Ritt der Walküren von Momotaro ================================================================================ Kapitel 1: Dämmerung -------------------- Das Gesicht im Spiegel war nur einen kurzen Moment lang zu erkennen. Völlig übergangslos, als ob jemand kurz das Programm gewechselt hätte, erschien es, im nächsten Moment, als ob jemand weitergeschalten hätte, war es weg. Einfach so. Nur ein leichtes Unwohlsein, in der Magengegend, war geblieben. Sayuri trat überrascht einen Schritt zurück. Sie blinzelte, als ob es daran liegen könnte. Eine Fehlfunktion ihrer Augen. Doch nun war nur noch ihr eigenes Gesicht im Spiegel und blieb dort, solang sie es auch anstarrte. Ein bleiches, ebenes Gesicht, perfekt wie das eines Engels, umrahmt von dunklen Locken. Sayuri nutzte die kurze Erscheinung, um die neue Aufgabenstellung im Kunstunterricht schnell hinter sich zu bringen. Obwohl sie ein schlechtes Gefühl dabei hatte, und das Gefühl immer schlechter wurde, je mehr Züge das Gesicht bekam, zeichnete sie stur weiter. Sie musste es auf das Papier bannen. Es real machen. Sayuri wollte begreifen, warum es ihr erschienen war. War es jemand, den sie kannte und an den sie sich plötzlich erinnert hatte? Wollte sie sich damit auf etwas hinweisen? Sie benötigte genau eine Stunde, um das Bild fertigzustellen. Die Kunstlehrerin hatte sie nach Ende des Unterrichts einfach sitzen lassen. Als ob die Frau gespürt hätte, dass das Mädchen vollenden musste, was es angefangen hatte. Sayuri war allein in dem großen Zeichensaal. Die Tür war geschlossen, von draußen drang dumpf der fröhliche Pausenlärm herein. Sayuri hielt die Zeichnung auf Armlänge von sich weg und kramte in ihrem Gedächtnis. Woher stammte dieses Gesicht? Vielleicht war es ein Model, das sie mal in einer Werbung gesehen hatte. Vielleicht war es auch ihre Mutter. Sayuri hatte noch nie ein Foto von ihr gesehen, aber ihr Vater hat erzählt, dass sie schön gewesen ist. Kein Engel, das hat er nie erwähnt, aber schön. Andererseits dachte das vermutlich jeder von dem Menschen, den er liebte. Außerdem sah das Gesicht Sayuri nicht im geringsten ähnlich, obwohl ihr Vater davon schwärmte, dass die Tochter der Mutter mit jedem Tag gleicher wurde. Resigniert legte Sayuri das Bild weg. Keine Chance, das Gesicht blieb ihr fremd. Plötzlich fühlte Sayuri sich furchtbar erschöpft. Selbst die Knie wackelten. Müde sank die Schülerin auf ihren Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Sonnenschein. Keine Wolke war am Himmel zu sehen. Blendend blau war er, stach unangenehm in den Augen. Sayuri presste kurz die Lider zusammen. Als sie sie wieder öffnete, schwebte das Gesicht vor ihr. Eben. Bleich. Auf der glatten Oberfläche der Fensterscheibe. Die Lippen, voll, aber blass, bewegten sich. Einen Augenblick später war die Scheibe wieder klar. Nur blauer Himmel. Sayuri sprang auf. Ihr Herz raste. Die Erscheinung hatte ihr etwas sagen wollen. Suchend legte sie beide Handflächen an die kühle Scheibe. „Was?“, fragte sie bloß, als ob sie das Gesicht dadurch zwingen könnte, zurückzukehren. „Also hat sie tatsächlich versucht, dich zu warnen.“, bemerkte eine Stimme aus dem Nichts. Erschrocken fuhr Sayuri herum. „Dumme alte Frau.“, meinte der Junge und wirkte ehrlich verärgert dabei. Vermutlich war er bereits älter als Sayuri, oder bloß größer gewachsen, wie schon sehr viele Burschen in ihrem Jahrgang. Unabhängig von seinem Alter wusste Sayuri mit einem Blick: Er war gefährlich. Sie konnte nicht einmal festmachen, woher das Gefühl kam, normalerweise war Sayuris Menschenkenntnis beschämend. Doch hier war sie sich ganz sicher. Also klang sie etwas harsch, als sie fragte: „Woher kommst du, was willst du hier?“ Der Junge vergaß seinen Ärger auf Anhieb, er lächelte sogar. „Das hier.“, antwortete er und wies dabei auf seine Brust. Sayuri fragte: „Du willst deine Brust haben?“ Der Junge wurde sofort wieder ärgerlich. „Jetzt stell dich nicht blöd, du weißt genau, warum ich da bin! Gib mir einfach, was ich will, und schon bin ich wieder weg!“ Sayuri war auch nicht vom geduldigen Menschenschlag. „Ich hab keine Ahnung, wer du bist und was du willst! Drück dich klar aus oder hau gleich ab!“, schnauzte sie den Fremden an. Er fuhr sich durch seine dunklen Locken, er wirkte genervt. Als ob das, was nun kam, weit unter seinem Wert lag. Doch er zwang sich dazu, es trotzdem auszusprechen. „Na schön. Wenn du drauf bestehst, es zu hören...“ Er schnaufte abfällig. „Ich weiß ja nicht, was du hier abziehst, ist das wieder eins deiner Spiele? … Aber egal.“ Er wies auf Sayuri. „Ich will dein Herz.“ Die Forderung kam unerwartet. Sayuri starrte den Jungen verständnislos an. Sie wollte sichergehn, bevor sie richtige Angst bekam. „Das Herz, diesen blutigen Sack mit den Schläuchen dran?“ „Es hat niemals dir gehört!“ Nun wurde der Junge erneut wütend. „Du hast es gestohlen, das musst du zugeben! Ich fordere nur etwas zurück, das eigentlich nie wirklich dir gehört hat!“ Sayuri wiederholte unsicher: „Und du meinst sicher das Organ? Nicht Herz im übertragenen Sinne, sowas wie Gefühl oder Treue oder...“ „Stell dich nicht dümmer, als dus bist!“, brüllte der Junge sie an. Er zog ein Messer. Die Scheide dazu musste hinten an seinem Rücken am Gürtel hängen. Es war ein riesiges Messer, und nichts, was Sayuri jemals in einer Küche gesehen hatte. Es war gebogen, der Griff mit einem breiten Lederband kunstvoll umwickelt. Es hing sogar ein Talisman daran, an einer kurzen Schnur am Ende des Griffs. Es war groß, gebogen, es erinnerte an Dschungel, vielleicht, so dachte Sayuri mit einer ruhigen Klarheit, die sie selbst überraschte, konnte man es bereits Dolch nennen, was der Junge locker in der Rechten hielt. Sie selbst wusste, dass sie eigentlich Todesangst empfinden sollte, eben jetzt. Doch es regte sich nichts. Sie wusste, dass sie einem Dolch nichts entgegenzusetzen hatte, trotzdem ging sie in Kampfstellung, mit beiden Händen geballt vor dem Körper, die Beine in Schrittstellung. Was genau wollte sie damit erreichen? War es die Surrealität der Situation, die sie nicht angemessen reagieren ließ? Konnte Sayuri einfach nicht glauben, dass ihr das wirklich passierte, und nun führte sie sich auf, als ob sie in einem Computerspiel gefangen wär? Was genau wollte sie mit ihren Fäusten gegen einen Dolch ausrichten? Sie musste durch das Fenster. Das war der einzige Fluchtweg. Und das schnell! Ihr Körper blieb. Die Augen ruhig auf den Jungen gerichtet, entspannt, abwartend. Der Junge bewegte sich. Nach einem weiteren verächtlichen Schnaufen legte er auch seine zweite Hand an den Griff, brachte die Klinge in Stichposition und rannte los. Die Tür öffnete sich. Es war der Lehrer der nächsten Stunde. Er hatte offensichtlich nicht erwartet, noch jemanden anzutreffen im Zeichensaal, verblüfft prallte er zurück und starrte Sayuri groß an. Sayuri starrte groß zurück. Der Junge war mit einem Schlag verschwunden. So wie es auch das engelsgleiche Frauengesicht getan hatte, von einem Moment zum anderen, einfach verschwunden. Der Blick des Lehrers wurde misstrauisch. Er blickte sich flüchtig um, als ob er Anzeichen von Vandalismus oder Diebstahl zu finden erwartete. Dabei fragte er: „Was hast du hier zu suchen? Die Pause ist vorbei.“ Sayuri brauchte einige Sekunden, um sich daran zu erinnern, was sie hier ursprünglich gemacht hatte. Schließlich hielt sie das Bild hoch. Der Professor ging näher ran. Obwohl es mit kräftigen Strichen gezeichnet worden war, war es nur eine Bleistiftzeichnung mit zu harter Mine, es war bleich. Wie das Frauengesicht selbst. Er nickte, man konnte ihm seine Erleichterung mühelos anmerken. „Ah. Fertiggestellt?“ Er wurde sogar väterlich. „Wie fleißig, dass du dafür deine Pause geopfert hast. Ich wünschte, wir hätten mehrere Schüler wie dich.“ Und schon kam sich Sayuri unangenehm schmutzig vor. Wann immer Autoritätspersonen ein solches Werturteil aussprachen, fühlte sich Sayuri wie ein dreckiger kleiner Verräter an ihren eigenen Leuten, den anderen Schülern. Hastig schwang sie sich ihre Schultasche um, nahm ihre Zeichnung und drängte an dem Professor vorbei nach draußen. „Der Ritt der Walküren.“, stellte der Musiklehrer vor und drückte auf Play. Was aus den Lautsprechern kam, war Wagners üblicher, heroischer Krimskrams. Genervt verdrehte Sayuri die Augen. „Boah, cool!“, flüsterte ihr Betti, die nur eins weiter saß, ehrlich begeistert zu. „Ja, supercool...“ Sayuri seufzte schwer. Warum diese übertriebene Feierlichkeit in dem Stück? So toll waren diese Walküren nun auch wieder nicht. Vor einigen Tagen hatte Sayuri noch gedacht, diese Damen wären wie die nordische Version der Amazonen, also Kämpferinnen, mutig, ehrenhaft, all sowas halt. In Wirklichkeit waren es Geisterwesen, und sie kämpften nicht. Sie sammelten alles mit Würde Gestorbene vom Schlachtfeld auf und brachten es nach Walhalla. Sie waren Amazonen ebenso ähnlich wie diese Vision auf Glas einer richtigen Frau, die versucht hätte, sie zu beschützen. Einer ehrlich besorgten Frau, einer Mutter, die durch Anwesenheit glänzte, nicht durch ihren theoretischen Stellenwert. Walküren waren gar nichts, pure Theorie, die Verbildlichung eines Vorgangs, den der Mensch sonst einfach nicht begreifen konnte. Genauso wie das Prinzip einer Mutter für Sayuri. Sehr abstrakt, unmöglich, nachzufühlen. Betti beugte sich erneut herüber. „He, Yuyu.“, flüsterte sie, Sayuris Kosenamen gebrauchend: „Ein paar von uns wollen uns heut Abend noch treffen, weißt schon, rumsitzen. Willst mit?“ Sie sah Sayuri direkt in die Augen, neugierig wie eine kleine Katze. „Lukki würd sich besonders freuen.“ Und zwinkerte amüsiert. Sayuri fühlte sich gezwungen, eine wichtige Grundlage zu klären. Sie erwiderte Bettis Blick neutral und flüsterte: „Wir sind keine Freunde.“ Betti schreckte merkbar zurück. Hastig setzte sie sich wieder gerade und sah nach vorn. Mit so einer Aussage hatte sie offensichtlich nicht gerechnet. Die Feststellung hatte Betti aufgewühlt, genug, um sie zur anderen Seite kippen zu lassen und mit Mara zu flüstern, obwohl sich die beiden sonst nie unterhielten. Sie wies auf Sayuri und vermutlich meinte sie sowas wie „Die spinnt doch“, nur unhöflicher. Sayuri richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf ihr Mitschriftenheft. Sie hatte ihn beinah vollendet. Den Jungen, dem sie heut begegnet ist. Auch ihn zeichnete Sayuri. Wenn der Trend anhielt, hatte sie bald ein ganzes Album voller Gestalten, die aus dem Nichts auftauchten und dort ebenso mühlos wieder verschwanden. Dunkle Locken. Locken waren schwer zu zeichnen. Eine Qual, dass all die Erscheinungen Locken haben mussten. Sayuri fuhr noch einmal die Kinnlinie nach, als ihr etwas auffiel, was sich nahezu aufdrängte. Komisch, dass sie nicht früher daran gedacht hatte. Diese Frau und der Junge sahen sich ähnlich. Vielleicht war das Gesicht doch eine Mutter. Seine. Scheinbar hatten wirklich alle Leute Mütter, selbst Hirngespinste. Nur Sayuri nicht. Der Gedanke machte sie furchtbar wütend. Der Lehrer fragte: „Und von wem ist das Musikstück?“ Sayuri rief: „Von einem verblendeten Möchtegern-Helden, der selbst nie etwas Reales zustande gebracht hat!“ Verdattert sah der Professor sie an. Bevor er vorsichtig vermutete: „Du magst Wagner wohl nicht.“ Nein, es lag nicht an Wagner. Das Gesicht hatte Sayuri bloß daran erinnert, was sie nie haben würde, was ihr fehlte, was sie sich mehr wünschte als alles andere. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, nicht einmal sich selbst gegenüber, sie stellte es sich wundervoll vor. Vermutlich hatte Sayuri aus dem Grund keine Freunde und vermied es auch geschickt, welche zu bekommen. Weil die alle Mütter zuhause hatten. Sayuri wollte einfach so wenig wie möglich mit ihrem Mangel konfrontiert werden. Sie ging allein nach Haus. Eigentlich fuhr ein Bus, von der Schule bis fast vor ihre Haustür. Aber der Bus war voller Mitschüler. Sayuri benutzte ihn nie. Sie folgte dem Weg am Bach entlang und dachte an Walküren. Sie hatte noch immer einen Ohrwurm von dem Opernthema. Darum gestaltete sich ihr nächstes Zusammentreffen mit der Erscheinung besonders dramatisch. Sie tippte Sayuri auf die Schulter. „Entschuldige bitte...“ Als ob sie nach der Zeit fragen wollte. Und obwohl Sayuri ihr Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie deutlich, es war die Frau. Eben jene. Aus dem Spiegel. Von der Fensterscheibe. Obwohl der Kontakt leichte Übelkeit bereitete, ihre Hand war angenehm warm. Sayuri konnte nicht umhin, sich zu wünschen, dass nicht nur dieser eine Finger sie berühren würde. Sayuri hielt sich inzwischen schon selbst für verrückt und ließ daher zu, dem Impuls zu folgen. Sie griff nach der Hand, während sie herumfuhr. „Sie...“ Doch da war niemand. Die Hand war verschwunden. Das angenehm warme Gefühl auch. Dafür entdeckte Sayuri am anderen Ende des Wegs, an der Straßenkreuzung den fremden Jungen. Der bereits zu rennen begonnen hatte. Der Dolch war schon in Anschlag gebracht. „Ich ertrags einfach nicht!“, brüllte er, außer sich vor Wut, bevor er sprang und wie ein Falke aus der Sonne auf Sayuri herabstieß. Diese reagierte mit einer Geistesgegenwart, die sie niemals in sich vermutet hätte. Schlug die Klinge mit einem festen Fausthieb beiseite, ließ den feindlichen Körper weiter auf sich herabstürzen und rollte erst im letzten Moment zur Seite weg. Doch der Junge war auch nicht eben langsam. Er wirkte kein bisschen überrascht von dem Widerstand. Als ob er mit Gegenwehr gerechnet hätte, rollte auch er ab und kam nur einen Augenschlag später auf die Beine als Sayuri. Den Dolch über dem Kopf erhoben nahm er einen Schritt Anlauf und sprang erneut. Sayuri wich wieder über den Boden aus. Es war wie ein Kampf zwischen Falken und Ratte. Der Vogel griff von oben an, schwang sich erneut auf in die Luft, die Ratte blieb nah am Boden, kroch und rollte herum. Sie musste den Vogel am Boden festnageln. Seine Schwingen brechen. Sobald er nicht mehr fliegen konnte, hatte sie gewonnen. Sayuri wartete ab, bis der Junge erneut auf sie herabstieß, doch anstatt auszuweichen, glitt sie an seiner Klinge vorbei, fasste sein Handgelenk und sperrte ihn mit dem anderen Arm in eine feste Umarmung ein. Sie stieß sich mit einem Fuß seitlich ab, um das Knäuel, das sie mit dem Jungen bildete, so zu drehen, dass sie auf ihm landen konnte. Damit hatte der Junge entschieden nicht gerechnet. Hart schlug er am Boden auf, doch hielt den Kopf tapfer am Brustbein, um ihn sich nicht zu stoßen. Sayuri schmetterte auch die Hand mit dem Dolch auf den Boden. Der Junge ächzte vor Schmerzen, doch er ließ die Waffe nicht aus. Wäre Sayuri tatsächlich eine Ratte gewesen, hätte sie ihm nun den Hals durchgebissen. Doch wär der Junge tatsächlich ein Falke gewesen, hätte er keinen Dolch gehabt. Vielleicht war es doch nicht so klug gewesen, wie im Tierreich zu kämpfen. Doch Sayuri hatte schnell eine neue Idee. Bevor der Junge auch sie umschlingen konnte, wich sie über den Waffenarm aus, ergriff die Hand mit beiden ihrer Hände und zwang die Klinge an die Kehle des Jungen. Ein Knie auf seine Brust gedrückt, mit Kontrolle über den Dolch, verharrte Sayuri über der fremden Gestalt und wartete auf das, was als nächstes kommen würde. Als nächstes, als der Junge wieder etwas zu Luft gekommen war, fragte er: „Warum zögerst du? Hast du so wenig Respekt vor mir?“ Er biss die Zähne zusammen, als ob er zu heulen anfangen wollte. Gepresst fuhr er fort. „Wer bin ich eigentlich für dich?“ „Ein Fremder.“, antwortete Sayuri, ohne ihn damit beleidigen zu wollen. Es entsprach nur der Wahrheit. Trotzdem sah sie, dass sie ihn damit unheimlich verletzt hatte. Er wandte das Gesicht zur Seite. „Gut.“, meinte er nach einer weiteren Weile mit tonloser Stimme: „Tu, was du willst. Das tust du ja immer.“ „Was tust du da?“, verlangte Betti zu wissen. Sayuri sah verblüfft auf. „Hä?“ Sie hockte am Boden, mit beiden Händen einen Stock umklammert, und musste recht ungewöhnlich wirken, wie sie da mit dem Asphalt sprach. Der Junge war verschwunden. Langsam, die Finger hatten sich schmerzhaft fest darum verkrampft, ließ Sayuri den Stock los und stand auf. Ihre Beine waren wacklig, beinah wäre sie vornübergekippt, doch der Stamm einer schmalen Birke stand hilfreich nahe. Sie stützte sich daran ab. Sie musterte Betti. „Was machst du hier?“ Die Mitschülerin gehörte eigentlich zu jenen, die immer den Bus nahmen. Sayuri hätte nicht gedacht, dass sie diesen Weg überhaupt kannte. Bettis Gesichtsausdruck war trotzig. Sie strich sich die langen blonden Haare aus dem Nacken, bei der Hitze mussten lange Haare die Hölle sein, und meinte: „Ich bin nicht wegen mir hier, mir bist du völlig egal. Aber Lukas...“ Sie sprach nicht weiter. „Lukas ist dir nicht egal.“, vermutete Sayuri. „Was machst du hier überhaupt?“, kam Betti übergangslos zur aktuellen Situation: „War das so ne Art moderner Tanz? Ich mein, sah eh gut aus... Hast du dir dabei nicht wehgetan?“ Sayuri kontrollierte ihre Haut, alle Stellen, die frei lagen. Einige Aufschürfungen hatte sie schon davongetragen. Und nun, als ob sie erst dadurch real geworden wären, dass Sayuri sie entdeckt hatte, begann der ganze Körper leicht zu brennen. Die Wunden besonders, doch eigentlich die gesamte Haut. Die Muskeln zogen, als ob sie plötzlich zu kurz geworden wären, um ihre Bögen zu schlagen. Auf einen Schlag verlor Sayuri den letzten Rest Energie, der sie bisher aufrecht gehalten hatte. Der Kampf musste furchtbar anstrengend gewesen sein, auch wenn sie ihn nicht so wahrgenommen hatte, er hatte Sayuris Ressourcen rücksichtslos ausgebeutet, ohne an ein Nachher zu denken. Nein, sie hatte sich selbst ausgebeutet. Sie war es gewesen, jede Bewegung, jeder Schlag. Wie hatte sie das nur getan? Da fiel sie schon. Bevor Sayuri realisierte, was geschah, war ihre Hand an der Birke abgerutscht und ihr Körper fiel der Erde entgegen. Sie hörte Betti erschrocken aufkeuchen. Sayuri fiel der Erde entgegen und erwartete, dort liegenzubleiben. Trotzdem war sie nicht erschrocken, als sie durch die Erde hindurchstürzte, in das Spiegelbild ihrer Welt. Weiter dem wolkenlosen Himmel entgegen. Bevor alles weiß wurde, glaubte Sayuri eine schmale, bleiche Hand zu sehen, die sich ihr entgegenstreckte. Sie griff nach ihr. „Mama...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)