Das Mollproblem von abgemeldet (Dreiklang) ================================================================================ Kapitel 4: Dezember 1887 ------------------------ Ein Worst-Case-Szenario. Ein Dilemma. Eine Tragödie, nein, es war eine einzige Katastrophe! Ihre Augen funkelten gereizt als sie wie elektrisiert gezielt durch die Gänge stöckelte. Verblüfft sah man der vorbeigehenden Schönheit hinterher, wobei dem ein oder anderen sicherlich die Frage aufkam, was geschehen war. Ihre Hand war förmlich in dem gerafften Stoff ihres extravaganten Kleides verkrampft, während ihr Blick nur einen einzigen Satz in Dauerschleife zu sprechen schien: Sag irgendetwas Falsches zu mir und du bist tot! Ihre Gangart wirkte schon beinahe undamenhaft, aber das war ihr in jenem Moment vollkommen egal. Sie durfte sich alles erlauben, schließlich war sie keine andere als Ewa! So durfte sie auch brodeln vor Unverständnis, vor Neid, vor Wut und genau das tat sie auch. Alles in ihren Augen war ein Worst-Case-Szenario, wenn sie nicht selbst im Rampenlicht stand und bewundert wurde. Erst nach Elena Durham die Nummer 1 zu sein, war bisher noch gerade erträglich gewesen, doch wie es jetzt aussah, das bekäme ihr nie und nimmer gut. Ohne anzuklopfen riss sie eine Tür auf und bekam direkt Melissas und Katies Blicke zu spüren. Doch gegen Ewas hatten sie in jenem Moment keine Chance. Offensichtlich war die Ukrainerin mitten in ein Gespräch zwischen den beiden geplatzt – umso besser. So galt die Aufmerksamkeit wenigstens alleine ihr. Dramatisch schritt sie auf den Tisch zu, an dem die beiden Damen saßen und knallte ohne Rücksicht ein zerknittertes Blatt Papier auf diesen. „Es ist eine einzige Katastrophe!!“, beherrschte der ukrainische Akzent ihre kräftige Stimme, die alles andere als monoton klang. Der Kaffee in Melissas Tasse schwappte über, was ihre Augenbraue missgelaunt hochschnellen ließ, während Katie das Papier überrascht fixiert hatte, auf welchem immer noch Ewas Faust lag. „Sieht euch das an! Das ist doch… das ist einfach unglaublich!!“ Es war mehr ein Zischen als ein Sprechen, was ihr Mundwerk verließ und mit ihren Fingerspitzen berührte sie direkt ihre Schläfen und blickte starr geradeaus. Die Neuigkeiten, die sie hatte, bereiteten ihr fast Kopfschmerzen, die sie eine grimmige Miene machen ließen. Tief in ihrem Innern hoffte sie, nicht schon bald die ersten Zornesfalten in ihrem makellosen Gesicht zu bekommen. Wenn es jedoch wahr war, was auf dem Papier stand – und daran bestanden im Prinzip keine Zweifel -, dann würde sie schneller altern als ihr lieb war. „Louise…“, hörte man Katies Stimme einem Flüstern gleich als diese sich das zerknitterte Flugblatt in ihren Händen genauer besah, „Louise hat es geschafft. Sie ist das neue Gesicht der Oper…“ „Nein! Sie ist ein kleines hinterhältiges Miststück, das Ahnung von nichts hat!“, korrigierte Ewa und funkelte sie dabei aufgeregt an. Da sie einfach nicht ruhig stehen bleiben konnte, wandte sie sich um und ging viele Schritte auf und ab durch den Raum, immer wieder beginnend wild mit ihren Händen zu gestikulieren als wollte sie irgendetwas Verbales loswerden, letztendlich jedoch gleich wieder abbrechend als gäbe es eigentlich keine passenden Worte, um dem Ausdruck zu verleihen, was ihr gerade im Kopf und durch Brustkorb jagte und tobte. Am liebsten hätte sie irgendetwas gegen die Wand geworfen. Wieso nicht gleich dieses rothaarige Küken? „Ich kann es einfach nicht fassen!“ Ein leises Schlürfen war das erste, was man von Melissas Seite zu Ohren bekam, die ziemlich ungerührt da saß und Ewa gerade keines Blickes würdigte. Man konnte hören, wie sie wenig später die Tasse auf Porzellan abstellte. „Sie ist gut.“ „Wie?“ Irritiert und mit großen Augen sah die Ukrainerin die Braunhaarige stillstehend an. „Gut? Sie ist nur eines von diesen vielen Chormädchen, deren Knie zittern, wenn sie ganz alleine auf der Bühne stehen müssen!! Ich müsste der Star der Oper sein! Ich war die Zweitbesetzung Elenas! Ich sollte in ihre Fußstapfen treten!“ „Beruhige dich, Ewa…“ „Beruhigen? Da gibt es nichts zu beruhigen! Jeder hier weiß, dass ich perfekt, geschaffen bin für die Erstbesetzung!“ Heftig tippte sie sich mit dem Zeigefinger auf ihre Brust. „Sagt mir, dass ich besser bin, denn so ist es doch!“ Schnell, fast hysterisch blickte sie von Melissa zu Katie. Sie waren die einzigen Frauen in der Oper, die neben ihr wohl überhaupt noch einen Einfluss auf die Meinung der Entscheidungsinstanz für solche Angelegenheiten haben dürften und darauf kam es ihr letztendlich auch an. Die braunhaarigen Frauen wechselten einen Blick, den die Ukrainerin in ihrer Rage nicht deuten konnte. Schließlich sah die Älteste sie an: „Ja, so mag es zurzeit sein, Ewa, a-“ „Dann müsst ihr Mr. Kennedy und Mr. Sauvignon umstimmen! Das kann doch alles nicht wahr sein! Wieso… Wieso…!?“ Langsam fragte sie sich auch, wieso ihre Gegenüber nicht so empört waren, wie sie selbst. Klar, sie hatten so oder so nie eine Chance gegen die Blondine gehabt, aber sie stünden doch wohl zumindest auf Ewas Seite, wenn es um die Frage ging, wer das neue Gesicht der Oper würde! „Tut doch etwas!“ „Ewa, halte deinen Mund.“ Überrascht sahen Katie und die Angesprochene Melissa an, welche sich durchaus anmerken ließ, dass sie es nicht weiter ertrüge, würde die Ukrainerin hier noch weiter so herummeckern wie eine Irre. Die Stimme der Ältesten klang dabei ungewohnt bestimmend und kräftig. „Mr. Kennedy und Mr. Sauvignon haben eine Entscheidung getroffen und wie ich finde, eine vollkommen vernünftige. Du magst gut sein, aber Louise hat Potenzial und ist eine kleine Perfektionistin. Sie wird bis zum Ermüden an sich arbeiten, um eines Tages mindestens so gut wie Elena zu werden.“ Ewa verengte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. „Woher willst du das wissen?! Du selbst hast doch überhaupt keine Ahnung, standest noch nie im Mittelpunkt! Du beurteilst Dinge, von denen du keine Ahnung hast! Niemand in diesem Opernhause hat eine Ahnung! Ich bin perfekt! Und dass du dich auf ihre Seite schlägst, überrascht mich nicht im Geringsten!“ „Willst du es nicht oder kannst du es nicht verstehen?“ Mit einem überraschend eisigen Blick sah Melissa die aufgewühlte Frau nun an. Sie klang erstaunlich ruhig, auch konnte man bei einer Tonlage wie der jetzigen nie so recht sagen, ob die Brünette nicht doch noch selbst in Rage fiel oder nicht. Doch eine gewisse Ruhe und Vernunft schien sie immer unter Kontrolle zu haben. Wütend schnaufte die Blondine, ihre Augen schnellten zu Katie, weil sie nicht wusste, was sie dieser alten Kuh sonst noch an den Kopf werfen musste, damit sie eigentlich verstand, was sie da gerade von sich gegeben hatte. Louise war in ihren Augen ein Nichts! „Was hast du überhaupt dazu zu sagen?!“ Irritiert und wie vom Blitz getroffen blickte Katie zu ihr auf. Der Eindruck, dass Ewas Frage so etwas wie ein hilfloser Versuch war, nun wenigstens Katie auf ihre Seite zu ziehen, wollte sich in der kurzen Schweigephase, die gerade anbrach, nicht verflüchtigen. „Ehh… Ich weiß es nicht… Ich…“ Mit einem übertriebenen Augenrollen seufzte die stehende Frau laut auf. „Das kann doch nicht wahr sein… Die eine kennt nicht den Unterschied zwischen Gut und Schlecht. Die andere hat noch weniger Ahnung, nämlich gar keine und das Schlimmste überhaupt ist, dass tatsächlich ihr für das Vorsingen auserwählt worden seid! Wo bin ich hier gelandet?!“ Ein kurzer lauter Ton des Ärgers drang mit zusammengebissenen Zähnen aus ihrer Kehle, ehe Ewa nach dem Flyer griff und es hastig zerriss, sodass die darauf angedeutete Oper und Louise praktisch voneinander getrennt wurden. „Ihr werdet noch sehen, was ihr davon habt! Euer Neid, der mich nicht meinen rechtmäßigen Platz an der Spitze der Sängerinnen annehmen lässt, wird euch noch teuer zu stehen kommen! Das verspreche ich euch!“ Ein weiteres Mal riss sie das Papier auseinander, ließ es achtlos auf den Boden fallen und stürmte überstürzt aus dem Zimmer heraus. Was zurück blieb, waren zwei Frauen, die sich einander schweigend, aber doch so vielsagend ansahen und das Abbild einer in zwei Hälften gerissenen Louise am Boden. Ihre Wangen glühten als sie die vielen Treppen hinab tippelte und ihre Augen glänzten. Wieso nur? Wieso bekam sie von keiner Seite Unterstützung? Wie sollte sie es an dieser Oper noch weiter aushalten, wenn nicht als neue Nummer Eins? Sie musste handeln, irgendetwas tun. Der Wind blies ihr stürmisch um die Ohren als sie die große Tür zum Innenhof aufriss und einige Schritte sie in diesen führten, auch wenn sie nicht so Recht wusste, was sie hier eigentlich sollte. „Tse… Potenzial…”, sprach sie ihren Gedanken verächtlich, aber irgendwie auch verzweifelt aus, „Was bringt das einem Opernhaus schon großartig, wenn man denn schon jemanden hat, der es perfekt kann und sich nicht mehr weiterentwickeln muss!“ Ja, was brachte das der Oper? Hier konnte es eindeutig nicht mehr um das Interesse dieses Hauses gehen, sonst wäre die Entscheidung ganz klar nicht zugunsten Louise‘ ausgefallen. In einem ständigen Wechsel von Frust und Wut ballte sie ihre Hände zu Fäusten, um sie kurz darauf gleich wieder zu lockern. Die Ukrainerin würde nie zugeben, wenn sie mal wieder versuchte, ihre Teufelshörner gegen einen Heiligenschein auszutauschen, aber in diesem Fall war sie zu fest davon überzeugt im Recht zu sein, dass sie sich diesen Tausch sogar nicht einmal selbst im Innern eingestehen konnte. Blind im Hinblick darauf, welches Potenzial Louise denn tatsächlich besaß, ließ die Schönheit ihren Kopf leicht in den Nacken legen, um ratlos hoch zu einem der vielen Fenster zu blicken. Was hatte Louise, was sie nicht hatte? Es musste ihrer Auffassung nach etwas geben und das hatte ganz sicher nichts mit ihrer Gesangsqualität zu tun. „Was ist es, Louise… Was hast du getan…?“ Als energische Klavierklänge ihr zu Ohren kamen, wanderte ihr Augenpaar nach rechts, fixierte schließlich aufmerksam eines der Fenster der oberen Stockwerke. Es stand als einziges weit offen und in genau diesem Moment schienen Frust und Wut von ihr abzufallen. Wie aus Zauberhand. Als hätte man ihr soeben jegliche Unruhe genommen, um ihr wieder eine klare Sicht auf alle Dinge zu verschaffen. Sie wusste zu gut, zu wem sie Fenster und Klavierklänge zuzuordnen hatte, so wie jeder andere hier auch. Man sah sie so gut wie nie, diese Person, doch man hörte sie weitaus häufiger. Genau das musste ein Zeichen sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)