Do swidanja von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Lebe, hatte er gesagt. --------------------------------- Der Anruf kam drei Tage später, als sie noch schliefen. Verschlafen suchte Kai nach der Quelle, seinem Handy. Es war Dimitrij. “Kai, kommen Sie bitte, es geht zu Ende.” Kai brauchte keine zwei Minuten, um sich anzuziehen und das Hotel zu verlassen. Der Weg kam ihm ewig vor und irgendwie erschien es ihm unpassend, dass gerade die Sonne aufging. Ein Sonnenaufgang bedeutete neues Leben und doch nicht den Tod. Er hatte sich beeilt, damit er rechtzeitig kam, Dimitrij ließ ihn sofort ein. Ein Arzt war bei ihm und die beiden Schwestern. Er schien kaum mehr Luft zu bekommen. Kai ließ sich an seinem Bett nieder und ließ seinen Blick kurz über die eingefallene Gestalt gleiten. Die Haut wirkte, als würde unter ihr schon kein Blut mehr zirkulieren, er war aschfahl. Man hatte das Atemgerät bereits ausgestellt, weil es nichts mehr brachte, weil jeder sah, dass er gerade starb. Doch plötzlich traf ihn der Blick der dunklen Augen und dieser Blick wirkte erstaunlich klar. Kai wusste nicht, wieso er das tat, aber er beugte sich hinunter, spürte den letzten Atemzug auf der Wange und er flüsterte etwas, so leise, dass man es kaum mehr verstehen konnte. “Le ... be ...” Dann starb er. Kai blinzelte und starrte vor sich hin. Starrte auf den Leichnam, während der Arzt sachlich den Todeszeitpunkt feststellte und eine der Schwestern ein weißes Tuch über das Gesicht des alten Mannes legte. Er spürte eine warme Hand auf seinem Arm. “Kai?” Dimitrijs warme Stimme drang an sein Ohr. “Kommen Sie - kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zu Trinken machen.” Wie betäubt ließ er sich von dem Hausdiener wegführen, irgendwie waren ihm die Knie ein wenig weich. So sah es also aus, wenn jemand starb. Wie es Takao wohl gegangen sein mochte, als er ihn vorgefunden hatte? Er hatte es ihm ja gesagt. Aber jetzt konnte er es sich auch vorstellen, selbst wenn es eine komplett andere Situation gewesen war. Aber der Tod war der Tod, egal, wie er einen heimsuchte, er traf einen immer irgendwie. Plötzlich spürte er Reue. Tiefste Reue dafür, dass er selbst sein Leben einfach so hatte wegwerfen wollen. Natürlich, auch er war krank. Aber er hatte es in der Hand. Immer noch. Irgendwie. Geistesabwesend nahm er den schwarzen Tee mit dem Schuss Rum entgegen, den Dimitrij ihm reichte. “Soll ich jemanden anrufen?” Kai reagierte nicht sofort. “Hm?”, meinte er dann, als sei er eben gerade aus seinen Gedanken hochgeschreckt. “Ich fragte, ob ich jemanden anrufen soll. Vielleicht möchten Sie jetzt nicht alleine sein - immerhin sollten Sie nachher noch mit dem Notar Ihres Herrn Großvaters sprechen. Das kann eine Weile dauern.” “Hat das nicht Zeit?” “Dann haben Sie es hinter sich.” Kai nickte langsam, dann trug er ihm auf, Takao im Hotel anzurufen. Ob er das nur tat, weil er sich nach der Nähe das Japaners sehnte oder weil er Dimitrij loswerden wollte, wusste er nicht. Aber er versank in seinen Gedanken. Lebe, hatte er gesagt. Lebe. Was hatte er damit gemeint? Nur ein einzelnes Wort und es brachte ihn sehr tief zum Nachdenken. Lebe. Hatte er etwas gewusst? Hatte er etwas geahnt? Nun, er hatte Kai ja damals selbst in die Kliniken einweisen lassen, aber danach hatte er sich nie wieder nach ihm erkundigt. Nach seinem Zustand. Das einzige, was sie gesprochen hatten, waren formelle Sachen gewesen. Lebe. Hatte er gewusst, wie es um Kai bestellt war? Er hatte ihn ja mit so einem klaren Blick angesehen, wie es eigentlich nahezu unmöglich war bei einem Sterbenden. War er ihm vielleicht doch nicht egal gewesen? Trotz der Kälte, die er erfahren hatte? Hatte er sich aufgrund des Verlustes seiner Tochter vielleicht nicht anders zu helfen gewusst? Er bekam Kopfschmerzen, als er darüber nachdachte. Von diesem Blickwinkel hatte er es noch gar nicht betrachtet. Möglich war es. Manche Menschen waren eben so. Er nahm einen Schluck von dem heißen Getränk, es war angenehm, es wärmte. Er fühlte sich sonderbar gerade. Noch konnte er nicht trauern und er wusste auch nicht, ob er überhaupt je in der Lage dazu war. Aber er bereute die Entscheidung nicht, dass er nach Russland gekommen war. “Herr Hiwatari?” Kai sah auf und blickte in das Gesicht eines älteren Mannes mit Anzug, Krawatte und Aktenkoffer. “Mein Name ist Viktor Medow, ich bin der Notar Ihres Großvaters. Können wir uns unterhalten oder brauchen Sie noch eine Weile?” Kai machte eine lapidare Handbewegung, die bedeutete, was musste, das musste eben und der Mann nahm ihm gegenüber Platz und legte den Aktenkoffer zwischen ihnen auf den Tisch, wo er ihn dann sorgsam aufklappte. Ein Haufen Papierkram kam zum Vorschein und Kai stöhnte bereits jetzt innerlich. “Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber Herr Jegorow hat Ihnen 95 % seines Vermögens vererbt.” Kai schluckte. Eigentlich verspürte er nicht den geringsten Drang, sich über Geld zu unterhalten, doch nur, um etwas zu sagen erwiderte er: “Wieviel?” Er wusste zwar, dass sein Großvater offiziell millionenschwer war, aber er hatte ja keine Ahnung, wo er sonst noch Geld angehäuft hatte. Nicht die geringste Vorstellung. “Nun, ich sollte vielleicht erst einräumen, das Ihr Großvater sich dem damaligen Gerichtsverfahren, das gegen ihn lief, gebeugt und seine Strafe angenommen hat. Um der vollen Gefängnisstrafe entgehen, hat er Millionen dafür hingelegt. Teile des Geldes gingen als Schadensersatz an die Kinder, die damals in dieser Einrichtung gelitten haben.” Kai horchte auf. Davon hatte er gar nichts mitbekommen. “Kommen Sie doch zum Punkt”, hörte er sich müde sagen. “Nun, da Ihr Großvater außerdem noch einige Wertpapiere hatte und im Laufe seines Lebens eine beträchtliche Summe zur Seite gelegt hat, beläuft sich die Gesamtsumme, die, sobald Sie unterschreiben, dass Sie das Erbe anerkennen, auf ... Augenblick, ich habe das Dokument hier irgendwo-” Er kramte kurz in dem Stapel Papier, den er zuvor aus seiner Aktentasche gekramt hatte. “-Ah hier. Also, die Gesamtsumme inklusive Berücksichtigung der derzeitigen Aktienwerte, beläuft sich auf exakt 1.300.000.000 Rubel*.” Das war ... Ihm fehlten die Worte. Nein, ihm wurde tatsächlich schwindelig. Er hatte gewusst, dass sein Großvater reich war, aber SO reich. Das war so unglaublich viel Geld. Soviel Geld. Das hatte in seiner Vorstellung kaum Platz. Sein Kopf dröhnte, er hatte Kopfschmerzen. Langsam nahm er noch einen Schluck von seinem Getränk. Das Erbe annehmen. Er brauchte nur unterschreiben, und alles gehörte ihm. Das war so einfach. Aber dennoch ... irgendetwas in ihm überlegte noch. Wäre er Voltaire tatsächlich so egal gewesen, warum dann das alles? Diese letzten Worte, das Gesamterbe. “Ferner hat er Ihnen die volle Entscheidungsmacht darüber erteilt, was mit seiner Firma geschehen soll. Ob Sie verkaufen oder sie selbst weiterführen möchten, bleibt ganz Ihnen überlassen." "Wie lange habe ich Bedenkzeit?" "Zwei Wochen." Kai nickte. Der Notar ließ ihn alleine. Bevor er sich allerdings erhob, meinte er: "Ah, das hätte ich beinahe vergessen - Ihr Großvater bat mich, Ihnen diesen Brief zukommen zu lassen. Er schrieb ihn vor etwa drei Monaten, als sicher war, dass er sterben würde." Etwa eine Stunde später kam Takao. Es hatte offensichtlich gebraucht, bis man diesen aus dem Schlaf geklingelt hatte. Mit betroffener Miene nahm er wenig später neben Kai platz. "Hey", meinte er vorsichtig. "Alles klar?" Kai zuckte mit den Schultern. "Ich war ja darauf vorbereitet." "Kann ich irgendwas für dich tun?" "Im Moment nicht." Dann sprach er mit Takao über das Erbe. Und einen Tag später traf er sich mit Yuriy, der extra aus Moskau kam, um mit ihm ebenso darüber zu sprechen. Seltsamerweise hatten die beiden fast eine identische Meinung zu dem Thema. Kai sollte das Geld auf jeden Fall annehmen. Wenn er sich damit unwohl fühlte, dann sollte er doch die Hälfte davon irgendeinem guten Zweck zukommen lassen und einen anderen Teil zurücklegen, Geld konnte man später immer mal brauchen, man wusste ja nie, was einen noch erwartete. Kai wusste im Grunde, dass die beiden recht hatten. Gerade saß er alleine unten im Café des Hotels. Vor ihm eine Tasse mit dampfendem Irish Coffee, neben der Tasse der unberührte Brief. Er hatte das Kinn auf die Handfläche gestützt. Sollte er ihn lesen? Sollte er warten? Sollte er nicht? Eine Entscheidung zu treffen, fiel ihm schwer. Er seufzte schwer und zündete sich eine Zigarette an. Was musste, das musste. Er öffnete den Brief und vertiefte sich in dem geschwungenen Kyrillisch, der typischen Alt-Erwachsenen-Schrift seines Großvaters. Kai, Ich habe gerade heute erfahren, dass es keine Hoffnung mehr für mich gibt. Aber das war mir schon vorher bewusst. Nun ist es eben offiziell. Ich merke bereits, wie die Krankheit meine Nerven, die Feinmotorik angreift. Deshalb schreibe ich diesen Brief jetzt, wo ich noch einen Stift halten kann, da ich bezweifele, dass du kommst, um einen alten Mann beim Sterben zu beobachten. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich weiß, dass ich kein guter Mensch war und das möchte ich in den letzten Zügen auch nicht schön reden. Es ist, wie es ist. Was ich allerdings möchte ist, dass du einige Dinge vielleicht besser verstehst. Deine Mutter war das zweite von meinen beiden Kindern, das mir genommen wurde. Deinen Onkel hast du niemals kennengelernt. Er starb zwei Jahre vor deiner Geburt nach Tschernobyl. Er war Chemiker und hatte ein halbes Jahr dort arbeiten sollen. Deine Großmutter starb schon sehr früh, etwa als deine Mutter vier Jahre alt war. Anastasiya war das einzige, was mir noch geblieben ist. Ich denke, ich habe es deinem Vater niemals verzeihen können, dass er sie mit sich nach Japan geholt hat. Wir haben immer wieder gestritten deshalb, ich wollte ihre Beweggründe nicht einsehen, ich wollte sie wohl hier bei mir haben, wo ich auf sie achtgeben kann. An dem Abend, als mich die Nachricht ihres Todes erreichte, hatten wir gestritten. Nun stand ich also da, verbittert und voller Schuldgefühle, und durfte mein zweites Kind zu Grabe tragen, und ich hasste die Welt wie nie zuvor und dann warst da du. Jemand musste sich um dich kümmern, also habe ich dich zu mir genommen, weil ich es deiner Mutter schuldig war, doch als du mich das erste Mal mit diesen großen, verständnislosen Augen angesehen hast - mit ihren Augen - da hab ich es nicht ertragen können. Die Schuld gab ich nun dir. Kai, ich weiß nicht, wie ich es in Worte fassen soll, wie ich sagen soll, wie leid es mir tut. Ich glaube sogar, im Grunde wusste ich, dass es falsch war, wie ich mit dir umging und vielleicht muss ich auch zugeben, dass ich zuweilen überfordert war. Diesen Charakterzug kennst du sicherlich, immerhin ist er dir auch gegeben worden. Zu stur und zu stolz um sich irgendeine Schwäche einzugestehen. Es wurde nicht besser, als man bemerkte, dass mit dir irgendetwas nicht stimmte. Ich sah die Kliniken damals als eine sehr gute Lösung an - und vor allem als einen Vorwand, um dich nicht bei mir haben zu müssen. Auch das war offensichtlich falsch. Heute denke ich, wenn ich vielleicht nur ein einziges Mal zugehört hätte, dann ... Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Später, als du älter warst und ich merkte, in welche Richtung du dich entwickelst - glaube mir, die Geschichten mit den ganzen Jungen sind mir nicht verborgen geblieben, auch über deine Beziehung mit diesem Iwanov bin ich informiert worden - da packte mich eine eiskalte Wut, die ich darauf schob, dass Homosexualität in meinen Augen vergast gehört. Aber dem war nicht so, bei weitem nicht. Ich hatte in den letzten Monaten viel Zeit, um nachzudenken und ich denke, dass es den Grund hatte, dass du meiner Kontrolle entglitten bist. Dass ich im Grunde von deinem Leben nichts mehr wusste und das machte mich wütend. Kai, auch wenn du mir das jetzt wahrscheinlich nicht glauben wirst, ein Teil von mir hat dich immer als meinen Enkel geliebt und wollte nur dein Bestes. Wie vermessen, dass ich trotzdem alles falsch gemacht habe. Es ist paradox, dass man erst dem Tode nahe sein muss, um so etwas zu begreifen. Ich bedauere aufrichtig, dass es mit uns soweit gekommen ist. Ich bedauere, dass ich dir diese Missbrauchsgeschichten niemals abnahm. Ich weiß auch nicht, warum, immerhin wusste ich, dass Balkov gewisse perverse Neigungen hat. Vielleicht weil ich damals noch nicht in der Lage war, Fehler einzugestehen, heute kann ich darüber nur mutmaßen. Balkov hat dafür gebüßt, soviel sollst du wissen. Bitte stelle in deinem eigenen Interesse keine Nachforschungen an. Auch ich habe für meine Verbrechen büßen müssen. Damals, du weißt, die zwei Jahre im Gefängnis. Sie sind auch an mir altem Sturkopf nicht spurlos vorübergegangen. Ich bereue es. Alles. Was ich dir antat, was durch mein Zutun in der Abtei geschah. Vielleicht ist es jetzt dafür bereits zu spät. Aber es tut mir leid. Aus dem Tiefsten meines Herzens. Kai, ich würde mir für dich wünschen, dass du ins Leben zurückfindest. Als du vor etwa einem Jahr hier warst, weil du etwas holen wolltest - was das war, weiß ich jetzt gar nicht mehr - da bin ich tatsächlich erschrocken, als ich deine Augen sah. Tot und leblos und du wirktest abgekämpft und ich begann mich zu fragen, was muss geschehen sein, dass ein so junger Mensch bereits jetzt schon so kraftlos ist. Ich weiß nicht, wie es dir jetzt gerade geht. Nur um eins bitte ich dich. Sperr die Menschen um dich herum nicht aus, wie ich es Zeit meines Lebens getan hatte. Sieh nicht zu, sondern nimm teil am Leben. Lass dich mitreißen und koste es in vollen Zügen aus. Für mich, der sein ganzes Leben lang beinahe nur gearbeitet und gehasst hat, ist es jetzt zu spät. Aber für dich ist es noch nicht zu spät, Kai. Du bist 22, du hast dein gesamtes Leben noch vor dir. Ich meine, mich entsinnen zu können, dass du studieren wolltest. Ich weiß nicht mehr, was es war - Kunstgeschichte? Musik? Wusstest du, dass man depressiven Menschen eine besonders hohe Kreativität nachsagt? Ich schweife ab. Was ich sagen will ist schlicht, mach etwas draus. Wenn du Freunde hast, dann halte sie fest. Wenn du Ziele hast, dann verlier sie nicht aus den Augen. Kämpfe und gib dich nicht auf. Das ist das Letzte und vielleicht das Einzige, was ich dir noch geben kann. Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Mach es besser, als ich. Voltaire Jegorow Kai ließ das Papier zitternd sinken. Dann nahm er erstmal einen Schluck von seinem Irish Coffee, den er beinahe vergessen hatte. Schließlich las er den Brief noch zweimal und dann faltete er ihn sorgsam wieder zusammen, um ihn ebenso vorsichtig in den Umschlag zu schieben. Die geschriebenen Worte seines Großvaters hatten gerade irgendetwas in ihm aufgerüttelt. Er wusste nicht, was es war, aber auf einmal fühlte er sich von einer unglaublichen Entschlossenheit und Stärke durchpulst, die er zuvor noch nie gespürt hatte. Er trank den Irish Coffee aus, dann zahlte er und erhob sich, um schließlich zurück zu Takao auf das Hotelzimmer zu gehen. Selbiger hatte gerade auf dem Bett gelegen und Mangas gelesen, als Kai zur Tür hereinkam. Jetzt hob er den Kopf. Lächelte. "Alles klar bei dir?" Kai nickte, dann murmelte er: "Frag mich nochmal." "Was?" "Frag mich nochmal." Und da ging es Takao auf, er öffnete die Lippen leicht überrascht, dann fasste er sich wieder und fragte: "Willst du mein fester Freund sein?" Und diesmal lächelte Kai sogar. Dann nickte er und Takao, der ganz der war, der er war, sprang auf und Kai mit einem Freudenschrei um den Hals. Er küsste ihn überschwänglich auf die Lippen, dann, als er abließ, murmelte er gegen die Kais: "Ich mach dich glücklich, versprochen ..." *ca. 30 Mrd. Euro Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)