Esterial von miya92 (Das Bluterbe) ================================================================================ Kapitel 1: Erwachen ------------------- Eine sanfte, kühle Hand strich über Esterials Wange und warme, tiefgrüne Augen blickten ihr entgegen. Draußen auf dem Flur ertönten schmerzerfüllte Schreie und eilige Schritte näherten sich der Tür, vor der die Bediensteten gerade ein Riegel geschoben hatten. Ein ohrenbetäubendes Schmettern war zu hören, als hätte jemand einen riesigen Schlaghammer vor die Tür gerammt. Holz splitterte. „Hier sind sie! Brecht die Tür auf!“, brüllte eine Männerstimme vor der Tür. Das ohrenbetäubende Schmettern wiederholte sich. „Lasst keinen von dieser Teufelsbrut am Leben!“ Das kleine Mädchen fing vor Angst an zu weinen. Die kühlen Finger der Frau strichen noch einmal flüchtig über die Hände des Kindes, dann nickte sie einem jungen Bediensteten zu – er war fast selbst noch ein Kind - und er hob das Mädchen hoch. „Geh mit Loki, Esterial.“, sagte die Frau in einem beruhigenden Ton und küsste sie auf die Stirn. „Unser Erbe muss durch dich weiterleben.“ Mit einem lauten Krachen gab die Tür nach und brach auf dem Steinboden entzwei. Dahinter kamen unzählige Ritter in roten Rüstungen hereingestürmt und drängten die verängstigten Flüchtigen zurück. Die Frau fixierte Loki fest mit ihrem Blick. Das Leben meiner Tochter liegt nun in deinen Händen, hörte das Mädchen eine Stimme in ihrem Kopf sagen. Damit wandte sich die Mutter um, stellte sich zwischen dem fliehenden Jungen, der mit Esterial auf dem Arm durch ein Fenster schlüpfte, und den roten Rittern und breitete die Arme aus. „Mein Leben könnt ihr haben, aber das meines Kindes bekommt ihr nicht!“ „Du irrst dich.“, sagte ein breitschultriger Mann mit einer riesigen Narbe quer über sein rechtes Auge, der sich mit schweren Schritten langsam einen Weg durch die zurückweichenden Ritter bahnte und seine Klinge erhob. „Ihr werdet alle hier sterben.“ Mit einem Schrei setzte sich Esterial auf und griff sich heftig atmend an den Kopf. Wieder dieser Traum. Und er kam in letzter Zeit immer häufiger. Aber wenn sie versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, verschwamm er und ließ sie verwirrt zurück. Wie heute Nacht. Was war das für ein Traum? Ein Fetzen aus ihrer Vergangenheit? „Loki...“, murmelte Esterial und ließ die Hand wieder sinken. Das war immer der Name, der zurückblieb, wenn sie diesen Traum träumte. Alles, was sie darin sah, fiel beim Erwachen wieder in den Abgrund des Vergessens. Alles, außer jener Name. Ein Klopfen riss sie aus den Gedanken. „Esterial? Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte eine weibliche, aufgeregte Stimme. Die Tür ging auf und eine schöne, hochgewachsene Frau in einem weißen Gewand kam herein. Die Kerze in ihrer Hand erhellte ihr gebräuntes, sanftes Gesicht, das Sorge widerspiegelte. „Ich habe dich schreien hören. War es wieder dieser Albtraum?“ Esterial nickte schwach und schlug die Bettdecke beiseite. „Kannst du dich noch an etwas erinnern?“ Darauf musste sie den Kopf schütteln. Es war ihr nichts geblieben außer dem schwarzen Loch in ihrem Kopf. „Mir geht es gut, Meisterin Selena.“ Selena stellte die Kerze ab und trat auf Esterial zu. „Vielleicht solltest du wieder etwas Blut zu dir nehmen, Esterial. Du siehst erschöpft aus.“ Sie verließ für einen Augenblick das Zimmer und kam nach kurzer Zeit mit einem Glas zurück, welches mit einer blutroten Flüssigkeit gefüllt war. Esterial nahm das Glas zur Hand und trank es in einem Zug leer. Sie war froh, dass sie jetzt nicht zu einem Spender gehen musste, um sich Blut zu beschaffen. Spender waren Menschen, die freiwillig Blut spendeten - im Gegenzug dazu hatten sie bestimmte Privilegien, wie zum Beispiel hier umsonst an der Akademie der Magie zu studieren. „Du solltest jetzt noch ein wenig schlafen. Wir sehen uns Morgen früh.“, meinte Selena, nahm das Glas und die Kerze, verließ das Schlafgemach und schloss leise die Tür hinter sich. Esterial legte sich wieder hin, nun etwas ruhiger. Doch die Angst, einzuschlafen und den Albtraum erneut zu träumen, war geblieben. * * * Meister Rothen war der Schulleiter der Akademie für Magielehrlinge und außerdem selbst ein Vampyr. Vor vierzehn Jahren fand er die dreijährige Esterial allein und verletzt in einem Wald nahe der Grenze von Gordon, dem Land der Menschen. Meister Rothen hatte sie aufgenommen und wie sein eigen Fleisch und Blut aufgezogen. Seitdem führt Esterial das Leben eines Lehrlings in der Akademie. Über ihre Eltern oder ihrer Herkunft hatte Rothen ihr nichts erzählt, außer, dass sie eine Angehörige des Vampyrsvolks war. Ihre Erinnerungen waren alle verschwunden, bis auf jenen Traum, der wahrscheinlich ein Fetzen ihrer für sie unbekannten Vergangenheit darstellte. Als Esterial die Schlafsäle verließ und nach draußen trat, leuchtete der Mond bereits hoch am Himmel und die Sterne richteten ihren stummen Blick auf die Geschehnisse der Welt, um ihre Erinnerungen für die Ewigkeit zu bewahren. Zwar zerfielen Vampyre wie in den Aberglauben der Menschen nicht zu Staub, wenn sie sich dem Sonnenlicht aussetzten, doch die Sonnenstrahlen schwächten sie, je länger sie draußen blieben, deshalb schliefen Vamprye tagsüber für gewöhnlich und waren nachtaktiv. An diesem Morgen - wobei es eigentlich fast Mitternacht war, aber laut dem vampyrischen Zeitplan war es Morgen - hatte Esterial eine Übungsstunde im Umgang mit dem Schwert. Der Übungsplatz im Freien befand sich etwa hundert Meter von der Akademie entfernt und bestand aus einer riesigen Fläche Marmor, auf dessen Mitte das heilige Zeichen der Aar eingraviert war. Es bestand aus mehreren ineinander verschnörkelten Linien, die den Einklang zwischen Natur und Magie darstellten. Um den Platz herum waren überall Fackeln in den Boden reingerammt worden und mit ihren rötlichen Flammen warfen sie Schatten auf den Steinboden, die flackernd hin und her tanzten. Mehrere Lehrlinge hatten sich um den Meister der Schwertkunst versammelt. Der Name des hochgewachsenen, kräftig gebauten Blonden war Leon. Sein langes Haar hatte er heute zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, aber eine Strähne war ihm entschlüpft und fiel über eines seiner wachsamen, braunen Augen. Leon hatte etwas von einem Löwen und in der alten Sprache der Aar bedeutete sein Name Der Mächtige. Esterial hatte großen Respekt vor ihm. Obwohl der Mann wahrscheinlich nur ein paar Jahre älter war als sie und darüber hinaus ein Mensch war, besaß er jedoch eine viel größere Stärke als sie. Esterial hatte im Zweikampf gegen den Hünen keine Chance, selbst mit ihren übernatürlichen Reflexen eines Vampyrs. Leon hatte sie im Auftrag von Meister Rothen in der Schwertkunst trainiert und ihr immer wieder gezeigt, dass sie noch lange nicht so weit war, ihn in die Knie zu zwingen. „Bist du schon wieder in deinen Tagträumen verschwunden, Esterial?“, unterbrach Leon ihre Gedanken. „Oder denkst du, du könntest es bereits mit allem aufnehmen?“ Eine Herausforderung? Das ließ sie nicht auf sich sitzen. Esterial zog ihr Schwert. „Mit allem aufnehmen? Weiß ich nicht. Aber eines weiß ich sicher.“ Sie richtete die Schwertspitze auf das Gesicht des Schwertmeisters. „Ich kann es mit Euch aufnehmen.“ Leon seufzte und machte keine Anstalten, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen. „Wie immer viel zu impulsiv. Du wirst niemanden besiegen, wenn du nicht die Ruhe in dir sammelst.“ Dann sprach er zu allen Lehrlingen: „Die Wut und der Zorn verschleiern den Blick und schwächen eure Urteilskraft.“ Er wandte sich einem Lehrling – einem Menschen – mit schwarzen, kurzen Haaren zu, der aufmerksam den Blick seines Meisters erwiderte. „Der Einzige von euch, der diese Lektion verstanden hat, ist Seth. Der Rest von euch wird sich nie steigern, wenn ihr euch nicht ein Beispiel an ihm nehmt.“ Leon wandte sich wieder an Esterial. „Vor allem du.“ Esterial knurrte ihn an und zeigte dabei ihre spitzen Eckzähne wie eine Raubkatze. „Ich bin seit mehreren Jahren im Umgang mit dem Schwert und der Magie geübt. Ich bin nicht schwach!“ „Dann beweise dich.“, sagte Leon nur und winkte Seth heran. Seth zog sein Schwert blank. „Ich trainiere ebenfalls hart, Esterial. Ich werde dir zeigen, dass ich der Stärkere bin.“ Das Mädchen erwiderte grimmig seinen Blick. „Ich mache dich fertig, Mensch. Du kannst ja deine Worte noch einmal wiederholen, wenn du besiegt auf dem Boden kriechst. Féar!“ Ein kleiner Feuerball schoss aus ihrer Hand, als sie das Wort aus der Sprache der Aar rief und raste auf das Gesicht ihres Gegners zu. Seth schickte seine Magie in das Schwert und schlug nach dem Feuerball. Der löste sich in Funken auf. Damit hatte Esterial jedoch gerechnet, sprang auf ihn zu und versetzte ihm einen Hieb, den Seth sofort geschickt parierte. Die Klingen sprühten Funken, als sie aufeinander trafen. Der junge Mann lächelte leicht. Esterial merkte zu spät, was er beabsichtigte. Seth streckte seine Hand aus, richtete sie auf Esterials Bauch und rief ebenfalls Féar. Der Feuerball traf sie direkt in die Magengrube und schleuderte sie einen Meter weit zurück, aber Esterial sprang sofort wieder auf die Beine, stürmte auf ihn zu, wich seinem nächsten Hieb mit einer geschmeidigen Rolle aus und zielte mit dem Schwert auf seinen offenen Rücken. „Jetzt bist du dran, Seth!“, schrie sie. „Während du deinen Gegner angreifst, solltest du deine eigene Verteidigung nicht fahren lassen.“, belehrte Seth sie, wich ihrem Schwert aus, indem er einen Schritt zur Seite trat, wirbelte einmal im Kreis und verpasste ihr durch den Schwung einen kräftigen Tritt in die Magengegend. „Als Vampyr magst du schneller sein als ein Mensch, aber unterschätze unser Geschick nicht.“ Esterial wurde dieses Mal mehrere Meter weit zurückgeschleudert und schlug hart auf dem Boden des Übungsplatzes auf. Das Schwert wurde ihr durch die Wucht aus der Hand gerissen und schlitterte ein paar Schritte weit von ihr weg. Sie spuckte etwas Blut, setzte sich auf und richtete ihren zornigen Blick auf Seth, der sie nur ruhig betrachtete. Und diese Ruhe brachte sie zur Weißglut. Warum war sie so schwach, obwohl sie ein Vampyr war? Was stimmte mit ihr nicht, dass sie von einem Menschen besiegt wurde?! „Ich glaube mich zu erinnern, dass ich mich wiederholen sollte, während ich besiegt auf dem Boden krieche.“, bemerkte Seth und zuckte die Schultern. „Und obwohl du jetzt diejenige bist, die besiegt auf dem Boden sitzt, tue ich dir den Gefallen und wiederhole mich noch einmal: Ich habe mich ebenfalls seit Jahren in der Magie und der Schwertkunst geübt, genauso wie du, Esterial. Es gibt nur einen Unterschied zwischen uns: Du bist schwächer als ich, Vampyr. Also verhalte dich nicht immer so, als wärst du der Mittelpunkt der Welt.“ Esterial schenkte ihm einen eiskalten Blick, stand auf und ging zu ihrem Schwert hinüber. Er hatte sie blamiert. Er hatte sie geschlagen. Und sie würde es ihm heimzahlen. Beide Lehrlinge ließen ihre Schwerter in den Scheiden verschwinden und dann applaudierte das Publikum. Selbst Leon schien beeindruckt und nickte Seth anerkennend zu. „Du wirst immer besser, Seth.“ Der senkte als Dank leicht den Kopf. „Danke, Meister.“ Dann wandte sich Leon an Esterial. „Ich hoffe, du hast aus diesem Kampf etwas gelernt. Du kannst jetzt in die Halle der Schriften gehen und dich dort weiter mit der Schwertkunst beschäftigen, Esterial. Für heute bist du von meinem Unterricht suspendiert.“ Fassungslos sah Esterial ihren Meister an. Wenn sie hier nicht übte, konnte sie nicht stärker werden. Ein Buch konnte nicht mit der Erfahrung, die die Praxis mit sich brachte, mithalten. „Meister Leon! Das ist nicht Eurer Ernst! Ich will lernen, besser zu werden! Ich muss besser werden, um solche wie ihn besiegen zu können!“, rief Esterial und deutete zornig auf Seth. Leon schüttelte enttäuscht den Kopf. „Anscheinend hast du gar nichts aus dem Kampf gelernt. Kläre deinen Geist, Esterial, dann darfst du wieder an meinem Unterricht teilnehmen. Bis dahin bleibst du in der Halle der Schriften, wenn du Unterricht bei mir hast, und befasst dich dort mit der Theorie der Schwertkunst.“ „Ich werde ja doch nichts aus den Büchern lernen!“ Trotz; ja, das war eine für sie übliche Reaktion. Leon seufzte. „Esterial, gib mir dein Schwert.“ „Ihr könnt es mir nicht wegnehmen, Meister...“, flüsterte Esterial entsetzt. „Gib mir dein Schwert, Esterial!“, sagte Leon erneut, doch dieses Mal energischer, wütender. Esterial reichte ihm widerwillig die Klinge. „Gut. Und ab jetzt ist es dir verboten, jegliche Art von Waffe zu tragen oder zu benutzen. Nun geh.“ Esterial sah Leon einen Augenblick lang erschüttert an, dann wirbelte sie herum und stapfte wutentbrannt vom Übungsplatz. Sie hatte eigentlich geplant, heimlich ihr Training fortzusetzen, aber ohne Schwert war dies nicht mehr möglich. Esterial hielt mit ihren Gedanken inne. Es sei denn, sie würde ein Schwert aus der Waffenkammer stehlen... In diesem Augenblick kam ihr Meister Rothen entgegen – der Schulleiter der Akademie und ihr Adoptivvater. Verdammt. Er schaffte es, immer genau zum falschen Zeitpunkt aufzutauchen! „Oh, Esterial, sei gegrüßt! Hat Leon die Übungsstunde heute früher beendet?“ Esterial wich seinem Blick aus. „Nein. Sie üben noch.“ Rothen seufzte. „Was war es dieses Mal?“ Sie funkelte ihn wütend an. „Was lässt euch alle eigentlich immer annehmen, dass ich gleich etwas angestellt habe? Selbst Ihr, Meister, zweifelt an mir!“ Was berechtigt war, aber es enttäuschte sie trotzdem und machte sie wütend. Er lachte leise sein hohes Ho-ho-Lachen. „Es scheint, als läge es dir im Blut, mein Kind.“ Dann machte er eine gespielt wehmütige Miene. „Und sprich mich doch nicht immer mit Meister an... Sag' einfach Onkel zu mir! Papa würde mir auch ganz gut gefallen.“, fügte er zwinkernd hinzu. Esterial verdrehte die Augen. War sie nicht ein wenig zu alt dafür? Ihr Adoptivvater war wohl nicht nur alt, sondern er sehnte sich auch geradezu abgöttisch nach der Liebe seiner Adoptivtochter. Wie herzzerreißend. Als wenn sie nicht schon genug Probleme hätte. In diesem Augenblick fiel ihr wieder ihr Albtraum ein. Loki war der einzige Fetzen ihrer Vergangenheit, an den sie sich erinnerte. Wenn Rothen sie als Kind im Wald gefunden hatte, dann müsste er doch auch Loki begegnet sein. Vielleicht wusste Rothen sogar, wo der Junge sich jetzt aufhielt. „Mir ist gerade etwas eingefallen, das ich Euch schon länger habe fragen wollen. Kennt ihr jemanden namens Loki?“, platzte Esterial heraus. Rothen schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Woher kennst du ihn denn? Gehst du mit ihm aus, ohne dass ich davon etwas weiß?“ Enttäuscht ließ Esterial die Schultern sinken. „Ich muss jetzt in die Halle der Schriften.“ „Wenn du mir nächstes Mal eine Ausrede auftischst, gehe es geschickter an. ...dann lasse ich dich mal deine Wege ziehen. Lerne fleißig und versuche unterwegs, nicht allzu viel zu zerstören.“, erwiderte der alte Rothen und schritt mich seinem leisen Lachen von dannen. „Heute haben irgendwie alle das Bedürfnis, auf mir herum zu trampeln.“, murmelte Esterial und lief auf den riesigen Seitenflügel zu, der die Halle der Schriften darstellte. Das Mädchen trat durch die riesigen Tore des Gebäudes und gelangte sprichwörtlich in ein Universum von Büchern. Die Bibliothek war gigantisch und sie enthielt Schriften von der einfachsten Wissenschaft bis hin zur kompliziertesten Magielektüre. Die Halle war so riesig, dass man bestimmt mehrere Stunden brauchte, um Erdgeschoss und die oberen Etagen allein nur anzusehen. Esterial fragte sich unwillkürlich, wer sich der Langweile dieser Bibliothek jemals freiwillig hingeben konnte. „Ahh, wenn das nicht Esterial ist.“, sagte eine sanfte Stimme, die zu einer schlanken, kleinen Frau gehörte. Ihr Name war Freya und sie war an der Akademie als die Gelehrteste von allen bekannt. Wenn man eine Frage hatte, konnte man mit Bestimmtheit sagen, dass sie die Antwort darauf wissen würde. Und außerdem war Freya wie Esterial vom Geschlecht der Vampyre. „Seid gegrüßt, Meisterin Freya.“, sagte Esterial und senkte den Kopf leicht. Es war üblich, den Meistern auf diese Art Respekt zu erweisen. Es gab nur zwei Personen, bei denen Esterial dies nicht tat: Die Eine war Meister Rothen, ihr Adoptivvater. Die andere Person war Leon. Sie kannte ihn schon seit ihrer Kindheit und er hatte Esterial von Anfang an als Privatlehrer in die Kunst des Schwertkampfes eingeweiht. Deshalb kam ihr es nicht richtig vor, sich vor ihm zu verneigen. „Ich wurde von Meister Leon hergeschickt...“ Das Mädchen hielt inne. Eigentlich wollte sie sich nicht mit Büchern beschäftigen. Vielmehr interessierte sie die Waffenkammer und die Bücher der alten Sprache. Beides war ihr aber verboten. Vor allem letzteres. Die Schriften der Aar durften nur von Meistern der Magie gelesen werden. Sie enthielten die Machtworte wie Féar, das für Feuer stand. Mit den Worten der Aar war es dem Anwender erlaubt, die Magie der Erde zu beherrschen. Man brachte Lehrlingen aber lediglich die einfachsten Wörter wie die der vier Elemente bei: Féar für Feuer, Lyr für Luft, Méhea für Wasser und Toryé für Erde. Mit diesen Machtworten konnte man die Elemente heraufbeschwören und zum Beispiel einen Feuerball erzeugen, wie Esterial es im Kampf gegen Seth getan hatte. Was würde sie alles darum geben, mehr von diesen Wörtern zu lernen! „Und?“, harkte Freya nach, als Esterial nicht weiter fort fuhr. Diese lächelte leicht. „Äm, nichts weiter, ich soll mich nur umschauen, ob ich irgendetwas Interessantes hier finde, das mich bei meiner Kampfkunst weiter bringt.“ Esterial tat so, als betrachte sie interessiert die Bücherschränke, dann spielte sie einen Geistesblitz vor. „Ach, da fällt mir ein... Meisterin Freya, wie schützen wir uns eigentlich vor feindlichen Angriffen?“ „Die Akademie wird von vielen magischen Zirkeln beschützt. Sie funktioniert wie eine Mauer, die nicht durchdrungen werden kann – es sei denn, man setzt machtvolle Magie ein.“ Freya liebte es, den Wissensdurst von Neugierigen zu stillen und ihr Lächeln verriet sie. „Werden noch weitere Orte in der Akademie geschützt?“, fragte Esterial weiter. Freya nickte, schien aber nun etwas misstrauischer. „Erst einmal der Raum, in dem die Schriften der Aar aufbewahrt werden, damit kein Unbefugter Zutritt dazu hat. Und dann noch die Verliese und die Waffenkammer.“ Die Waffenkammer also auch. Es dürfte sich als schwierig gestalten, von dort ein Schwert zu stehlen. "Nun...", wollte Freya fortfahren, doch Esterial kam ihr zuvor. "Ich muss jetzt zur nächsten Unterrichtsstunde!" Freya blickte auf die große Wanduhr, die über dem Eingang hing und zog ihre Augenbrauen verwundert hoch. „Wirklich? Du warst doch gerade mal ein paar Minuten hier... und soweit ich weiß, hast du jetzt erst Pause.“ Erwischt. Esterial setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf. „Wir haben es vorgezogen.“ Das stimmte nicht, aber das konnte Freya ja nicht wissen. „Auf Wiedersehen!“ Ehe die Gelehrte noch etwas erwidern konnte, entfloh Esterial aus der Bibliothek und stieß prompt mit etwas Großem, Hartem zusammen. Es schleuderte sie zu Boden und ihr Kopf begann zu dröhnen. Das Mädchen sah genervt auf, bereit, eine wüste Beleidigung loszulassen - und erstarrte zu Eis. Vor ihr stand niemand anderes als Leon und beobachtete sie mit verschränkten Armen. Sofort sprang Esterial auf und senkte hastig den Kopf – etwas, dass sie bei ihm kaum tat. „Entschuldigt bitte, Meister! Ich habe nicht nach vorne geschaut!“ Das hörte sich irgendwie gar nicht nach der frechen, impulsiven Esterial an, aber sie wollte auf keinen Fall noch mehr in Leons Achtung sinken. „Ich nehme deine Entschuldigung an. Wie liefen deine Studien? So kurz, wie du in dort warst, kannst du ja nicht viel gelernt haben.“ Esterial wurde schlagartig heiß und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ich habe allerhand über die Verteidigung unserer Akademie gelernt, Meister Leon.“ Sie beobachtete unruhig, wie seine Augenbrauen in die Höhe stiegen. „Die Verteidigung unserer Akademie ist wahrlich wichtig, Esterial. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass du eigentlich etwas anderes hattest studieren sollen.“ Esterial senkte den Blick und kniff die Augen zusammen. Er würde sie bestrafen. Garantiert. Jedes Mal, wenn sie sich vor Pflichten drückte und ihre eigenen Wege ging, straften sie Leon und Rothen immerzu mit langweiligen Aufgaben wie das Sortieren der Schriften in der Bibliothek, oder dem Sammeln von Kräutern für die Heilerin Selena, die verschiedene Arzneien herstellte. Ihre Begründung war, dass Esterial dann mehr Pflichtgefühl entwickele. Das Resultat fiel aber eher gegenteilig aus – Esterial war eigensinnig, impulsiv und sie wollte immer ihre eigene Wege gehen. Das tiefe Seufzen ihres Meisters ließ sie den Kopf wieder anheben und die Augen öffnen. „Nun gut, du seist fürs Erste befreit.“, sagte er schließlich. Ungläubig riss das Mädchen beide Augen auf und konnte erst gar nicht glauben, was sie da gehört hatte. „Ihr lasst mich gehen? Einfach so?“, harkte Esterial misstrauisch nach. Jetzt erschien die Andeutung eines Lächelns auf Leons Gesicht. „In der Tat.“, meinte er. „Zumindest fürs Erste.“, fügte er hinzu und wiederholte damit seine Worte von vor wenigen Sekunden. Das hieß wohl, dass sie später eine Strafe zu erwarten hatte, aber zumindest nicht jetzt, was schon mal ein kleiner Lichtblick war. Auf Esterials Gesicht breitete sich ein Grinsen aus und bevor Leon noch irgendetwas hinzufügen konnte, schlüpfte sie ihm seitlich weg, bedankte sich noch einmal und rannte dann quer über den Vorhof der Akademie zum Haupteingang, in dem sich die Unterrichtsräume der anderen Fächer befanden. * * * Der Angriff kam leise – so leise wie die Ruhe vor einem Sturm - und allein die Sterne wurden Zeuge von dem, was nun geschehen und Esterials Leben vollkommen verändern sollte. Das Mädchen lag in ihrem Bett und wälzte sich unruhig hin und her. Dann erwachte sie mit einem erstickten Schrei aus ihrem Albtraum; nein, etwas hatte sie geweckt. Aber was sie geweckt haben könnte, blieb ihr verschlossen. Verwirrt und zu aufgewühlt von dem immer wiederkehrenden Albtraum mit dem Unbekannten namens Loki schlug Esterial die Decke beiseite und stand auf. Müde, wie sie war, registrierte sie nicht die Unruhe, die draußen herrschte und die Schatten, die an ihrem Fenster vorbei huschten. Noch wackelig auf den Beinen und schläfrig verließ sie im Schlafgewand ihr Zimmer und wanderte ziellos auf den Gängen umher. Als sie nach draußen in den Vorhof gelangte, blieb sie wie erstarrt stehen: Leichtende Feuerfontänen, kleine Windhosen und machtvolle Wasserwälle wurden beschworen und auf die Angreifer losgelassen; die Erde klaffte auseinander und die dunklen Schatten, die an den Fenstern vorbei gehuscht waren, waren die Gestalten der Meister, die sich in einer Reihe aufgestellt hatten, um Akademie und Lehrlinge zu beschützen. Selbst Meister Rothen, ihren Adoptivvater, konnte sie nicht weit entfernt von sich ausmachen. Auch andere Magielehrlinge – Menschen und Vampyre gleichermaßen – waren aufmerksam geworden und torkelten verschlafen aus dem Gebäude - und fanden sich mitten in einem Krieg wieder. „Ihr seid nicht würdig, euch Vampyre zu nennen!“, brüllte ein hochgewachsener, hasserfüllter Vampyr auf der feindlichen Seite und beschwor einen weiteren mächtigen Zauber, den er auf die Meister losließ. Was ging hier nur vor? Erst jetzt fiel Esterials Blick auf die angreifende Front, die ausschließlich aus Vampyren bestand. Es war allgemein bekannt, dass die Akademie die Missgunst von vielen ihrer Art auf sich zog, aber dass sie soweit gehen und angreifen würden? Angst machte sich in ihr breit. „Rückt die Menschen heraus!“, schrie jemand anderes. „Sie haben unsere Rasse beinahe ausgelöscht! Dafür wird Blut fließen!“ „Menschen sind der Magie nicht würdig! Wie könnt ihr es wagen, sie zu unterrichten?!“ „Verräter! Verdammt seid ihr!“ Und dann verstummten sie plötzlich. Eine Frau war aus dem Schatten getreten und hatte eine Hand erhoben, um sich Gehör zu verschaffen. Sie trug einen langen, roten Umhang und ein dazu passendes, bis auf den Boden reichendes Kleid. Ihr Haar war leuchtend blond, fast weiß, und fiel in sanften Wellen über ihre Schultern. Ihr Blick war kalt und ihre Augen waren wie Eis. Selbst in der Dunkelheit konnte Esterial mit ihren guten Augen eines Vampyrs ihre eisblaue Iris erkennen. „Rothen.“, sprach sie. Ihre Stimme glich einer hellen Glocke, so klar ertönte sie durch die Nacht. „Nehenia.“, kam die Antwort. Es hätte ein Treffen zweier Liebenden sein können, wäre da nicht der Hass im Gesicht der erhabenen Vampyrin gewesen. „Wie konntest du deine Rasse nur derartig hintergehen?“ Nehenia erhob die Stimme. „Wie konntet ihr alle eure Rasse nur so verraten?“ „Wir haben unsere Rasse nicht verraten.“, widersprach Rothen. „Menschen und Vampyre müssen endlich Frieden schließen. Der Krieg dauert schon viel zu lange an. Die Akademie ist ein Friedensbeschluss, ein Anfang - der erste Schritt in eine glorreiche Zukunft ohne Hass und Krieg.“ „Hast du vergessen, was sie uns vor vierzehn Jahren angetan haben? Nicht nur, dass sie unsere Königin kaltblütig ermordet haben. Nein, die ganze Königsfamilie wurde ausgelöscht und kein einziger hat überlebt! Und die mächtigste Magie, die unserem Volk inne wohnt, ist mit ihnen gestorben!“ Ihre Stimme zitterte vor ungezügeltem Hass. „Du weißt, was das bedeutet. Die Menschen wissen, dass sie nun im Vorteil sind. Und ihre roten Ritter sind stark! Sie werden kommen, Rothen, und uns vernichten, wenn wir ihnen nicht zuvor kommen!“ „Und warum greifst du dann meine Akademie an, Nehenia?“, fragte Rothen, jetzt nicht mehr so beherrscht wie am Anfang. „Warum greifst du nicht jene an, die dafür verantwortlich sind, anstatt Unschuldige als Opfer zu verlangen?“ „Es sind alles Menschen!“, kreischte eine andere Frau hysterisch, aber der kalte Blick ihrer Anführerin ließ sie verstummen. „Sie werden hier in der Magie ausgebildet, die nur unserem Volk zusteht.“ Nehenia deutete auf einen menschlichen Lehrling. „Und sobald sie ausgebildet sind, was dann? Wer sagt, dass sie sich nicht den roten Rittern anschließen? Vergiss nicht: Auch die roten Ritter haben einst von uns die Magie erlernt. Und nun sieh, was geschehen ist.“ Rothen schüttelte leicht den Kopf. „Es ist nicht gesagt, dass sie uns ebenfalls verraten, Nehenia.“ Seine Stimme klang überzeugt, doch es schwang ein wenig Verbitterung mit. Wahrscheinlich war er in Gedanken bei den roten Rittern, die er selbst unterrichtet hatte. Bis er gekommen war - der Mann mit der Narbe... Nehenia öffnete den Mund, um ihm eine hitzige Antwort zu geben, doch dann hörte sie ein tiefes Grollen und fernes Wolfsgeheul. Alle erstarrten – Feinde und Freunde gleichermaßen. Plötzlich machten sich alle bereit zum Angriff, aber nicht, um sich gegenseitig abzuschlachten: Im Wald hinter ihnen nährte sich etwas und die dunkle Aura jener Kreaturen eilte ihnen weit voraus. Esterial durchzuckte ein unheimliches Gefühl und ließ sie unwillkürlich einen Schritt zurücktreten. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass fast alle der Lehrlinge wieder ins Innere des Akademiegebäudes geflohen waren. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich schreckliche Todesangst ab. Das Mädchen musste den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht haben, denn als Rothen sie entdeckte, weiteten sich erschrocken seine Augen. Und dann kamen sie. Scharenweise. Schwarze Kreaturen auf vier Pfoten und mit buschigem, bläulich leuchtendem Fell, als stünden sie in blauen Flammen, stürmten mit unheimlicher Geschwindigkeit aus dem Wald hinaus und auf die Akademie zu. Esterial wusste sofort, was sie waren, obwohl sie die Kreaturen nur aus Abbildungen in Büchern kannte: Cerberos. Geschöpfe der Hölle. Diese riesigen, beinahe zwei Meter hohen, blutrünstigen Höllenhunde zogen durch die Ländereien, töteten Menschen und Vampyre gleichermaßen und fraßen ihre Leichen. Sie waren die uralten Feinde beider Rassen. Niemand wusste, wie sie aus der Hölle in die irdische Welt hatten gelangen können. Esterial fühlte sich gepackt und entdeckte Leon, der sie über die Schulter warf und mit weit ausholenden Schritten auf den Haupteingang zurannte. Auch andere Meister folgten. Esterial sah mit an, wie die Kreaturen die ersten gegnerischen Vampyre erreichten und sie zerfetzten, als wären sie nichts weiter als Puppen. Dabei waren ausgewachsene Vampyre fast zehnfach so stark wie ein Mensch... Die dreiköpfigen Dämonen schienen sich daran jedoch nicht zu stören und erreichten nun auch die Meister und Lehrlinge der Akademie, die sich noch auf dem Vorhof befanden. Ein Schrei ertönte, als Nehenia von einem Cerberos angegriffen wurde, aber er kam nicht von ihr – einer der anderen Vamypre warf sich schützend vor seine Herrin und wurde in hohen Bogen davon geschleudert. Nehenia warf der Kreatur einen mächtigen Feuerball entgegen, dann rief sie ihren Verbündeten Befehle zu. Ein paar der Meister und eine Hand voll Lehrlinge – darunter auch Seth – stellten sich Seite an Seite mit den anfänglichen Feinden vor die Höllenhunde und versuchten sie zurückzutreiben. Rothen schrie etwas, aber Esterial konnte es nicht mehr verstehen, denn in diesem Moment schlug das große Tor des Eingangs zu und dämpfte die Kriegsgeräusche auf ein Minimum. Leon atmete schwer und packte das Mädchen fest an den Schultern. „Verstecke dich mit den anderen Lehrlingen in den Verliesen, verlasst auf keinen Fall das Gebäude. Um die Akademie herum ist ein Schutzwall errichtet – er wird euch beschützen.“ In diesem Augenblick wurde die Tore erneut aufgerissen und hereingestürmt kamen die anderen Meister, Seth – er war schwer verletzt –, die anderen Lehrlinge und zu Esterials Entsetzen auch die feindlichen Vamypre in Gefolgschaft von Nehenia, die ebenfalls schwer blutete. Wie sich herausstellte, hatte Seth ihr das Leben gerettet und somit hatten sie beschlossen, für kurze Zeit ihren Krieg beizulegen und sich der gegenwärtigen Bedrohung zuzuwenden. Das Tor schloss sich mit einem dumpfen laut, dann herrschte Stille. Esterial warf einen Blick nach draußen und bemerkte mit aufsteigender Panik, dass sich die Höllenhunde an die Barriere zu schmeißen begannen. Wie lange würde sie diesem Ansturm standhalten? „Ein Cerberos lässt sich nicht mit Gewalt aufhalten, sie sind viel stärker als wir.“, flüsterte gerade einer der Meister – es war Freya. „Sie sind gegen jegliche Zauber immun. Und...“ Ihre Stimme wurde brüchig. „...ich fürchte, dass sie auch in absehbarer Zeit die Schutzbarriere durchbrechen werden.“ „Es ist alles die Schuld dieser Menschen!“, zischte Nehenia, wobei sie das Wort Mensch wie ein Schimpfwort klingen ließ. „Das ist nicht gesagt...“, murmelte Rothen, dann blieben seine Augen an Esterial haften. „Wieso bist du noch hier, Esterial?!“, rief er aus, als würde er sie erst jetzt wahrnehmen. „Verstecke dich in den Verliesen wie die anderen Lehrlinge!“ „Er ist doch auch hier, also will ich auch helfen!“, gebärdete sich Esterial auf und zeigte auf Seth. Sie hatte zwar immer noch unbegreiflich große Angst, aber sie war nicht der Typ, der sich davon beherrschen ließ. „Wir haben jetzt keine Zeit für Rivalitäten. Rothen hat recht.“, sagte Leon energisch und schob sie in die Richtung der Treppe, die im hinteren Bereich in das Untergeschoss führte. „Geht, und zwar alle.“ Damit meinte er Esterial, Seth und den Rest der Lehrlinge, die geblieben waren. „Es ist der sicherste Ort. Wenn sie die Barriere durchbrechen...“ „Ja, was dann?“, herrschte Nehenia ihn an. „Sollen sich die Kinder dort unten versteckt halten, bis sie von den Bestien gefunden und zerfleischt werden? Wir werden sowieso alle sterben, also sollte jeder kämpfen, der dazu Imstande ist.“ Ein unheimliches Krachen erschütterte die ganze Akademie. Alle verstummten und Esterial blickte erneut aus dem Fenster – und erstarrte. Einer der Höllenhunde, der am Größten schien und das ganze Rudel anführte, hatte seine drei Köpfe nach vorne geneigt und seine leuchtend gelben Augen fixierten einen ganz bestimmten Punkt: Und die Barriere zersplitterte in tausend kleine, leuchtende Scherben! Leon zog sein Schwert blank, das er immer bei sich trug und packte die Türklinke. „Ich werde kämpfen. Jeder, der mutig genug ist, mag mir folgen.“ Er richtete seinen hitzigen Blick auf Nehenia. „Ich weiß nicht, was in der Vergangenheit zwischen Euch und Rothen geschehen ist und ich weiß, dass Ihr mich verabscheut, weil ich ein Mensch bin und die Menschen es waren, die Eure Königsfamilie ausgelöscht haben, aber lasst mich eins sagen: Ich werde diese Akademie verteidigen. Es ist mir gleich, ob meine Schüler Menschen oder Vampyre sind, es sind meine Schüler. Und wenn ich etwas tun kann, um ihr Leben zu schützen, dann werde ich es tun.“ Damit drückte er die Türklinke hinunter und trat hinaus. Angst einflößendes Knurren seitens der Höllenhunde war zu hören. Nehenia blickte ihm hinterher und in ihren Augen stand so etwas wie... ja, was war es? Überraschung? Respekt? Esterial wusste es nicht, aber was auch immer es gewesen sein mochte, die Vampyrin kam zu einem Entschluss. „Wenn wir jetzt nicht Seite an Seite kämpfen, werden wir wohl alle hier sterben.“ Rothen sah Nehenia auf eine Art und Weise an, die Esterial nicht deuten konnte. Dann lächelte er. „Ich freue mich, dass du zu diesem Schluss gekommen bist.“ Sie lachte leise, kalt. „Unser Krieg ist damit nicht beendet. Nur vorübergehend. Es sei denn, wir sterben hier.“ Wieder ein Lachen, dieses Mal jedoch amüsiert. „Obwohl wir dann die Möglichkeit hätten, alles in der Hölle auszufechten.“ Damit traten Nehenia, ihr Gefolge (nur wenige hatten den Ansturm der Höllenhunde überlebt) und die Meister aus dem Akademiegebäude und stellten sich der Bedrohung. Die anderen Lehrlinge taten, wie ihnen geheißen wurde und brachten sich selbst und die Verletzen in den Verliesen in Sicherheit. Allein Seth und Esterial blieben, wo sie waren. Vor allem aber der junge Mann schien erpicht darauf zu sein, sich wieder in den Kampf zu stürzen, der mittlerweile draußen erneut entfacht war. „Du bist doch verletzt!“, rief Esterial. „Müsste das nicht gut für dich sein?“, neckte Seth. „Jetzt könntest du mich besiegen.“ Esterial schwoll vor Wut an, aber dann schob Seth sie nur grob beiseite. „Geh, Esterial. Du wirst nur sinnlos sterben, wenn du ebenfalls nach draußen gehst. Wenn du mich nicht einmal besiegen kannst, dann kannst du auch keine dieser Bestien besiegen.“ „Ich bin nicht schwach!“ „Und wie willst du kämpfen? Hast du Freya nicht gehört? Sie sind gegen Magie immun und du hast keine Waffe!“ Das saß. Und ehe Esterial etwas antworten konnte, war er aus dem Akademiegebäude geschlüpft und stellte sich zu den Reihen der Verteidiger. Das Mädchen konnte nicht anders und stürmte ihm hinterher, weil sie das Gefühl hatte, sonst alle im Stich gelassen zu haben. Sie hatte Todesangst und wusste, dass sie sich nicht verteidigen konnte. Doch wie zuvor hörte sie nicht auf ihre innere, warnende Stimme, dir ihr zurief, sie möge sich in Sicherheit bringen. Und das war ihr größter Fehler, denn in diesem Augenblick sprang einer der Höllenhunde auf sie zu und zielte mit seinen tödlichen Zähnen auf ihren Hals - auf einmal tauchte Seth's Körper vor ihr auf, wie er sich schützend vor sie warf und dann... ...wurde alles rot. Jemand schleuderte sein Schwert in die Richtung des Cerberos und er sprang zur Seite. Doch zu spät. Seth schwankte und fiel seitlich auf den Boden. Esterials Augen weiteten sich vor Entsetzen. Wenn sie nicht schutzlos nach draußen gegangen wäre, dann... Um Esterial herum tobte der Kampf weiter und nur die, die in der Nähe standen, bekamen flüchtig mit, was geschehen war. Das Mädchen stürmte auf Seth zu und ließ sich auf die Knie fallen – es tat weh, aber sie spürte den Schmerz kaum. „Nein! Nein... Stirb nicht! Warum hast du das nur getan?!“ „Das frage ich mich auch...“, murmelte er kaum hörbar. Sein ganzer Körper war mit Blut befleckt. Er würde hier sterben. Still und leise. Und nur sie würde es bemerken. Und es war ihre Schuld. „Du bist so ein Idiot...“, flüsterte Esterial, den Tränen nahe. Sie hatte ihn nie gemocht. Sie hatte ihn gehasst, verdammt nochmal, aber so sterben sollte niemand! „Du darfst nicht sterben! Ich muss dir noch in den Arsch treten, weil du mich unehrlich besiegt hast...“ „Unehrlich...“, flüsterte Seth und brachte so etwas wie ein abfälliges Lächeln zustande. „Dass ich... nicht lache...“ Er hustete Blut. „...aber ich bin... froh, dass du lebst...“ Esterial schossen jetzt doch Tränen in die Augen, obwohl sie eigentlich nicht heulen wollte. Sie wollte um Hilfe rufen, aber sie wusste, dass andere dann ebenfalls ihr Leben riskieren würden, wenn sie es täte. Es war schon ein Wunder, dass sich kein Höllenhund auf Esterial gestürzt hatte, während sie schutzlos auf dem Marmorboden kniete. In diesem Moment schrie jemand vor Schmerz auf, der ganz nah war. Esterial hob den Kopf und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Rothen war zurückgeschleudert worden. An seinem Bauch erkannte das Mädchen eine klaffende Bisswunde, die heftig blutete. Und der Höllenhund setzte erneut zum Sprung an und niemand konnte ihm helfen, weil alle um ihr eigenes Leben kämpften... Er würde sterben. Sie würde ihn verlieren. Er war ihre Familie. Und jetzt sollte er einfach so sterben. Genauso wie Seth, ihr Erzfeind, der sich einfach schützend vor sie geworfen hatte... Esterial zitterte am ganzen Körper, als sie aufstand und dann gewann etwas in ihr die Oberhand. Es war etwas, dass sich nicht beschreiben ließ - eine Wut und eine Macht, die nicht zu ihr zu gehören schien. Plötzlich konnte das Mädchen nicht mehr denken. Sie wollte nur noch, dass das Blutfließen ein Ende hatte. „AUFHÖREN!“, schrie Esterial so laut sie konnte - und das Unfassbare geschah: Plötzlich verstummte die Welt um sie herum, die Luft wurde schlagartig dicker, die Bewegungen langsamer. Dann entwich ihrem Körper eine Druckwelle, die Mensch, Vampyr und Höllenhund gleichermaßen von den Füßen riss und so machtvoll war, dass selbst die Bäume des Waldes leicht einknickten. Nur ein einziges Geschöpf blieb unversehrt - der riesige Cerberos, der Anführer seines Rudels. Die blauen Flammen um ihn herum schossen in die Höhe, als er von der Druckwelle erfasst wurde, dann spannte er die Hinterläufe und kam in weiten Sätzen auf Esterial zugestürmt, die gelben Augen fest auf sie gerichtet und die Reißzähne gefletscht. Das war wohl ihr Tod. Der riesige, majestätische Cerberos kam fast einen Meter vor ihr mit einer eleganten Bewegung zum Stehen und dann geschah zum zweiten Mal etwas Unfassbares: Er blickte aus seinen sechs gelben Augen tief in ihre und ein Hauch von Erkennen lag darin. Dann ließ er sich auf seine Hinterbeine nieder und senkte leicht seine drei Köpfe. Und alle anderen Höllenhunde taten es ihm gleich! Ihr seid zurückgekehrt, sprach eine dunkle Stimme in Esterials Gedanken, die nur sie zu hören schien. Wir stehen Euch zu Diensten, Herrin der Vampyre. „Was... was geht hier vor?“, fragte einer der feindlichen Vampyre mit zittriger Stimme, als er und der Rest sich aufrappelten. „Wieso verneigen sich diese Dämonen vor der Göre?“ Nehenia starrte für einen Bruchteil einer Sekunde Esterial enntsetzt an, dann ließ sie sich auf ein Knie nieder und verbeugte sich ebenfalls. „Nur Angehörige der Königsfamilie haben die Macht, die Cerberos zu kontrollieren. Verbeugt euch!“ In ihrer Stimme schwang tiefste Ehrfurcht mit. „Sie ist die verlorene Prinzessin, unsere Lady!“ Esterial bemerkte erschrocken, wie alle Blicke voller Ehrfurcht auf sie ruhten, dann begann sich erst einer zu verneigen und schließlich waren alle auf ihre Knie gesunken und hatten ihr Haupt vor ihr gesenkt. „...ich bin nicht... ich keine Prinzessin... ich bin nur Esterial...“, hauchte das Mädchen mit zittriger Stimme und blickte sich unsicher um. Euer Wort ist unser Gesetz. Befiehlt und wir werden Euch folgen, widersprach der Cerberos zu ihren Füßen. "Wir dachten, wir hätten Euch vor vierzehn Jahren verloren, als Eure Familie ausgelöscht wurde. Ich bin froh, dass Ihr entgegen unserer Annahme noch lebt." Nehenia neigte den Kopf noch etwas tiefer. „Ihr seid die letzte Angehörige der Königsfamilie, Lady Esterial, und damit unsere zukünftige Königin.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)