Lebenswert von SweeneyLestrange (ein alternatives Ende) ================================================================================ Kapitel 2: Die Idee ------------------- Als Sweeney den Keller betrat, beschlich ihn das Gefühl, die Zeit sei an diesem Ort stehen geblieben, nachdem er ihn wieder verlassen hatte. Dem war jedoch keineswegs so, denn Mrs Lovett hatte schon ganze Arbeit geleistet und die Leichen des Richters und die des Büttels etwas abseits gezerrt. Und dennoch, die stickige Luft, die ihm entgegenschlug, rief alle Erinnerungen der letzten Stunden hervor und spielte sie vor seinen Augen in rasender Geschwindigkeit ab. Seine innere Mauer, welche er erst vor kurzem errichtet hatte, bröckelte letztendlich, als sein Blick auf Lucys Leichnam fiel. Mit Mühe kämpfte Sweeney darum, nicht die Fassung zu verlieren und die Kontrolle über sich und seine Gefühle zu bewahren. Mrs Lovett hingegen bemerkte Sweeneys Zögern sofort und Hoffnung wallte in ihr auf, dass er all das überwinden würde, wenn sie es richtig anstellte. Und mit der Hoffnung kam eine Idee. Vorsichtig trat sie dicht neben Mr Todd. Dem Drängen, seinen Arm zu berühren, gab sie dieses Mal jedoch nicht nach, sondern sagte, den Blick gedankenverloren auf Lucy gerichtet: „Sie hat ein ordentliches Begräbnis verdient, Ihre Frau.“ Die Ablenkung, die dieser Satz mit sich brachte, riss Sweeney aus seinem inneren Kampf heraus. Für einen Moment schien ihm, alles zu entgleiten, doch stattdessen hatte er sich darauf fester als zuvor im Griff. Nachdenklich musterte er die Frau neben sich, ohne recht zu wissen, was er von all dem halten soll. Er konnte ihre Beweggründe nicht nachvollziehen, vielmehr waren sie ihm unverständlicher denn je und doch wollte etwas in ihm, diesen Vorschlag annehmen. Das hatte seine Lucy verdient. Er würde auch noch nach ihrem Tode dafür sorgen, dass sie bekam, was ihr zustand, ihr … dem Engel, seinem Engel. „Ja, das hat sie … das und so viel mehr“, erwiderte Sweeney, wobei seine Stimme trotz der Worte emotionslos blieb. Mrs Lovett presste verbissen die Lippen aufeinander. Sie wollte sich nicht eingestehen, wie sehr diese Worte sie schmerzten. Jedes einzelne war wie eine Ohrfeige für sie und dämpfte ihre Hoffnung erheblich. Nie würde sie das Herz Mr Todds gewinnen, nie! Einzig und allein sein Leben, sein Leben ohne Lucy erträglicher machen, das konnte sie. „Wir werden sehen, was sich machen lässt“, sagte sie, den Ärger unterdrückend, der langsam in ihr hochstieg. Ärger auf ihren unsäglich dummen Vorschlag. „Vorerst aber sollten wir alle Spuren beseitigen.“ Die Antwort von Mr Todd blieb aus. Wortlos ging er auf die beiden Leichen der Männer zu, die sein Leben zerstört hatten. Ein Gefühl der Unwirklichkeit hatte sich in ihm ausgebreitet und es schien, als durchlebe er einen Traum, nichts weiter. Jedoch war alles bloße Realität und das wusste er nur zu gut, weshalb er sich nicht seinen vorgegaukelten Gefühlen hingab, während er auf den Leichnam Turpins starrte, welchen Mrs Lovett soweit vorbereitet hatte, dass er ohne weiteres in den Fleischwolf konnte. Nach getaner Arbeit blickte Sweeney suchend im Keller umher. Irgendjemand fehlte, das wusste er! Bloß wer? Bamford und Turpin waren soweit entsorgt und der Körper seiner geliebten Lucy sollte anders bis zum Jüngsten Tag auf dieser Erde verweilen, doch war da ja schließlich noch der Junge! Langsam schritt der Barbier zu der Stelle, wo er Toby sein Ende bereitet hatte. Ein Anflug von Missbilligung huschte über sein Gesicht, als er Mrs Lovett über den Jungen gebeugt vorfand. Das konnte nur Probleme bedeuten. Sweeney konnte ohnehin nicht verstehen, was die Frau an Pirellis ehemaligem Gehilfen gefunden hatte. Toby war nur ein dummer Junge gewesen, der zu allem Übel auch noch seine Rache an Mrs Lovett vereitelt hatte. Bei diesem Gedanken loderte vertraute Wut in ihm auf, doch gab er sich ihr nicht hin, wie er es sonst so viele Male schon getan hatte, sondern verdrängte sie, bis sein Inneres wieder von Leere erfüllt war. Dann ging er langsam neben Mrs Lovett in die Hocke. „Wir werden den Jungen nicht auch noch beerdigen können.“ Überrascht sah sie auf. In ihrer Trauer hatte sie Mr Todd gar nicht kommen gehört. Ihr war bewusst, dass er recht hatte, aber Toby verdiente kein Ende als Pastete! Es war sein guter Wille gewesen, der ihr Leben gerettet und das seine gekostet hatte, nun sollte er nicht auch noch für diese Tat bestraft werden! Schließlich verdiente nicht nur Lucy ein ehrliches Grab, wenn sie dies überhaupt tat, denn was sie einst hatte tun wollen, war Selbstmord gewesen. Und mit einem Male begann Trotz in Mrs Lovett zu erwachen. Ja, sie liebte Mr Todd, sie würde alles für ihn tun und dennoch – sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als das glückliche Zusammensein einer Familie gemeinsam mit ihm und Toby zu führen. Nun war alles zerstört, ihr Traum geplatzt. Warum sollte ihr es wenigstens nicht vergönnt sein, das Bisschen, was noch übrig geblieben war, zu retten? „Er hätte es verdient“, widersprach Mrs Lovett bedächtig und überlegte fieberhaft, wie sie das Unvermeidliche verhindern konnte. Gleichgültig zuckte Sweeney die Achseln und ein verächtliches Lächeln huschte auf einmal über sein Gesicht. „Tatsächlich würde doch niemand ein ehrliches Grab verdienen…“ Da er jedoch kein Verlangen spürte, länger mit der Frau über dieses Thema zu diskutieren, fügte er nach einem kalten, abschätzigen Blick auf Tobys Leichnam hinzu: „Aber wenn es Ihr Wunsch ist, lassen Sie sich etwas einfallen, wie Sie dem Jungen die letzte Ehre erweisen wollen.“ Genau das war es, was Mrs Lovett verzweifelt versuchte: Sich etwas einfallen lassen. Nur schaffte sie es nicht. Sie konnte ihren Blick nicht vom leblosen Körper des Jungen lösen. Ihr Kopf fühlte sich leer an, all die unterdrückten Schuldgefühle wallten plötzlich in ihr auf und erstickten die gerade erst erwachten Trotzgefühle. Hätte sie Mr Todd doch nie belogen! Hätte Toby doch bloß nicht versucht, sie zu beschützen! Dann wäre all das vielleicht nicht geschehen und er noch am Leben. Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Ihr Magen war zu einem dicken, festen Klumpen verkrampft und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, der immer weiter anschwoll, so sehr sie auch versuchte, ihn hinunterzuschlucken. In dem Versuch ihre aufsteigenden Tränen wegzublinzeln, sah Mrs Lovett auf, direkt auf den Ofen, der beinahe ihren Tod bedeutet hätte und stattdessen mehr oder weniger den von Toby gefordert hatte. Nachdenklich verweilte ihr Blick darauf, während in ihrem Kopf ein einziges Chaos herrschte. Was sollte sie jetzt tun? Wie konnte sie Mr Todd helfen, ihm beistehen, dass er wieder so wurde, wie sie ihn kannte und seine Leere überwand? Wäre Lucy doch bloß an dem Arsen gestorben damals … Dann hätte sie nun nicht das Problem mit der Beerdigung, sie hätte überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt! Alles wäre gut geworden und bald schon wäre sie mit Mr Todd und Toby ans Meer gezogen! Toby … wieder stiegen Mrs Lovett hartnäckige Tränen in die Augen, die sie krampfhaft unterdrückte. Irgendetwas musste es einfach geben, das sie für den Jungen tun konnte! Und auf einmal kam ihr eine Idee. Den Blick die ganze Zeit über auf den Ofen gerichtet, wusste sie welche Möglichkeit es noch gab, um dem Jungen wenigstens ein halbwegs anständiges Begräbnis zu ermöglichen – wenn auch ohne Pfarrer. Mrs Lovett bedachte Tobys Leiche noch einmal mit einem schmerzerfüllten Blick. Sie hatte den Jungen sehr gemocht, in ihr Herz geschlossen, als sei es ihr eigener Sohn gewesen. Nun aber, das war ihr bewusst, musste sie das Geschehene ruhen lassen, sie durfte sich nicht darin verlieren! Nein, sie musste stark sein! Sie atmete noch einmal tief durch, dann stand sie auf und wandte sich an Mr Todd, der weiter abseits auf Lucys Leiche starrte, in qualvollen Erinnerungen verloren. Langsam ging Mrs Lovett auf ihn zu, stellte sich neben ihn und verweilte eine Weile lang mit ihm schweigend auf der Stelle. Schließlich gab sie sich einen Ruck und sah zu ihm auf. „Mr Todd“, begann sie vorsichtig, „vielleicht sollten Sie sich die restlichen Stunden der Nacht über ausruhen, bevor wir für Ihre Frau eine Beerdigung beauftragen.“ „Nein!“ Das Wort zerriss die erdrückende Stille und verhallte erst nach und nach. Blitzschnell hatte Sweeney sich zu Mrs Lovett umgedreht. Seine altbekannte Wut wollte wieder von ihm Besitz ergreifen und nur mit Mühe gelang es ihm, diese zu verdrängen. Doch, als er die Bäckerin ansah, erinnerte sie ihn auch daran, dass Mrs Lovett noch seine Rache zu spüren bekommen musste. Aber nicht jetzt. Später… Er brauchte sie noch – für die Beerdigung zumindest. Und er wollte nicht länger warten, bis der Verwesungsprozess einsetzte und das Antlitz seiner geliebten Lucy zerstören würde. „Ich brauche mich nicht auszuruhen“, knurrte Sweeney beherrscht, „das hat Zeit. Lucys Beerdigung ist im Augenblick wichtiger! Das sollte Ihnen doch klar sein, oder?“ Mrs Lovett nickte. Etwas wie Erleichterung erfüllte sie. Sie erkannte ihn in seinen Worten wieder – ihren Mr Todd, der starrsinnig eine Sache verfolgte. Nur in seinem Gesicht sah sie, dass etwas in ihm zusammen mit seinem Lebensinhalt gestorben war. „Natürlich Mr Todd. Auch wenn es dafür schon reichlich spät ist…“ „…kann es nicht bis zum Morgen warten!“, beendete Sweeney mit Nachdruck den Satz der Frau und funkelte sie kalt an. Diese eine, kleine, lächerliche Tat, das war das Einzige, was er noch für Lucy tun konnte und das würde er auch! Nichts sollte ihn davon abhalten. „Wie Sie meinen“, sagte Mrs Lovett ergeben und sah weg. Dennoch konnte sie den kalten Blick Mr Todds auf sich ruhen spüren. „Jedoch sollten wir dann auch keine Zeit mehr verlieren.“ „Was ist mit dem Jungen?“, fragte Sweeney auf einmal skeptisch, der ihrem Blick gefolgt war. Überrascht sah Mrs Lovett ihn an und tadelte sich dafür sogleich. Selbstverständlich erwies sich ihre flüchtige, närrische Hoffnung, Mr Todd würde doch etwas an Toby liegen, als falsch. Ihr war schnell klar, dass ihm nur daran gelegen war, nicht durch den Jungen irgendwelche Ablenkungen zu erleiden. Mit schwerer Stimme antwortete sie: „Es … es wird wohl das Beste sein, wenn wir … seinen Leichnam verbrennen werden.“ Verstohlen musterte Sweeney die Frau. Ihre Idee, das musste er sich eingestehen, war gar nicht mal so schlecht – nein, sogar ziemlich gut. Sie verstand es wirklich, Leichen so unproblematisch wie möglich zu beseitigen. „Dann werden wir das so machen“, nickte Sweeney. Einen flüchtigen Moment noch ruhte sein kühler Blick auf Mrs Lovett, dann wandte er sich an den Leichnam seiner geliebten Frau und ging in die Hock. Er konnte nicht anders, er musste ihr noch einmal durch das einst so seidige Haar streichen, mit seinem Finger einer Liebkosung gleich ihr Gesicht entlangfahren. Zum allerletzten Mal. Danach nahm er den leblosen Körper Lucys langsam und behutsam auf den Arm und machte sich auf den Weg zur Treppe, um diesen schrecklichen Ort hinter sich lassen zu können. „Aber Mr Todd, wo wollen Sie hin? Was ist mit dem Jungen – was ist mit Toby?“, fragte Mrs Lovett beinahe vorwurfsvoll. Verärgert hielt Sweeney inne. Sein eiskalter Blick, in dem ein Anflug von Ärger glomm, traf den Mrs Lovetts. Ihre Worte hatten die Atmosphäre der Trauer, mit der er sich und seine Lucy umgeben hatte, platzen lassen wie eine Seifenblase. „Das kann warten“, antwortete er knapp und ging unbeirrt weiter, verließ den Keller mit all den entsetzlichen Hinterlassenschaften seiner grausigen Taten. Was in diesem Augenblick zählte war einzig das Seelenheil seiner geliebten Frau, sonst nichts. Mrs Lovett erkannte Mr Todds Vorhaben und so blieb ihr gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie wollte ihn nicht allein lassen, so irrsinnig dies auch war, konnte ihm schließlich kaum jemand etwas anhaben. Doch in seinem derzeitigen Verfassungszustand… Wer wusste da schon, zu welch unbedachtem Handeln er sich hinreißen ließ? Mit einem leisen Seufzer raffte sie ihr Kleid, verriegelte sorgfältig den Keller und hastete dem Barbier nach. „Warten Sie bitte einen Moment, Mr Todd“, bat ihn Mrs Lovett, kurz bevor dieser das Geschäft verlassen konnte. Etwas widerwillig unterdrückte er den Drang einfach weiterzulaufen, bis er sein Ziel erreicht hatte. Ein kleiner Teil von ihm sagte ihm, dass die Frau in diesem Falle wusste, was sie tat und sich ihm vielleicht noch einmal als nützlich herausstellen konnte. „Es wird nicht lange dauern“, versicherte die Bäckerin schnell, als sie Mr Todds Ungeduld bemerkte und verschwand eilig in ihrem Wohnzimmer. Hastig zog sie dort die Schublade einer alten Kommode auf und durchwühlte den Inhalt auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, das sie letztendlich versteckt in einer der hinteren Ecken fand. Erleichtert griff sie danach, verstaute es in ihrem Mieder, während sie geistesabwesend die Schublade zustieß. Als sie wieder in die Küche trat, ergriff die unerklärliche Angst, Mr Todd sei ohne ein Wort verschwunden, von ihr Besitz. Doch stellte sich ihre Sorge als nichtig heraus. Er stand immer noch an derselben Stelle und schien sich keinen Zentimeter gerührt zu haben. Nun aber, da Mrs Lovett bereit war, erfüllte ihn eine kribbelige Unruhe, der er nur allzu gerne nachgab. Er konnte nicht länger warten! Seinem Tatendrang folgend, wollte er die Tür öffnen und wurde sich mit einem Mal Lucy in seinen Armen gewahr. Widerwillig wandte er sich an Mrs Lovett und gab ihr mit einem auffordernden Blick zu verstehen, was er von ihr verlangte. Bedrückt kam sie seiner stummen Aufforderung nach, öffnete die Ladentür und beobachtete ihn. Sah, ihn hinaustraten, eintauchen in die nächtliche Finsternis, die ihn grüßend aufnahm wie einen guten Freund. Zögernd folgte Mrs Lovett dem Barbier, nachdem sie hinter sich das Geschäft verschlossen hatte und kämpfte gegen die aufsteigende Beklemmung an. Noch nie hatte sie sich dabei wohlgefühlt, des Nachts in den Straßen Londons umher zu gehen. Schon bei Tag war das Gesindel beunruhigend, dem man begegnen konnte, wenn man sich nicht gut genug in der Stadt auskannte und versehentlich ins falsche Viertel oder bloß in eine falsche Gasse geriet. In der Nacht hingegen erwachte es zum Leben, des Nachts begann es aufzublühen in einer eifrigen Geschäftigkeit, dann wurden die dunklen Abgründe der Stadt offenbart. Die Pracht wurde verschluckt vom Schatten, den die Begierde der Einwohner auf diese warf und die es nicht mehr länger vermochte den trügerischen Schein zu wahren. „Mr Todd?“, flüsterte Mrs Lovett in die Dunkelheit hinein, die nur der schwache Schein vereinzelter Gaslampen an den Straßenrändern durchbrach. Ein unwilliges Brummen des Barbiers gab ihr zu verstehen, dass er willens war, auf ihre kommende Frage zu antworten. „Sie wissen doch hoffentlich, was sie zu dieser späten Stunde tun.“ Natürlich wusste er das! Schon wieder wollte Ärger in ihm aufwallen. Was gab dieser Frau Anlass, an ihm und seiner Entschlossenheit zu zweifeln? Wieder einmal maß sie sich in seinen Augen viel zu viel an. Dennoch unterdrückte er, so schwer es ihm auch fiel, den Ärger. Er hatte sich geschworen, sich nicht mehr von unbedeutenden Gefühlen kontrollieren zu lassen! Jedoch musste er sich eingestehen, dass dies viel schwerer war als gedacht. „Ja, weiß ich“, murmelte er schließlich und hoffte die Frau damit ruhig gestellt zu haben. Und das hatte er. Mrs Lovett merkte es Mr Todd an, dass ihm nicht nach Reden zumute war. Sie glaubte, zu verstehen, was er in diesem Moment fühlen musste, weswegen sie sich seinem unausgesprochenen Wunsch fügte und stumm neben ihm herging. Eine Zeit lang liefen sie schweigend die dreckigen Straßen entlang. Dennoch kam Mrs Lovett nicht umhin, dem Barbier gelegentlich einen heimlichen Blick zu zuwerfen. Sein Anblick ließ ihr Herz höher schlagen und doch; je weiter er voran schritt, desto mehr glich alles einem Traum, desto tiefer schien er von den Schatten verschluckt zu werden. Es war als gehörte er in die Umarmung der Finsternis. Doch jedes Mal wenn das kraftlose Licht einer Gaslampe auf den leblosen Körper in seinen Armen fiel, schien es falsch mit diesem durch die tintenschwarze Dunkelheit zu gehen. Einst war sie ein Engel gewesen und dennoch, er wirkte fehl am Platz in der tiefen Finsternis. Ja, dachte Mrs Lovett im Stillen, ein Engel war sie – seine Lucy, zerbrochen am grausamen Schicksal, gefallen durch Arsen und nun getragen von ihrem Gemahl, einem Geschöpf der Nacht, dem der Tod mit jedem Schritt folgte. Er selbst verkörperte ihn, an seinen Händen klebte das Blut unzähliger Opfer und das seines Engels, mit dem er nun schweigend durch die Dunkelheit schritt, um ihn seinem verdienten Ende zu übergeben. Ergriffen seufzte Mrs Lovett. Längst hatte sie sich in diesen Anblick verloren und etwas wie Schuldgefühle legte sich auf sie nieder, wollte sie mit der schweren Last erdrücken, bis sie sich in Erinnerung rief, dass es bereits zu spät gewesen war bei Mr Todds Rückkehr. Das Arsen hatte zu diesem Zeitpunkt schon lange seine Wirkung entfaltet und Lucy ihres klaren Verstandes beraubt. Nur seinen eigentlichen Zweck, den Tod herbeizuführen, das hatte es nicht vermocht gehabt. Hach, wäre das verzweifelte Ding damals nur gestorben! Nichts wäre so, wie es jetzt war – alles wäre viel besser. Sweeney indessen war in seinen eigenen Gedanken verloren. Wie einen Traum durchwanderte er die Dunkelheit. Nichts um ihn herum schien real. Alles wirkte unwirklich. Jedes kleine Bisschen, die Umgebung, die dunkle Nacht, der kalte Leichnam in seinen Armen, er selbst – einfach alles. Eigentlich befand er sich an einem Ort, der in goldenes Sonnenlicht getaucht und in seiner Schönheit so einzigartig war wie das Lachen seiner geliebten Frau. Eigentlich musste sie doch noch leben, seine Lucy, die er trug, ohne ein Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Seine Lucy, die bloß schlief, die er wieder zurück nach Hause brachte, an einen besseren Ort. Er schluckte. Ja, dort, wo sie nun war, den Ort hatte sie sich verdient, fern von all dem Schrecken, der ihr in dieser abscheulichen Stadt auflauerte. Ein Anflug von Schmerz spiegelte sich in den dunklen Augen des Barbiers wider, als er aufsah und seinen Blick durch die Straße irren ließ. Wenn er sich nicht täuschte, so musste er nun sein Ziel erreicht haben. Jedoch konnte er es nicht entdecken. „Wonach suchen Sie?“, fragte Mrs Lovett leise, die neben ihn getreten war. Ein letztes Mal spähte Sweeney in die finstere Nacht und versuchte mit Hilfe des kläglichen Lichts der Gaslampen in den Schatten das gesuchte Gebäude auszumachen. Vergebens. „Die Kirche“, murmelte er, „hier stand eine Kirche! Genau gegenüber dem Gebäude dort.“ „Ja, das stimmt. Hier stand mal eine…“, bestätigte Mrs Lovett gedankenversunken. „Aber wo-“, brachte Sweeney beherrscht hervor, dann verstand er. Die Kirche, zu der er gewollt hatte, die Kirche, die er regelmäßig mit Lucy aufgesucht hatte, gab es nicht mehr. „Sie ist abgebrannt“, fuhr Mrs Lovett, den Blick ins Leere gerichtet und die Bilder der Vergangenheit vor Augen fort. „Man befand es nicht für nötig, sie noch einmal neu aufzubauen, stattdessen steht dort nun ein prächtiges Herrenhaus.“ Glasklar drangen die Worte an Sweeneys Ohr. Er wollte es sich nicht eingestehen, doch schmerzten sie wie einer der Peitschenhiebe, denen er in den fünfzehn Jahren Verbannung zur Genüge ausgesetzt gewesen war. Wieder musste er erkennen, dass sich vieles verändert hatte, immer mehr der Verbindungen zu seiner Vergangenheit – zu seiner gemeinsamen Zeit mit Lucy – zerstört waren, und zwar endgültig. „Ich verstehe“, kam es leise über seine Lippen. Seine Zielstrebigkeit schwand je mehr er sich in seinen Erinnerungen verlor. Er hatte für Lucy hier ein Grab gewollt, hier, wo sie so oft gemeinsam gewesen waren, doch war dies nicht mehr möglich. Was sollte er nun tun? Wohin sollte er gehen? Er wusste es nicht. Aber aufgeben konnte er nicht – noch nicht – erst musste er seiner geliebten Frau ihre verdiente Beerdigung geben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)