Der Nachtigall Tod. von Tsuruume ================================================================================ Kapitel 1: Der Nachtigall Tod. ------------------------------ Die Scherben des Glases regneten auf ihn und trotzdem blieb er unbeweglich stehen. Das klirrender Geräusch des berstenden Kristalls klang immer noch in seinen Ohren nach, aber wenigstens musste er dann für einige Augenblicke dieses furchtbare Weinen nicht mehr hören. Zwar sah er die Tränen auf dem Gesicht seiner Schwester, welches ihm von Tag zu Tag fremder wurde, aber das war einfacher. Weil es nicht die Züge von Cordier waren, sondern jene von Gemsilica, das Monster, in das sie sich Tag für Tag mehr verwandelte. Aber ihre Stimme, ihre Stimme war immer noch die seiner kleinen, geliebten Schwester und das war das Schlimmste an der Sache. „Sieh mich an! Sie mich an, Rutil!“ Schrill und hoch durchbrach sie das Klingeln in seinen Ohren, zerrte an seinen Nerven und zwang ihn wieder zurück. Ließ ihn das anblicken, was er am liebsten vergessen hätte. „Sieh dir an, was aus mir wird, Kapellmeister!“ Langsam, unendlich langsam, als würde Blei an jedem einzelnen seiner Glieder hängen, trat er auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke. Sie saß auf dem Boden, war von dem Thron gerutscht, auf dem sie noch viel mehr wie eine überlebensgroße Porzellanpuppe wirkte, als sonst. Die blonden Haare, die einst kupferrot gewesen waren, fielen in Perfektion über ihre Schultern. Große, glänzende Locken, die ihr Gesicht einrahmten. Perfekte, makellose Haut, wo früher kleine Sommersprossen Nase und Wangen bedeckt hatten. Gott, wie sehr er Cordiers Gesicht vermisste. Er hätte alles dafür gegeben, es noch einmal sehen zu können, alles dafür, um in die unschuldigen Tage ihrer Kindheit zurückzukehren. Alles dafür, um die Schuld von seinen Händen zu waschen, die wie Teer daran klebte und sich von Tag zu Tag tiefer fraß. „Sieh, was aus mir wird...“ Cordiers Stimme war nur noch ein leises Flüstern, als sie sich klein vor ihm zusammenkauerte. Wortlos breitete er die Arme aus und umfing damit seine kleine Schwester, die sich wie ein verwundetes Tier darin verkroch. Beruhigend strich er über ihre Haare, während sich jeder ihrer Schluchzer wie ein Messer in sein Herz bohrte. Jeder war eine Anklage für sich, jeder ein Schrei, der ihm seine Schuld ins Gesicht schlug. Und er war verdammt, dieses Bild bis ans Ende seiner Tage zu ertragen. Denn wenn er schon nicht ihren Platz hatte einnehmen können, dann würde er zumindest an ihrer Seite weilen müssen. Eine Erkenntnis, die bitterer als Galle schmeckte und die er einfach nicht mehr schlucken konnte. Der Moment, in dem sie den Kopf hob und ihn mit geröteten Augen ansah und ihm die Frage stellte, vor der er sich am allermeisten fürchtete, machte es nicht leichter zu ertragen. „Du liebst mich doch noch immer, nicht wahr Bruder? Du... du wirst bei mir bleiben, nicht? Weil ich... weil ich die Königin bin, weil...“ Mit einem beruhigenden Laut zog er sie noch enger an sich, drückte ihren Kopf sacht gegen seine Schulter, einerseits, damit sie sich komplett daran lehnen konnte. Andererseits, weil sie dann den bitteren Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen konnte, als er ihr antwortete. „Natürlich.“ Ihr Schluchzen wurde leiser und das Zittern ihres Körpers hörte langsam auf. „Singst du für mich?“ Jetzt, wo sie fast bettelnd klang, da war sie wieder Cordier. „Ich bin die Königin, du musst für mich singen, wenn ich das möchte.“ Ein Schlag ins Gesicht, ein Moment der Hoffnung, gebrochen von der kalten Realität. „Natürlich.“ Immerhin, sie blieb in seinen Armen, eng an ihn gedrückt, als er die Stimme erhob und ihr ein Lied aus den alten Tagen sang, als sie noch zu dritt ihre Tage im Garten verbracht hatten. Als er den Thronsaal schließlich verließ, weil sie ihn wegschickte, da Couc die täglichen Geschäfte mit ihr zu besprechen hatte, fühlte er sich ausgebrannt. Als hätte ihn jemand genommen und alles aus ihm gekratzt, was jemals gewusst hatte, wie es sich anfühlte, zufrieden zu sein. Beide Hände vors Gesicht gepresst lehnte er sich gegen eine der kalten Marmorsäulen und wünschte sich im Moment nichts mehr, als eins mit dem kalten Stein werden zu können. Nicht mehr als eine leblose Puppe, seiner geliebten Schwester gleich. Dann würde er ohne Zweifel immer bei ihr bleiben, aber es würde ihn nicht mehr bedrücken zu sehen, was sie geworden war. Was sie immer noch wurde, dieser hässliche Prozess, denn er nicht aufhalten konnte, ganz gleich, wie sehr er es versuchte. Den er erst in Gang gesetzt hatte... Lächerlicher Narr der er war, ertrug die Konsequenzen seiner eigenen Feigheit nicht, konnte dem, was er angerichtet hatte, kaum mehr entgegentreten, obwohl es ihn selbst vor dem gleichen Schicksal bewahrt hatte. „Du bist widerlich... widerlich, widerlich, widerlich...“, zischend wiederholte er das Wort immer und immer wieder, einer Geißel gleich, die er auf sich selbst niederfahren ließ. Nur der befreiende Schmerz blieb aus, es erreichte nicht den Punkt, den er hatte treffen wollen. „Herr Kapellmeister?“ Müde hob er den Kopf und zog den rechten Mundwinkel in der Andeutung eines leichten Lächelns nach oben. „Du sollst mich doch nicht so nennen, Morion.“ Der Freund aus Kindertagen, der sich nicht verändert hatte. Der immer noch an seiner Seite war, der Cordier auch nie im Stich ließ. Dessen bewundernder Blick für sie sich in all der Zeit niemals verändert hatte. Guter, alter Morion. Wenn er nur ein wenig von seiner Unschuld hätte haben können, er hätte dafür getötet. „Es ist dein offizieller Titel, warum sollte ich es nicht tun?“ Linkisch vergrub er die Hände in den tiefen Taschen seines Mantels und rümpfte die Nase leicht, um die Brille, die ein wenig nach unten gerutscht war, wieder weiter nach oben zu schieben. „Weil ich bei meinen Freunden keinen offiziellen Titel trage, das ist doch... lächerlich.“ Irgendwie schaffte er es, ein breites Lächeln auf seine Züge zu zaubern, ein wenig Erheiterung in seine Stimme zu legen und wirklich gut gelaunt zu wirken. Zumindest fragte Morion nicht nach, also musste die Illusion, die er ihm bot, perfekt sein. In dumpfer Zufriedenheit stieß er sich von der Säule ab und trat näher an ihn heran. „Wohin wolltest du?“ Sorge schlich sich auf die Züge seines Kindheitsfreundes, der einen fast schon ängstlichen Blick in Richtung des Thronsaals warf. „Ich... ich dachte, ich sehe nach, wie es ihr geht. Nur kurz, vielleicht hat sie ein wenig Zeit.“ Sein Egoismus hatte nicht nur ein Leben zerstört. Er war auch über dieses hier getrampelt, nur viel leiser. Fast schon unbemerkt, weil Morion sich niemals beschwerte. Der ständig übende, ihm nacheifernde Freund, der krampfhaft darum bemüht war, mit seiner Stimme die Perfektion zu erreichen, die ihm angezüchtet worden war. Er hätte sie ihm gerne geschenkt, diese verfluchte Gabe. Mit beiden Händen hätte er sich die Stimmbänder herausgerissen und sie ihm in die Finger gedrückt, wenn er nur etwas damit hätte ändern können. „Couc ist gerade bei ihr, ich... weiß nicht, ob du wirklich hinein solltest.“ Bedrückt nickte er, zog die Schultern ein wenig nach oben, als könnten sie ihm Schutz geben und blickte wieder verstohlen neben sich. „Nun, dann... warte ich, bis er ihn wieder verlässt, dann hat sie sicher einen Augenblick Zeit für mich.“ Ein verlogenes Lächeln. Ein gelogenes, aufmunterndes Klopfen auf seinen Rücken. Geheuchelte Zustimmung. Und das, wo er wusste, dass Morion wie ein geschlagener Hund vor der Tür warten würde, bis sie jemand öffnete, um dann hineinzuschleichen, nur, um ein paar Augenblicke bei ihr sein zu können. Weil er derjenige war, der das Versprechen, für immer bei ihr zu bleiben, auch halten würde. Halten konnte, ohne sich dabei selbst zu verachten oder gegen den Reflex, zu flüchten, anzukämpfen. Er beneidete ihn um diese bedingungslose Zuneigung zu ihr. Er hasste ihn dafür, dass er es konnte. „Ich wollte dich aber auch gar nicht weiter aufhalten, du hast sicher... wichtige Dinge zu erledigen, nicht?“ Ihm war klar, dass Morion darauf wartete, dass er es verneinte. Dass er ein wenig Zeit mit ihm verbringen würde, hier ein wenig warten. Aber er konnte ihm diesen Gefallen nicht tun. Zu sehr widerte es ihn an zu sehen, wie er selbst hätte sein müssen, um gleichzeitig zu wissen, dass er es niemals sein konnte. „Richtig, das tut mir auch wirklich leid, ich...“ Sein Gegenüber hob die Hand mit einem offenen Lächeln und winkte einfach nur ab. „Entschuldige dich nicht dafür. Der Posten des Kapellmeisters ist ein sehr verantwortungsvoller, du solltest deine Pflichten nicht vernachlässigen, nur, weil ich nicht weiß, was ich mit meinem Tag anfangen muss.“ Guter, alter Freund. Er gab ihm neben der Ausrede, warum er ihn einfach hier zurück lassen konnte, auch noch einen weiteren Grund, um diese zu untermauern. Irgendwann würde er es ihm zurückgeben. Aber vermutlich wohl nie, weil es eine leere Phrase bleiben würde, wie all das, was er seiner Schwester versprach, nur, damit sie aufhörte zu weinen. Seine Hand hob sich wie von selbst zum Abschied, berührte Morions Schulter und drückte sie aufmunternd, ehe er ihm den Rücken kehrte und ging. Am liebsten wäre er gerannt, eine kopflose Flucht durch diese Gänge, einfach nur fort, fort, fort. Diesen Ort hinter sich lassen und all ihre traurigen Gestalten, die ihn bevölkerten. Dieses Drama, das er selbst verfasst hatte, nur, um zu vergessen, wie es enden konnte. Aber er blieb äußerlich ruhig, eine lächelnde Marionette, die jeden, der ihm begegnete, freundlich grüßte, ein perfektes Bild, genau das wiederspiegelnd, was die Leute von ihm erwarteten... er konnte es keinen Tag mehr länger ertragen. Er würde es beenden müssen, er würde... Die Lippen schmal zusammengepresst, blieb er mitten im Gang stehen und warf einen Blick aus dem Fenster, vor dem sich die Ausläufer der Landschaft erstreckten, die das Schloss umgaben. Was hätte er dafür gegeben, das Land sehen zu können. Jeden noch so entfernten Ort, einfach unterwegs, immer, immer, immer unterwegs, immer das Wissen im Kopf, nie mehr hierher zurückkommen zu können. Aber er war ein feiger Hund, er würde niemals die Stärke besitzen, fortzulaufen. Er würde Tag für Tag wieder hier stehen, sehnsüchtig aus dem Fenster blicken, davon träumen, wie es sein konnte, ein Teil der fremden Welt dort zu sein, aber es niemals werden. Das Gras dort draußen würde niemals unter seinen Füßen liegen, er war dazu verdammt, ewig die staubige Luft des Palastes zu riechen, die sich in seine Lungen einnistete und alles verpestete. Manchmal, wenn er hier stand und die Finger gegen das kalte Glas presste, wünschte er sich, er hätte Cordiers Platz eingenommen. Den Platz, der eigentlich ihm zugedacht gewesen war. Wo war der Unterschied dazwischen, eine Puppe auf dem Thron zu sein, die langsam den Wahnsinn anheim fiel und die immer mehr ihrer Gefühle verlor oder seiner Stellung? Es gab keinen, aber das hätte er vielleicht vorher wissen müssen. Aber wahrscheinlich hätte er sich dann auch nicht anders entschieden. „Ich habe gelesen, dass es Leute gibt, die ihre Haare, wenn sie lang genug sind flechten, sie aus dem Fenster hängen und dann darauf warten, dass jemand daran nach oben klettert und sie rettet. Ist es das, worauf du wartest? Dann müsstest du das, was da so unordentlich herumhängt aber in eine Form bringen, die jemandem hilft.“ Ruckartig drehte er den Kopf in die Richtung, aus welcher diese leicht spöttische Stimme gekommen war. Und das erste, ehrliche Lächeln dieses Tages galt seinem Schützling, der, die Arme vor der Brust verschränkt, ihn abschätzig ansah. Er wollte weder wissen, wie lange er hier gestanden und nach draußen gestarrt hatte, noch, wie lange sie schon hinter ihm gestanden und ihn beobachtet hatte. Es gab Tage, da hatte er das Gefühl, dass Spinell die meiste Zeit ihres Tages damit verbrachte, ihm zumindest mit Blicken auf Schritt und Tritt zu folgen und das, obwohl er längst nicht mehr als ihr Tutor fungierte, sondern sie nur noch ab und an besuchte, sich ihre Fortschritte ansah und sich ihren Launen aussetzte. Weil sie das letzte, normale war, das ihm hier geblieben war. Sie hatte sich nicht verändert und ihr war es egal, was aus ihm geworden war. Sie war ruppig wie immer, weigerte sich, ihn mit Samthandschuhen anzufassen und drang an manchen Tagen bis in die Tiefe seines Wesen vor. Er hätte nicht gewusst, was er getan hätte, wenn es sie mit einem Mal nicht mehr geben würde. Seinen letzten Zufluchtspunkt in dieser Welt, der Anker, den er dringend brauchte, um zu überleben. Ja, wenn er es genau betrachtete, dann nutzte er sie nur aus, wie jeden anderen Menschen in seiner Umgebung. Er war ein Egel, der sich so lange vollsaugte, bis man ihm nichts mehr geben konnte und dann fiel er ab, um sich das nächste Opfer zu suchen... vielleicht war Spinell bald leer, vielleicht war ihre bis jetzt unterschütterliche Zuneigung und Treue zu ihm bald erschöpft... ihm graute davor. „Ich glaube nicht, dass ich von jemandem gerettet werden möchte, der an meinen Haaren nach oben klettert. Ganz zu schweigen davon, dass ich nicht gerettet werden muss.“ Grinsend drehte er sich ganz zu ihr um. „Und warum starrst du dann aus dem Fenster, als würdest du ganz dringend auf etwas warten?“ Wenn sie jetzt noch auf ihn zukam und seine Kleidung zurecht zog, dann war es wirklich wie früher. Aber nein, sie hielt Abstand und wartete stattdessen auf eine Antwort. Die er ihr nicht geben konnte, weil... was sollte er dazu sagen? Wobei, wo sie gerade bei Fragen waren, hier gab es eine, die er sehr gerne geklärt gehabt hätte. „Was tust du eigentlich hier?“ Sie hatte ihn so überrannt, erst jetzt hatte sein Kopf mit Nachdruck erklärt, dass sie eigentlich nicht hier sein konnte. Und wenn sie nicht einfach eine Einbildung seines überreizten Geistes war, der sich jemanden wünschte, der seine Schwächen kannte und an dem er sich wieder nach oben ziehen durfte, dann musste es eine logische Erklärung geben. Spinell legte ihre Stirn in viele kleine Falten und er konnte in ihrem Gesicht ablesen, dass sie gerade abwog, ob sie eher antworten oder darauf hinweisen wollte, dass es ihm rein gar nichts bringen würde, vom Thema abzulenken, ehe sie schließlich den Mund öffnete: „Ich habe die Erlaubnis bekommen, die Schüler zu begleiten, die Teil des Orchesters werden, weil...“ Der Blick wurde ein wenig unsteht und er stellte amüsiert fest, dass ihre Wangen sich leicht rötlich färbten. „... weil ich dich lange nicht mehr gesehen habe und ich dachte, vielleicht... wenn ich hier bin, hättest du... Zeit. Ein wenig.“ Vor ein paar Monaten noch wäre ihm warm ums Herz geworden und er hätte sich ehrlich darüber gefreut, aber jetzt war da nichts. Was er gerne getan hätte, wäre sie fortzuschicken. Weil sie diese verkleidete Puppe, die er war, nicht sehen sollte. Weil er ihr jetzt nicht das geben konnte, was sie in ihm suchte, weil... Gott, die Gründe waren elend viele, die Liste war unendlich lang, wahrscheinlich überblickte er sie längst selbst nicht mehr und... Spinells schnipsende Finger direkt vor seinem Gesicht rissen ihn wieder in die Gegenwart. „Man hört nicht einfach auf zu reden, Rutil, das ist unfassbar unhöflich.“ Ein nervöses Lachen kroch aus seiner Kehle und er strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ja, ich weiß... verzeih mir, ich... bin nicht ganz bei mir.“ Der Kopf des Mädchens legte sich leicht schief. „Na das wäre mir ja von alleine absolut und überhaupt gar nicht aufgefallen.“ Sie schnalzte abschätzig mit der Zunge und hängte sich mit einem Mal einfach an seinen Arm. „Dann wirst du dich jetzt auf mich konzentrieren, damit du den Weg aus der Gegenwart nicht mehr verlierst, würde ich vorschlagen. Und komm mir nicht mit der Ausrede, dass du wichtige Dinge zu erledigen hättest, denn wenn der Herr Kapellmeister der Königin mehrere Stunden aus dem Fenster starren kann, dann kann er auch ein paar Stunden mit mir verbringen. Ich bin erheblich besser geworden.“ Sie lachte auf, ein seltener, warmer Laut und er ergab sich der Sache. Ließ sich davon anstecken, einfach mitziehen, wie ein Unbeteiligter, der krampfhaft versuchte, zurück in ein Leben zu kommen, dem er seit langer Zeit einfach nur noch zusah, wie ein Gast im Theater, ohne das, was gespielt wurde, zu verstehen. Und während er krampfhaft versuchte, sich daran zu erinnern, wie er sich damals in ihrer Gegenwart immer gefühlt hatte, anstatt darüber nachzudenken, was er tun musste, um sie von sich fernzuhalten, damit sie nicht am Ende ebenfalls eines seiner Opfer wurde, schlich sich das, was sie ihm vorsang, fast unbemerkt in sein Herz. Ihre Stimme war gereift, hatte einen vollen Klang bekommen und sie schien sich endlich nicht mehr dafür zu schämen. Er war stolz auf sie. Unheimlich stolz. Und wie gerne hätte er den Moment eingefroren und den Rest seines Lebens mit sich herumgetragen, damit er, immer dann, wenn das Elend ihn zu überfluten drohte, einfach aus der Tasche ziehen und ansehen konnte. Er musste es ändern. Er musste es beenden. Er musste irgendetwas tun. Die Erkenntnis, vor der er sich so lange verkrochen hatte, war unaufhaltsam näher gekommen, hatte ihn eingeholt und stellte ihn vor eine endgültige Wahl. Begleitet von Spinells Gesang saß er der eigenen Feigheit gegenüber und schrie ihr stumm entgegen, dass sie ihm nichts mehr zu befehlen hatte. Er würde seine kleine Schwester vor sich selbst retten. Er würde ihr diese Bürde aus den Händen reißen. Er würde jemanden finden, den er an ihrer statt auf diesen Thron setzen konnte, jemand, der ihm egal war. Dann würde aus Gemsilica wieder Cordier werden und alles, alles würde wieder wie früher sein. Sie glücklich und er ohne Schuld. „Und?“ Spinell sah ihn mit großen, strahlenden Augen an, erwartete ein Lob, aber in seinen Ohren klang es viel mehr, als würde sie ihn danach fragen, ob er bereit war, aus der Apathie zu erwachen, in die er sich wie in einen Kokon eingehüllt hatte. „Wundervoll.“ Das meinte er ernst. Das meinte er wirklich, wirklich ernst. Denn wenn er jetzt gehen würde, um das zu tun, was er von Beginn an hätte tun sollen, dann wollte er, dass sie ihn in guter Erinnerung behielt. Dass sie an ihn zurück denken und dabei lächeln konnte. Weil er tief in seinem Inneren ahnte, dass das hier ein Abschied werden würde. Von allen. Und er konnte es ihnen nicht einmal direkt sagen. Er würde alles verpassen, wie sie zu einer erwachsenen Frau werden würde, um die sich die Männer wahrscheinlich rissen – und er konnte es ihnen jetzt schon nicht verübeln – wie Morion endlich einen Platz fand, an dem er bleiben konnte und den Moment, in dem er mit seinem Gesang endlich das erreichen würde, was er sich von jeher wünschte. Aber das war im Vergleich zu dem, was er an Last von seinen Schultern nehmen konnte, ein geringer Preis. Am Ende waren sie glücklicher ohne ihn. Glücklicher ohne ihn. Ein Mantra das er den Rest des Tages stumm immer wieder und wieder abspulte. Als er sich von Spinell verabschiedete und ihr erklärte, dass sie sich morgen wieder sehen würden. Als er Couc darum bat, noch einmal mit der Königin sprechen zu können, weil es wichtig sei. Als er den Thronsaal betrat und er der Hülle, in der irgendwo noch die Seele seiner Schwester steckte, ein falsches Lächeln schenkte. Irgendetwas würde heute Nacht ein Ende finden. Ob es nun das Leben der Königin oder das Leben des Kapellmeisters war, konnte er er in dem Zeitpunkt, als die schwere Tür mit einem dumpfen Laut hinter seinem Rücken ins Schloss fiel nicht sagen. Hauptsache ein Ende. || Fin » Intermezzo # 1: Gemsilica Kapitel 2: Intermezzo # 1: Gemsilica ------------------------------------ Sie schrie. Schrie, bis sie das Gefühl hatte, ihre Kehle würde bluten, ihre Stimmbänder wären gerissen und sie könnte nichts mehr weiter tun. Es war ihr egal, ob die Diener, die es hörten, tot zu Boden stürzten. Es war ihr egal, ob die Menschen um sie herum Schmerzen litten, nein, vielmehr wollte sie, dass sie litten. Damit sie einen Teil ihrer Schmerzen wahrnehmen konnten, an denen sie alle Schuld trugen. Weil sie das Monster, das sie war, nur geworden war, damit sie jemanden hatten, zu dem sie aufsehen konnten. Damit ihr Bruder... Fast hätte sie schon wieder Luft geholt, aber sie verstummte. Sank auf dem Thron zusammen, der immer noch kalt und unbequem war wie am ersten Tag, als würde er sie selbst abstoßen und starrte auf den Boden zu ihren Füßen. Wenn sie sich anstrengte, dann konnte sie immer noch die Toten sehen, die durch seine Hand und ihren Wunsch gefallen waren. Manchmal half das, aber heute... heute half es nicht. Sie quälten immer noch die Alpträume, die Vorwürfe, die Zweifel und allem voran der schleichende Wahnsinn, der sich aus den Tiefen ihres Hirns nach oben arbeitete und alles auffraß, was sie jemals ausgemacht hatte. Er hatte ihr gesagt er würde sie lieben. Er hatte ihr versprochen, er würde immer bei ihr bleiben. Alles war nichts weiter als eine Lüge gewesen. Er hatte ihr diesen grauenvollen Körper aufgezwungen, weil er ihn selber nie hatte haben wollen, hatte sie an diesen Palast gefesselt und zog nun selbst draußen herum. Sicher, auf ihren Befehl, aber er hätte auch hier bleiben können. Jetzt und hier hätte sie gewollt, dass er neben ihr sitzen musste. Wie sie selbst nicht mehr als eine Puppe, bewegungslos, bis sie ihm erlaubte, etwas für sie zu tun, weil er ihr gehörte. Weil sie die Königin war und ihr Wort war Gesetz. Sollte er ruhig glauben, dass er damit davon kommen konnte. Sollte er die Zeit genießen, die ihm noch blieb. Sie würde immer wissen, wo er war. Sie würde immer wissen, wer mit ihm reiste. Und sobald er den geringsten Fehler machte, würde sie ihn dafür bestrafen lassen. Was sie wollte, war ihn am Boden sehen. Er würde zerbrechen unter ihren Füßen, er würde sich in Qual winden, die er sich in diesem Moment nicht im geringsten vorstellen konnte. Das, was er ihr angetan hatte, würde sie ihm tausendfach zurückzahlen. Alles, was er liebte, würde sie zertrümmern und ihm ein Schloss daraus bauen, in dem er den Rest seines wertlosen Lebens würde verbringen dürfen. Niemals mehr würde er es wagen, Hand an sie zu legen. Niemals mehr würde er es wagen, sie zu verletzen. Niemals mehr. || Fin Intermezzo # 1: Gemsilica » Intermezzo # 2: Morion. Kapitel 3: Intermezzo # 2: Morion --------------------------------- Gewidmet ist das Kapitel . °oOo° Was hätte er dafür gegeben zu wissen, was ihn genau erwartete. Der Gang schien endlos lang, die Wache, die ihn geholt hatte, war stumm wie ein Fisch und so hatte er nur seine eigene Phantasie, um sich auszumalen, warum die Königin ihn sehen wollte. Und die malte in den schwärzesten Farben, was da auf ihn wartete. Seitdem Rutil nach seinem feigen Anschlag gegangen war, war sie nicht mehr sie selbst. Ihm war es nicht erlaubt gewesen, sie zu sehen, obwohl er sich wie ein krankes Tier immer und immer wieder vor der Tür herumgedrückt hatte, darauf wartend, dass er wenigstens einen Blick auf sie erhaschen konnte. Um zu wissen, ob es ihr gut ging, ob er ihr irgendwie helfen konnte und wenn es nur darin bestand, ruhig neben ihr zu sitzen und ihr zuzuhören. So, wie es früher gewesen war. Was hätte er dafür gegeben, Rutil gegenüber zu stehen. Ins Gesicht gespuckt hätte er diesem feigen Verräter, ihn angebrüllt und gefragt, was bitte in seinem Kopf vorging, dass er eine solche Sache tun konnte. Er hatte doch alles gehabt. Die beste Position, die man im Schloss haben konnte, seine Schwester, der er damit helfen konnte, und Freunde, die ihn umgaben. Er hatte immer alles gehabt, hatte niemals für etwas arbeiten müssen, weil ihm immer alles in den Schoß fiel und jetzt, jetzt stahl er sich einfach davon. Nein, er war nie neidisch gewesen. Sicher, es hatte einfachere Existenzen gegeben, als seine im Schatten dieses perfekten Wunderkindes, aber er hatte es nie anders gewollt. Rutil und Cordier – in Gedanken war es in Ordnung, sie noch so zu nennen, niemals hätte er es in ihrer Gegenwart laut ausgesprochen – waren die Freunde gewesen, die er mehr gebraucht hatte, als alles andere. Und gerade Cordier... alles, was er je hatte tun wollen, war für sie da sein, alles, was er je hatte hören wollen, war ein Lob aus ihrem Mund für seinen Gesang. Dass er genauso gut klang wie der ihres Bruders. Oder das sie ihm zumindest genau so gerne lauschte... Die Wache öffnete schweigend die Tür und bedachte ihm einzutreten. Der Thronsaal lag im gleißenden Licht der Mittagssonne, die direkt durch das Fenster strahlte, vor welchem ihr Thron stand. Teils, weil es so angeordnet war, teils, weil er gar nicht in der Lage gewesen wäre, es lange anzusehen, dieses helle Licht, das seine Netzhaut auszubrennen drohte, senkte er demütig den Kopf. „Meine Königin, Ihr habt nach mir rufen lassen?“ Das erste, was er hörte, war das leise Rascheln ihres Kleides, dessen Saum er undeutlich aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte. Es schien, als stünde sie auf und würde tatsächlich näher auf ihn zukommen. Unsicher hob er den Kopf ein kleines Stück – und tatsächlich, sie hatte sich erhoben, um sich ihm zu nähern. „Ja, das habe ich durchaus... sieh mich an.“ Blinzelnd hob er das Kinn wieder an, darum bemüht, etwas mehr zu erkennen, als nur ihre Umrisse, aber es wollte ihm nicht so wirklich gelingen. Sie war eine strahlende Erscheinung, in der Tat und er konnte fühlen, wie sein Herz sich mit all den ungehörigen Empfindungen füllte, die er seit Kindertagen hegte und die er niemals hatte ablegen können. Ihre Hülle würde ihm immer egal sein. „Was kann ich für Euch tun?“ Wieder keine sofortige Antwort, sondern nur das Raffen der Röcke und dann begann sie ihn langsam zu umkreisen, einem Raubvogel gleich und er, der nicht wusste, ob es ihm nun gestattet war, ihr nachzusehen oder gar noch einmal nachzufragen, blieb stehen, senkte den Kopf einfach wieder, betrachtete die eigenen Schuhspitzen und harrte der Dinge, die da kommen mochte, in der Form ihrer Stimme, die sie erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder erhob. „Du weißt, wie sehr mein Bruder mich enttäuscht hat, nicht wahr?“ Ein Nicken. Natürlich wusste er es, wie hätte man sich dem auch verschließen können? Seine eigenen Gedanken kreisten doch um nichts anderes mehr. „Und kannst du dir vorstellen, wie sehr mich das getroffen hat, Morion? Kannst du?“ In den ruhigen, fast heiteren Tonfall, den sie angeschlagen hatte, mischten sich erste Ansätze von Hysterie, die Stimme wanderte in höhere Tonlagen und er konnte hören, wie ihre Schritte hektischer, trippelnder wurden. Wäre es ihm erlaubt, er hätte die Hand nach ihren Fingern ausgestreckt, hätte sie gehalten und gedrückt und ihr gesagt, dass es nichts gab, worüber sie sich aufregen musste. Dass alles gut werden würde, irgendwie. Aber alles, was ihm blieb, war wieder nur einfach ein Nicken. Und die Königin blieb stehen. In seinem Rücken. „Kannst du das... wirklich?“ Ein Zischen, das wie Messer durch seine Wirbelsäule schnitt und seine Kehle zog sich ängstlich zusammen. „Kannst du wirklich nachvollziehen, wie es ist, von dem Menschen, dem du am meisten vertraut hast, im Stich gelassen zu werden, Morion? Wie es sich anfühlt zu erfahren, dass dein Bruder, dein eigener Bruder, dich töten will? Dass ihm alles wichtiger ist, als ich? Dass er lieber aus dem Schloss flieht, als mein Gesicht noch einen Tag länger zu ertragen? Kannst du dir das wirklich vorstellen?“ Harpyiengleich war ihre Stimme, flog die hohen Wände des Saals nach oben, brach sich vielfach an der Decke und ließ im schrillen Echo die immer gleiche Frage in seinen Ohren und seinem Kopf widerhallen. Kannst du dir das wirklich vorstellen? Nein, wahrscheinlich nicht. „Verzeiht... verzeiht meine törichten Worte.“ Wieder nur ein Rascheln, als sie anfing, sich wieder zu bewegen. „Dir sei verziehen.“ Zurück in dem heiteren, singenden Tonfall. Er wusste nicht, ob es ihm Angst machen oder ob es ihn beruhigen sollte. Aber in seinem Magen bildete sich ein kleiner, beunruhigter Knoten. „Denn heute ist nicht der Tag, um wütend zu sein, Morion, ich habe gute Nachrichten für dich.“ Sie klatschte in die Hände, wie ein kleines Kind, das etwas wundervolles zu verkünden hatte und sich jetzt selbst bejubelte. „Freust du dich?“ „Sicher.“ Ja, seine Mundwinkel verzogen sich tatsächlich in einem leichten Lächeln. Er mochte Überraschungen. Und er wollte nicht daran glauben, dass sie etwas Schlechtes für ihn geplant hatte. Er... konnte es ihr einfach nicht zutrauen, immerhin war er immer treu an ihrer Seite gewesen. Anders als Rutil, denn er trug keine Hintergedanken in sich. Keinen Tag lang. „Gut.“ Wieder klatschte sie, nur dieses Mal weniger, um sich selbst zu bejubeln, als mehr, um zwei Diener hereinzubitten. „Sieh dir an, was sie dir bringen, Morion!“ Langsam drehte er den Kopf und mit einem Mal war seine Kehle wieder trocken und eng. Nur nicht aus Angst, sondern aus purem Erstaunen, dass sich in unbändige Freude verwandelte. Was sie trugen, war die offizielle Kleidung des Leiters des königlichen Orchesters. Die Robe, die Rutil so schändlich befleckt hatte, erstrahlte wieder in ihren alten Farben und die Strahlen der Sonne brachen sich glänzend in der goldenen Brosche, die den Stoff zusammenhielt. „Ist das... ist das Euer Ernst?“ Eine dumme Frage, aber noch konnte der Kopf das, was die Augen sahen, nicht ganz verarbeiten. Die Ehre, die ihn von den Füßen fegte, machte ihn stammelnd. Aber anstatt ihn zurechtzuweisen, weil er es wagte, ihre Entscheidung in Frage zu stellen, lachte sie einfach nur hell und unbeschwert auf – Cordiers Lachen – und wies die Diener an, ihn anzukleiden. Mit dem Rücken zu ihm, den Blick aus dem Fenster, wartete sie. Und er, er ließ sich wie betäubt in das Gewand kleiden, sah zu, wie seine alten Sachen verschwanden, fühlte den teuren Stoff auf seiner Haut und zeichnete mit den Fingern wie von Sinnen das Emblem des Orchesters nach. Königlicher Kapellmeister. „Oh, es steht dir ausgezeichnet. Viel besser als diese grauenvollen Kleider, die du bis jetzt getragen hast.“ Morion hatte nicht bemerkt, dass sie sich ihm wieder zugewandt hatte. Unwillkürlich färbten seine Wagen sich rot, aber sie sah großzügig darüber hinweg. „Du wirst mich nicht enttäuschen, nicht wahr, Morion? Nein... Graf Stilbit!“ Langsam, ganz langsam schüttelte er den Kopf, ignorierte den lauernden Klang ihrer Stimme. Graf Stilbit. Leiter des königlichen Orchesters. Des offiziellen königlichen Orchesters... „Gut. Denn ich erwarte Großes von dir, hast du mich verstanden? Und antworte mir in Worten, dieses Nicken ermüdet mich.“ Sprach's und ließ sich wieder auf dem riesigen Thron nieder, blickte auf ihn herab, wie ein Riese auf sein neues Spielzeug. „Ich habe Euch verstanden, meine Königin.“ Klar und deutlich. „Deine Stimme mag zwar bei weitem nicht an die meines Bruders herankommen“ Ein offener Schlag ins Gesicht, der ihn kurz zusammenzucken ließ. „aber was deine Loyalität angeht... du warst immer auf meiner Seite, nicht? Du wirst immer bei mir bleiben... du wirst mich nicht enttäuschen und einfach aufhören, für mich zu singen... du nicht...“ Ihm war nicht klar, ob sie noch mit ihm sprach oder längst nur noch mit sich selbst. Oder einem Dritten, den er nicht wahrnehmen konnte... War es Zeit, Angst um sie zu bekommen? Vielleicht... aber alles, was ihm bleiben würde, hier und jetzt, war für sie zu singen, bis sie seine Stimme so sehr liebte wie die ihres Bruders. Sie zu erheitern und zu halten, falls sie fallen sollte. Selbst, wenn er daran zugrunde gehen würde. Dass er keine Antwort gab, schien sie nicht zu stören, zu sehr schien sie in der eigenen Welt zu hängen und es war Couc, der ihm schließlich gebot, sich zu entfernen. Und er tat es. Kam fast bis zur Tür, als sie ihre Stimme noch einmal erhob. Der Tonfall scharf, abfällig, fast angewidert, so, wie er ihn noch nie gehört hatte. „Und Morion, was die Brille angeht... setz das Ding ab. Wirf es weg. Ich hasse sie. Ich will sie nie wieder in deinem Gesicht sehen, hast du verstanden?“ Irritiert wandte er sich zu ihr, wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber ehe er auch nur dazu ansetzen konnte, schrie sie ihm ein „Sofort!“ entgegen und er tat, wie ihm geheißen. Nahm die Brille ab, warf sie zu Boden und trat auf die Gläser. Das Knirschen brannte in seinen Ohren, wie eine Warnung dafür, dass er etwas wichtiges übersehen hatte, in all diesem Durcheinander, aber dass es ihn jetzt auch nicht mehr zu kümmern hatte, denn jetzt war es zu spät. Er war Graf Stilbit. Und er würde das Orchester für die Königin nach ihren Wünschen leiten, bis er starb. Einen anderen Inhalt seines Lebens gab es nicht mehr. || Fin Intermezzo # 2: Morion » Intermezzo # 3: Spinell. Kapitel 4: Intermezzo # 3: Spinell ---------------------------------- Hin und wieder ertappte sie sich noch dabei, dass sie einen Blick auf ihr Bett warf und sich fragte, wo die Puppe war, die dort gesessen hatte. Bis die Erkenntnis mit dem Schlag kam. Die kurzen, bruchstückhaften Erinnerungen daran, wie sie das Spielzeug zerfetzt und weggeworfen hatte, weil es das Letzte gewesen war, was ihr von ihm geblieben war, außer den Dingen in ihrem Kopf, die sie nicht herauskratzen konnte, ganz egal, wie sehr sie sich darum bemühte. Kurz war es gewesen, das Gefühl der Befriedigung, als die bunten Überreste von Stoff, Füllung und Wolle zu ihren Füßen gelegen hatten, bis es wieder von den bitteren Tränen einer Verlassenen hinweggespült worden war und sich schlussendlich in das verwandelt hatte, was ihr Herz zu einem kalten, schweren Klumpen in ihrer Brust machte: Hass. Eine Art, die sie nie zuvor kennen gelernt hatte. Er glich nicht der Wut, die sie ihren Eltern entgegenbrachte, obwohl auch diese sie allein gelassen hatten. Profit daraus geschlagen, ihre einzige Tochter verkauft, ohne darüber nachzudenken, wie es ihr ergehen mochte, an dem Ort, an dem sie als nächstes landen würde. Nein, es war... bitterer. Verzweifelter. Sie hatte Rutil vertraut, sie hätte ohne zu Zögern ihr Leben für ihn gelassen. War an seinen Lippen gehangen, hatte jedes seiner Worte aufgesogen und vor allem hatte sie ihm all das, was er ihr gesagt hatte, geglaubt. All die honigsüßen Lügen, die Sirenengesänge, die seine Kehle hervorgebracht hatte, dummes, kleines Ding, das sie gewesen war. War der Illusion nachgehangen, dass sie für den Rest ihres Lebens an seiner Seite würde sein können. Wohl nicht als Mitglied des Orchesters, aber etwas anderes hätte sich doch gefunden. Sie hätte ihm die Schleppe des Kapellmeistergewandes nachgetragen, wenn es nur bedeutet hätte, in seiner Nähe sein zu können. Er hätte nicht einmal ihre Gefühle erwidern müssen... Ein hartes Auflachen kroch über ihre Lippen und hing schwer unter der Decke. Verliebt. Man hatte gesagt, dass das ihr Zustand sei. Das flatternde Herz, das Betteln um Aufmerksamkeit, selbst, wenn sie es hinter Gemeinheiten versteckte, das stille Glück, wenn man einfach nur in der Nähe sein konnte... Fort. Erschlagen ohne Mitleid, mit eiskalter Miene. Mit so wenigen Worten hatte er ihr das Herz aus dem Leib gerissen und unter seinem Absatz zerquetscht. Selbst jetzt, wo es so weit entfernt war, wurde ihre Kehle immer noch eng, wenn sie sich daran erinnerte. Die Leichen, vor denen er stand, das befleckte Gewand, die Haare, die schwer waren vom Blut der Getöteten, das Gesicht im Hass verzerrt und die Stimme... die sie so noch nie bei ihm gehört hatte. Eiskalt, schneidend, vernichtend... als hätte sie ihm niemals etwas bedeutet. Und wahrscheinlich war es genau so gewesen. Alles, was sie jetzt noch lernen musste, war damit umzugehen. Zu erkennen, das die Welt ein Ort war, der den Menschen, die auf ihm lebten, nicht wohlgesonnen waren. Jeder war nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und wer das übersah, der ging unter. Der kalte Egoist schwamm oben. Raffte das Glück zusammen. Dazu würde sie werden müssen. Dazu wollte sie werden. Die Zeit des kleinen Mädchen, das verzweifelt nach einem Ort suchte, an dem es bleiben konnte, an den es irgendwann zurückkehren durfte, war abgelaufen. Sie hatte das nur zu spät gemerkt. Ein Fehler, für den sie teuer bezahlt hatte, den sie aber nie mehr machen würde. Als es unvermittelt klopfte, hob sie den Kopf, wollte den Mund öffnen und denjenigen, der gerade wirklich dumm genug war, sie zu stören, zur Hölle fluchen, aber als sie das Gesicht des Eindringlings sah, war sie fast froh, dass er wirklich gekommen war, selbst, wenn das Gewand, das er trug, ihren Magen umdrehte. „Die Königin erwartet eine Antwort auf ihre Frage.“ Die Stimme des neuen Kapellmeisters war so gänzlich anders als Rutils. Tiefer. Vibrierend in der eigenartigen Mischung von Gelassenheit und stetiger Unruhe. Spinell erhob sich langsam, strich den grünen Rock glatt und schaffte es, der kalten Grimasse, die ihr Gesicht war, ein Lächeln abzuringen, auch, wenn es wohl eher überheblich als freundlich wirken mochte. Die Frage... die Antwort war leicht, selbst, wenn sie die letzten Tage gezögert hatte, sie zu geben. Im Grund ihres Herzens hatte sie festgestanden, als man es das erste Mal an sie herangetragen hatte. Spionin für den Hof. Ein Tanz auf der Schneide eines scharfen Messers, ein Leben am Abgrund. Ein falscher Schritt und das eigene Leben war nichts mehr wert, der Tod bedeutungslos und niemand, der auch nur eine Träne für den Verlorenen vergießen würde. Wo war der Unterschied zu jetzt? Jetzt war sie nichts wert, ein Fresser, der nichts brachte, nur kostete. Aber wenn sie für den Hof arbeitete, ihr Leben in den Dienst der Königin stellte, dann war sie etwas wert, solange sie erfolgreich war. Dann waren es ihre eigenen Hände, die ihr einen Ort gruben, zu dem sie zurückkehren konnte. Sie würde von niemandem abhängig sein, es gab nicht die Gefahr, einfach fallen gelassen zu werden, aus einer Laune heraus, die kein Mensch verstand. Und schlussendlich gab es ihr etwas in die Hand, an das sie sonst niemals gelangen würde: die Erlaubnis und Gelegenheit, ihm hinterher zu jagen. Vielleicht nicht jetzt. Vielleicht auch nicht in den nächsten Jahren. Aber er würde einen Fehler machen und bis dahin würde sie gut genug sein, um diejenige zu werden, die man hinter ihm herschickte. Um ihn all das durchleiden zu lassen, was er ihr angetan hatte. Sie würde ihm beibringen, dass Menschen keine Puppen waren, die man nach Belieben auf die Seite legte, um sie dann wieder nach oben zu holen, wenn man sie brauchte. Egal, wie lange es dauern würde. „Sag der Königin, dass es mir eine Ehre sein wird, für Ihre Majestät zu arbeiten.“ Graf Stilbit nickte, das lange Gewand raschelte leise, als er sich umdrehte, um den Raum wieder zu verlassen. „Dann komm mit, man wird dich einweisen.“ Spinell nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. Ein Schritt über die Schwelle, hinter ihm her, auf einen Gang, den sie seit Jahren kannte, von dem sie aber mit einem Mal nicht mehr wusste, was an dessen Ende stehen würde. Das, was sie sich damals erträumt hatte, konnte es nicht mehr sein. Aber vielleicht war die bittere Genugtuung, die ihre Kehle nach oben kroch besser, als Glück, das einem nur ein Lügner schenken konnte, der sich am Ende bei Nacht damit davon stahl. Für diesen Moment zumindest war es mehr als in Ordnung. Denn ab jetzt war sie der Schmied ihres eigenen Glückes. Das erste Mal, seitdem sie denken konnte. Und ja, das war mehr als gut. || Fin Intermezzo # 3: Spinell. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)