Lebensweg von GeZ ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Straßen sind leer und finster, die Häuser scheinen sich ganz klein zu machen, sich in ihr Bett aus Gartenerde oder Asphalt zu schmiegen. Geschlossene Gardinen verdecken wie Lider den Blick zur Seele. Nur ganz leise knirscht der Schnee unter meinen Füßen, als wolle er die nächtliche Ruhe nicht stören. Wohin ich gehe, weiß ich nicht. Eigentlich ist es ohnehin egal. Denn ich weiß ja auch nicht, was ich will. Wohin soll ich dann schon? Der Weg ist das Ziel. Ich will einfach weiterlaufen und abwarten. Irgendwo werde ich schon ankommen. Davor habe ich Angst. Aber ich freue mich gleichzeitig auch darauf. Es ist spannend zu sehen, was um mich herum ist. Nicht nur Dunkelheit. Nirgends ist nur Finsternis. Es gibt immer ein Licht, dessen bin ich mir sicher. Ich mag naiv sein, das zu glauben, aber es ist eine Naivität, die als Gewissheit in meinem Herzen liegt. Tief und fest und unumstößlich. Nur dann vielleicht, sollte man mir das Herz herausreißen, könnte sie verloren gehen. Ein Grund mehr, sich das Herz zu behalten und auch nicht zu verschenken. Mein Herz gehört mir. Mir allein. Eine Schneeflocke landet auf meiner Jacke. Sie ist ganz sacht und sanft geflogen. Hin und her, wie in einer Wiege. Nun ist sie gelandet. In der Realität? Den tragenden Armen des Windes entrissen. Sie schmilzt nicht. Ihr wird nicht warm bei mir. Warum auch? Ich sage selbst gern, dass ich wie Tiefkühlkost bin, dass man mich erst auftauen muss. Und vermutlich bin ich danach nicht einmal zu genießen, sondern nur widerlich. Aber wenigstens warm. Ich kann ein leichtes Seufzen nicht verhehlen, als ich den Blick von dem schönen, kalten Kristall löse. Einzigartig. Bin ich das? Kalt bin ich bestimmt. Es kommt mir zumindest oft so vor. Wenn es mir gleichgültig ist, dass es Menschen schlecht geht. Nur ich zähle. Was hat es mich zu interessieren, wenn mein Nachbar Krebs hat, wenn meine Bekannten Ärger mit ihren Partnern haben, wenn in China ein Sack Reis umfällt? Ich habe keinen Partner. Zum Glück. Ich kann mich nur selbst verletzen. Fast. Mein Familie. Meine Freunde. Ja, es gibt Menschen, die mir etwas bedeuten. Kennen sie mich? Mögen sie mich? Lieben sie mich? Kenne ich sie? Mag ich sie? Liebe ich sie? Ja… Das würde ich sofort sagen, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch beruht das auf Gegenseitigkeit? Die Zweifel, sind sie Unwissenheit? Dann würde ich sie nicht kennen und dann ist es mir auch ungewiss, ob sie mich mögen, lieben. Lieben kann man ohnehin nur jemanden, den man nicht kennt. Ich bin froh, dass ich sie nicht kenne. Ein Hund bellt laut. Plötzlich. Ich bin nicht erschrocken. Obwohl er mich anknurrt. Die Zähne fletscht. Erneut bellt. Keine Angst, Wachhund. Ich will nichts, das du beschützt. Deine Aufgabe hast du aber gut erfüllt. Feiner, braver Hund. Wäre ich an deiner Stelle, wäre ich nicht nur stolz auf mich. Bestimmt wäre ich glücklich. Ich hätte einen Ort. Ich hätte Menschen. Ich hätte eine Aufgabe. Wo ich hingehöre. Zu denen ich gehöre. Die zu mir gehört. Missgunst ist eine böse Sache. Eine ganz böse. Pfui, aus! Das gehört sich nicht. Ich weiß es ja. Doch ich bin ein fieser Hund mit schlechtem Charakter, denn der Neid ist mir nicht fern. Er sitzt in meinen Eingeweiden, hat es sich dort ziemlich gemütlich gemacht und lebt ein schönes Leben, soweit ich das beurteilen kann. Vielleicht ist sogar neidisch auf sich selbst, weil es ihm bei mir so gut geht. Meine Freunde wissen alle, was sie wollen. Wohin sie gehören. Sie haben Partner. Sie haben gemeinsame Wohnungen. Sie haben getrennte Kinder und manchmal auch gemeinsame. Sie haben Jobs, sie haben Aufgaben, sie fühlen sich zu etwas berufen und sie kennen dieses Etwas. Sie müssen es nicht suchen, im Dunkeln, nachts, ganz allein, so wie ich. Meine Freunde sind schon toll. Ich hab sie gern. Aber ich hasse es, dass sie es leicht haben. Warum? Warum nicht ich? Wahrscheinlich denke ich zu viel. Zu viel an mich. Und das macht mich dumm, sehr dumm. Egoismus ist auch eine fürchterliche Sache. Bin eben nicht so prima wie meine Freunde oder der Hund, den ich langsam hinter mir lasse. Sein Bellen verfolgt mich noch zwei Häuser lang. Sehr eifrig. Auch das bin ich nicht. Ich versuche, allen, die mir wichtig sind, zu helfen. Das bezieht sich dann allerdings nicht auf Arbeit. Zuhören, gut zureden, aufheitern. Das kann ich nicht. Das mache ich nicht. Körperliche Arbeit ist was für mich. Das kann jeder Idiot. Und dumm bin ich nun mal, wenn ich an mich selbst denke. Also immer. Egoistisch. Dumm. Nur noch vereinzelt sind jetzt Häuser zu sehen. Särge auf Zeit. Zum Teil recht hübsch herausgeputzt, mit netten Vorgärten. Noch ohne Efeu und die Ziffern nennen nur die Hausnummern. Man kann sie kaum noch erkennen. Der Schneefall hat zugenommen. Ich muss wie ein lebender Schneemann aussehen. In den Kindertagen war immer alles einfach. Hin und her. In der Wiege. Wie die Schneeflocken im Wind. Ich kann ihn immer noch ganz genau sehen, den Kristall von vorhin, zwischen all den anderen, die jetzt auf meiner Jacke sind, denn er ist einzigartig. Irgendwann muss man laufen. Nicht mehr hin und her. Wenn man aus der Wiege geworfen wird, darf man das nicht mehr. Man muss in der Realität landen. Man muss lernen, sich zu entscheiden. Für einen Weg. Hin und her darf man wirklich nicht mehr, nur vorwärts, immer vorwärts. Wohin, ist doch egal. Mir ist es egal. Ich laufe einfach. Damit sie Ruhe geben. Damit sie mir nicht vorhalten können, dass ich mich nicht entscheiden kann. Dabei kann ich das sehr wohl. Ich könnte es zumindest, wenn ich wüsste, was ich will. Weshalb soll ich mich für etwas entscheiden, das ich nicht will? Doch ihnen zuliebe laufe ich eben. Eigentlich meist im Bett. Unter der warmen Decke rennen meine Gedanken wieder und wieder. Einen Marathon nach dem anderen. Schlafen kann ich erst, wenn mein Geist vor Erschöpfung zusammenbricht. Manchmal schafft er die zweiundvierzig Kilometer gar nicht, manchmal bewältigt er sie mehrmals. Immer so lange, bis nicht nur meine Augen dicht machen, sondern auch mein Verstand. Ich möchte mal wieder gut einschlafen. Mich nur hinlegen, die Welt in mir ausblenden. Die Welt um mich auch. Aber vor allem doch die in mir. Heute ist nicht so eine Nacht. Eine, in der ich weniger laufe. Keine, in der ich mehrmals den Marathon hinter mich bringe, in meinem Bett liegend. Diese Nacht ist besonders schlimm. Nicht nur mein Verstand rennt. Mein Körper geht mit. Schritt für Schritt und nicht zu schnell. Den Gedanken können meine Beine ohnehin nicht folgen. Das jedoch ist nicht schlimm. Ist schließlich kein Wettbewerb. Höher. Schneller. Weiter. Gilt für meine Beine nicht. Hauptsache sie bringen mich von A nach B. Ganz einfach. Wenigstens das. Das Gehen, das Laufen, das Rennen meiner Gedanken ist dagegen nicht so leicht. Es laugt mich mehr aus, als das meiner Beine. Dabei ist das Denken auch kein Wettbewerb. Es ist eine Bürde. Eine schwere. Und ich bin so dumm, nicht nur, weil ich egoistisch bin. Weil ich versuche, nachzudenken, bin ich es besonders. Denn ich muss über nichts nachdenken, wenn ich nichts weiter tue. Und ich mache ja auch nichts. Ich lasse mich treiben. Wie die ehemals weiße Plastiktüte im Fluss zu meinen Füßen. Jetzt ist sie grau. Hässlich. Das klare, kalte Wasser kann sie nicht rein machen. Aber es kann sie mit sich nehmen. Irgendwohin. Vielleicht an einen Ort, an dem sie doch gebraucht wird. Ich sehe ihr hinterher und wünsche ihr aus ganzem Herzen alles Gute. Soll ich es tun? Mein Licht an sie geben? Ist das alles, was mir bleibt? Eine leere, schmutzige Hülle? Getrieben, ohne Sinn und Verstand? Meine Wangen sind kalt. Der Schneefall hat fast wieder ganz aufgehört. Wind weht. Kühlt meine tränennasse Haut aus. Warum weine ich denn? Ich trete unruhig auf der Stelle herum. Meine Schuhe wühlen den Schnee auf. Ich stehe auf einer Brücke und weine. So weit war ich noch nie. Ich kenne mich hier nicht aus. Und dennoch muss ich weitergehen. Mich vorwärts treiben lassen. Ganz genauso wie die Plastiktüte. Weiter, Schritt um Schritt. Vorwärts. Nicht stehen bleiben. Sich entschließen. Nicht nur in der Realität landen, sondern das auch wahrhaben. Sich mit der Realität auseinandersetzen. Hin und her geht nicht. Träumen darf nicht sein. Entscheidungen. Realität. Ich weiß… Ich mach ja auch… Ich gehe vorwärts. Ich bin erwachsen. Auf Nestwärme darf ich eh nicht mehr hoffen. Ich brauche sie auch gar nicht. Ich habe mich. Ich habe mein Herz. Ich meine Familie. Ich habe meine Freunde. Die ich beneide. Die so viel besser sind. Denen alles so leicht fällt. Denen alles zufliegt. Die ich nicht kenne. Die mich zweifeln lässt. Der ich nur durch Blut verbunden bin. Das ich nicht verschenke. Das ich mir nicht herausreißen lasse. Das schmerzt. Ich habe mich. Warum glaube ich eigentlich an ein Licht, wenn die Dunkelheit doch rings um mich ist? Nein, ich brauche auch kein Licht mehr. Ich bin verblendet… Der Schnee ist so hell. Aber es ist nur Schnee. Kein Licht. Licht ist nur Glaube. Glaube passt nicht zur Realität. Doch ich bin in der Realität. Ich gehe vorwärts, am Flusslauf entlang. Er steht niemals still, fließt bis zum fernen Meer. Sein Ziel kennt er nicht, doch er strömt ihm entgegen. Der Fluss hat einen Ort… Habe ich denn ein Ziel? Ich weiß es nicht, wusste es nie. Nur dass ich gehen muss. Aber warum? Ich war folgsam. Ich bin gegangen. Vorwärts. Und wenn ich rückwärts laufe? Was passiert dann? Wenn ich die Bahn breche? Mit den Fingern massiere ich meine Schläfen. Kopfschmerzen. Ich bin müde. Habe wieder so viel gedacht, dass ich wirklich müde bin. Todmüde. Ich möchte schlafen. Mich einfach nur hinlegen und Ruhe haben. Nicht gedrängt werden. Nicht getrieben werden. An einen Ort, an den ich nicht möchte. An einen Ort, den ich nicht kenne. An einen Ort, den es für mich gar nicht gibt. Ich möchte stehen bleiben. Darf ich es denn? Darf ich nicht. Meine Freunde möchte ich einholen. Selber einen Partner haben. Wohnung, Kind, Grabvorgarten ohne Efeu. Meine Familie möchte ich nicht enttäuschen. Ihren Anforderungen genügen. Vorwärts gehen und Entscheidungen treffen. Mein Herz. Möchte ich es behalten? Wozu? Das Licht ist weg. Es hat sich in der Realität verloren. Die Dunkelheit hat den Glauben erstickt. Bin ich noch ich? Ohne mein Herz? Wer war ich mit dem pochenden Ding? Der Schnee auf meiner Jacke ist verschwunden. Es wird mir nun erst bewusst. Es macht mir solche Angst, dass ich die Arme kurz um mich lege, mich festhalte, mich beschütze. Dann lasse ich sie hängen. An mir kann ich mich nicht festhalten. Mich kann ich nicht beschützen. Die Schneeflocke ist geschmolzen. Bin ich doch warm? Warum nur? Warum nur ist mir dann so kalt, so wahnsinnig kalt? Vorwärts! Weiter vorwärts! Immer nur vorwärts! Ich laufe und laufe und immer nur im Kreis. Hier war ich noch nie. Hier kenne ich mich nicht aus. Eine Schnellstraße. Die Stadt liegt einige Kilometer hinter mir. Ich bin so weit gekommen. So weit war ich noch nie. Ich kenne mich hier nicht aus. Es ist glatt am Straßenrand, ich gehe mitten auf der Fahrbahn. Vorwärts… Der Morgen graut, doch um mich ist es dunkel. Ich sehe kein Licht mehr, kein einziges. Höre nur ein Quietschen, dann verzerrte Stimmen. Bin auf dem Boden gelandet. Der Realität. Ich schließe die Augen. Meine Gedanken legen sich nieder. Ich habe meine Ruhe. Ich kann endlich schlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)