibert, um die peinliche Stille zu füllen, obwohl ihm auch ganz anders war. Denken war gerade nicht wirklich möglich. Seine Gliedmaßen fühlten sich merkwürdig taub an. „Gut … ich nehme das hier“, der Anwalt klopfte auf die Unterlagen, „in meiner Kanzlei noch einmal gründlich auseinander. Vielleicht stoßen wir noch auf weitere Lücken. Überlegen auch Sie gründlich. Wir telefonieren heute Abend. Uns bleibt nicht viel Zeit. Packen wir es an.“ Sie hatten keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, den Anwalt halbwegs höflich zu verabschieden. Vielleicht hatten sie das auch nicht, sondern hatten stattdessen nur weiter geglotzt wie die Ölgötzen. Stille lag im Raum. Dann schaffte es Kunibert immerhin: „Cedric …?“ zu krächzen. „Ja …“, erwiderte Cedric dumpf. „Ich träume, nicht wahr? Das ist nur ein kranker Albtraum?“ „Tut mir leid. Bedauerlicherweise nicht“, musste Kunibert ihm erklären. Cedric klappte vornüber und vergrub seinen Kopf in den Händen. „In welcher von Dantes Höllen bin ich bloß gelandet … ach du Scheiße … was soll das …?“ „Das alles ist wirklich nicht korrekt von deinen Eltern! Kannst du nicht mit ihnen reden?“ versuchte sich Kunibert. „Das würde ihnen nur noch mehr Stoff geben, nein“, erwiderte Cedric erschöpft. „So ticken sie nicht. Sie sind nicht … böse. Aber sie denken auf ihre Art und Weise. Ich meine … ich bin ja auch nicht vom Himmel gefallen so wie ich war und bin. Ich verstehe das schon. Nicht gutheißen, aber verstehen. Sie werden niemals lockerlassen, glaub mir, bis sie sicher sind, dass sie verloren haben.“ In Kunibert kam Bewegung, er rutschte an ihn heran und legte ihm den Arm um die angespannten Schultern. „Cedric“, sagte er. „Ich bin bei dir. Wir stehen das durch. Versprochen.“ „Willst du mich jetzt echt heiraten oder was?“, erwiderte Cedric säuerlich und sah ihn unter seinen tiefroten Wimpern hindurch an. „Ich will, dass du frei bist zu tun, was du möchtest. Hast du mich in letzter Zeit demonstrativ in Hochzeitsmagazinen blättern sehen? Wohl eher nicht. Aber ich würde es tun, wenn es dir den Arsch rettet. Ist zwar nicht unbedingt das, von dem ich aktuell jede Nacht heimlich träume, aber ich bin auch keiner von der Sorte, der so etwas von Grund auf abscheulich findet. Ich will mit dir zusammen sein, und das nicht bloß heute und vielleicht auch morgen früh. So bin ich. So bin ich einfach. Ich hätte es schön gefunden, über so etwas nachzudenken, eines Tages, wenn uns nicht das Messer auf der Brust säße. Aber in meiner Lebensplanung kommt das vor, wenn auch nicht gerade im Hauruck-Verfahren, eher irgendwann in nicht genau bestimmbarer Zukunft. Cedric, mach dir keine Illusionen, ich bin keiner von denen, die Ehe – oder sowas Ähnliches, aber vielleicht auch irgendwann dasselbe – scheiße finden. Ich glaube fest daran, dass es möglich ist. Meine Eltern beweisen es jeden Tag. Klar zanken die sich auch zuweilen, aber das ist nicht der Punkt. Es geht ja nicht um Harmonie für immer und ewig, sondern um ein gemeinsames Leben in allen Höhen und Tiefen. Und ich weiß auch, dass du … richtig bist. Für mich. Warum auch immer. Nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch. Und der irrt nie“, erklärte Kunibert ruhig. Er hatte keinen Schimmer, wie er das hinbekam, da sein Herz immer noch schockiert vor sich hin klopfte, aber irgendwie ging es. „Du kippst grünen Tee mit Sherry in deinen Bauch!“, erwiderte Cedric aufgebracht und richtete sich auf. Kunibert zog die Brauen hoch. „Du bist wie grüner Tee mit Sherry.“ Cedric verstummte. Dann sagte er: „Scheiße. Wahrscheinlich hast du da sogar Recht. Ach du weh … Und du meinst das echt ernst …“ „Ja“, erwiderte Kunibert nur. Cedric rappelte sich auf und kletterte breitbeinig auf seinen Schoß. Sah ihn an. „Wer ist hier unzurechnungsfähig?“, murmelte er. „Echt, Kunibert! Das ist schon … ein totaler Schocker. Ich meine sowas … das war immer …“ „War ist nicht ist“, korrigierte Kunibert und stützte ihn mit beiden Händen am Rücken ab. „Ich biete es dir nur an. Aber auch nicht als Lüge, das sollte dir klar sein. Und wenn du es lieber anders versuchen willst, bin ich auch nicht zu Tode beleidigt. Musst du wissen. Ich bin da gerade auch nicht fürchterlich wild drauf, doch wenn das der Weg ist, dann mache ich das. Aber Cedric … ich liebe dich, du verrückter Kerl. Ich würde alles für dich tun. Und ich will alles mit dir tun. Brötchen kaufen. Eis essen. An unseren Arbeiten tippen. Den Kamin anmachen. Kartoffeln schälen. Mit dir reden, lachen, trauern. Einander berühren, bis der Wahnsinn regiert. Einander warm halten, wenn es draußen friert. Okay, die Ratten kannst allein du behalten. Die Bienen auch. Aber ansonsten … Ich habe überhaupt kein Problem damit, einfach so weiterzumachen wie bisher. Schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Das wäre schön. Aber wenn es hilft, dann bin ich dein Mann. In jeder Hinsicht.“ „Du … weiß ich auch nicht!“, entfuhr Cedric fassungslos und flocht seine Finger um seinen Hals. „Das … du … bla … Mein Hirn ist gerade krepiert. Tut mir leid.“ „Macht nichts“, sagte Kunibert und grinste. Das beruhigte irgendwie. „Ich mag dich auch doof.“ „Von wegen!“, schnappte Cedric. „Aber das … Ich muss echt … Ich kann nicht …“ „Lass es sacken. Wie gesagt – ich heule gewiss auch nicht, wenn nicht. Dann suchen wir eben nach einem anderen Weg. Aber dennoch musst du dich darauf gefasst machen, dass ich dich das auch so vielleicht eines Tages fragen könnte. Bis dahin solltest du eine Antwort haben. Oder tausend, denn da werde ich penetrant werden. Das ist allerdings Schnee von übermorgen. Jetzt geht es erst einmal darum, deine Unabhängigkeit zu sichern. Und das, was deine Eltern meinen, das stimmt nicht. Sicherlich leidest du nach wie vor – aber du bist ganz gewiss keine Gefahr für irgendwen, so wie es darstellen wollen. Vielleicht würde es dir helfen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das kannst du selbst entscheiden. Das musst du selbst entscheiden, ansonsten bringt es nichts. Aber … ganz ehrlich, Cedric, ich habe eine Scheißangst. Wir … hier … und dann schleppen sie dich weg … bitte nicht …“ Cedric seufzte tief und presste seinen gesenkten Kopf in Kuniberts Schulterbeuge. „Wem sagst du das“, antwortete er geknickt. „Aber das … ich meine … okay, das war damals. Doch der Gedanke … das erscheint mir völlig durchgedreht … und wir haben keine Zeit! Zwei Wochen sind weg wie nichts. Wenn Martin nichts findet, und das ist der springende Punkt, dann würden sie mich in die Finger bekommen … Aber ich bin doch echt nicht … Wie war das noch mit dem Hochzeitsfummel deiner Oma? Oh Gott, ich drehe grad durch! Und das ist gar nicht hilfreich!“ „Hey, Cedric, Pusteblume!“, lächelte Kunibert und zog ihn fest an sich. „Wie hast du mich gerade genannt?“, grummelte Cedric und hob mit verblüfftem Gesichtsausdruck den Kopf. „Hast du schon gehört. Ganz ruhig. Es ist gut. Und es wird gut. Wie auch immer. So oder so. Und das Brautkleid meiner Oma bleibt in jedem Fall im Schrank. Alles kommt in Ordnung. Mein Cedric. Mein lieber Cedric“, summte Kunibert und umarmte ihn. „Du bist so ein blöder Optimist“, erklärte Cedric erstickt an seinem Hals, während er die Umarmung erwiderte. „Ich bin nicht sonderlich „lieb“. Ich habe so eine Scheiß-Angst! Ich will, dass das einfach nicht wahr ist! Ist es aber. Und von Ehe oder gleichgestellter Partnerschaft habe ich nun nie auch nur geträumt. Es sei denn, es war ein Alptraum. Oder von jemandem wie dir. Du musst auch eine Schraube mehr locker haben, dass du dir mich freiwillig ans Bein zu binden bereit bist. Ich mag ja, dass du so ein Spinner bist. Das hier haut mich jedoch total platt. Ich danke dir für das Angebot. Aber … ich … ich bin total überfordert. Ich habe zu sowas nur die Thesen von einst parat. Keine Zeit gehabt, neue zu entwerfen, aber blöderweise bleibt mir keine Zeit. Ich weiß: ich will dich. Jetzt. Morgen. Übermorgen. Überübermorgen. Da habe ich keine Alternativen. Will sie auch nicht haben. Aber gleich sowas …? Das sprengt meinen Vorstellungshorizont. Aber ich muss. Ich muss, ich muss, ich muss …“ Kunibert drehte seinen Kopf, dann fasste er Cedric bei den Schultern. „Was immer du willst, ich bin an deiner Seite, okay?“ Cedric atmete tief durch. „Okay“, zwang er sich zu sagen. „Wir warten den Abend ab. Vielleicht findet Martin eine Alternative. Aber … wenn nicht … Himmel, Kunibert, das ist doch … viel zu viel …“ „Ist es“, murmelte Kunibert. „Aber der Mensch kann viel ertragen. Und das hier … das ist auch nicht die Hölle auf Erden. Ein Schocker, ganz wie du sagst. Aber auch nicht absolut schrecklich. Viel zu früh und viel zu viel – vielleicht. Das ist leider nicht ganz und gar unsere Entscheidung. Wir müssen etwas machen. Ich will etwas machen. Ich will, dass du sicher bist. Glücklich bist. Lebst, wie du es kannst und magst – und Cedric, selbst wenn du dich dafür entscheiden solltest, bitte sieh es nicht als Gefängnis. Ich will dich nicht einsperren, ganz gewiss nicht … ich will nur deine Freiheit … und ich will dich … so sehr …“ Cedric lehnte an seiner Brust und hatte die Augen geschlossen, sein Mund lächelte irgendwie merkwürdig. „Du hast echt keine Ahnung“, erwiderte er heiser. „Was du da tust. Wem du das das gerade anbietest …“ „Dir“, entgegnete Kunibert nur und grub seine Finger in sein Haar. „Ist mir egal, wer du einst warst. Ich bin jetzt bei dir. Ich kenne dich nur so. Und ich will nicht gehen. Ich will da sein für dich, wenn es dir besser geht, wenn es dir schlechter geht. Und ich will … ich wünsche mir auch, dass es so ist, wenn es sich andersherum verhält. Davor ist man nie sicher.“ Cedric lauschte in sich hinein. Sein blöder Steinetrottel … wenn ihm jemand etwas täte … dann … dann … nicht sein Kunibert … Er seufzte. „Noch ein paar Stunden, bis Martin uns unsere Optionen eröffnet. Für vertieftes Buddeln bleibt keine Zeit. Derweil versuche ich, es wieder zu schaffen, klarzudenken. Keine Ahnung, ob ich das hin bekomme. Eines weiß ich doch, ganz unabhängig von dieser Sache: Ich will auch für dich da sein. Da sein können. Ich will … ich will … ich will!“ „Kleiner Gierhals“, flüsterte Kunibert zärtlich. „Kleiner Trotzkopf …“ „Wenn schon, dann groß! In beiden Varianten!“ erwiderte Cedric bestimmt. ……………. Cedric starrte in den Spiegel seines Badezimmers im ersten Stock. Wer war bloß der Typ, der da zurückstarrte? Sah aus wie er. Aber Aussehen war nun mal nicht alles. Wer war er bloß? Er hatte partout keine Antwort. Er … irgendwie. Nicht der König. Nicht der Slave. Er. Nicht bloß die Bienen, aber auch nicht das tobende Leben. Kunibert würde das wirklich durchziehen, daran kein Zweifel. Aber auch, wenn es keine Alternativen gäbe, könnte er selbst das? Ins Standesamt marschieren und „ja“ sagen oder wie immer das konkret laufen mochte? Nicht bloß der „mehr als ein Freund“ sein? Sondern der staatlich besiegelte Lebenspartner? So etwas wie ein Ehemann? Es kam ihm absurd vor. Fast unvorstellbar. Er?! Jetzt?! Aber andererseits … Kunibert … Er half bis zum Äußersten, aber auch nicht völlig selbstlos. Nicht wegen seiner Kohle. Nicht trotz seiner Blessuren. Kunibert wollte ihn als seinen Partner aus welchen kranken Gründen auch immer. Und er wollte … Kunibert … Kunibert … diesen blonden Göttergermanen-Obernerd. Aber gleich Kamikaze begehen?! Madame Lerchenfels werden? Okay, das wohl in keinem Falle. Nein, das war kein „Kamikaze“, das war mehr, als er sich … danach … auch je hätte erhoffen können. Er hatte einen Freund. Einen Freund, der ihn liebte, der ihn mit all der Scheiße, die er im Gepäck hatte, immer noch gern hatte, ihn sah, auf ihn wartete, sich mit ihm über jeden Fliegenschiss freute. Unfassbare Dinge, unfassbar auch, dass sie jemals bedeutsam hatten werden können, aber er war jetzt … jetzt … da hatte Kunibert recht … nicht damals … aber … aber … Er war eben jetzt und hier. Und jetzt und hier liebte er Kunibert. Und jetzt und hier saß er ernsthaft in der Patsche. Und jetzt und hier konnte er es sich nur unter Kotzkrämpfen und Schaudern vorstellen, jemals mit jemand anderem als Kunibert zusammen sein zu wollen. Er konnte nicht in die Zukunft sehen, aber so war es … jetzt. Und nur jetzt zählte. Bei dem Gedanken daran zu „heiraten“ bekam er trotzdem eine fassungslose Gänsehaut. Das war nun wirklich das Letzte, das er sich je ausgemalt hatte. Kunibert hatte klargemacht, dass er es nicht als notwendige Scharade akzeptieren würde. Wenn, dann richtig. Typisch Kunibert! Würde er dann jedes Jahr Pralinen und Blumen zum Hochzeitstag bekommen?! Oh Mann … wie völlig … verrückt. Sein Spiegelbild schien hysterisch zu kichern. Dennoch konnte er sich einfach nicht dazu durchringen zu fragen: Was ist schlimmer: Kunibert oder Klapse? Das war gar keine Frage. Kunibert bot ihm zwar einen Ausweg, aber er war auch nicht das geringere Übel. Aber was war er dann? Er wusste es einfach nicht. Keine Zeit, darüber wirklich tiefgreifend nachdenken zu können. Martin hatte angerufen. Entweder so … oder er konnte eben das Beste hoffen, Gutachten, Zeugen ... Die Top-Anwälte seiner Eltern würden sie zermangeln, die hatten das über längere Zeit längst ausgeheckt, da war er klar im Nachteil. Vielleicht lief es, vielleicht auch nicht. Und dann … alles weg, fort von hier, kein Kunibert … Martin hatte Recht gehabt. Er hatte selbstverständlich nach wie vor einen tierischen Schaden. Und der musste weg … weg … oder zumindest in den Griff bekommen werden. Nicht nur wegen seiner Eltern, sondern auch für … Leben … Kunibert … frei sein … endlich, endlich, endlich … ein bisschen … Er hatte keine Zeit! Er straffte sich. Er hatte seine Antwort. Nicht für alles. Aber für jetzt. …………………….. Kunibert saß auf dem Sofa. Wartete. Fühlte sich betäubt. Überfahren. Dennoch … er hatte jedes Wort so gemeint, wie er es gesagt hatte. Er wollte das nicht so. Nicht so früh. Nicht so überstürzt. Und nicht von ihnen selbst ausgehend. Das würde allerdings wenig bringen, wenn Cedric fort wäre. Cedric kam mit gesenktem Kopf ins Wohnzimmer geschlurft. Dann hob er den Blick und sah ihn aus seinen unheimlich grünen Augen an. Kunibert räusperte sich. „Und?“, wagte er zu fragen. „Ja“, erwiderte Cedric nur. Ihm wurde klamm. „Was „ja“?“, fragte er. „Ja“, erwiderte Cedric einfach nur und ließ sich stöhnend neben ihn in die Polster fallen. „Was wohl ja? Ich stopfe deine Socken: ja? Lass uns Monopoly spielen: ja? Wohl eher nicht. Martin hat angerufen. Und die Schlussfolgerung lautet: ja. Auch wenn es sich anfühlt wie ein Keulenschlag auf die Stirn. Aber …. Kunibert, ich weiß echt nicht, wohin uns das führt. Eines weiß ich jedoch: ich will dich. Und ich will frei sein. Mit dir. Reicht das?“ Kunibert schlang den Arm um seine Schultern. „Das muss es. Mir geht es ja auch nicht viel anders. Bei mir steht auch alles Kopf. Ich will dasselbe wie du. Also ….?“ Cedric senkte den Kopf. Konzentrierte sich auf das Gefühl des warmen Armes um seinen Körper. „Muss es wohl“, murmelte er. „auch wenn ich mir dabei echt vorkomme wie im falschen Film. Total … surreal … wie zerschmelzende Uhren a la Dali … aber … ich könnte es darauf ankommen lassen. Aber es sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Oder ich kann … das hier tun. Und ich … ich stimme einer Verbindung zu, die meine Vorstellungskraft überschreitet. Darin bisher nie vorkam. Aber, wie gesagt, auch du bist darin nicht vorgekommen, bis ich dich kennengelernt habe. Dich gab es nicht. Kunibert Lerchenfels hätte wie eine fiktive Figur geklungen, die irgendein total sadistischer Autor sich ausgedacht hat. Bist du aber nicht. Du bist echt, du bist … alles, was möglich ist. Alles, was ich wollen kann. Und alles was ich wirklich will. Du bist ich – hier. Dank dir bin ich überhaupt … hier eben. Ich weiß echt nicht … aber … du bist … du bist … Also, ich … keine Ahnung! Die logischste Alternative? Ja. Auch. Will ich nicht leugnen. Ich vertraue dir. Mehr als meiner Familie, obwohl die mir eigentlich auch nicht aus Bösartigkeit oder nackter Habgier auf die Pelle rücken. Aber sie verstehen nicht. Du verstehst. Du kennst mich nur so. Und du bist so … Ein anderer wäre vielleicht auf meine Kohle scharf. Aber du nicht. Du tust das … für mich …?“ Kunibert zog ihn heran, drückte sein Gesicht gegen seine Brust, streichelte seinen Nacken, küsste ihn sanft aufs Haar. „Deine Kohle ist mir scheißegal. Setze meinetwegen den Vertrag dementsprechend auf. Ich will dich … nein … nicht als Besitz … sondern … als du …?“ Cedric verstand, dennoch erwiderte er: „Die Kohle ist sehr wohl ein Faktor. Wenn wir das hier durchziehen, dann ist das auch deine Kohle. Es wäre nicht im Sinne der Sache, wenn wir hier Knebelverträge aufsetzen und Prozente festlegen. Nein … dann ist, was mein ist, auch dein. Dann kann mein Vater brav in die Röhre gucken. Und außerdem sind das da draußen deine Steine. Unsere Steine. Und so soll es sein.“ Kunibert schluckte hart. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Aber es stimmte ja, Cedric saß auf einem riesigen Haufen Geld, war Grundbesitzer. Danach hatte er nie gestrebt. Aber was bedeutete das für ihn …? Ihm wurde leicht schwindelig. Cedric sah ihn an. „Nun gut“, sagte er entschlossen. „Packen wir es an. Da kommt viel rechtliches Kauderwelsch auf uns zu. Ich habe meine Unterlagen hier – aber du brauchst zum Beispiel deine Geburtsurkunde.“ Kunibert schnappte nach Luft. „Haben meine Eltern. Oh Himmel … meine Eltern … die würden es mir nie verzeihen …“ Cedric klammerte sich beklommen ihn. „Schon klar“, sagte er. „Das Ganze … muss schon … echt sein … deine Eltern … Himmel! Oh Gott!“ Kunibert streichelte fast automatisch seinen Nacken. „Und Frida. Nicht ohne Frida. Und es ist echt. Ich … ich „heirate“ dich aus Liebe, weil ich glaube, dass du es bist. Du hast irgendetwas in mir berührt …. Du hast irgendetwas von mir, das ich keinem andern geben konnte oder könnte. Ich hätte es mir anders gewünscht, aber es ist nicht anders. Es ist so. Und wenn ich das tue, dann schenke ich mich dir. Kannst du das?“ Cedric richtete sich auf. Studierte die so vertrauten Züge. Wunderschön. Kunibert war objektiv betrachtet hinreißend. Und subjektiv erst Recht. Macken hin oder her, er kaufte ja nicht die Katze im Sack. Er kannte Kunibert. Kunibert war nichts als ehrlich. Und Kunibert wollte ihn trotz allem, obwohl er so eine verkorkste Pechnase war. Und er wollte ihn. Wie auch immer. War es da nicht fast egal, ob mit oder ohne Trauschein? Er stupste ihn mit der Nase an, wohl wissend, wie sehr Kunibert diese Geste mochte. „Kann ich“, erwiderte er. „Das kriege ich hin. Irgendwie. Aber das kriege ich hin. Und wir brauchen Zeugen. Geht auch ohne, habe ich gelesen, doch in unserem Fall wäre das besser so.“ Kunibert nickte benommen. „Verstehe“, sagte er. „Ich besorge wen. Oh Gott, wir brauchen einen Termin!“ „Und was Anständiges zum Anziehen!“, stellte Cedric streng fest. „Du erscheinst mir nicht in etwas Selbstgenähtem! Und ich habe auch nichts! Kunibert nickte geschlagen. „Mach wie du willst“, seufzte er. „Willst du nichts?“, bohrte Cedric. „Naja … ich weiß nicht … Ringe …?“, murmelte Kunibert. „Ringe …?!“ „Ja … ganz romantisch … ich weiß, da bin ich kitschig …“, flüsterte Kunibert beschämt. „Sehe ich aus wie Prinzessin Pfiffigunde?“, lachte Cedric. „Nicht direkt“, musste Kunibert zugeben. „War nur so eine Fantasie …“ Cedric stöhnte. „Nicht alles dreht sich um mich dabei, aber … nun gut, Ritter Kunibert. Wenn es dir wichtig ist.“ „Ist es“, nickte Kunibert errötend. „Das hier ist sowieso eine Teenager-Fantasie – die ich nicht hatte“, meinte Cedric. „Aber okay. Deine Familie. Trauzeuge. Feier. Anzüge. Ringe. Rechtskram. Oh weia …“ „Aber was ist mit dir?“, stutzte Kunibert und zog sein Kinn zu sich hoch. „Du brauchst dann auch einen Zeugen? Frida könnte … dann rufe ich Michael an …?“ Nein, das wäre ungünstig. Das wäre alles nur über Kuniberts Seite. Was – oder vielmehr wen – er in diesem Irrsinn brauchte, war … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)