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Schwarze Erde

Frühlingswichtel für ayoka-chan
von

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Schwarze Erde

Das Leben ist ein Kreis von Kindheit zu Kindheit; und so ist es mit allem, in dem Kraft fließt.

(Black Elk)


 


 

Eine Ahnung des nahenden Sommers mit sich tragend wehte der warme Frühlingswind von den Bergen herab und verwandelte das hohe Gras in dem Tal darunter in ein wogendes Meer. Die gräsernen Wellen rollten an den Rand eines Plateaus und brachen sich an der glatten Felswand. Das steinerne Hindernis hinter sich lassend, fuhr die Brise in die Höhe und plusterte übermütig das dichte weiße Fell des Wolfes auf, der auf dem sonnengewärmten Plateau lag.
 

Den Kopf zwischen die Pfoten gebettet lag der Wolf mit geschlossenen Augen da und lauschte regungslos dem Wind, der seine Umgebung zum Leben erweckte. Der Wolf wirkte, als schliefe er, doch seine Ohren drehten sich aufmerksam jedem noch so entfernten Geräusch entgegen und die witternd in die Luft erhobene Schnauze folgte.

Über dem Gräsermeer stand ein braungefleckter Bussard taumelnd in der lauen Luft. Vom Wind getragen verharrte er ohne einen einzigen Flügelschlag zu tun und visierte seine Beute an, die ahnungslos unter ihm im Gras saß und sich die feinen Schnurrhärchen putzte. Kiba hörte die Luft unter den Flügeln des Vogels rauschen, als der Bussard pfeilschnell zu Boden stieß und innerhalb von Sekundenbruchteilen die Maus packte. Zurück blieb eine undefinierbare Stille. Der Vogel hatte sich auf einem Baum niedergelassen und verspeiste eilig seinen Fang, immer auf der Hut, nicht selbst zur Beute zu werden.
 

Kibas schwarz umrandete Lider teilten sich und die Pupillen im Zentrum der gelben Iriden verengten sich als das helle Tageslicht auf sie traf. Seine Blicke streiften über das grüne Tal und verharrten auf einem Teil des Waldes, der sich wie eine schwarze Insel aus dem ihn umgebenden Grün erhob.

Witternd hob Kiba die Schnauze. Über dem Wald lag ein Duft, der dem Wolf auch nach Jahren nicht behagte. Es war ein beißender Geruch, dessen Leid für immer in der Erinnerung des Wolfes verankert blieb. Er verdrängte alle anderen. Auch den, den sich Kiba eigentlich erhofft hatte.
 


 


 


 

Die gewohnten Gerüche empfingen Kiba bereits als er die bekannten Pfade genommen hatte. Leder und Feuer. Zwei Gerüche, die ihn seine Schritte beschleunigen ließen. Behende sprang der weiße Wolf eine niedrige Erhebung hinab und stand gleich darauf auf einem ausgetretenen Waldpfad, dessen verschlungener Weg zu einem Felsen führte.
 


 

Der Mann am Feuer hob nur kurz den Blick, als der weiße Wolf die Höhle betrat, in der sie beide lebten, seit Kiba sich erinnern konnte. Und das war bereits eine ganze Weile her. Aus dem kleinen Welpen, der verletzt in den verbrannten Überresten eines Waldes gelegen hatte, war ein stattlicher Wolf geworden, der, wenn er sich auf die Hinterbeine stellte, einen ausgewachsenen Mann mit Leichtigkeit überragte.

Nahezu lautlos schlich Kiba um das Feuer herum und ließ sich gegenüber des Mannes zu Boden. Müde blinzelte er in die zuckenden Flammen, die das weiße Fell des Wolfes mit einem warmen orangefarbenen Schimmer überzogen und Schatten und Lichter über die rauen Höhlenwände tanzen ließen, als wären es die Geister und Ahnen, von denen ihm der Alte schon so oft erzählt hatte.
 

Anfangs war Kiba noch instinktiv geflohen, sobald in der Höhle ein Feuer entfacht wurde, doch nach einiger Zeit hatte er sich an dieses lebensnotwendige Ritual gewöhnt. Er hatte gelernt, dass es mehrere Arten des Feuers gab und nicht jedes auch Zerstörung und Schmerzen bedeuten musste. Wenn der Winter wieder einmal unnachgiebig hart war und es endlos dauerte, bis die Sonne stark genug war, um die Eisdecken, die auf den Seen und Flüssen lagen aufzubrechen und den Schnee zu schmelzen, dann wärmte es sie. In der Dunkelheit spendete es Licht und meistens roch es auch gut. Besonders dann, wenn - wie gerade jetzt - etwas darüber briet.

Blitzschnell fuhr Kibas Zunge über seinen Fang.

Der alte Indianer sah wieder auf. "Du hast Hunger, nicht wahr?!" Ein gütiges Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus als der Wolf den Blick senkte und er mit einem Mal völlig desinteressiert wirkte.

"Nun, du hast Recht, es gibt eine Zeit um zu arbeiten und eine, um zu essen." Der Mann legte den Bogen, den er gerade neu bespannt hatte, zur Seite und erhob sich. Von einem Paar aufmerksamer Wolfsaugen beobachtet, deren Blicke keine Sekunde von dem wichen, was der Mann tat, stellte er einen flachen Holzteller vor das Feuer. Geschickt machte er sich daran, das gebratene Kaninchen von der Feuerstelle zu nehmen und es so zu zerteilen, dass jeder von ihnen ein genügend großes Teil bekam.

Wie hypnotisiert folgte Kiba jeder noch so kleinen und bedeutungslosen Geste, die der Indianer tat. Endlich wurde seine Geduld belohnt und vor ihm lag der Kopf des Kaninchens.
 


 

Den Hunger gestillt lag Kiba auf seinem Platz und sah den Flammen zu, die immer kleiner und schwächer wurden. Als sie erloschen, war Kibas Gegenüber, eingehüllt in eine dünne Decke, schon lange eingeschlafen.

Selbst bereits mehr schlafend als wachend dachte Kiba über den Mann nach, dem er, wenn er ehrlich war, sein Leben verdankte. Auch wenn er nicht alles verstand, was dieser Mensch tat – warum er etwa die Gesellschaft eines wilden Tieres der eines Menschen vorzog -, Kiba spürte, dass er hier willkommen war; so wie es bis zu eben jenem Tag gewesen war, bevor das große Feuer alles verbrannt hatte, was ein Welpe brauchte, bis aus ihm ein erwachsener Wolf geworden ist: ein Rudel, das ihn schützte, wenn seine noch schlafenden Kräfte gefährlich für ihn wurden, und das ihn lehrte, was einen Wolf ausmachte, um es seinerseits an die folgende Generation weiterzugeben.

Und dieser Mensch tat eben das. Er teilte mit ihm die Mahlzeit und den warmen Platz am Feuer. Dinge, die ein Wolf vermutlich nicht benötigte. Ein Hund vielleicht, für den es nichts besseres zu geben schien als mit einem Menschen zusammen zu sein. Ein Wolf hatte andere Bedürfnisse. Doch auch Wölfe waren nicht gerne einsam und das war es schlussendlich, was den alten Indianer zu Kibas Rudel hatte werden lassen. Er hatte keinen der Plätze eingenommen, die dagewesen waren, bis das Feuer einen nach dem anderen hatte verwaisen lassen. Der Mann hatte einen neuen geschaffen, für den der Wolf nun auch eine gewisse Art der Wiedergutmachung verspürte.
 


 

"Du hast viel vor."

Kiba neigte den Kopf ein wenig zur Seite und blickte den Mann von unten herauf gebannt an. Die noch nicht zu sehende Sonne hatte den Horizont bereits golden verfärbt und ließ mit ihrem weichen Licht die sorgenvollen Falten in dem Gesicht des Indianers weniger tief erscheinen.

Der Alte lächelte. Die rote, geradlinige Bemalung auf seinen Wangen bog sich dabei sanft.

"Dann geh", ermutigte er den Wolf, noch immer starr an seiner Seite stand und bei diesen Worten die Ohren spitzte. Der Mann öffnete den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, ließ es dann aber doch sein und hielt dem weißen Wolf stattdessen seine Hand hin. Sachte stieß Kiba mit seiner schwarzen Schnauze die dargebotene Hand an. Er wandte sich um und verschwand zwischen den Bäumen.
 


 


 

Dieses Mal blieb Kiba nicht auf dem Felsplateau liegen und betrachtete sich aus der Ferne den Wald, den er eigentlich nie mehr wieder hatte betreten wollen. Stattdessen hatte er einen zuerst weitläufigen und dann immer enger werdenden Bogen um das Plateau herum geschlagen und sich dem Wald von der Seite her genähert. Und dort stand er nun schon seit die Sonne aufgegangen war. Währenddessen hatte sie ihren höchsten Stand überschritten und machte bereits wieder Anstalten, hinter den Bergen zu versinken.

Still stand Kiba am Waldrand und starrte auf die schwarze, unwirkliche Szene vor sich.

Der Winter war ihm immer am liebsten gewesen, wenn der Schnee alles bedeckte und man nicht sehen oder riechen konnte, was sich unter der kalten Decke befand. Erst recht nicht, wenn es sich um diesen Teil des Waldes handelt, der wie eine Wunde war, die sich nicht schloss. Eine verbrannte, mit Asche überdeckte Wunde.
 

Kibas Schnauze zuckte leicht, als er die Witterung aufnahm. Der Geruch war überall. Er hatte ihn schon wahrgenommen, als er um die Felsen herum gelaufen war. Aber vielleicht hatte es sich dabei auch nur um eine Illusion gehandelt, genau diesen Duft hier zu erwarten.

Doch es hatte eine Veränderung gegeben und jetzt aus der Nähe fiel sie Kiba auf. Der Boden hatte sich geändert. Seine Farbe. Das Schwarz war heller geworden. Offenbar hatte jede der vergangenen Jahreszeiten ihren Anteil daran gehabt. Der Herbst mit seinem Regen und den Stürmen, der Schnee des Winters und auch der Frühling mit seinem wechselhaften Wetter. Ja, so musste es gewesen sein. Jedes davon hatte auf seine Art dazu beigetragen, die Spuren des Unglücks zu verwischen. Und als letztes hatte die Frühlingssonne den Schnee in Bäche geschmolzen, die den schwarzen Boden nach und nach einfach hinweg gespült hatten. Der schwarze Boden war nur noch von einem dunklen Grau, das dem der Felsen glich.
 

Vorsichtig horchte Kiba noch einmal in sämtliche Richtungen, doch außer dem säuselnden Wind, der über die Reste des einst üppigen Waldes fuhr, war nichts zu hören.

Es drohte keine Gefahr und trotzdem waren Kibas Pfoten wie im Boden verwurzelt. Der erste Schritt von dem vor Leben schier bersten zu wollenden Grases hinein in das Waldstück mit dem versengten Unterholz erinnerte den stolzen Wolf plötzlich wieder schmerzhaft an die Nacht, in der er das letzte Mal sein Rudel gesehen hatte. Wie viel Angst hatte dieses von Menschen absichtlich entfesselte Element unter ihnen verbreitet. Und wie viele Tote hatte es nach dieser furchtbaren Nacht hinterlassen, nachdem die Flammen zu kleinen Glutnestern erloschen waren, weil es nichts mehr gegeben hatte, was sie noch hätten verbrennen können.
 

Kibas Brust wurde eng. Er war wieder der kleine Welpe von damals, der mit den Großen nicht Schritt halten konnte. Zum Glück, wie sich später herausstellte, denn wäre er mit ihnen auf diese Seite des Waldes geflohen, die sich als Falle entpuppte als das Feuer die Wölfe umzingelt hatte, dann wäre auch er nicht mehr am Leben.

Kiba hob den Kopf und sog die frische Luft tief ein. Der letzte Atemzug, den er hier getan hatte, hatte seine Lungen mit beißendem Qualm und der sengenden Hitze des Feuers gefüllt und den kleinen Wolfswelpen nach einigen verzweifelten Zügen das Bewusstsein verlieren lassen.

Aufmerksam drehte Kiba die Ohren zum Wald hin. Es war seltsam still. Scheinbar waren die Tiere noch nicht zurückgekehrt. Er war wohl der Erste. Kein Wunder, es gab hier auch noch nichts, was ein bloßes Stück Land zur Heimat werden ließ.
 

Kibas rechte Vorderpfote hob sich langsam empor. Die zerdrückten Grashalme darunter versuchten sich einer nach dem anderen wieder aufzurichten. Und dann folgten die übrigen Pfoten dieser Bewegung. Bis Kiba schließlich im schwarzen Wald stand.

Der versengte Waldboden knisterte leise unter den Pfoten, die über ihn hinweg schlichen. Kibas umherschweifende Blicke scannten jeden Zentimeter des Waldstückes ab. Viel Mühe musste er sich nicht machen. Die großen Bäume von damals waren zu verkohlten Holzstücken zusammengefallen, die wie durcheinander gewürfelt dalagen und darauf warteten, bis die Elemente und die Zeit auch sie zu der Asche werden ließen, die noch immer den größten Teil des Waldbodens bedeckte.
 

So flach wie möglich atmend strich Kiba weiter durch seine ehemalige Heimat. Seine weißen Pfoten waren zwischenzeitlich schwarz geworden und auch seinen Rücken zierten einige dunkle Flecken, die herabrieselnde Rinde und vom Wind aufgewirbelter Staub darauf hinterlassen hatten.

Was hatte er nur erwartet? Hier gab es nichts. Keine Vögel. Keine Mäuse. Kein Wolfsrudel. Sie alle waren zu dem geworden, was als einziges den Wald niemals ganz zu verlassen schien. Schwarze Erde. Tote Asche, die der leiseste Windhauch hinweg wehen würde.

Kiba hielt plötzlich inne. Seine erhobene Pfote gefror in ihrer Bewegung als ihm dieser Gedanke richtig bewusst wurde. Er ging gerade über die Reste seiner Familie und Freunde.

Ein bekanntes Gefühl durchlief den erstarrten Wolfskörper. Und darauf folgte die Angst, die in seine Glieder fuhr und sie wieder zum Leben erweckte. Kiba rannte los. Raus aus dem leblosen Waldstück!
 

Nach einigen Metern stand Kiba am Waldrand im frischen Gras. Wie schnell er doch wieder draußen gewesen war. Er hatte den Weg, den er in den zerstörten Wald gelaufen war, länger in Erinnerung gehabt...

Kibas Herz schlug fest gegen seine Rippen. Die Zähne zwar fest aufeinander gepresst konnte er sich ein ärgerliches Grollen dennoch nicht verkneifen. Wie erbärmlich, dachte er.
 


 


 

Besorgt sah der alte Mann seinem Gefährten nach, der mit gesenktem Haupt an ihm vorbei trottete und in der Höhle verschwand. Kiba legte sich - anders als sonst - nicht ans Feuer, sondern ging bis zur entferntesten Wand und ließ sich dort im dunkelsten Flecken nieder. Sollte der Schatten des Schamanen alleine an der Wand tanzen, Kibas würde hier im Dunkeln mit dem toten Felsen verschmelzen und nie wieder auf etwas fallen, das lebte.

Stumm stand der Indianer in Höhleneingang. Er legte den Beutel mit den gesammelten Wurzeln und Beeren auf einen Stapel zusammengelegter Decken und begann in einer Tasche nach etwas zu suchen.
 

Würziger Qualm zog bald darauf durch die Höhle. Kiba hob ein Augenlid. Der Alte saß am Feuer und rauchte eine Pfeife. Immer wieder glomm die Glut auf und ließ das Gesicht des Mannes unwirklich aufleuchten. Er hatte den Wolf, der sich seit seiner Ankunft nicht mehr vom Platz gerührt hatte, keine Sekunde aus den Augen gelassen.

Auch im Schatten waren die dunklen Flecken auf dem sonst weißen Wolfspelz nicht zu übersehen. Und auch die Pfoten waren ungewöhnlich schwarz. Der Wald war nicht sauber, aber selbst im schmutzigsten Winkel bekam man höchstens lehmbraune Füße. Es gab nur einen einzigen Ort in der ganzen Umgebung, an dem seine Pfoten schwarz werden konnten.

Der Mann lächelte leicht. Diese Lektion hatte sich der Wolf selbst beigebracht. Aber keine Erfahrung bestand nur aus Scheitern, es war lediglich ein Schritt von vielen, eine einzige Zeile eines langen Liedes – und diese Lektion würde er, der Mensch, den Wolf lehren.
 


 


 

Kiba beschlich ein ungutes Gefühl als er merkte, welchen Weg der alte Mann an seiner Seite eingeschlagen hatte. Zuerst waren sie wie immer an jedem Morgen die am Abend zuvor aufgestellten Fallen abgelaufen, um zu sehen, ob sie etwas damit gefangen hatten, doch nach einer Weile waren sie von ihrem Weg abgewichen. Der Fluss, in dem der Wehr stand, um Fische zu fangen, befand sich in ihrem Rücken, anstatt direkt vor ihnen.

Instinktiv wollte Kiba umdrehen als sie das Tal betraten, von dessen Rand er vor Kurzem noch auf ein Stück Land gestarrt hatte, das ihm nach all den Jahren noch keine Ruhe lassen wollte. Doch diese Blöße konnte er sich nicht vor dem Menschen geben, der genau zu wissen schien, wo er hinwollte.

Kiba warf einen flüchtigen Blick zur Seite und bemühte sich, irgendetwas im Gesicht des Mannes ablesen zu können, was sein Vorhaben verraten würde. Doch er wirkte wie immer. Gelassen, die Augen nie von der Umgebung lassend ging er auf den furchtbaren Teil des Tales zu. Den schwarzen, nach Tod riechenden Wald.
 

Der Mann hatte das minimale Zögern seines Begleiters bereits gespürt, auch wenn dieser es zu verbergen versuchte. Oder er hatte es erwartet, wenn er tatsächlich damit richtig gelegen hatte, was den Wolf vor Tagen so in Panik versetzt hatte. Und anscheinend hatte er Recht gehabt.

Er wandte den Kopf zu dem Tier um, das neben ihm ging und begegnete dessen gelben Augen, deren Blicke sich sofort senkten.

Immer auf der Hut folgte Kiba dem Schamanen. Für einen Menschen war er sehr klug, fand Kiba. Er würde es sofort wissen, wenn der Wolf ihm nicht mehr folgen wollte. Kiba versuchte, an andere Dinge zu denken als sie den verbrannten Wald betraten. Er ignorierte das trockene Rascheln des versengten Bodens und beschwor sich selbst, sich nichts anmerken zu lassen. Auch dann nicht, als sie an die Stelle kamen, von aus er geflohen war.

Der Mann aber ging einfach daran vorbei, ohne den Ort groß zu beachten. Er ließ die verkohlten Baumstämme achtlos hinter sich, bis sie auf eine freie Fläche kamen. Inmitten dieser Stelle befand sich ein großer Krater in der Erde. Der Boden darin hatte die übliche braune Farbe, die Waldböden eben so hatten. Und gleich daneben lag ein umgekippter Baum. Von dem gewaltigen Umfang seiner Wurzeln her zu schließen musste es einmal ein riesiger Baum gewesen sein. Doch jetzt lag dort, wo der Stamm sein müsste, nur noch ein klägliches, schwarzes Gerippe, von dem nicht einmal mehr halb so viel übrig war, wie es eigentlich hätte sein müssen. Und auf jenen umgestürzten Baum schritt der alte Mann nun zu.
 


 

Kibas Augen verengten sich. Was suchte der Alte dort? Er hatte damit begonnen, die Äste des Baumes zur Seite zu schieben und es knackte als das brüchige Holz zerbarst. Eine Weile tat der Mann nichts anderes als Äste wegzuschieben, bis er scheinbar so viele davon beseitigt hatte, dass es genügte. Er bückte sich und als er sich wieder erhob und zu Kiba herumdrehte, hielt er etwas in der Hand.

Neugierig schlich Kiba einen Schritt näher. Das etwa faustgroße Ding in der Hand des Mannes war zwar etwas verkohlt, aber man konnte noch gut die runde, am unteren Ende spitz zulaufende Form erkennen. Wie Schuppen aneinandergereihte Zacken bildeten die Außenhülle des rätselhaften Gegenstandes.

Kiba legte den Kopf schief und sah zu dem Mann auf, der das Ding betrachtete und dabei leicht nickte als unterhielte er sich mit sich selbst in seinen eigenen Gedanken.

"Du hast keine Ahnung, was das ist, stimmt's?!"

Kiba blieb in sicherer Entfernung stehen und rührte sich nicht.

"Es ist ein Pinienzapfen von diesem Baum da." Der Schamane zeigte auf den umgestürzten Haufen verkohlten Holzes.

Warum nur lächelte der Mensch bei diesen Worten?

"Für dich ist dieser Ort tot, habe ich recht?" Die Stimme des Alten klang nun nicht mehr so heiter.

Kiba wich reserviert zurück.

"Und du hast ganz Recht, mein Freund – aber er ist es nur oberflächlich." Der Schamane schüttelte den Zapfen und aus ihm rieselten Körner, oder etwas, das Kiba für Körner hielt.

Nun hatte der Alte erreicht, was er mit seinem Ausflug bezweckt hatte: Kibas Aufmerksamkeit gehörte nun ihm alleine, trotz der mit schrecklichen Erinnerungen behafteten Umgebung.
 

"Als der Baum noch stand und der Zapfen an seinen Ästen hing, war er schmäler, nicht so aufgeplustert wie er jetzt ist. Das Feuer hat ihm seine Form gegeben." Der Mann legte den Zapfen auf den halbverfallenen Stamm des Baumes und kniete sich daneben. Mit einer Hand fuhr er vorsichtig über den Boden. Er wirbelte den feinen Aschestaub auf und bald war seine Hand so schwarz wie Kibas Pfoten es nach seinem ersten Erkundungsgang durch den Wald gewesen waren.

"Komm her", erklang gleich darauf die Stimme des Mannes. Und Kiba konnte nicht anders als der Aufforderung zu gehorchen. Was der Schamane da tat, blieb ihm ein Rätsel, doch die Neugierde überwog mittlerweile seine Furcht vor dem dunklen Waldboden.

Vorsichtig schlich Kiba an die Stelle, wo der Alte auf dem Boden kniete. Er hielt seine Hand über eine Stelle als würde er etwas darunter verbergen.
 

Als Kiba seiner Meinung nach nahe genug war, nahm der Mann die Hand beiseite. Etwas Grünes blitzte gut sichtbar in seiner schwarzen Umgebung auf. Es war klein. So winzig, dass Kiba seinen Kopf vorbeugen musste, um es sich genauer zu betrachten. Sachte beschnupperte er den fragilen Keimling, der lediglich aus einem dürren Stängel und einigen fingerartigen Spitzen bestand.

Kiba schnaubte verwundert und die grünen Spitzen erzitterten in dem für sie mächtigen Windstoß.

Der Schamane hielt Kiba seine schwarzen Hände vor die Schnauze. "Nichts ist für immer tot, was einmal gelebt hat."

Das erste Mal verstand Kiba, was dieser Mensch da tat, was er sagte und warum. Und er behielt die Worte und ihre Bedeutung für immer im Gedächtnis. Mehr noch, er trug sie tief in seinem Herzen, bis er sie eines Tages – und da war er sich sicher – brauchen würde.
 


 


 

Der Schamane zog die Decke fester um seine Schultern. Die ersten Schneeflocken fielen bereits, obwohl der Winter noch nicht begonnen hatte. Es würde in diesem Jahr kälter werden als sonst. Die Veränderungen, die den Rest des Landes ergriffen hatten, hatten nun auch ihr letztes Refugium unübersehbar erreicht und nichts würde es jetzt noch stoppen können.

Etwas wehmütig sah der alte Mann auf den weißen Flecken, der unter ihm durch das Tal lief, das nun langsam unter einer dünnen Schneeschicht verschwand.

Einmal noch drehte sich der weiße Wolf um, ganz so als wolle er sich von ihm verabschieden.

Der Mann, der hoch über ihm auf dem Felsplateau stand, hob die Hand. Kiba harrte einen Moment lang still aus. Dann drehte er sich um und begann eine Reise, von der er das Ende noch nicht kannte. Doch wenn der Alte Recht behielt, dann kannte er sein Ziel, denn
 


 

Nichts endet wirklich.
 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Kerstin-san
2017-08-05T08:49:28+00:00 05.08.2017 10:49
Hallo,
 
auch ohne Wolf's Rain zu kennen, hat mich der One-Shot sehr gefesselt. Das ging schon mit dem ersten Sätzen los, weil ich sofort ein Bild von Kibas aktueller Umgebung hatte. Eine sehr idyllische Landschaft und mitten drin ein abgebrannter Wald, von dem nur noch dunkle abgebrannte Baumskelette in die Höhe ragen.
 
Was mir sehr gefiel, war die Beziehung zwischen Kiba und dem Indianer. Obowhl Kiba des öfteren desinteressiert wirkt, merkt man, dass er diesem Mann sehr vertraut und er ihn lieb gewonnen hat, sonst hätte er sich ja schon längst alleine auf den Weg gemacht. Der Indianer versucht auch nicht Kiba in ein braves Haustier zu verwandeln, sondern akzeptiert dessen eigensinnige Art. Ich glaube, dass es gerade diese gegenseitige Akzeptanz der beiden ist, dass sie sich nicht gegenseitig bedrängen oder zu verändern versuchen, die dafür sorgt, dass die beiden ein gutes Rudel bilden.
 
Kibas Versuche seine Angst vor dem Wald zu besiegen, fand ich sehr glaubhaft. Es ist nur natürlich, dass er sich langsam herantasten muss und zuerst zögerlich und abwartend vorgeht. Wie du in seine aktuelle Wahrnehnumg die Erinnerungen an den Waldbrand hineingeflochten hast, fand ich ganz stark. Auch, dass er letztendlich von seiner eigenen Panik in die Flucht geschlagen wird, passte gut in den Gesamtzusammenhang rein.
 
Mir gefiel auch die Art, wie der Schamane Kiba hilft seine Angst zu überwinden und ihm zeigt, dass die Natur sich nach einiger Zeit wieder zurückkämpfen und den toten Wald wieder mit Leben füllen wird. Der Abschied der beiden wirkt dann auch sehr natürlich. So als wäre von Anfang an nur eine Frage der Zeit gewesen und es fühlt sich deshalb auch gar nicht nach einem traurigen oder endgültigen Abschied an.
 
Zwischendurch sind mir einige Rechtschreib- und Zeichsentzungsfehler störend ins Auge gesprungen. Ist nicht dramatisch, aber da würde ich an deiner Stelle noch einmal drüber lesen.^^
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  13thBlackCat
2013-03-31T09:19:40+00:00 31.03.2013 11:19
Eine wirklich unheimlich schöne Vorgeschichte!
Vor allem der erste Abschnitt hat mich an ein Buch erinnert, das ich mal gelesen habe. Es heißt Wolfsaga. Ein wirklich tolles Buch, kann ich nur empfehlen!
Dein Schreibstil ist sauber, da gibt's gar nichts dran auszusetzen :)
Was mich nur stutzig gemacht hat, war, dass der Wald auch nach Jahren noch so leblos war. Das kommt mir sehr unrealistisch vor. Mir ist klar, dass es für die Aussage des Textes elementar ist, aber das Fragezeichen bleibt trotzdem ^^
Dennoch: Wahnsinnig gut geschrieben! Daumen hoch! :D

LG Sova


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