Herz aus Stein von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Etienne ------------------ III. Etienne Ein merkwürdiges Frösteln rann über Kuniberts Schulterblätter, obgleich der Herbsttag Sonne gebracht hatte. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, aber er fühlte sich beobachtet. Er wusste, dass er da irgendwo war, Cedric Kalteis, verborgen von den Steinen. Die letzten anderthalb Wochen hatte Kunibert sich damit befasst, sich durch die Steinreihen zu arbeiten, Positionen und Größe der Menhire mit seinem Plan abgleichend und diesen ergänzend und korrigierend. Die alten Aufzeichnungen waren recht ungenau und teilweise gar falsch hatte er festgestellt, da gab es viel zu tun. Er würde erst Ende Oktober wieder in Kiel sein müssen, da blieb hoffentlich genug Zeit, eine neue Dokumentation in Grundzügen zu erarbeiten und sich über Interpretationsmöglichkeiten Gedanken zu machen. Die Steine im Süden und im Osten würden problematisch werden, bei den einen drohten das ohrenbetäubende Dröhnen von zahllosen, latent angriffslustigen Bienen, über die anderen warf Kalteis‘ Festung ihre düsteren Schatten. Aber irgendetwas würde ihm da bestimmt noch einfallen, fragte sich allerdings noch was. Seinen unfreiwilligen Gastgeber zu erweichen dürfte nicht unbedingt einfach werden. Kunibert achtete peinlich genau darauf, sich an Kalteis‘ Spielregeln zu halten in der vagen Hoffnung, dass diesen das eventuell ein wenig kooperativer stimmen könnte, wenn es darauf an kam. Auch verzichtete er vorerst darauf, ihn zu belangen, noch war das nicht zwingend nötig, vielleicht würde Kalteis sich derweil zumindest ein wenig an seine Gegenwart gewöhnen. Er sah ihn regelmäßig, wenn auch nur aus größerem Abstand. Schon früh morgens schritt Kalteis in seiner Imkeruniform zu den Stöcken, verweilt ein wenig dort, dann ging er, ohne auch nur ein Mal in Kuniberts Richtung zu blicken, zurück zum Haus. Aber er wusste, dass er da war, seine Haltung war angespannt, solange er in Sichtweite war. Gegen Mittag trat er erneut durch das in die Steinmauer eingelassene gusseiserne Tor, das oben mit äußerst unfreundlich und ziemlich ernst gemeinten Spitzen versehen war, und verschwand zwischen den Steinen. Kunibert sah ihn nie, wenn er irgendwo im Schatten der Menhire lauerte. Aber er musste irgendwo dort sein, und Kunibert wusste es. Wahrscheinlich fühlte er sich deshalb so beobachtet, da Kalteis theoretisch hinter jedem Stein lauern konnte, ohne dass er ihn bemerken würde. Kalteis musste das Steinfeld wie seine Westentasche kennen, jede Ecke, jeden Winkel, was für ein Gewinn wäre es gewesen, wenn er ihm freiwillig geholfen hätte. Aber davon war er Lichtjahre entfernt. Um fünf Uhr nachmittags zog sich Kunibert wie abgesprochen zurück, ohne dass er den anderen zurück zum Haus hätte laufen sehen. Was er wohl trieb in den langen Stunden seiner Einsamkeit? Drehte sich sein Hirn in ewig gleichen Schleifen oder heckte er irgendetwas aus? Auf jeden Fall hatte er nie etwas bei sich, kein Buch, keine Kopfhörer, keine Gartenschere, nichts. Er trug rustikale Kleidung, dicke Pullover, die sich gegen den Anflug herbstlicher Kühle behaupten konnten, Jeans oder olive Army-Hosen und Turnschuhe oder Wanderstiefel. Auf Mode schien Kalteis nicht viel zu geben, alles schien lediglich nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählt zu sein. Aber eigentlich machte das nichts. Die Gewöhnlichkeit seiner Kleidung schien nur die Ungewöhnlichkeit seiner sonstigen Erscheinung zu betonen. Abends konnte Kunibert von seinem Balkon aus erahnen, dass das Haus Nacht für Nacht hell erleuchtet war. Hatte Kalteis Angst im Dunklen? Oder konnte er lediglich nicht schlafen? ………………………………………………………………………………………………….. Cedric sah mit brennenden Augen über die Buchrücken in den langgezogenen Regalen. Proust… Zimmer-Bradley… Kafka… Groschenromane, die wöchentlich erschienen… Kant… Comics… alles, er las alles, wahllos sammelte er es sich bei Amazon und andernorts zusammen. Es war ihm eigentlich auch egal, ob von den höchsten Weihen oder totaler Schund. Letztlich blieb es sich gleich. Früher hatte er die Nase hoch gehalten, hatte Hochgelobtes mit Wonne zerrissen, ewig gestöbert und gewühlt, bis er etwas seiner Aufmerksamkeit für Wert befunden hatte. Doch das war inzwischen völlig sinnlos geworden. Er konnte nicht schreiben, und alles war wahr, und alles war falsch. Irgendwann würden ihm davon die Augen zu fallen und er könnte ein wenig schlafen, bis der nächste Tag begann. Oder der vorherige. Oder der übernächste. Es spielte keine Rolle. Aber der übernächste lag näher an dem Termin, da Kunibert Steinfummler-Arschloch endlich wieder abdampfen würde. ………………………………………………………………………………………………….. Überrascht sah Kunibert hoch, als er das Geräusch eines nahenden Autos vernahm. Der Motor klang nicht nach einem der groben Lieferwagen, die hier von Zeit zu Zeit aufkreuzten, um ihre Fracht vor dem Tor zu entladen und dann zu verschwinden. Dieser Wagen röhrte rau, verspielt und aggressiv. Er spähte um den nächsten Stein und konnte sich ein Aufseufzen nicht verkneifen. Ein Lancia Fulvia Cabriolet in Dunkelgrün rauschte da heran, ein echtes Liebhaberstück, ein top restaurierter Oldtimer. So etwas würde ihm ja auch liegen, aber er würde mit seiner Körpergröße in dem zierlichen Gefährt aussehen wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein. Mal ganz abgesehen davon, dass ein solcher Wagen definitiv sein Bujet sprengte. Der Fahrer war ebenfalls eine Nummer zu groß für seinen Flitzer, was ihm allerdings durchaus stand. Kunibert konnte sich ein Starren nicht ganz verkneifen. Schwarzhaarig und fast provozierend männlich in einer schwarzen Lederjacke mit einer lässig-selbstbewussten Körperhaltung sah er aus wie einer, dem die Herzen – und die Begehrlichkeit – anderer nur so zu flogen. Kunibert kniete sich vorsichtig hin und verfolgte, was denn da kommen mochte. Eigentlich war er nicht übermäßig neugierig, aber nach fast zwei Wochen allein auf dem Feld nahm er die überraschende Abwechslung dankend an. Außerdem musste er Ohren und Augen offen halten, um Cedric Kalteis soweit zu begreifen, dass er einigermaßen kooperierte, redete er sich ein. Der Schwarzhaarige parkte und erhob sich in einem eleganten Schwung aus dem Auto. Er straffte sich, dann ging er entschlossenen Schrittes auf die Eingangspforte zu. Da würde er nicht viel Glück haben, Kalteis verbarg sich schon wieder im Schatten der Menhire. Die Herbstblumen blühten wild, die Bienen schwirrten, es war kurz nach Mittag – keine Chance auf Kalteis in seinem unheimlich abgeschotteten Heim. Der Neuankömmling klingelte ein paar Mal, bevor er einsah, dass es wohl vergeblich war, dann trat er unwillig zwei lange Schritte zurück. „Cedric?“ rief er in einer angenehm warmen, aber durchaus befehlsgewohnten Stimme. Niemand antwortete ihm. „Cedric!“ fuhr der andere fort. „Ich weiß, dass du hier irgendwo steckst! Die im Dorf haben offensichtlich nichts Besseres zu tun, als über dich im Bilde zu sein. Du latscht hier wie ein Beknackter zwischen diesen dämlichen Steinen herum und züchtest Bienen! Du! Cedric… bitte…“, kam es fast flehend. „Soll das ewig so weiter gehen? Du beantwortest keinen Brief, telefonisch zu erreichen bist du auch nicht… Ich weiß, du brauchst Zeit… Aber fast zwei Jahre?! Ich kann nicht ewig auf dich warten! Ich habe dich geliebt – und du hast nicht zugelassen, dass ich für dich da war, als es passiert ist. Und ich habe Rücksicht genommen. Deine Eltern haben mir zumindest ein wenig erzählt… aber hast du überhaupt für eine Vorstellung, wie weh es getan hat, im Krankenhaus zu stehen und zu hören, dass du mich nicht sehen willst? Nie wieder? Ich war die ganze Zeit dort… und ich schwöre dir, ich habe gebetet, Atheismus hin oder her, und du warst nicht schuld an dem, was geschehen ist, sondern sie! Und dann das… Ich habe versucht, es zu verstehen, dass du Abstand brauchtest, um wieder zu dir selbst zu finden – und dann warst du plötzlich weg! Alles, was du hinterlassen hast, war ein Schreiben, dass du fort müssest, für immer. Wir waren doch… wir! Und wieder musste ich aus zweiter Hand erfahren, wohin du dich geflüchtet hattest. Und wieder habe ich gewartet… gehofft… und ein wenig hoffe ich auch jetzt noch. Ein Teil von mir wird dich immer lieben. Aber ich kann so nicht für immer leben… Bitte, Cedric, wenn es uns noch gibt, irgendwo, nur einen kleinen Funken… dann komm jetzt raus!“ Atemlos sah der Mann sich um, blickte über das Steinfeld, zum Haus, in alle Richtungen – doch nichts geschah. Cedric Kalteis blieb unsichtbar, obwohl er diese Rede gewiss gehört hatte. Der andere lauschte, drehte sich spähend im Kreis, dann ließ er die Schultern hängen. Kurz verweilte er so, schien die Augen zu schließen, dann straffte er sich wieder. „Leb wohl, Cedric“, sagte er schließlich müde. „Du lässt sie gewinnen, kannst du das nicht sehen? Ich hoffe inständig, dass du irgendwann hinaus findest. Wann auch immer das sein wird, ich werde für dich da sein, das verspreche ich. Aber wenn du jetzt kein „wir“ mehr siehst, dann muss ich fortfahren zu leben. Mein Leben. Nicht mehr unseres. Es tut mir leid.“ Er schien zu seufzen, dann drehte er sich um und schritt zurück zum Wagen. Kunibert hörte den Motor starten, während er vollends in Deckung ging. Ein paar Fragmente… oder Puzzelsteine… Der Mann war anscheinend Cedric Kalteis Geliebter gewesen, sein Freund, Lebensgefährte, wie auch immer, bis irgendetwas vor etwa zwei Jahren geschehen war. Kalteis war also nicht pathologisch verrückt, sondern jemand hatte ihm das angetan. Er war auf der Flucht, dies war sein sicherer Rückzugsort, aus dem ihn nichts mehr hinaus lockte. Stattdessen war er hier eingebrochen. ………………………………………………………………………………………………….. Cedric kniete hinter einem der größeren Menhire. Er hatte jedes Wort, das Etienne gerufen hatte, gehört. Es gab kein „uns“ mehr, mochte Etienne sein Leben leben. Es gab keinen Cedric mehr, wie Etienne ihn zu kennen meinte. Etiennes Auftritt traf das, was er jetzt war, nicht einmal, es fiel in ein bodenloses, leeres Loch in ihm. Es tat nicht mal weh. Etienne war Etienne, er liebte es zu spielen, er liebte das Leben und seine Genüsse – mochte er ihn auch noch so sehr lieben, einen Seelenkrüppel würde er nicht überstehen bei allem guten Willen, das wusste Cedric. Etienne konnte nicht begreifen, egal wie sehr er es versuchen mochte, daher hatte er ihn nicht mehr in seiner Nähe dulden können, nicht nur wegen seiner selbst. Wurde einem das Rückenmark durchtrennt, gab es Rollstühle, aber für das, das bei ihm durchtrennt worden war, gab es nichts. Etienne hatte einen endgültigen Schlussstrich gebraucht, und den hatte er ihm geben können. Es gab keinen Weg zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)