Do swidanja von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Wie ärgerlich. ------------------------- Kai blinzelte. Irgendwas hatte sich in seinen Traum geschlichen. Er hatte sehr schlecht geschlafen. Nein, eigentlich gar nicht, da waren nur flackernde Bilder und grenzenlose Erschöpfung gewesen, die einem nicht erlaubten, zur Ruhe zu kommen. Die tödliche Ruhe, ehe man ihm mit dem Defibrillator 250 Volt durch den Körper gejagt hatte, war ihm lieber gewesen. Da hatte er seinen Körper nicht mehr gespürt. Er hatte sich, als er nachhause gekommen war, hingelegt, ohne sich zuzudecken. Warum also hatte er nun eine weiche Wolldecke um den Körper geschlungen? Er fühlte sich sehr unwohl. Matter als vor dem Schlaf. Sagte man nicht, danach würde alles besser? Hn, vielleicht wenn man es richtig machte. Plötzlich stieg ihm der Geruch von Essen in die Nase. Irritiert runzelte Kai die Stirn, ehe ihm einfiel, dass er ja nicht alleine zuhause war. Das Gefühl des Unwohlseins verstärkte sich noch. Er war es schlichtweg nicht gewohnt, andere Menschen bei sich zuhause um sich zu haben. In seinen vier Wänden, dem einzigen Ort, an dem er sich gelegentlich gehen ließ, der einzige Ort, dem er seine Seelenqual anvertraute. Dass hier jetzt jemand war, war befremdlich. Aber er konnte sich dem nicht entziehen. Am Liebsten wäre Kai jetzt liegen geblieben und hätte eine Woche weitergeschlafen, aber das half nun auch nichts. Außerdem konnte er nicht schlafen, wenn er sich nicht sicher fühlte. Und er fühlte sich nicht sicher, wenn andere Menschen so nah um ihn herum waren. Also streckte er sich kurz mit einem unterdrückten Stöhnen und stand dann lautlos auf. Es fröstelte ihn. Dabei war der Herbst noch gar nicht so weit fortgeschritten. Der Sommer ging gerade darin über, die Temperaturen draußen waren noch wohlig angenehm. Aber er ertrug es nicht. Das Licht nicht und die Wärme nicht. Ehe Kai den Raum verließ, zog er die Gardinen in seinem Schlafzimmer zu. "Ach Kacke, bei Rei sieht das immer so einfach aus", murmelte Takao und fuhr sich zum etwa fünften Mal, seit er Kais Küche betreten hatte, durch das Haar, welches mittlerweile schon sehr zerzaust war. Nun, er hatte jetzt nicht unbedingt ein Problem damit, Nudeln in kochendes Wasser zu werfen, die Problematik, die er sah, bestand darin, dass er schlichtweg nicht damit gerechnet hatte, dass Kai so gut wie keine Lebensmittel besaß. Er hatte im Kühlschrank zwei Eier, eine verschrumpelte Paprika und einen halben Liter ranzige Milch neben einer fast leeren Flasche mit einem Schluck Bourbon gefunden. In den Schränken sah es auch nicht besser aus. Da war eine halbe Packung Nudeln und ein Päckchen Bratensoße. Wenn er vielleicht zwei Paprikas gehabt hätte, hätte er wenigstens noch versuchen können, eine etwas gesündere Soße daraus zu machen, aber so sah er ziemlich schwarz und Bratensoße und Paprika passte einfach nicht zusammen. Er war sich unglaublich unschlüssig, aber bis auf die Nudeln blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Der Japaner seufzte. Irgendwie war er jetzt deprimiert. Morgen sollte er vielleicht mal einkaufen gehen. Oder sie beide zusammen. Aber es war ihm unglaublich wichtig, dass der Russe etwas aß, die Zeit die er im Krankenhaus war, hatte er merklich abgenommen. Oder er hatte es schon davor und Takao war es wirklich nur einfach nicht eher aufgefallen. Wieder klopfte das schlechte Gewissen an die Tür. “Was wird das, wenns fertig ist?” Takao schreckte zusammen und stieß sich prompt den Kopf an einer offenen Regaltür an. “Fuck”, fluchte er, dann sah er Richtung Türrahmen, in welchem Kai lehnte und ihn aufmerksam ansah. “Nach was sieht's denn aus, ich koche”, murrte er. “Das seh ich, nur was bitte?” Takao grinste. “Nudeln mit Bratenpaprika-Eiersoße. Meine eigene Kreation.” Kai rollte die Augen. “Es ist nicht so, als gäbe es hier in der ganzen Stadt keinen Pizzaservice.” Takao wirkte etwas bedröppelt. “Warum einfach, wenns auch kompliziert geht”, murmelte er und fügte dann hinzu: “Wenn ich Pizza bestelle, isst du dann wenigstens auch was davon?” Kai verzog angeekelt das Gesicht. “Ich hasse Pizza.” “Wer hasst denn Pizza?” “Ich.” “Und was ist mit Chinesisch?” “Chinesisch stinkt.” “Du stinkst.” “Ich hab keinen Hunger, kapiert?” Takaos Gesicht hellte sich auf. “Na Gott sei Dank, ich dachte schon, du könntest wirklich keine Pizza leiden, das hätte mein Weltbild zerstört. Dann bestell ich dir einfach mal so eine mit, der Appetit kommt sicher beim Essen." Kai rümpfte die Nase. In Wahrheit liebte er Pizza, aber momentan wurde ihm allein beim Gedanken an Nahrungsaufnahme speiübel. "Tu, was du nicht lassen kannst, aber versprechen tu ich dir gar nichts." Takao grinste breit, "Das reicht mir schon", und ging aus der Küche ins Wohnzimmer, um nach dem Telefon zu suchen. Kai schloss die Augen und atmete einmal tief ein und wieder aus, dann sagte er resignierend: "Das Telefon steht im Flur ..." "Alles klar, das wusste ich doch!", ertönte es da mit einem verlegenen Lachen und wenig später hörte er die Stimme des Japaners gedämpft in den Hörer sprechen. Ein ganz schmales Lächeln umspielte seine Lippen und kaum merklich schüttelte er den Kopf, das aber bald wieder verlosch. Takao Kinomiya war schon eine Marke für sich. Langsam verließ er die Küche, um ins Wohnzimmer zu gehen, wo er dann den Fernseher anschaltete. Es lief nichts Bestimmtes und wenig später gesellte sich Takao zu ihm, nahm neben ihm auf der Couch platz, wo er sich ausstreckte. Kai selbst hatte eher eine zusammengekrümmte Haltung eingenommen im Gegensatz dazu. Die Beine angezogen, die Hände in den Ärmeln des Sweatshirts verborgen. Er wirkte eher wie ein verunsichertes Kind als ein erwachsener Mann. Und genau das fiel auch Takao auf. Allerdings schwieg er dazu. Vorerst. Das Letzte, was er wollte, war Kai in irgendeiner Form bedrängen. Auch wenn ihn so viele Dinge brennend interessierten, hielt er sich den Rat des Psychologen vor Augen, Kai erst Zeit zu geben, sich an seine Gegenwart zu gewöhnen. Er hatte sich zuvor, als dieser noch in stationärer Behandlung war, einen Rat geholt, komplett unvorbereitet hatte er immerhin auch nicht sein wollen. Er wusste ja nun nicht, inwieweit Kai ihm generell vertraute, das war ein altbekanntes Problem, der Russe ließ ja niemals hinter die Fassade blicken. Aber laut Aussage des Arztes würde er wohl früher oder später selbst mit der Sprache herausrücken, wenn man ihn nur nicht drängte. Das bezweifelte Takao zwar noch stark, aber ihm blieb momentan nichts anderes übrig. Nicht, wo er selbst sich noch zu übervorsichtig fühlte. Aber besser so, als wenn er sich wieder wie der alte Trampel aufführte, der alles überstürzte und Kai damit das Gefühl gab, das dieser jahrelang immer wieder bestätigt bekommen hatte - nämlich, dass Takao Kinomiya niemals etwas auf die Kette bekam und ein Volltrottel durch und durch war. Nein, er würde nicht in alte Verhaltensmuster zurückfallen, diesmal würde er alles richtig machen. Er fühlte sich Kai gegenüber verpflichtet. Trotzdem war ihm der Anblick, den sein ehemaliger Teamleader gerade bot, ziemlich unwohl. Was er am liebsten getan hätte, wäre, diesem einen Arm umzulegen und an sich zu ziehen, aber das konnte er sich bei einem Berührungsphobiker wie Kai wohl abschminken. Fieberhaft überlegte er, was er für ein Gespräch anfangen sollte - nichts, was zu tiefsinnig war, aber auch nichts vollkommen Triviales. Das war gar nicht so einfach. Schließlich entschied er sich für das Naheliegenste. Das aktuelle Fernsehprogramm. “Also, ich finde diese Freddy Krueger-Scheiße ja unheimlich cool. Der Kerl ist nicht auf den Mund gefallen und ich mein, stell dir mal vor, du könntest in den Träumen von anderen herumpfuschen!” “Hm.” “Findest du etwa nicht?” “Jigsaw”, kam es nur gemurmelt und Takao warf Kai einen Seitenblick zu, der den Blick zwar weiterhin auf den Bildschirm gerichtet hatte, das Kinn auf den angewinkelten Knien abgestützt, allerdings eher nachdenklich ins Leere starrte. “Was ist mit dem?”, fragte Takao neugierig, froh überhaupt irgendeine Antwort erhalten zu haben. “Er ist genial. Krueger ist ziemlich leicht gestrickt. Er ist ein Kinderficker und quält sie noch nach seinem durch Selbstjustiz der Städter verursachten Tod aus Rache. Jigsaws Motive sind viel tiefgründiger. Freddy kann ihm nicht das Wasser reichen.” Takao starrte Kai verblüfft an. Wow, der Russe konnte ja ganze Sätze sprechen. Und irgendwie fiel ihm gerade auf, dass er sich noch nie mit ihm über solcherlei belanglose Dinge unterhalten hatte. Entweder sie hatten gestritten oder sich mit eisigem Schweigen gestraft. Wobei das für Takao mehr Strafe war als für Kai, denn er hatte es schon immer gehasst, ignoriert zu werden. “Also das will ich jetzt mal überhört haben”, empörte sich der Japaner, “Jigsaws ausschlaggebender Gedanke kommt soweit ICH informiert bin, immerhin auch aus einem ziemlich egoistischen Grund, nämlich weil so ein Kerl seine schwangere Frau so sehr verletzt hat, dass sie das Kind verloren hat!” “Das ist der Auslöser, aber nicht die Idee.” Nun sah er ihn doch an. “Jigsaw ist angewidert von Menschen, die das Leben im Allgemeinen nicht wertschätzen, seine Methoden mögen zwar radikal sein, aber die die überlebt haben, haben ...” Plötzlich stockte er, als ihm etwas bewusst wurde. “Was ist?”, fragte der Japaner neugierig. Kai schüttelte den Kopf. “Nichts, vergiss es.” Dann hüllte er sich wieder in Schweigen. Takao seufzte innerlich. Naja, das war immerhin schon mal etwas. Er würde sich einfach in Geduld üben müssen. Die Türklingel schrillte. Takao sprang auf und meinte fröhlich, "Lass stecken, ich zahle", ohne, dass Kai irgendwelche Anstalten in der Richtung gemacht hätte. Wenig später machte sich der Japaner über eine Salami-Pizza her, während Kai nur unschlüssig auf seine starrte. "Weiß du", meinte Takao dann irgendwann, "jetzt kommt normalerweise der Teil, wo man anfängt, zu essen." Und obwohl sich alles in Kai sträubte, griff er schließlich zögerlich nach einem Stück Pizza. Es brauchte ganze drei Minuten, ehe er sich überwinden konnte, das spitze Eck davon abzubeißen und selbst dann wallte in ihm sofort die Übelkeit auf. Aber er musste sich jetzt zusammenreißen. Immerhin wollte er Takao so schnell wie möglich wieder loswerden und das ging offenbar nur, wenn er ihm bewies, dass er wider Erwarten sich doch wunderbar um sich selbst kümmern konnte. Sein Magen krampfte sich zusammen, als er den ersten Bissen hinunterschluckte und er befürchtete einen Moment, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Er würgte kurz, dann fing er sich. Gott, dieses Stück Pizza zu essen stellte sich gerade als schwieriger heraus, als der Kampf damals gegen Brooklyn ... den er verloren hatte. Beim Gedanken daran sank seine Laune weiter in den Keller. Er hatte verloren, obwohl er so verbissen gekämpft hatte und Takao ... Plötzlich verging ihm der Appetit gänzlich. Wortlos schmiss er sein Pizzastück wieder in den Karton und stand auf, um in sein Schlafzimmer zu verschwinden, wo er die Tür hinter sich zuknallen ließ. Takao blickte ihm nur verdutzt hinterher. "Was war das denn jetzt?", murmelte er und widerstand dem Impuls, Kai sofort hinterher zu gehen. Stattdessen machte er sich noch über den Rest seiner Pizza her, dann schnappte er sich noch von Kais zwei Stücke und verstaute den Rest im Kühlschrank. Irgendwann MUSSTE der Russe ja Hunger bekommen. Nun, es war auch schon spät, vielleicht haute er sich besser gleich aufs Ohr. Doch dann fiel ihm etwas ein. Mist, er hätte Kai beizeiten nach Bettzeug fragen sollen, er verspürte nicht den Drang in den Schränken seines ehemaligen Teamleaders herumzuwühlen, wo dieser doch ohnehin schon so empfindlich reagierte, wenn man in irgendeiner Form in seine Privatsphäre drang. "Takao, kannst du Kai bitte sagen, dass es Essen gibt?" Takao verzog das Gesicht und sah Rei leidend an. "Warum ausgerechnet ich?" "Weil du gerade in der Nähe bist." Takao stöhnte und drückte bei seinem Game Boy Advance auf Pause. Pokemon zocken machte irgendwie mehr Spaß, als sich mit seinem griesgrämigen Teamleader herumzuärgern. So schlurfte er lustlos über den Gang ihrer WG-Wohnung (Dickenson hatte darauf bestanden, wie er sagte, stärke ein Zusammenleben den Charakter und fördere das soziale Denken und Handeln später im Erwachsenenalter) zu Kais Zimmer, welches am hintersten Ende lag und klopfte an, dann lauschte er kurz. "Kai? Essen is fertig." Dann wollte er schon wieder auf dem Absatz kehrt machen, bis er innehielt. Hatte der Russe ihn überhaupt gehört? Eigentlich konnte es ihm ja egal sein, dann würde wenigstens niemand da sein, der ihn beim Essen dauernd maßregelte, aber so arschig wollte Takao dann auch wiederum nicht sein. Er seufzte innerlich, dann sagte er nochmal "Kai?", wobei er ohne Antwort abzuwarten die Tür aufdrückte. Er bekam große Augen. Kai war gar nicht da! "Na toll, da hätte ich lange auf eine Antwort warten können", murrte Takao und ließ seinen Blick neugierig über den Raum gleiten. Seltsam, Kai schloss sonst meistens ab, wenn er nicht da war. Die Ordnung, die hier herrschte, war schon fast penibel, aber dennoch hatte dieses Zimmer irgendwie etwas Deprimierendes. Die Wände waren einfach weiß, nur an einer Wand hing ein schwarzweiß-Poster von "Pulp Fiction", auf dem Vincent Vega und Jules Winfield ihre Waffen auf eine Person gerichtet hatten, die im Bild nicht mehr zu sehen war, daneben hatte der Russe eigenhändig den Schriftzug "The path of the righteous man is beset on all sites by the inequieties of the selfish and the tyranny of the evil man." angebracht. Ansonsten waren die Wände kahl und so bekam dieser Schriftzug eine ganz eindringliche, bedeutungsvolle und unbehagliche Wirkung. Eine Couch stand noch in seinem Zimmer, ein schmales Bett, ein Schreibtisch und ein Bücherschrank mit Fernsehstellplatz in der Mitte, der Kleiderschrank wirkte recht spartanisch. Takao verzog das Gesicht. Kai hatte zwar nicht das größte Zimmer abbekommen, aber er war der einzige, der einen eigenen Fernseher hatte, einen teuren Flachbildschirm, und sie anderen mussten sich alle einen im Wohnzimmer teilen. Das war schon nervig, wenn der eine beispielsweise einen Horrorfilm und der andere eine Komödie sehen wollte. "Wie langweilig", murrte Takao und ging ein paar Schritte in den Raum hinein. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, dann blieb sein Blick am Schreibtisch hängen. Darauf lag nur ein Laptop und nebendran ein DIN A5-Block. Verstohlen blickte Takao sich um und blätterte dann ein paar Seiten auf. "Kannst du mir mal sagen, was das wird!?!" Takao fuhr augenblicklich zusammen und wirbelte herum. Da stand Kai im Türrahmen und er sah wirklich ... wirklich ... extrem ... wütend aus. "I-ich...", stotterte Takao, fieberhaft nach einer plausiblen Erklärung suchend, wie er ihm das Eindringen in seine Räumlichkeiten erklären konnte, ohne wie ein Vollidiot dazustehen. Noch während er überlegte, kam Kai mit schnellen Schritten auf ihn zu und ein überraschter Aufschrei entkam ihm, als dieser ihn am Kragen packte. "Wag es noch einmal, hier ohne meine Erlaubnis reinzukommen und meine Sachen anzufassen, ich schwör dir, ich bring dich um!", knurrte er und eine eiskalte unterschwellige Drohung, sodass der Japaner es beinahe mit der Angst zu tun bekam, lag darin. Schließlich schubste er Takao von sich, welcher immer noch um Fassung rang. "Woah, krieg dich mal ein, ey", schnappte er, wobei er mehr verwirrt als aggressiv wirkte. "Verschwinde endlich!" Wenn Takao so zurückdachte, dann konnte er es durchaus nachvollziehen, dass Kai angefressen gewesen war, dass er unerlaubt sein Zimmer betreten hatte und dann auch noch drauf und dran gewesen war, in irgendwelche privaten Unterlagen zu lesen, aber wie Kai ihn dann die Wochen darauf behandelt hatte, das war schon übertrieben. Er hatte ihn ja schon immer gerne mit Vorliebe schikaniert, aber das war wirklich die Krönung gewesen, Takao war tagtäglich auf dem Zahnfleisch nachhause gekrochen. Und bis auf die Trainingseinheiten hatte Kai kein Wort mit ihm gesprochen. Irgendwie hatte ihn das beinahe mehr gewurmt als das Kasernentraining und er hatte lange herumgerätselt, warum. Heute war es ihm irgendwie klar. Er vermutete stark, dass er damals wohl schon in seinen Teamleader verschossen gewesen war, es aber nicht hatte wahrhaben wollen. Wirklich damit auseinander gesetzt hatte er sich erst in den Jahren, in denen sie nicht mehr zusammengelebt hatten, da die Verträge mit der BBA ausgelaufen und sie alle zu erwachsen geworden waren für diese Sportart. Er hatte Kai nicht sonderlich oft gesehen in diesen drei Jahren, beinahe ein ganzes Jahr war der Russe komplett von der Bildfläche verschwunden gewesen und Takao würde es niemals vor irgendjemandem zugeben, aber die Zeit war die Hölle für ihn gewesen. Er hatte sich Sorgen gemacht, genauso wie er wütend gewesen war, dann wieder sehnsüchtig und schließlich wieder wütend. Dann waren sie irgendwann zusammengezogen und hatten es doch insgesamt drei Jahre miteinander ausgehalten, ohne dass einer der Vier sein Leben verloren hatte. Dass Takao irgendwie auf seinen Teamleader stand, war ihm bewusst geworden, als er irgendwann einmal beim Wichsen den Gedanken so sehr auf Kai fixiert hatte, dass er beim Abspritzen unwillkürlich dessen Namen gestöhnt hatte. Doch da hatte er dann noch ein anderes Problem. Ganz zu schweigen davon, dass ihm das ausgerechnet mit Kai passiert war - der Person, mit der er quasi im Dauerclinch lag, musste er sich zusätzlich noch mit dem Gedanken auseinandersetzen, möglicherweise etwas für Männer übrig zu haben. Daran konnte er sich lange nicht gewöhnen und als er schließlich während einer Party mit Hiromi im Bett gelandet war (die ihm die Entjungferung bis heute übel nahm und ihm das Leben deshalb zur Hölle machte), war er beinahe erleichtert gewesen, doch auch daraufhin wollten die schmutzigen Gedanken gegenüber Kai nicht weichen. Dann hatte er sich überlegt, dass es vielleicht nur eine Ausnahme war, immerhin war man nicht gleich schwul, nur weil man einmal (mehrmals) beim Wichsen an einen anderen Mann gedacht hatte. Dann allerdings hatte er einen kühnen Selbsttest gemacht und sich einen Schwulenporno reingezogen (Mit Kopfhörern, verschlossener Tür und zugezogenen Vorhängen) und zu seinem Entsetzen war ihm dabei wirklich einer abgegangen. Da Takao es irgendwann leid gewesen war, dass diese Gedanken ihn zermürbten, hatte er einfach kurzerhand beschlossen, sich damit anzufreunden, bisexuell zu sein. Davon wusste bisher nur Max, Rei noch nicht und Kai erst Recht nicht. Sie hatten ja auch nie sonderlich viel private Dinge ausgetauscht. Und nun war er eben an einem Punkt, wo er hin- und hergerissen war zwischen der Erleichterung, endlich Gewissheit über seine Sexualität und sein Gefühlsleben zu haben, und der nagenden Sehnsucht nach Kais körperlicher und platonischer Nähe. Allerdings hütete er sich seit jeher, irgendetwas in der Richtung anzusprechen. Besonders jetzt nicht, wo Kai so verdammt instabil war. Doch hatte er jetzt trotz allem immer noch das Problem, dass er Bettzeug brauchte. Da half alles nichts. Er schielte hinüber zum Schlafzimmer. Ob Kai wohl schon schlief? Unschlüssig trat er von einem Bein aufs andere. Da half wohl alles nichts, alternativ konnte er nach ein paar Zeitungen suchen, mit denen er sich zudecken konnte. Er grinste kurz bei der Vorstellung, dann beschloss er, sich in die Höhle des Löwen zu wagen und ging zu Kais Schlafzimmertür, um daran zu klopfen. Zu seiner Überraschung hörte er kurz darauf ein Brummen, das ganz nach einem "Ja?" klang und er drückte vorsichtig die Tür auf. "Ähm, sorry, wo hast du Bettzeug?" Kai murmelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und knipste dann die Nachttischlampe an, woraufhin er aufstand und zu seinem Kleiderschrank ging. Daraus förderte er dann eine Decke und ein Kissen zu Tage. "Du kannst dir die Couch ausziehen, ich muss noch die Bezüge suchen." Takao nickte und trollte sich Richtung Wohnzimmer, wo er sich an der Couch zu schaffen machte - ausnahmsweise mal ohne irgendetwas kaputt zu machen oder sich zu blamieren, wie er in Gedanken ironisch feststellte. Wenig später kam Kai ihm hinterher, in Shorts und einem verwaschenen "The Punisher"-Shirt und drückte ihm nachtblaue Satinbettwäsche in die Arme. "Danke, äh..." Kai sah auf. "Was?" Oh Gott, er kriegte es mit seinen 20 Jahren immer noch nicht hin, ein Bett anständig zu beziehen, wie peinlich war das denn? "Ach nichts, uhm ..." Kai sah auf die Bettwäsche hinunter, dann sah er ihn wieder an und meinte schließlich entnervt: "Jetzt sag mir nicht, dass du keine Ahnung hast, wie man ein BETT bezieht!" "Ich hab dafür von vielen anderen Dingen Ahnung!", ereiferte sich Takao, um diese absolute Peinlichkeit zu überspielen. "Wie man Kaugummiblasen macht, ohne dass sie platzen ist keine Kunst, auf die man unheimlich stolz sein kann", meinte Kai trocken und griff selbst nach den Bezügen, um sie auf das Bettzeug zu ziehen. Takao starrte Kai finster an. "Ich kann auch noch andere Sachen- was ist das?" Sein Blick war plötzlich an Kais nacktem Oberschenkel hängen geblieben. Ein paar feine weiße Linien zogen sich darüber, manche stark, manche weniger stark sichtbar. Manche wirkten schon älter, manche sahen aus, als wären sie erst wenige Monate alt. Kai hielt in seinem Tun inne, wusste nicht sofort, was Takao meinte, doch dann folgte er dessen Blick. Das hatte er vollkommen vergessen. Normalerweise dachte er nicht daran, sich zu bedecken, wenn er zuhause war, immerhin war ja früher selten jemand länger bei ihm gewesen. Wie ärgerlich. "Nach was siehts denn aus?", erwiderte er schließlich patzig und fuhr dann damit fort, sich um die Bettwäsche zu kümmern. "Zieh mal runter", befahl er und Takao ergriff den Bettbezug, um ihn an der Decke so hinunterzuziehen, dass er gerade und nicht unordentlich selbige umschloss. Der Japaner schwieg bedrückt. Wieder nagte das schlechte Gewissen so penetrant an ihm, wie eine Zecke, die sich festgebissen hatte. Er stellte sich zwar manchmal etwas doof an, aber er war nicht dumm. Diese Narben mussten schon viele Jahre auf dem Buckel haben. Und niemals hatte er etwas bemerkt. Oder einer der anderen. "Warum?", fasste er sich dann ein Herz. Kai sah ihn nicht an. "Das geht dich nichts an." "Ich finde schon." "Das Gespräch ist jetzt beendet. Gute Nacht." Damit machte Kai auf dem Absatz kehrt und verschwand abermals in seinem Schlafzimmer, unmittelbar darauf war das Klicken eines Schlüssels zu vernehmen. Der Japaner seufzte leicht resigniert. "Dann sperr mich halt aus", murmelte er und streckte sich schließlich, um dann aufzustehen und das Badezimmer aufzusuchen. Als er sich, während er sich wusch, ein wenig in den Gedanken verlor, fiel ihm plötzlich etwas ein. Etwas, das er eigentlich hatte machen wollen, ehe Kai wieder aus der Klinik kam, aber das ihm im Eifer des Gefechtes abhanden gekommen war. Er trocknete sich das Gesicht und legte das Handtuch zur Seite, dann zog er die Spiegeltüren des Badezimmerschrankes auf. Da lagen noch drei Tablettenschachteln. Neugierig zog er sie hinaus und nahm sie unter die Lupe. Eine Packung Aspirin, ein Medikament namens Mirthazapin, das auf 70 mg dosiert war, und eine Packung Paracetamol. Natürlich, es war nicht mehr viel übrig, immerhin hatten unzählige leere Tablettenschachtel bereits auf dem Wohnzimmertisch, dem Sofa und auf dem Boden durcheinander gelegen, als er ihn vorgefunden hatte. Allerdings griff er sich zuerst das Paracetamol und begann die Tabletten feinsäuberlich aus ihrer Hülle zu befreien, um sie dann unrühmlich ins Klo zu werfen. "Ihr Mistviecher habt schon genug Schaden angerichtet", murmelte er. Dann besah er sich das Mirthazapin. Er hatte keine Ahnung, für was es gut war, aber die Dosierung des Wirkstoffes alleine reichte ihm schon aus, um es als gefährlich einzustufen, wenn man zuviel davon nahm, also ließ er es dem Paracetamol folgen. Kurz überlegte er, aber dann ließ er das Aspirin erst mal in Ruhe. Das waren immerhin keine hochdosierten verschreibungspflichtigen Medikamente. Er drückte die Spülung und sah abwesend zu, wie die kleinen tückischen Dinger in den Untiefen des Abwassersystems verschwanden. Sein Blick wurde ernst und abermals verdrängte er den Gedanken, ob er sich da nicht ein bisschen zuviel zugemutet hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)