Do swidanja von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 5: Wie er so dalag, wie hingegossen, unendlich schön. ------------------------------------------------------------- Der Abend in der Karaokebar war gar nicht mal so schlimm gewesen, hatte Kai im Nachhinein festgestellt. Besonders das Gespräch mit Rei hatte ihn sehr ... überrascht. Wenn auch ein wenig überrumpelt. Takao war heute Vormittag aus dem Haus gegangen und seitdem nicht wieder gekommen. Wo er wohl steckte? Eigentlich konnte es ihm ja egal sein, aber irgendwie ... war es hier weniger unangenehm still, seit er hier wohnte, das musste sogar Kai eingestehen. Er warf einen Blick nach draußen. Es war Herbst, eigentlich die Jahreszeit, in der ihn wieder die absolute Melancholie befiel, welche sich dann, je mehr es in Richtung Winter ging, langsam in die typischen Winterdepressionen umwandelte, aber gerade war es irgendwie anders. Er fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einigermaßen vital. Vielleicht sollte er mal wieder einen Spaziergang machen. Rausgehen, einfach nur so, um des Rausgehens willen. Er hatte auf eine Jacke verzichtet, der Kapuzen-Zipper reichte ihm völlig. Kai war es irgendwie, als nähme er die Welt auf einmal völlig neu wahr, als sah er die Straßen, die Bäume, die Häuser, die Menschen in einem vollkommen anderen Licht. Irgendwie ... heller und wärmer. Er zündete sich im Laufen eine Zigarette an und rauchte sie genüsslich, während er lapidar feststellte, dass er sich das Rauchen endlich mal abgewöhnen sollte, das ging immerhin ins Geld. Sein Weg führte ihn in den Park. Um diese Uhrzeit und unter der Woche waren hier nicht sonderlich viele Menschen anzutreffen und ihm war es ganz recht, denn er mochte es nicht, von so vielen Menschen umgeben zu sein. Kai hatte schon ganz vergessen, wie es war, das Leben einfach mal zu genießen. Er verzog das Gesicht. Wann hatte er sich dafür eigentlich mal Zeit genommen? Bisher war es ihm immer eine ziemliche Last gewesen. Er hatte es verabscheut, morgens aufzuwachen, er hatte es verabscheut, wenn die Sonne ihm ins Gesicht geschienen war, ja, er hatte den Tag gehasst. Die Dunkelheit war gut, die verbarg einen. Irgendwie war alles anders, seit Takao da war. Also eigentlich war er ja schon immer da gewesen, aber irgendwie hatte er ihn wohl nie wirklich auf diese Weise wahrgenommen. Und irgendwie fühlte es sich gut an, dieser Gedanke, dass er nicht alleine zuhause war. Dass da jemand war, dem er wirklich etwas bedeutete, dem er vertrauen konnte. Denn täte er das nicht, dann wäre es wohl kaum so vor ihm aus ihm herausgeplatzt. Es hätte gerade alles so schön sein können, so angenehm. Er hätte anfangen können damit, sich wirklich zu erholen. Wenn nicht plötzlich dieser eine Anruf gekommen wäre. Kai wirkte irgendwie verstört, als er an diesem Abend die Wohnung wieder betrat. Takao war heute bei seiner Uni gewesen, um ein paar Formalitäten zu klären und danach war er noch mit Rei unterwegs gewesen. Als er heimgekommen war, war Kai nicht da, aber er freute sich darüber, dass dieser nicht mehr ständig nur zuhause hockte. Als er ihm allerdings ins Gesicht sah, als er am frühen Abend die Wohnung betrat, merkte er sofort, dass irgendwas nicht stimmte. "Kai, was ist los?", fragte er rundheraus, wobei er auf diesen zuging. Er fasste ihn bei den Schultern, doch Kai entwand sich seinem Griff. Dann sagte er: "Ich wurde eben auf dem Handy angerufen. Aus Russland, es war der Notar meines Großvaters. Er sagt, dass er ihm Sterben liegt." Takao blinzelte, und mehr als ein verblüfftes "Oh" bekam er fürs erste nicht raus. Er wusste gar nicht, was er jetzt sagen sollte, da er auch nicht wusste, wie Kai derzeit mental zu seinem Großvater stand. "Wirst du ... hinfliegen?" Zu seiner Überraschung zuckte Kai mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Es hieß, er wolle mich gerne sehen, aber irgendwie ... sträubt sich gerade alles in mir." "Kein Wunder", murmelte Takao resignierend, küsste ihn dann einfach so auf die Wange und meinte: "Ich geh erstmal Tee kochen, ja?" Rei hatte das immer gemacht, wenn sie irgendwie Stress gehabt hatten und darauf besann Takao sich jetzt. Eine Tasse heißer, aromatischer Tee konnte manchmal Wunder tun. Kai ließ wenig später den Kopf auf die Tischplatte knallen. "Das ist doch zum Kotzen", brummte er, "das ist doch einfach nur zum Kotzen. Ich kann ja nicht einfach nicht dahin." Er knurrte: "Gott, ich schwörs dir, wenn der mir nicht wenigstens die Hälfte seiner Kohle vererbt, damit sich das wenigstens lohnt, dass ich da aufschlage, dann ...” Er ließ es nicht ausgesprochen. Takao schüttelte leicht niedergeschlagen den Kopf. Er konnte nicht verstehen, wie man sich innerhalb einer Familie so dermaßen zerstreiten konnte. Gut, seine eigenen Eltern waren früher beruflich viel unterwegs gewesen, sodass er die meiste Zeit bei seinem Großvater gelebt hatte, aber wenn sie dagewesen waren, dann waren sie alle eine wundervolle Familie gewesen, in der man sich umeinander kümmerte und sich einfach Halt gab. So, wie es sein sollte. Das, was Kai da angerissen hatte, konnte er sich nur ansatzweise vorstellen, weil er Voltaire ja selbst, wenn auch nur kurz, einmal getroffen hatte und das hatte bereits gereicht. “Was hat er eigentlich?”, fragte er schließlich, um das Schweigen zu durchbrechen. “Knochenkrebs. Hat scheinbar in die Lunge gestreut.” “Hast du schon länger davon gewusst?” “Nein, wie denn auch, ich hab ja kaum mit meinem Großvater gesprochen.” Täuschte sich der Japaner oder war das eine kleine Spur Bedauern aus Kais Stimme herauszuhören? War ihm trotz allem sein Großvater doch nicht so egal und verhasst, wie er immer tat? Er wagte es nicht, zu fragen. Aber irgendwie merkte er, dass Kai seine Entscheidung bereits gefällt hatte. “Hab ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie meine Eltern gestorben sind?” Takao blickte auf. Das Flugzeug, das sie bestiegen hatten, hatte sich soeben in die Lüfte erhoben. Takao hatte darauf bestanden, Kai zu begleiten und alle Versuche, es ihm auszureden, waren kläglich gescheitert. Takao konnte seinen Sturkopf inzwischen noch gezielter einsetzen als früher. “Nein, hast du nicht ...”, antwortete er dann zögernd. Kai hatte über seine Eltern nie ein Wort verloren. “Es war ein Unfall”, sagte der Russe dann schlicht. “Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber ... es war ...” Er schien nach dem richtigen Wort dafür zu suchen. “Traumatisch?”, warf Takao hilfreich ein. “Mh. Wir waren an dem Abend essen, weil wir die Beförderung meines Vaters gefeiert haben. Eigentlich war die Stimmung ganz gut, aber plötzlich haben sie angefangen, über irgendetwas zu streiten. Ich glaube, es ging dabei um Voltaire. Er hat es scheinbar nie akzeptieren können, dass seine Tochter einen Japaner und dazu noch aus der Bürgerschicht geheiratet hat. Mein Vater muss dabei den Blick für die Straße verloren haben und plötzlich ... naja, da stand irgendwie alles auf dem Kopf.” Er bekam eine leichte Gänsehaut, als er sich daran erinnerte. “Mein Vater war sofort tot und meine Mutter hat geweint, dann wurde es irgendwann still. Das war grauenvoll. Diese Stille, meine ich. Ich musste mit meinen vier Jahren, glaube ich, eine ganze Stunde mit den Leichen meiner Eltern ausharren. Vielleicht hat Voltaire mich immer gehasst, weil es einfacher war, mir die Schuld zu geben, als einer höheren Macht.” Takao sagte nichts. Er wusste nicht, wie Kai plötzlich auf dieses Thema kam, aber offenbar schien es zu helfen, dass er darüber reden konnte, wenn es Takao auch manchmal schwer fiel, den Sprüngen zu folgen, die er zuweilen machte. Den Rest des Fluges unterhielten sie sich über ein paar Belanglosigkeiten, dann beschäftigte sich jeder mit seinen eigenen Dingen. Einige Stunden später dann der Landeanflug auf Sankt Petersburg. Kai hatte Takao erzählt, dass Voltaire da seinen zweiten Wohnsitz hatte - den in Moskau nutzte er eher, wenn er geschäftliche Dinge zu klären hatte, da damals ja auch die Biovolt in Moskau gewesen war, aber offensichtlich hatte er in den letzten Jahren seinen Hauptwohnsitz hierher verlegt. Kai war das im Stillen nur ganz Recht. Wenn sie nicht in Moskau waren, bedeutete das auch gleichzeitig, dass sie der Abtei fern waren und das waren Erinnerungen, die er nicht wirklich brauchte. Außerdem war Sankt Petersburg einfach eine schönere Stadt, wenn man es mal von der Ästhetik betrachtete. Takao wünschte sich fast drei Augenpaare mehr, als sie mit dem Taxi durch die Stadt in Richtung des Anwesens gefahren wurden, während Kai immer schweigsamer und verkrampfter wurde. Irgendwann fiel das auch Takao auf und irgendwie konnte er sich schon denken, warum. Es war eigentlich ganz normal. Kai und sein Großvater mussten sich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen haben. “Soll ich mitkommen?”, meinte er wenig später, als sie in ihrem Hotel waren. Kai wäre es ein Unwohles gewesen, sich bei seinem Großvater einzuquartieren, obgleich dort bei weitem genug Platz gewesen wäre. Kai schüttelte den Kopf. “Nein, ich denke, ich sollte erstmal alleine dahin.” “Sicher? Ich meine ... Du könntest ja wenigstens bis Morgen warten...” “Ja, sicher und nein, wenn ich das bis morgen aufschiebe, dann werd ich noch unruhiger, ich will das einfach hinter mich bringen. Schau dir doch inzwischen ein bisschen die Stadt an, hier gibts wirklich viele schöne Orte ...” Takao zog einen Schmollmund. “Ich würde sie mir dann lieber mit dir ansehen.” Kai brachte ein schiefes Lächeln zustande. “Ich werd sehen, was sich machen lässt, ja? Aber hock nicht nur im Hotelzimmer rum, während ich weg bin”, fügte er dann noch mahnend hinzu, “Fernsehschauen kannst du auch in Japan.” Damit schnappte er sich Jacke und seine Tasche und verließ dann das Hotelzimmer. Takao blieb etwas unschlüssig zurück. Eigentlich hatte Kai recht. Er war ja kein kleiner Junge mehr und konnte sich auch mal alleine eine Stadt ansehen, ohne versehentlich irgendeinen Blödsinn anzustellen. Oder? Und bevor er jetzt hier herumsaß und nervös und ungeduldig auf Kais Rückkehr wartete, konnte er sich auch etwas amüsieren, es änderte ja doch nichts an der momentanen Lage. Kai betrat eine halbe Stunde später mit ziemlich gemischten Gefühlen das Anwesen seines Großvaters. Er hatte sich nicht angekündigt, weil er sein Gesicht nicht verlieren wollte, falls er doch einen Rückzieher machte. Aber nun gab es kein Zurück. Der Garten war wunderschön und beinahe peinlich genau gepflegt, da stand kein einziger Grashalm einen Millimeter zu weit vom Boden ab. Er schüttelte den Kopf und lief den kleinen Kiesweg Richtung Haustür. Er brauchte geschlagene fünf Minuten, bis er es fertig brachte, zu klingeln. Beinahe hoffte er schon, dass man ihm nicht öffnen würde, doch da ertönte ein Knacken aus der Gegensprechanlage. “Sie wünschen?” “Hier ist Kai Hiwatari, ich möchte zu meinem Großvater...” “Einen Moment, bitte.” Wenig später wurde ihm die Tür geöffnet. Es war immer noch derselbe Butler, den Voltaire damals schon beschäftigt hatte. Er war früher der einzige Mensch gewesen, der nett zu dem Jungen gewesen war. Er war alt geworden. Aber das Lächeln auf seinem Gesicht bescherte Kai gleich ein angenehmeres Gefühl. “Sie sind groß geworden, Kai. Bitte kommen Sie doch herein.” Kai folgte ihm in die Villa hinein bis in eine Art Lobby. “Ich werde Ihrem Großvater sagen, dass Sie da sind. Möchten Sie in der Zwischenzeit etwas trinken?” Kai verneinte und der Butler nickte leicht und entfernte sich dann. Kai war viel zu nervös, um zu sitzen. Ziellos glitt sein Blick im Raum umher, etwas suchend, auf das er ihn fixieren konnte, um sich von der Nervosität abzulenken, die stetig wuchs und sich in seinem Inneren aufblies wie ein Ballon. Zehn Minuten später erschien der Hausdiener wieder. “Er ist jetzt bereit, Sie zu empfangen-” Kai nickte und wollte sich in Bewegung setzen, doch er wurde aufgehalten. “Ich muss Sie aber vorher über einige Dinge informieren. Wir möchten nicht, dass Sie sich erschrecken.” Der junge Mann nickte langsam und zu dem nervösen Gefühl mischte sich plötzlich auch etwas ganz anderes. Sorge? “Ihr Herr Großvater hat durch die Krankheit sehr stark abgenommen und manchmal, wenn er spricht, wird er von einer Art Husten unterbrochen - es mag so klingen, als ersticke er gleich, aber Sie sollten Ruhe bewahren. Wir haben hier zwei Schwestern, die im Notfall einschreiten können. Die Atemnot kommt von den Wassereinlagerungen in der Lunge. Der Krebs hat schon sehr weiträumig gestreut. Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, ist er auf ein Atemgerät angewiesen. Und wundern Sie sich nicht, wenn er beim Sprechen manchmal Sprünge macht.” Kai nickte langsam und sie setzten sich schließlich in Bewegung. Ihm schwirrte der Kopf. Wenn er ehrlich war, hatte er sich mit dieser Art von Krankheit noch nie in seinem Leben in irgendeiner Form befasst - was auch logisch war, wieso sollte man auch, wenn man nicht selbst oder wenn nicht jemand, der einem nahestand, betroffen war? Welch Ironie des Schicksals. Vor der Tür hielten sie noch einmal an. Dimitrij, der Butler, warf Kai nochmal einen fragenden Blick zu, welcher besagte, ob er wirklich bereit dafür war. Selbiger erwiderte ihn und straffte seine Körperhaltung. Dann drückte er die Türklinke und ging hinein. Hinter ihm fiel die Tür sachte wieder zu. Der Geruch des Todes schlug ihm gleich entgegen und Kai drehte sich augenblicklich der Magen um. Aber er ließ sich nichts anmerken. Langsam kam er dem Bett näher. Voltaire hatte sich aufgerichtet, versuchte offenbar, so hoheitlich wie möglich zu wirken, aber alles was Kai sah, war ein durch die Krankheit ausgezehrter, alter Mann und er fragte sich, wo die Angst hin verschwunden war, die er früher immer verspürt hatte. Wo die Autorität und die Bosheit hinverschwunden waren, die er früher immer ausgestrahlt hatte. Da war nichts mehr. Es schien, als wäre Voltaire, welcher früher doch eher sehr stämmig in seiner Statur gewesen war, in sich zusammengeschrumpft, durch die Chemotherapie waren die meisten Haare ausgefallen und nur wenige durchsichtige weiße, dünne Strähnen hingen ihm noch schlaff herunter. Das Gesicht war ausgemergelt, die Augen eingefallen. Und Kai suchte vergeblich den ganzen Hass in sich, der sich all die Jahre aufgestaut hatte. Da war kein Hass mehr. Da war nur Bedauern und unendliche Traurigkeit, denn ja, es schnürte ihm, der immer der Auffassung war, dass es ihm vollkommen gleich sei, wenn Voltaire ins Gras biss, vollkommen den Brustkorb zu, sodass er kein Wort herausbrachte, als er sich auf einem Stuhl neben dem Bett niederließ. Denn, wenn er etwas gesprochen hätte, dann hätte seine Stimme gezittert. Voltaire war ihm mit den Augen gefolgt. Nun grinste er matt und sagte mit krächzender Stimme: “Sehe ich so schlimm aus, dass du deshalb gleich in Tränen ausbrichst, Junge?” Kai wollte ihn böse anstarren, doch er konnte nicht. Stattdessen sagte er nur: “Das ist überhaupt nicht komisch, alter Mann.” “Ich weiß”, antwortete Voltaire schlicht. Und dann schwiegen sie wieder. Am liebsten wäre Kai einfach geflohen, doch er konnte es einfach nicht. Er hatte ihm soviele Gemeinheiten an den Kopf schleudern wollen, soviel sagen wollen, was ihm in der Vergangenheit wehgetan hatte, doch mit einem Mal, da sah er sich nicht mehr im Recht dazu. Nicht jetzt. Nicht unter solchen Umständen. “Ich habe nicht ... damit gerechnet, dass du kommen würdest, Kai. Nicht, nachdem was war. Dieser Zug-”, er hustete erbärmlich, “-ehrt dich, Junge.” Kai presste die Lippen aufeinander. Was sollte da dazu sagen? Er hatte es doch selbst nicht gedacht. Vielleicht ... nein, ganz sicher war das hier die letzte Möglichkeit, irgendetwas zu bereinigen. “Die Ehrenhaftigkeit hast du mir nie beigebracht”, sagte er schließlich bitter und im selben Moment bereute er seine Worte bereits. Voltaire schloss einen Moment die Augen. Nickte. “Während diesem ... Siechtum ... hatte ich ... viel Zeit, nachzudenken. Und vielleicht ... trifft es mich zurecht.” Kai schwieg. Ihm fiel die karmische Bedeutung ein, dass früher oder später alle bösen Menschen auf ihre Weise bestraft wurden. Und vielleicht ... vielleicht war das auch der Grund, warum er ihn nicht mehr hasste. Weil er durch die Krankheit schon bestraft worden war. Er sagte nichts, doch Voltaire fuhr fort. “Was Balkov ... dir angetan hat ... wollte ich nicht wahrhaben ... nicht glauben ... Als deine ... als Anastasiya starb, da ... Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ihre Augen hast?” Er hob die zitternde Hand, wollte sie nach Kai ausstrecken und er ergriff sie geistesgegenwärtig, ehe sie erschlaffte und zurückfiel. Er wusste nicht, warum er das tat, aber er wusste, dass er irgendetwas tun musste. Die Hand fühlte sich schwach an in seiner, dünn, er konnte die dicken Adern unter der Haut spüren. “Ist es ... bereits zu spät, dich um Vergebung zu bitten?” Und da kamen Kai wirklich die Tränen. Er schüttelte den Kopf und sagte leise: “Für Vergebung ist es nie zu spät.” Takao hatte sich tatsächlich die Stadt ein wenig angesehen. Allerdings war er dann beim erstbesten Restaurant hängengeblieben und da er durch den Flug noch einen gewaltigen Hunger hatte, hatte er kurzerhand beschlossen, das Sightseeing zu verschieben und sich den Bauch erstmal vollzuschlagen. Sonst fiel er ja noch vom Fleisch. Schlimm genug, dass bei Kai die Kilos ständig purzelten, da musste er nicht auch noch damit anfangen. Er überlegte später, als er wieder Richtung Hotel lief, ob er dem Zimmerservice Bescheid sagen sollte, dass der ihnen etwas zu essen aufs Zimmer raufbrachte. Er konnte nicht einschätzen, wie Kai nach dem Besuch bei seinem Großvater drauf sein würde, aber er ahnte schon, dass es keine sonderlich gute Stimmung wäre und wenn es Kai scheiße ging, dann aß er mal einfach nichts. Naja, er würde einfach ein Auge auf ihn haben. Als er wenig später das Hotelzimmer betrat, sah er Kai auf einem der Betten sitzen, die Ellebogen auf den Oberschenkeln angewinkelt, während er nachdenklich ins Leere starrte. Takao schloss behutsam die Tür und ging zu ihm hin, um sich neben ihn auf das Bett zu setzen. “Alles okay?”, fragte er leise und wagte es, kurz die Hand auf seinen Unterarm zu legen. Kai sah auf und blickte ihn an. Sie sahen sich lange an und im nächsten Moment fand sich der Japaner mit dem Rücken in den Laken wieder. Kai kam wortlos über ihn, küsste ihn und er spürte, dass er das jetzt brauchte und er ließ ihn machen, auch, wenn er sich danach gesehnt hatte, wenn sie sich das erste Mal liebten, dass es andersherum geschähe. Aber so war es ihm auch recht. Er spürte die Verzweiflung und er spürte den Zorn in Kai, darüber, dass es alles so gekommen war. Dass es ihn getroffen hatte. Dass man ihm diese schrecklichen Dinge angetan hatte und dass sein Großvater jetzt starb. Dass er die Zeit nicht zurückdrehen konnte und dass er vollkommen machtlos war. Und natürlich waren da noch die ungekannten Gefühle, die mit einem Mal an die Oberfläche brachen. Die sie beide verlangend machten nach dem jeweils anderen, ohne irgendein Wort zu verlieren und als sie endlich miteinander schliefen, war es für beide eine Erlösung. “Hast du dir die Stadt angesehen?”, fragte Kai später. Sie lagen zusammen auf dem Bett, Kai auf dem Bauch, das Kinn in die verschränkten Arme gestützt, und Takao die Hände hinter dem Kopf verschränkt, ein wenig an die Decke starrend. Der Japaner grinste verlegen. “Naja, ich hatte es vor, doch dann hab ich Hunger bekommen und bin essen gegangen.” “Oh je, Sankt Petersburg hat jetzt bestimmt keine Essensvorräte mehr”, murmelte Kai und fing sich daraufhin einen Hieb mit dem Kissen ein. “So schlimm bin ich nun auch wieder nicht. Außerdem würde es dir auch mal ganz gut tun, mal wieder was zu essen. Mir ist nicht entgangen, dass du heute Morgen auf dem Flug das Essen nicht angerührt hast. Und gestern Abend auch nichts gegessen hast. Und überhaupt.” Kai stöhnte genervt auf, doch dann gab er sich geschlagen. Das war ein Thema, das sie beide tot diskutieren konnten. Und, wenn er ehrlich war, verspürte er tatsächlich ein klein wenig Hunger. Nachdem Takao dem Zimmerservice Bescheid gesagt hatte, blieb sein Blick kurz an Kai hängen. Wie er so dalag, wie hingegossen, unendlich schön. Er schluckte unwillkürlich. “Kai...?”, sagte er leise. “Hmhm?”, murmelte dieser, ohne aufzublicken. “Ich ... wollte dich fragen, ob ... du mit mir zusammen sein möchtest.” So, nun hatte er es gesagt. Es hatte ihn einfach so überkommen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum sein Unterbewusstsein ausgerechnet das für den richtigen Zeitpunkt hielt. Sein Herz schlug in etwa in der Höhe seines Adamsapfels. Kai richtete sich langsam auf, in eine sitzende Position, und sah ihn eine Weile an. Es konnten nur ein paar Sekunden gewesen sein, doch für Takao war es eine halbe Ewigkeit. “Ich werde darüber nachdenken, in Ordnung?” Nun gut, nicht ganz die Antwort, die er sich erhofft hatte, aber immerhin besser als ein Nein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)