Sirenengelächter von Blaetterklingen (Halfjack gewidmet) ================================================================================ Kapitel 2: Das Tor der letzten Dunkelheit ----------------------------------------- Das Tor der letzten Dunkelheit Am anderen Ende finde ich mich in der Außenwelt wieder. Die Sonne brennt in meinen Augen, es fühlt sich an, als ob jemand Glaskristalle in meinen Kopf gesteckt hat, die sich langsam von oben herab durch mein Gehirn arbeiten. Die Welt scheint wieder normal zu sein. Doch wo ist sie? Ich will sie rufen, aber... wie hieß sie noch mal? Verflucht, ich habe vergessen, sie nach ihrem Namen zu fragen. Vor mir liegt ein vom Wind gescheuchtes Zeitungsblatt auf dem Boden. Wiederaufbau läuft in Silent Hill Nach dem verheerenden... Bevor ich weiterlesen kann, drängen Menschen aus den Geschäften und allen Türen, selbst die Kanaldeckel öffnen sich und weitere Leute strömen auf die offenen Straße. Alles blonde Frauen im mittleren Alter. Bei meinem Anblick bedecken sie ihre Brüste, ihren Schritt und zucken beschämt zusammen, als ob sie nackt wären. Die gut fünfzig Frauen beginnen zu tuscheln und mich genauer zu betrachten. „Entschuldigung, haben sie ein kleines Mädchen gesehen?“ „Du hast dich dreckig gemacht“, beginnen auf einmal alle wie aus einem Mund zu schimpfen, „wie du wieder aussiehst, musst du denn immer an so schmutzigen Orten spielen?“ Die Kopfschmerzen beginnen zu rasen. „Du musst doch gleich zum Training, der Onkel wartet schon auf dich, ob ich dich noch groß bekomme? Wie soll ich mich je wieder auf dich verlassen können...?“ Ich halte mir die Ohren zu und verliere das Gleichgewicht, mein Kopf platzt gleich. „Du musst lernen lernen lernen deine Pflichten!“ Wieso tut es so weh, liegt es an ihren Worten? Sie sagen doch nichts Schlimmes. „Jetzt beeile dich doch, willst du, dass ich mich wieder schlecht fühle, weil ich dich bestrafen muss?“ Sirenengeheul setzt erneut ein, stockt nach wenigen Sekunden kurz, um dann mit unverminderter Intensität weiter zu dröhnen. Es vertreibt den Kopfschmerz und beendet die Strafrede der Frauen. Die Farbe des Himmels bröckelt ab, rieselt zu Boden und lässt Bäume, Häuser und Straßen überall um mich herum rosten. Die Weiber öffnen ihre Münder so weit, dass diese an der Seite einreißen und sich der Riss über den ganzen Körper ausbreitet. Unansehnlich muskulöse Monster entsteigen den zerteilten Menschen, schütteln den Rest ihrer Hülle von sich ab und kommen langsam auf mich zu. Wieso wird die Welt überhaupt wieder normal, wenn der Zustand keine fünf Minuten anhält? Ich ziehe meine Waffe, ziele auf das mir nächste Ding und schieße. Klick. Falsche Waffe. Ich ziehe die andere und erledige in wenigen Sekunden fünf von den Monstern. Alles Kopfschüsse. Es hat auch Vorteile, wenn der Vater ein Waffennarr ist. Nach dem sechsten Schuss gibt auch diese Pistole nur noch ein resignierendes Klicken von sich. Jetzt könnte ich die Brechstange gebrauchen. Ich sehe mich um, doch finde ich nichts, was ich als Nahkampfwaffe benutzen könnte. „Komm!“, schreit die Kleine, vom Ende der Schneise, welche die Monster respektvoll um ihre Toten herum eröffnet haben und die sich nur langsam wieder schließt. Mit mehr Angst als Adrenalin im Körper renne ich los und weiche, so gut es geht, den Schlägen der aufgepumpten Schreckgestalten aus. Zu meinem Glück sind sie langsam und schwerfällig. Im Vorbeirennen sehe ich eins von den Dingern, das ich erschossen habe. Kein Blut entweicht der Kopfwunde, dafür ist ein Zischen zu hören, als ob Luft einen Ballon verlässt, und es hat eindeutig an Masse verloren. Kurz vor dem Ende des Hindernislaufs erwischt mich einer der Muskelläufer am Rücken und reißt die Wunde weiter auf, die mir der Schwertkönig schlug. Ich spüre, wie das Blut an meinem Rücken herunterläuft und mein T-Shirt verklebt. Wir rennen noch eine Weile vor den Monstern davon, bevor die aufgepumpten Bestien unsere Verfolgung aufgeben. Während der Flucht ist es mir nicht aufgefallen, doch jetzt, da ich keuchend nach Luft ringe, sehe ich, dass es langsam dunkler um uns herum wird. Aber es liegt nicht an mir, mir ist nicht schwindlig und mir wird auch nicht schwarz vor Augen. „Das war knapp“, kommentiert sie meine gerade noch geglückte Flucht. „Hätte nicht gedacht, dass du es schaffst.“ Ich schaue sie wütender an als gewollt, doch sie scheint meinen Blick vollends zu ignorieren. „Wie heißt du eigentlich?“ „Was?“ Ich bin überrascht, dass sie meine Frage vorwegnimmt. „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt, weißt du?“ Sie überlegt kurz. „Du hast ja gleich auf mich geschossen.“ Damit wird sie mich wohl noch eine ganze Weile aufziehen. Naja, das ist ja auch ihr gutes Recht. „Joe heiße ich und wie ist dein Name?“ „Ich bin Averrot.“ „Das ist aber ein merkwürdiger Name für ein Mädchen...“ Eigentlich ist das ein merkwürdiger Name für alles und jeden. „Ich bin doch kein Mädchen, ich bin ein Junge“, behauptet sie und bei all dem Wahnsinn, der seit der letzten halben Stunde hinter mir liegt, will ich ihr fast einspruchslos glauben. „Aha“, entgegne ich dann doch ungläubig und ziehe eine Zigarettenschachtel aus meiner Jacke. Jetzt brauche ich echt eine Kippe. „Und warum trägt ein Junge lange Haare und ein Kleid?“, formuliere ich meinen Zweifel und zünde das Tabakröllchen an. „Weil du keine Frauen magst.“ Mir fällt die Zigarette aus dem weit geöffneten Mund. Der Schmerz der Glut, die sich durch meine Hose gefressen hat, vertreibt den kleinen Schock. „Wie kommst du darauf?“ „Na, dein Herz hat es mir gesagt und du hast ja auch die ganzen Frauen erschossen.“ „Das waren Monster, die mich angegriffen haben!“, verteidige ich mich aggressiver als nötig. „Ich meine... nein, ich habe kein Problem mit Frauen, ich mag Frauen.“ Nachdem ich das ausgesprochen habe, hat sich die Dunkelheit so weit ausgebreitet, dass ich ihr oder sein Gesicht nicht mehr sehen kann. In einiger Entfernung flackert allerdings ein einsames Licht. „Guck mal. Da müssen wir hin“, sagt sie, er meine ich. Ich denke, dass er auf die Lichtquelle zeigt, sehen kann ich es allerdings nicht, und taste mich langsam durch die vollkommene Finsternis. „Und du bist sicher, dass du ein Junge bist?“ „Ja. Hier bin ich ein Junge.“ Endlich angekommen erahne ich, dass es eine Telefonzelle ist und dass das Licht von einer Taschenlampe kommt. Durch das Glas ist zu erkennen, dass die Überdachung teilweise zerstört worden ist. Es muss dieselbe Telefonzelle sein, die ich vorhin benutzte, als mich der Schwertkönig angegriffen hat. Da ist etwas Längliches, Fleischliches, was die Tür mit einer Laterne in der Nähe verbindet und sie fest verschließt. „Du musst es abschneiden“, befiehlt Averrot mehr, als dass er es sagt. „Das ist ja ekelhaft, gibt es keinen anderen Weg?“ „Jetzt sei nicht so ein Mädchen.“ Ich überlege kurz, ob es nicht besser wäre, das Glas der Tür einzuschlagen und mich hindurchzuzwängen. Aber dann kann ich den Ekel doch noch überwinden und zertrenne es mit einem kleinen Taschenmesser, das vor der Tür lose auf dem Boden herumliegt. Mit einer Gänsehaut von dem grässlich schmatzenden Geräusch, das dieses Zeug beim Zerschneiden machte, öffne ich die Tür, trete ein und nehme die Taschenlampe an mich. Hier liegt auch etwas Munition herum, warum auch immer in einer öffentlichen Telefonzelle Munition herumliegt. Dort, wo das Telefonbuch lag, liegt eine alte Zeitung vom 21. 2.: Wieder Amoklauf in Silent Hill Nach dem verheerenden... „Wir müssen uns beeilen“, drängt Averrot mit seiner hohen Stimme und beendet meine Lektüre abrupt. „Wenn wir zu lange an einem Ort bleiben, wird uns der Schwertkönig finden.“ Meine Füße stoßen gegen irgendetwas. Ich nehme die Taschenlampe und überprüfe etwas widerwillig, was das unter mir ist. Puppenteile. Irgendwie erleichtert mich das, ich hatte schon befürchtet, dass hier wieder irgendwas Totes liegt. Aber es ist nur etwas Lebloses. Einerlei. Ich nehme die Munition an mich und verlasse die Zelle wieder. Die Dunkelheit ist wirklich unglaublich, wir sind in irgendeine Richtung gegangen, mein Orientierungssinn versagt total. Das Licht der Taschenlampe erhellt nur einen winzigen Ausschnitt meines Sichtbereiches, verdrängt die Finsternis nur punktuell. Ab und an schwenke ich mit der Lampe im Kreis um mich herum. Da ist ein Geräusch, ein Schaben von Metall und knackendes Schmatzen von Kakerlakenlauten. Der Schwertkönig? Ich kann ihn nicht ausmachen. „Hörst du das auch?“ „Ja“, bestätigt Averrot meine Wahrnehmung. Irgendwie wäre es mir lieber gewesen, wenn ich paranoid geworden wäre. Aber was soll ich tun, außer einen Schritt vor den anderen setzen? Ich kann ja nicht das Licht ausmachen, mich hier verkriechen und hoffen, dass er uns nicht findet. Leider. Doch der Gedanke, länger als unbedingt nötig in dieser Stadt zu bleiben, ist nicht weniger aufreibend, als es das Geräusch ist. Seit wann irren wir schon durch diese alles aufzehrende Dunkelheit? Ich wüsste zu gerne, wo wir hier sind, doch ich habe keine Karte von diesem Gebiet. „Sieh mal“, sagt Averrot und ich habe nicht die mindeste Ahnung, wo er hinzeigen könnte, doch das ist auch nicht notwendig. Ich sehe es ebenfalls. Wenn man das Sehen nennen kann. Da ist etwas in der Finsternis, was... nun... noch schwärzer ist als die uns umgebende Dunkelheit. Ich nähere mich ein paar Schritte. „Geh nicht“, sagt der Kleine und mein eigener Instinkt bestätigt seine Warnung, doch es zieht mich noch stärker zu diesem Tor hin, als alle Angst... Tor? Wieso Tor? Was denke ich da? Was auch immer es sein sollte, es ist kalt und die Oberfläche fühlt sich rau und spröde an, wie massives Metall. Wo meine Hand war, erscheinen matte Buchstaben, die ich vermutlich nur durch den düsteren Hintergrund, von dem sie sich abheben, erkennen kann: Erst wenn die tänzelnde Maschine zur Ruhe gekommen ist, wird sich das Tor der letzten Dunkelheit öffnen. Es ist fast schon erleichternd, zu wissen, dass man in der ganzen Dunkelheit nicht einfach nur im Kreis gelaufen ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, was der Spruch zu bedeuten hat. „Joe“, flüstert Averrot mit beunruhigter Stimme. Instinktiv ziehe ich meine Pistole und ziele in die weite schwarze Leere vor meinen Augen. Erst jetzt fällt mir auf, dass dieses ekelhafte Geräusch, das der Schwertkönig erzeugt, aufgehört hat. „Deine Wunde sieht nicht gut aus...“ „Wie kannst du sie in der Dunkelheit sehen? Blutet sie wieder?“ „Nein, sie... sie rostet.“ „Was soll das heißen, sie rostet?“ Das Kind macht mich noch wahnsinnig... ich hocke mich direkt vor ihn und strahle mit der Taschenlampe auf einen Punkt vor mir auf den Boden. „Wir sollten in das Krankenhaus gehen.“ Ich habe versucht seinen Hals anzustrahlen, damit ich ihm direkt ins Gesicht sehen kann, ohne dass er geblendet ist, doch das Licht hat den kleinen Körper einfach durchstoßen. „Wie sollen wir hier ein Krankenhaus finden?“ Er hebt seine rechte Hand und weist auf irgendetwas in der lichtlosen Tiefe. „Da ist es doch...“ „Was!? Wo?“ „Bist du blind? Da vorne gleich...“ „Ich sehe nichts!“ Der Kleine macht ein entnervtes Geräusch. „Komm einfach mit.“ Nach wenigen Augenblicken öffnet sich einige Meter vor mir eine Tür und gleißendes Licht erfüllt die Dunkelheit in einem ausladenden Kegel, der auch mich erfasst. Ich sehe mich noch einmal um. An den Rändern ist der Übergang vom Licht zur Finsternis unglaublich scharf. Wie eine Wand. Ich will meine Hand in die Dunkelheit strecken und übergangslos tauchen aus ihr erneut die aufgepumpten Muskelmonster auf. Diesmal ziehe ich die Waffe nicht, wer weiß, wann ich wieder Munition finde. Sie kommen mit raschen, obwohl plumpen Bewegungen schnell näher, doch überwinde ich die kurze Strecke bis zur Tür weit schneller und verriegele sie hinter mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)