Der Nachtigall Tod. von Tsuruume ================================================================================ Kapitel 4: Intermezzo # 3: Spinell ---------------------------------- Hin und wieder ertappte sie sich noch dabei, dass sie einen Blick auf ihr Bett warf und sich fragte, wo die Puppe war, die dort gesessen hatte. Bis die Erkenntnis mit dem Schlag kam. Die kurzen, bruchstückhaften Erinnerungen daran, wie sie das Spielzeug zerfetzt und weggeworfen hatte, weil es das Letzte gewesen war, was ihr von ihm geblieben war, außer den Dingen in ihrem Kopf, die sie nicht herauskratzen konnte, ganz egal, wie sehr sie sich darum bemühte. Kurz war es gewesen, das Gefühl der Befriedigung, als die bunten Überreste von Stoff, Füllung und Wolle zu ihren Füßen gelegen hatten, bis es wieder von den bitteren Tränen einer Verlassenen hinweggespült worden war und sich schlussendlich in das verwandelt hatte, was ihr Herz zu einem kalten, schweren Klumpen in ihrer Brust machte: Hass. Eine Art, die sie nie zuvor kennen gelernt hatte. Er glich nicht der Wut, die sie ihren Eltern entgegenbrachte, obwohl auch diese sie allein gelassen hatten. Profit daraus geschlagen, ihre einzige Tochter verkauft, ohne darüber nachzudenken, wie es ihr ergehen mochte, an dem Ort, an dem sie als nächstes landen würde. Nein, es war... bitterer. Verzweifelter. Sie hatte Rutil vertraut, sie hätte ohne zu Zögern ihr Leben für ihn gelassen. War an seinen Lippen gehangen, hatte jedes seiner Worte aufgesogen und vor allem hatte sie ihm all das, was er ihr gesagt hatte, geglaubt. All die honigsüßen Lügen, die Sirenengesänge, die seine Kehle hervorgebracht hatte, dummes, kleines Ding, das sie gewesen war. War der Illusion nachgehangen, dass sie für den Rest ihres Lebens an seiner Seite würde sein können. Wohl nicht als Mitglied des Orchesters, aber etwas anderes hätte sich doch gefunden. Sie hätte ihm die Schleppe des Kapellmeistergewandes nachgetragen, wenn es nur bedeutet hätte, in seiner Nähe sein zu können. Er hätte nicht einmal ihre Gefühle erwidern müssen... Ein hartes Auflachen kroch über ihre Lippen und hing schwer unter der Decke. Verliebt. Man hatte gesagt, dass das ihr Zustand sei. Das flatternde Herz, das Betteln um Aufmerksamkeit, selbst, wenn sie es hinter Gemeinheiten versteckte, das stille Glück, wenn man einfach nur in der Nähe sein konnte... Fort. Erschlagen ohne Mitleid, mit eiskalter Miene. Mit so wenigen Worten hatte er ihr das Herz aus dem Leib gerissen und unter seinem Absatz zerquetscht. Selbst jetzt, wo es so weit entfernt war, wurde ihre Kehle immer noch eng, wenn sie sich daran erinnerte. Die Leichen, vor denen er stand, das befleckte Gewand, die Haare, die schwer waren vom Blut der Getöteten, das Gesicht im Hass verzerrt und die Stimme... die sie so noch nie bei ihm gehört hatte. Eiskalt, schneidend, vernichtend... als hätte sie ihm niemals etwas bedeutet. Und wahrscheinlich war es genau so gewesen. Alles, was sie jetzt noch lernen musste, war damit umzugehen. Zu erkennen, das die Welt ein Ort war, der den Menschen, die auf ihm lebten, nicht wohlgesonnen waren. Jeder war nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht und wer das übersah, der ging unter. Der kalte Egoist schwamm oben. Raffte das Glück zusammen. Dazu würde sie werden müssen. Dazu wollte sie werden. Die Zeit des kleinen Mädchen, das verzweifelt nach einem Ort suchte, an dem es bleiben konnte, an den es irgendwann zurückkehren durfte, war abgelaufen. Sie hatte das nur zu spät gemerkt. Ein Fehler, für den sie teuer bezahlt hatte, den sie aber nie mehr machen würde. Als es unvermittelt klopfte, hob sie den Kopf, wollte den Mund öffnen und denjenigen, der gerade wirklich dumm genug war, sie zu stören, zur Hölle fluchen, aber als sie das Gesicht des Eindringlings sah, war sie fast froh, dass er wirklich gekommen war, selbst, wenn das Gewand, das er trug, ihren Magen umdrehte. „Die Königin erwartet eine Antwort auf ihre Frage.“ Die Stimme des neuen Kapellmeisters war so gänzlich anders als Rutils. Tiefer. Vibrierend in der eigenartigen Mischung von Gelassenheit und stetiger Unruhe. Spinell erhob sich langsam, strich den grünen Rock glatt und schaffte es, der kalten Grimasse, die ihr Gesicht war, ein Lächeln abzuringen, auch, wenn es wohl eher überheblich als freundlich wirken mochte. Die Frage... die Antwort war leicht, selbst, wenn sie die letzten Tage gezögert hatte, sie zu geben. Im Grund ihres Herzens hatte sie festgestanden, als man es das erste Mal an sie herangetragen hatte. Spionin für den Hof. Ein Tanz auf der Schneide eines scharfen Messers, ein Leben am Abgrund. Ein falscher Schritt und das eigene Leben war nichts mehr wert, der Tod bedeutungslos und niemand, der auch nur eine Träne für den Verlorenen vergießen würde. Wo war der Unterschied zu jetzt? Jetzt war sie nichts wert, ein Fresser, der nichts brachte, nur kostete. Aber wenn sie für den Hof arbeitete, ihr Leben in den Dienst der Königin stellte, dann war sie etwas wert, solange sie erfolgreich war. Dann waren es ihre eigenen Hände, die ihr einen Ort gruben, zu dem sie zurückkehren konnte. Sie würde von niemandem abhängig sein, es gab nicht die Gefahr, einfach fallen gelassen zu werden, aus einer Laune heraus, die kein Mensch verstand. Und schlussendlich gab es ihr etwas in die Hand, an das sie sonst niemals gelangen würde: die Erlaubnis und Gelegenheit, ihm hinterher zu jagen. Vielleicht nicht jetzt. Vielleicht auch nicht in den nächsten Jahren. Aber er würde einen Fehler machen und bis dahin würde sie gut genug sein, um diejenige zu werden, die man hinter ihm herschickte. Um ihn all das durchleiden zu lassen, was er ihr angetan hatte. Sie würde ihm beibringen, dass Menschen keine Puppen waren, die man nach Belieben auf die Seite legte, um sie dann wieder nach oben zu holen, wenn man sie brauchte. Egal, wie lange es dauern würde. „Sag der Königin, dass es mir eine Ehre sein wird, für Ihre Majestät zu arbeiten.“ Graf Stilbit nickte, das lange Gewand raschelte leise, als er sich umdrehte, um den Raum wieder zu verlassen. „Dann komm mit, man wird dich einweisen.“ Spinell nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. Ein Schritt über die Schwelle, hinter ihm her, auf einen Gang, den sie seit Jahren kannte, von dem sie aber mit einem Mal nicht mehr wusste, was an dessen Ende stehen würde. Das, was sie sich damals erträumt hatte, konnte es nicht mehr sein. Aber vielleicht war die bittere Genugtuung, die ihre Kehle nach oben kroch besser, als Glück, das einem nur ein Lügner schenken konnte, der sich am Ende bei Nacht damit davon stahl. Für diesen Moment zumindest war es mehr als in Ordnung. Denn ab jetzt war sie der Schmied ihres eigenen Glückes. Das erste Mal, seitdem sie denken konnte. Und ja, das war mehr als gut. || Fin Intermezzo # 3: Spinell. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)